Post on 05-Oct-2021
Vatikanstadt. Zum Sonntag des WortesGottes hat Papst Franziskus dazu aufgerufen,öfter in der Bibel zu lesen. Christen sollten täg-lich einmal den Fernseher ausschalten, dasHandy beiseite legen und das Evangelium zurHand nehmen. Dies lasse spüren, dass Gottnahe sei, und schenke Mut auf dem Lebens-weg, erklärte er. Wegen eines Ischiasleidensnahm der Heilige Vater nicht an der Eucha -ristiefeier im Petersdom teil. Erzbischof RinoFisichella, Präsident des Päpstlichen Rates zurFörderung der Neuevangelisierung, leitete dieFeier anstelle des Papstes und trug dessen vor-bereitete Predigt vor.
Brüder und Schwestern,
es ist mir eine besondere Freude und Ehre, die
Predigt zu verlesen, die der Heilige Vater bei die-
ser Gelegenheit gehalten hätte:
An diesem Sonntag des Wortes Gottes hören
wir Jesus, wie er das Reich Gottes ankündigt. Wir
wollen sehen, was er sagt und zu wem er es sagt.
Was er sagt. Jesus beginnt seine Verkündi-
gung so: »Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist
nahe« (Mk 1,15). Gott ist nahe – das ist die erste
Botschaft. Sein Reich ist auf die Erde herabge-
kommen. Gott ist nicht, wie wir oft zu denken
versucht sind, fern im Himmel, abgesondert von
der menschlichen Situation, sondern er ist bei
uns. Die Zeit der Distanz ist zu Ende, seit Jesus
Mensch geworden ist. Seit damals ist Gott ganz
nahe; nie wird er sich von unserer Menschheit
trennen und nie wird er ihrer müde werden.
Diese Nähe ist der Beginn des Evangeliums, das
ist es – so unterstreicht es der Text –, wovon Je-
sus »sprach« (V. 15): Er sagte es nicht nur einmal,
sondern er sprach, das heißt, er wiederholte es
ständig. »Gott ist nahe« war das Leitmotiv seiner
Verkündigung, das Herzstück seiner Botschaft.
Wenn das der Beginn und der »Kehrreim« der Pre-
digt Jesu ist, dann muss es auch der Grundton des
Lebens und der christlichen Verkündigung sein.
Vor allem anderen muss geglaubt und verkündigt
werden, dass Gott uns nahegekommen ist, dass
wir begnadet, »erbarmt« wurden. Noch vor je-
dem Wort von uns über Gott gibt es sein Wort für
uns, das immer weiter zu uns sagt: »Hab keine
Angst, ich bin bei dir. Ich bin dir nahe und werde
bei dir bleiben.«
Das Wort Gottes erlaubt uns, diese Nähe mit
Händen zu greifen, weil es – wie das Buch Deu-
teronomium sagt – nicht fern von uns ist, son-
dern unserem Herzen nahe ist (vgl. 30,14). Es ist
das Heilmittel gegen die Angst, allein im Leben
zu bleiben. Der Herr tröstet (con-sola) nämlich
mit seinem Wort, das heißt, er bleibt bei (con)
dem, der allein (solo) ist. Wenn er mit uns
spricht, erinnert er uns daran, dass wir in seinem
Herzen einen Platz haben, dass wir in seinen
Augen wertvoll sind, dass er uns in seinen Hän-
den geborgen hält. Das Wort Gottes schenkt die-
sen Frieden, aber es lässt nicht in Frieden. Es ist
ein Wort des Trostes, aber auch der Umkehr.
»Kehrt um« (Mk 1,15), sagt Jesus unmittelbar
nach der Verkündigung der Nähe Gottes. Denn
durch seine Nähe ist die Zeit zu Ende, zu Gott
und zu den Mitmenschen auf Abstand zu gehen,
die Zeit, in der jeder nur an sich selbst denkt und
für sich allein weitermacht. Das ist nicht christ-
lich, denn wer die Nähe Gottes erfahren hat,
kann nicht den Nächsten auf Abstand halten,
ihn in Gleichgültigkeit abschieben. Deshalb er-
lebt, wer das Wort Gottes häufig liest, heilsame
existentielle Kehrtwendungen: Er entdeckt, dass
es im Leben nicht darum geht, sich vor den an-
deren in Acht zu nehmen und sich selbst zu
schützen, sondern dass das Leben die Gelegen-
heit ist, im Namen des nahen Gottes auf die an-
deren zuzugehen. So lässt uns das in unsere Her-
zen gesäte Wort durch Nähe Hoffnung säen.
