Post on 11-Aug-2019
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Aspekte der Mangelernährung:
Physiologische Prozesse im Hungerstoffwechsel
Aspekte der Mangelernährung
Bei Mangelernährung liegt eine akute oder langfristige Unterernährung vor, die entweder durch
eine verminderte Zufuhr oder durch einen erhöhten Bedarf an Nährstoffen verursacht wird.
Insofern wird in den DGEM-Leitlinien „Enterale Ernährung“ unter dem Begriff „Unterernährung“
[undernutrition] eine Verringerung der Energiespeicher sowie eine reduzierte Fettmasse (BMI < 18
kg/m2) verstanden. (Quelle: nach Pirlich et al., 2003)
Die Ursachen einer Unterernährung sind komplex und können u.a. sein:
� Kalorienmangel: Hier ist die Energiezufuhr insgesamt niedriger als der Energiebedarf (negative
Energiebilanz bzw. Energiedefizit; kataboler Zustand). Neben dem Verlust an Körpergewicht kommt es zu einem Abbau der Energiereserven.
� Protein-Energie-Mangel: Bei fortschreitender Fehlernährung führt eine chronisch bestehende
Protein-Energie-Mangelernährung (PEM) zu folgenden Faktoren:
- reduzierter Muskel- und Fettmasse (somit Gewichtsverlust)
- zur Verringerung der Albumin-Konzentration im Blutplasma und des restlichen viszeralen
Proteins (z.B. Präalbumin, Transferrin und Cholinesterase)
- zum Entstehen von Ganzkörper-Ödemen sowie zur Abnahme der Leistungsfähigkeit
- im Extremfall zum Versagen sämtlicher Körperfunktionen
Aspekte des Hungerstoffwechsels
Ein Energie- und Nährstoffmangel führt zu einer katabolen Stoffwechsel-Lage und in Folge zu einer
Verschlechterung des physiologischen Zustandes:
� nach ca. 8–10 Tagen sinkt der Grundumsatz
� der gesamte Metabolismus verlangsamt sich
� der Körper beginnt die notwendige Energie aus seinen Energiereserven zu extrahieren
� Gleichzeitig erfolgt eine „Hungeradaption“ in Form einer Anpassung des Organismus an den
Nährstoffmangel. In dieser Phase kann sich der Metabolismus bis zu 50 % reduzieren. Beispiele:
- Der Proteinumsatz sinkt um Eiweiß einzusparen, die Stickstoffausscheidung vermindert sich
um 75 %.
- Herzfrequenz, Blutdruck und Körpertemperatur fallen ab. - Stresshormone wie Adrenalin werden freigesetzt und führen zum Absinken des
Insulinspiegels. Hormone zur Lipolyse-Steigerung werden in Leber und Muskeln gebildet.
Die Folgen eines langen Energie- und Nährstoffmangels sind Auszehrung und Abmagerung (Initiation)
mit völligem Kräfteverlust und Kachexie.
Im Klinik-Alltag ist der kombinierte Protein- und Energiemangel die häufigste Form der
Mangelernährung. Änderungen der Körperzusammensetzung sowie der Verlust an Körpermasse – bei
dem es zumeist auch zu einer Reduzierung an Organmasse kommt – führen zu Störungen
physiologischer Funktionen und zur Reduktion der allgemeinen physischen und psychischen
Verfassung. Früh genug erkannt, können gezielte Maßnahmen zur Verbesserung des
Ernährungszustandes und damit auch des Allgemeinzustandes führen.
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Mechanismen des Hungerstoffwechsels
Abbau von… durch Menge Dauer
… Kohlenhydraten
(Glykolyse)
Glykogenabbau aus
� Leber (ca. 75 g)
� Muskeln (ca. 150 g)
� Nieren
� weiteren Körperzellen1
ca. 1600 kcal innerhalb eines Tages verbraucht
direkte Folgen
� Senkung des pH-Wertes und dadurch Entwicklung einer metabolischen Azidose
� Wasser-, Kalium- und Magnesiumverlust beim Muskelglykogenabbau (anschließende Ausscheidung
über die Nieren und somit für diverse Körperfunktionen nicht mehr verfügbar)
� anfangs starke Abnahme des Körpergewichts von ca. 1 kg/Tag, danach Absinken auf ca. 500 g/Tag
Abbau von… durch Menge Dauer
… Eiweiß
(Proteolyse)
Proteine aus
� Muskelprotein (Skelett-
und Herzmuskel
� Bauchwandmuskulatur
� Bauchorganen: Leber,
Darm, Nieren � weiteren Körperzellen
= ca. 25 % des gesamten
Gewichtsverlustes!
ca. 50 - 70 g /
Tag (=ca. 250 –
280 kcal)
� nach ca. zwei Wochen
Umstellung des
Metabolismus auf Protein-
Sparmechanismus
� Plasmaeiweiß Halbwertszeit =
ca. zwei Wochen � Gerüst- und
Bindegewebseiweiß = ca. 160
Tage
direkte Folgen:
� Verwendung der Proteine zur direkten Verstoffwechselung im Zuge des Katabolismus oder zum
Gluconeogenese-Prozess aus Aminosäuren
� Gluconeogenese (Aufbauweg für Glucose): Aufbau von Energie für das Gehirn aus Muskeleiweiß.