Genau wie es Gott mit uns tut.
Nun wollen wir sehen, zu wem Jesus spricht.
Er wendet sich zunächst an einige Fischer aus Ga-
liläa. Das waren einfache Männer, die von ihrer
Hände Arbeit lebten und sich Tag und Nacht ab-
mühten. Sie waren keine Kenner der Heiligen
Schrift und taten sich bestimmt auch nicht durch
Wissen und Kultur hervor. Sie wohnten in einer
Gegend, die sich aus verschiedenen Völkern, Eth-
nien und Religionen zusammensetzte: Es war der
Ort, der himmelweit von der religiösen Reinheit
Jerusalems, am weitesten vom Zentrum des Lan-
des entfernt war. Doch Jesus fängt dort an, nicht
im Zentrum, sondern an der Peripherie. Und das
tut er, um auch uns zu sagen, dass das Herz
Gottes niemanden am Rande stehen lässt. Alle
können sein Wort empfangen und ihn persönlich
kennenlernen. Dazu gibt es ein schönes Detail im
Evangelium, wenn angemerkt wird, dass die Ver-
kündigung Jesu »nach« der von Johannes ergeht
(vgl. Mk 1,14). Das ist ein entscheidendes Nach-
her, das einen Unterschied kennzeichnet: Johan-
nes versammelte die Menschen in der Wüste,
wohin nur die kamen, die ihre Wohnorte verlas-
sen konnten. Jesus dagegen spricht von Gott im
Zentrum der Gesellschaft, zu allen dort, wo sie
sich befinden. Und er spricht nicht nur zu festge-
setzten Zeiten und Terminen; er spricht, während
er »am See […] entlangging«, zu Fischern, »die auf
dem See ihre Netze auswarfen« (V. 16). Er wen-
det sich an die Menschen an den alltäglichsten
Orten und zu ganz gewöhnlichen Zeiten. Das ist
also die universale Kraft des Wortes Gottes, das
jeden Menschen und jeden Lebensbereich er-
reicht.
UNICUIQUE SUUM NON PRAEVALEBUNT
Redaktion: I-00120 Vatikanstadt
51. Jahrgang – Nummer 4/5 – 29. Januar 2021Wochenausgabe in deutscher Sprache
Schwabenverlag AG
D-73745 Ostfildern
Einzelpreis
Vatikan d 2,20
Heilige Messe am Sonntag des Wortes Gottes
Ein Liebesbrief an uns
In dieser Ausgabe
Generalaudienz als Videostream aus der
Bibliothek des Apostolischen Palastes
am 20. Januar ................................................................................................ 2
Glückwünsche des Papstes an den
46. Präsidenten der Vereinigten Staaten,
Joseph R. Biden .......................................................................................... 2
Lebendige Gemeinde inmitten wertvoller
Kunstwerke: Santa Maria del Popolo ............ 5
Vesper in der Basilika St. Paul vor den
Mauern am Fest der Bekehrung des
Apostels Paulus und Abschluss der
Gebetswoche für die Einheit der
Christen....................................................................................................................... 6
Leitartikel unseres Direktors zur Botschaft
des Papstes zum Welttag der sozialen
Kommunikationsmittel................................................................ 8
Ansprache des Papstes beim Angelus
am Sonntag, 24. Januar ............................................................. 9
Gemeinsam unterwegs –
Beitrag von Kardinal Kurt Koch ................. 10-11
Papst Paul V. – Baumeister und Reform-
papst............................................................................................................................... 12
Das diesjährige Thema des »Sonntag des Wortes Gottes« war dem Brief des Apostels Paulus
an die Philipper entnommen: »Haltet fest am Wort des Lebens.« Im Gästehaus Santa Marta
übergab der Papst, der aufgrund eines erneuten Ischiasanfalls nicht die heilige Messe im
Petersdom feiern konnte, einige Exemplare einer Sonderausgabe der Bibel, die für diesen
Anlass angefertigt wurde, an einige Personen, stellvertretend für das ganze Volk Gottes, un-
ter ihnen der Fußballspieler des AS Roma, Lorenzo Pellegrini, mit seiner Familie; ein Student
der Bibelwissenschaften aus Pakistan; Katecheten aus römischen Pfarreien sowie Firmlinge,
ein Seminarist aus dem Südsudan, ein Professor für Infektionsmedizin. Einer blinden Frau
überreichte der Papst das Markusevangelium in Brailleschrift.
»Komm und sieh«
(Joh 1,46)
Kommunizieren, indem man
den Menschen begegnet,
wo und wie sie sind
Botschaft von Papst Franziskus
zum Welttag der
sozialen Kommunikationsmittel
Seite 7-8
Hinweis für die Leser
Liebe Leserinnen und Leser,
die nach wie vor bestehenden Corona-
Einschränkungen in Italien und im Vati-
kan sowie die damit in Zusammenhang
stehende personelle Situation in der Re-
daktion führen dazu, dass die heutige Aus-
gabe leider als Doppelnummer 4/5 er-
scheinen muss. Die nächste Ausgabe ist
zum 12. Februar 2021 geplant.
Wir bitten um Ihr Verständnis.
Fortsetzung auf Seite 3
Wir wollen nicht auf das Wort Gottes verzichten!
Es ist ein Liebesbrief, für uns von dem geschrieben,
der uns kennt wie kein anderer:
Beim Lesen hören wir wieder neu seine Stimme,
nehmen sein Gesicht war, empfangen wir seinen Geist.
#SonntagDesWortes.
Tweet von Papst Franziskus
29. Januar 2021 / Nummer 4/5 L’OSSERVATORE ROMANO Wochenausgabe in deutscher Sprache
2 Aus dem Vatikan
Liebe Brüder und Schwestern, guten Tag!
In dieser Katechese werde ich über das Gebet
für die Einheit der Christen sprechen. Denn die
Woche vom 18. bis zum 25. Januar ist insbeson-
dere diesem Gebet gewidmet: von Gott das Ge-
schenk der Einheit zu erbitten, um den Skandal
der Spaltungen unter denen, die an Jesus glauben,
zu überwinden. Er hat nach dem Letzten Abend-
mahl für die Seinen gebetet: »Alle sollen eins
sein« (Joh 17,21). Es ist sein Gebet vor dem Lei-
den, man könnte sagen, sein geistliches Testa-
ment. Allerdings sehen wir, dass der Herr den
Jüngern die Einheit nicht geboten hat. Und er hat
ihnen auch keinen Vortrag gehalten, um ihre Not-
wendigkeit zu begründen. Nein, er hat für uns
zum Vater gebetet, dass wir eins sein mögen. Das
bedeutet, dass wir allein nicht ausreichen, um mit
unseren Kräften die Einheit zu verwirklichen.
Die Einheit ist in erster Linie ein Geschenk, sie ist
eine Gnade, die man im Gebet erbitten muss.
Wurzel vieler Spaltungen
Jeder von uns braucht dies. Denn wir merken,
dass wir nicht einmal in der Lage sind, die Einheit
in uns selbst zu bewahren. Auch der Apostel Pau-
lus spürte in sich einen zerreißenden Konflikt:
das Gute zu wollen und zum Bösen zu neigen
(vgl. Röm 7,19). So hat er verstanden, dass die
Wurzel so vieler Spaltungen, die es in unserem
Umfeld gibt – unter Menschen, in der Familie, in
der Gesellschaft, unter den Völkern und auch un-
ter den Gläubigen –, in uns selbst liegt. Wie das
Zweite Vatikanische Konzil sagt, »hängen die
Störungen des Gleichgewichts, an denen die mo-
derne Welt leidet, mit jener tiefer liegenden
Störung des Gleichgewichts zusammen, die im
Herzen des Menschen ihren Ursprung hat. Denn
im Menschen selbst sind viele widersprüchliche
Elemente gegeben. […] So leidet er an einer in-
neren Zwiespältigkeit, und daraus entstehen
viele und schwere Zerwürfnisse auch in der Ge-
sellschaft« (Gaudium et spes, 10). Die Lösung für
die Spaltungen besteht also nicht darin, sich ge-
geneinander zu stellen, denn Zwietracht erzeugt
weitere Zwietracht. Das wahre Heilmittel be-
ginnt damit, Gott um Frieden, Versöhnung, Ein-
heit zu bitten.