Anmerkung: Das Gehirn kann nur Glucose und Ketonkörper zur Energiegewinnung verwenden, wobei
im Hungerstoffwechsel das Cerebrum den Glucose-Verbrauch auf 30 % des Ausgangswertes reduziert
(von ca. 140 g auf ca. 40 g pro Tag). Die Alkalireserven des Körpers fallen dabei ab.
� Harnstoffausscheidung über den Urin
� Hypoproteinämie im Blut mit dadurch entstehenden Hungerödemen durch Flüssigkeits-Verschiebungen und Wasseransammlungen im Gewebe
� negative Auswirkungen auf das Immunsystem (erhöhte Infektanfälligkeit und –ausprägung)
Abbau von… durch Menge Dauer
… Fett
(Lipolyse)
Triglyceride aus
� Unterhautfettgewebe � viszeralem Fett
� Baufett
ca. 70.000 kcal
als Langzeit-Energie-
Speicher des
Körpers
� Abbau erfolgt zumeist
parallel zum Glykogen- und Eiweißabbau
� signifikanter Fortschritt nach
ca. einer Woche im
Hungerstoffwechsel
direkte Folgen
� Bildung von Ketonkörpern (Acetoacetat, Acetat und Betahydroxybuttersäure) zur Energiegewinnung
� Verlust an der Isolierschicht mit anschließender Hypothermie und erhöhtem Kohlenhydratbedarf zur
Wärmeproduktion des Körpers
1 Mengenmäßig besitzt die Muskulatur die größte Glykogenmenge. Allerdings fehlt in der Muskulatur das
Enzym Glucose-6-Phosphatase, welches den Phosphatrest am C-Atom 6 der Glucose abspalten kann. Dieses
kommt nur in den Leberzellen, Nierenzellen und Enterozyten vor. Somit kann die Leber ihren Glykogen-
Speicher effektiv dazu benutzen einen geringen Blutzuckerspiegel (z.B. nachts) abzupuffern.
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� Reduktion an Baufett (Ersichtlich z.B. dadurch eingesunkene Augen)
� Reduktion des Körperwassers durch das im Fettgewebe gespeicherte Flüssigkeitsdepot mit erhöhtem Risiko einer Exsikkose
Zu beachten
� Die Gewichtsabnahme ist bei kompletter Nahrungskarenz vom Ausgangsgewicht abhängig und
beträgt in etwa 200 bis 500 Gramm pro Tag. In den ersten zwei Tagen ist vorwiegend der
Wasserverlust ausgeprägt, der zu einer Abnahme von durchschnittlich zwei Kilogramm führt.
Nach einer Woche reduziert sich das Körpergewicht um durchschnittlich 13%, nach einem Monat
um bis zu 21 %.
� Jeder beabsichtigte oder unbeabsichtigte Gewichtsverlust, unabhängig vom Ausgangsgewicht,
führt anfangs zu einem Verlust an Muskelmasse und geht bei einem starken Muskelabbau mit einer eingeschränkten Funktionalität einher.
Abb. 1: Anteil der unterschiedlichen Energiespeicher an der Energiegewinnung während des ersten Monats im
Hungerstoffwechsel (Quelle: nach Kaiser, 2011)
� Anfallende Substrate im Katabolismus stimulieren wiederum Abbauprozesse und wirken durch
Aktivierung von Enzymen und Peroxisomen-Proliferator-aktivierten Rezeptoren2 (PPAR). Es
kommt neben den augenscheinlichen körperlichen Auffälligkeiten zu Organveränderungen, vor
allem im Bereich der Leber und des Myokards.
� Besteht gleichzeitig ein schwerer Proteinmangel oder eine Protein-Synthesestörung und die
Enzyme des Fettsäureabbaus und der Fettsäuretransportproteine stehen nicht zur Verfügung,
kommt der Abbau von Fettsäuren zum Erliegen. Dadurch sammeln sich im Zytoplasma
Lipidvakuolen an, deren Inhalt nicht für Stoffwechselprozesse verwendet werden können.