Das gilt vor allem
für die Christen: Die
Einheit kann nur als
Frucht des Gebets
kommen. Diplomati-
sche Bemühungen und
akademische Dialoge
genügen nicht. Jesus
wusste das und hat
uns durch sein Beten
den Weg geebnet. So
ist unser Gebet um Ein-
heit eine demütige,
aber vertrauensvolle
Teilhabe am Beten des
Herrn, der verheißen
hat, dass der Vater je-
des Gebet erhören
wird, das wir in seinem Namen an ihn richten
(vgl. Joh 15,7). An diesem Punkt können wir uns
fragen: »Bete ich für die Einheit?« Es ist der Wille
Jesu, aber wenn wir die Anliegen, für die wir be-
ten, Revue passieren lassen, dann werden wir
wahrscheinlich merken, dass wir wenig, viel-
leicht nie, für die Einheit der Christen gebetet ha-
ben. Dennoch hängt der Glaube in der Welt da-
von ab; denn der Herr hat um die Einheit unter
uns gebetet, »damit die Welt glaubt« (Joh 17,21).
Die Welt wird nicht glauben, weil wir sie mit
guten Argumenten überzeugen, sondern wenn
wir die Liebe bezeugt haben, die uns vereint und
uns allen nahe sein lässt.
In dieser Zeit schwerwiegender Probleme ist
das Gebet, dass die Einheit über die Konflikte sie-
gen möge, noch notwendiger. Es ist dringend not-
wendig, Partikularismen zu beseitigen, um das
Gemeinwohl zu fördern, und dafür ist unser
gutes Vorbild grundlegend: Es ist von wesentli-
cher Bedeutung, dass die Christen den Weg zur
vollen, sichtbaren Einheit fortsetzen. In den letz-
ten Jahrzehnten wurden gottlob viele Fortschritte
gemacht, aber es ist notwendig, in der Liebe und
im Gebet zu verharren, ohne den Mut zu verlie-
ren und ohne müde zu werden. Es ist ein Weg,
den der Heilige Geist in der Kirche, in den Chris -
ten und in uns allen erweckt hat und auf dem wir
nicht wieder kehrtmachen. Immer vorwärts!
Für die Einheit kämpfen
Beten bedeutet, für die Einheit zu kämpfen. Ja,
kämpfen, denn unser Feind, der Teufel, ist – wie
das Wort bereits sagt – der Spalter. Jesus bittet um
die Einheit im Heiligen Geist, um die Schaffung
der Einheit. Der Teufel spaltet immer, weil es für
ihn von Vorteil ist zu spalten. Er flößt überall und
auf jede Weise Spaltung ein, während der Heilige
Geist immer in Einheit zusammenkommen lässt.
Der Teufel versucht uns im
Allgemeinen nicht über die
hohe Theologie, sondern
über die Schwächen der
Brüder und Schwestern. Er
ist listig: Er lässt die Fehler
und Mängel anderer riesen-
groß erscheinen, er sät
Zwietracht, er ruft Kritik
hervor und schafft Parteiun-
gen. Gottes Weg ist ein an-
derer: Er nimmt uns so, wie
wir sind, er liebt uns sehr, aber er liebt uns, wie
wir sind, und er nimmt uns, wie wir sind. Er
nimmt uns an in unserer Vielfalt, er nimmt uns
als Sünder an, und immer drängt er uns zur Ein-
heit. Wir können es an uns selbst überprüfen und
uns fragen, ob wir an den Orten, an denen wir le-
ben, die Konflikte nähren oder darum kämpfen,
die Einheit wachsen zu lassen mit den Mitteln,
die Gott uns gegeben hat: Gebet und Liebe. Die
Konflikte nährt man dagegen durch den Klatsch,
immer, indem man schlecht über andere redet.
Der Klatsch ist die leicht zugängliche Waffe, die
der Teufel hat, um die christliche Gemeinde zu
spalten, um die Familie zu spalten, um die
Freunde zu spalten, um immer zu spalten. Der
Heilige Geist inspiriert uns immer zur Einheit.
Das Thema dieser Gebetswoche betrifft die
Liebe: »Bleibt in meiner Liebe und ihr werdet rei-
che Frucht bringen« (vgl. Joh 15,5-9). Die Wurzel
der Gemeinschaft ist die Liebe Christi, die uns die
Vorurteile überwinden lässt, um im anderen ei-
nen Bruder und eine Schwester zu sehen, die im-
mer geliebt werden müssen. Dann entdecken
wir, dass die Christen anderer Konfessionen, mit
ihren Überlieferungen, mit ihrer Geschichte Ge-
schenke Gottes sind, dass sie Geschenke sind, die
in den Gebieten unserer Diözesan- und Pfarrge-
meinden gegenwärtig sind. Beginnen wir, für sie
und, wenn möglich, mit ihnen zu beten. So wer-
den wir lernen, sie zu lieben und wertzuschät-
zen. Das Gebet, so ruft das Konzil in Erinnerung,
ist die Seele der ganzen ökumenischen Bewe-
gung (vgl. Unitatis redintegratio, 8). Möge daher
das Gebet der Ausgangspunkt sein, um Jesus zu
helfen, seinen Traum zu verwirklichen: dass alle
eins sein sollen.
(Orig. ital. in O.R. 20.1.2021)
Generalaudienz als Videostream aus der Bibliothek des Apostolischen Palastes am 20. Januar
»Alle sollen eins sein«Für eine Welt
ohne AtomwaffenVatikanstadt. Bei der Generalaudi-
enz appellierte der Papst zu einem ent-
schiedenen Engagement für eine Welt
ohne Atomwaffen. Er sagte:
Übermorgen, am Freitag, 22. Januar,
wird der internationale Atomwaffenver-
botsvertrag in Kraft treten. Es handelt sich
im das erste rechtlich verbindliche inter-
nationale Mittel, das diese Sprengkörper,
deren Anwendung sich wahllos auswirkt,
in kürzester Zeit eine große Menge an
Menschen betrifft und sehr langfristige
Umweltschäden hervorruft, ausdrücklich
verbietet.
Ich ermutige aufrichtig alle Staaten und
alle Menschen, sich mit Entschlossenheit
dafür einzusetzen, die für eine Welt ohne
Atomwaffen notwendigen Voraussetzun-
gen zu unterstützen und so zum Fort-
schreiten des Friedens und der multilate-
ralen Zusammenarbeit beizutragen, die
die Menschheit heute so sehr braucht.
Papst Franziskus hat dem neuen US-Präsi-
denten, Joseph R. Biden, am Tag seiner Amts -
einführung am 20. Januar eine Glückwunsch-
botschaft gesandt, nachdem er ihm bereits
kurz nach seiner Wahl im November in einem
Telefonat persönlich gratuliert hatte. Biden ist
nach John F. Kennedy der zweite katholische
Präsident der Vereinigten Staaten. Im Folgen-
den der Wortlaut der Glückwünsche:
Zu Ihrer Amtseinführung als 46. Präsi-
dent der Vereinigten Staaten von Amerika
übermittle ich Ihnen meine allerherzlichsten
guten Wünsche und versichere Sie meines
Gebets, auf dass der Allmächtige Gott Ihnen
Weisheit und Kraft für die Ausübung Ihres
hohen Amtes schenken möge. Möge das
amerikanische Volk unter Ihrer Führung
auch weiterhin Kraft aus den erhabenen po-
litischen, ethischen und religiösen Werten
schöpfen, die die Nation seit ihrer Gründung
beseelt haben. Ich bete dafür, dass Ihre Ent-
scheidungen in einer Zeit, in der die schwe-
ren Krisen, mit denen sich unsere Mensch-
heitsfamilie konfrontiert sieht, Weitsicht und
gemeinsame Antworten fordern, geleitet sein
mögen von der Sorge um den Aufbau einer
durch authentische Gerechtigkeit und Frei-
heit geprägten Gesellschaft sowie von einer
niemals versagenden Achtung der Rechte
und der Würde eines jeden Menschen, ins-
besondere der Armen, der Schwachen und
all derer, die keine Stimme haben. Ich bitte
Gott, die Quelle aller Weisheit und Wahrheit,
auch darum, dass er Ihre Bemühungen leite,
Verständnis, Versöhnung und Frieden so-
wohl innerhalb der Vereinigten Staaten als
auch unter den Nationen der Welt zu för-
dern, um das universelle Gemeinwohl vor-
anzubringen. In diesem Sinne erbitte ich
gerne für Sie und Ihre Familie wie auch für
das geliebte amerikanische Volk die Fülle
von Gottes reichem Segen.