2 PPAR (Peroxisom-Proliferator-aktivierte Rezeptoren) = Kernrezeptoren; weisen eine DNA-bindende Domäne
auf, wodurch sie definierte DNA-Sequenzen erkennen können
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Nachzuweisen wäre dies im histopathologischen Schnitt vom Muskelgewebe des Myokards und
der Leber. Die klinische Folge am Herzen ist dabei eine latente oder manifeste
Myokardinsuffizienz und an der Leber eine Steatosis hepatis mit Einschränkungen der
Stoffwechselfunktionen.
� Bei unzureichender Eiweißversorgung spielt die Reduktion des Glutathion-Status ebenso eine
bedeutende Rolle, da dieser für die Aufrechterhaltung der antioxidativen Kapazität der Leber,
des Myokards und anderer Gewebe zuständig ist. Des Weiteren wird er für die Zytokin-
regulierten Immunreaktionen des Körpers benötigt. Insofern kommt es zu einer weiteren
vielfältigen Wirkung des Nährstoffmangels auf das Immunsystem:
- erhöhtes Risiko für Infektionen sowie Verschlimmerung des Verlaufs - Beeinträchtigung der zytokinvermittelten Immunantwort
- Begünstigung des oxidativen Stresses im Gewebe, der eine pathogenetische Rolle spielt
Die Auswirkungen einer Malnutrition sind
weitreichend und individuell.
So führt zum Beispiel die Abnahme von
Skelettmuskulatur und Knochengewebe zu einer
Steigerung von Schwäche, Mobilitätsproblemen, Gebrechlichkeit, Steigerung des Osteoporose-,
Sturz- bzw. Frakturrisiko etc.
Jede Folge kann zu einer Kaskade von
darauffolgenden Erscheinungen führen und
begünstigt den Teufelskreis der Mangelernährung.
Abb. 2: Kreislauf der Mangelernährung (Quelle: nach Sterzinger, 2013)
Die Ursachen einer Mangelernährung sind sehr
umfangreich und komplex.
Bei Betroffenen sollten daher die möglichen
verknüpften Komponenten immer
mitberücksichtigt werden.
Die frühzeitige Erkennung von Ursachen und die präventiven Maßnahmen (z.B. durch Einsatz von
Screening- und Assessmentbögen) können dabei
helfen die Komplexität zu vermindern oder zu
vermeiden.
Abb. 3: Durchbrechen des Kreislaufs der Mangelernährung (Quelle: nach Sterzinger, 2013)
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Fazit
� Bei der interdisziplinären Bekämpfung einer Unterernährung muss somit auch stets auf die oben
genannten physiologischen Veränderungen eingegangen werden.
� Supportive Ernährungsinterventionen sind hierbei essenzielle Maßnahmen, damit eine
zufriedenstellende Rehabilitation des Ernährungs- und Allgemeinzustandes stattfinden kann.
Das allin® Team empfiehlt bei Mangelernährung:
Quellen Bauer, J.M. et al. (2008): Malnutrition, Sarkopenie und Kachexie im Alter – von der Pathophysiologie zur Therapie:
Ergebnisse eines internationalen Expertenmeetings der BANSS-Stiftung. Dtsch Med Wochenschr 2008; 133: 305–310.
Kaiser, M.J./Bauer, J.M. (2011): Pathophysiologische Grundlagen – Energie- und Hungerstoffwechsel. In: Löser, C. (Hg.):
Unter- und Mangelernährung. Stuttgart: Thieme, S. 17–24.
Kaiser, M. J./Bauer, J.M. (2011): Pathophysiologische Grundlagen – Energie- und Hungerstoffwechsel. In: Löser, C. (Hg.):
Unter- und Mangelernährung. Stuttgart: Thieme, S. 23.
Kalde, S./Heise, J. (2015): Mangelernährung im Krankenhaus. Ernährungs Umschau international 2015; 7: 405–414.
Krawinkel, M. (2010): Untergewicht und Hungerstoffwechsel. In: Biesalski, H.K. et al. (Hg.): Ernährungsmedizin. Stuttgart:
Thieme, S. 438–442.
Kreuter, M./Sterzinger, M. (2013): Mangelhafter Ernährungszustand im Alter. In: VFEDaktuell 2013; 136: 6-13.
Pirlich, M. et al. (2003): DGEM-Leitlinien Enterale Ernährung: Ernährungsstatus. Aktuel
Ernährungsmed 2003; 28 (Suppl. 1): 10–25.
Schutz, Y./Stanga, Z. (2010): Mangelernährung und Bestimmung des Ernährungszustandes. In: Biesalski, H.K. et al. (Hg.):
Ernährungsmedizin. Stuttgart: Thieme, S. 450–479.
Willig, H. P. (2017): Hungerstoffwechsel, http://www.chemie-schule.de/KnowHow/Hungerstoffwechsel (14.05.2017).
Zürcher, G. (2006): Mangelernährung. In: Koula-Jenik, H. et al. (Hg.): Leitfaden Ernährungsmedizin. München: Urban &
Fischer, S. 614–622.