(Orig. engl.; ital. in O.R. 21.1.2021)
Globale ÄchtungVatikanstadt. Mit dem Papst unterstrich
auch Erzbischof Paul Richard Gallagher die Not-
wendigkeit einer weltweiten völkerrechtlichen
Ächtung von Atomwaffen. Angesichts »schwer-
wiegender Bedenken« müssten deren Einsatz
und Besitz verboten werden, forderte der Se-
kretär für die Beziehungen mit den Staaten im Va-
tikanischen Staatssekretariat in einem Interview
mit Vatican News am 21. Januar. Der Atomwaf-
fenverbotsvertrag (AVV) sei das erste internatio-
nale Rechtsinstrument, das nukleare Arsenale
explizit verbiete. Dadurch werde – mit Blick auf
die verschiedenen Arten von Massenvernich-
tungswaffen – eine gefährliche Lücke geschlos-
sen, so Gallagher. Atomwaffen müssten, ebenso
wie chemische und biologische Kampfstoffe,
»stigmatisiert und delegitimiert« werden. Das Ab-
kommen war im Sommer 2017 von 122 Staaten
bei den Vereinten Nationen in New York verab-
schiedet worden. Mehr als 80 Länder haben es
bisher unterzeichnet, darunter auch der Heilige
Stuhl als eigenes Völkerrechtssubjekt. Bei einem
Besuch im japanischen Hiroshima im November
2019 hatte der Papst schon den Besitz von Kern-
waffen als »unmoralisch« verurteilt. In der Enzy-
klika Fratelli tutti wird die vollkommene Ab-
schaffung von Atomwaffen als »moralische und
humanitäre Pflicht« gefordert. Die eingesparten
Rüstungsausgaben sollten in einen Weltfonds
fließen, »um dem Hunger ein für alle Mal ein
Ende zu setzen und die Entwicklung der ärmsten
Länder zu fördern«.
Erzbischof Gallagher bekräftigte diese Haltung
und betonte, dass Fortschritte bei der nuklearen
Abrüstung nur durch Dialog und Multilateralis-
mus zu erzielen seien. Das gelte auch für das am
5. Februar endende New-Start-Abkommen zwi-
schen Russland und den USA. Die bilaterale Über -
einkunft enthält eine Begrenzung der Nuklear-
Arsenale beider Länder. Bislang konnte keine Ei-
nigkeit über eine Verlängerung erzielt werden.
Vatikanstadt. Vor der Generalaudi-
enz traf Franziskus in der »Sala Clemen-
tina« des Apostolischen Palastes mit der
Fußballmannschaft der italienischen Stadt
La Spezia zusammen. Er beglückwünschte
die Mannschaft zu ihrem Sieg am Tag zu-
vor. Sie hätten »vier zu zwei« gesiegt, das
sei wie der Tango in Argentinien, »zwei
mal vier«, womit er auf den Zweivierteltakt
anspielte. Er bedankte sich für den Besuch,
denn »ich sehe es gern, wenn junge Män-
ner und Frauen sich im Sport anstrengen.
Denn der Sport ist etwas Wunderbares,
der Sport bringt das Beste hervor, das wir
in uns haben.«
Kurz notiert
Glückwunschbotschaft des Papstes an den 46. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika
Frieden und Versöhnung
Die Einheit der Christen kann nur
Frucht des Gebets sein. Jesus hat uns
durch sein Beten den Weg geebnet.
So ist unser Gebet um Einheit Teilhabe
am Beten des Herrn, der verheißen hat,
dass der Vater jedes Gebet erhören wird,
das wir in seinem Namen an ihn richten.
Tweet von Papst Franziskus
29. Januar 2021 / Nummer 4/5 L’OSSERVATORE ROMANO Wochenausgabe in deutscher Sprache
3Aus dem Vatikan und der Weltkirche
Liebender Dialog
mit dem Schöpfer
Vatikanstadt. Bei der Generalaudienz am
Mittwoch, 27. Januar, die wieder per Livestream
aus der Bibliothek des Apostolischen Palastes
übertragen wurde, setzte Papst Franziskus seine
Katechesereihe über das Gebet fort. Ein Mitarbei-
ter der deutschsprachigen Abteilung des Staats-
sekretariats trug die folgende Zusammenfassung
vor:
Liebe Brüder und Schwestern, im Rahmen
unserer Katechesenreihe über das Gebet wollen
wir uns heute dem Beten mit der Heiligen
Schrift widmen. Die Worte der Bibel sollen im
Leben des Lesers Frucht bringen. Dazu ist es
gut, Abschnitt für Abschnitt betend zu betrach-
ten. Für ein hörendes Herz wird die Heilige
Schrift so zu Gottes lebendigem Wort. Und wie
wir die Bibel lesen, so liest sie auch uns: Der
biblische Text ist wie ein Spiegel, in dem der Be-
ter sich selber erkennt. Um den reichen Schatz
des Wortes Gottes zu heben, hat sich in der mo-
nastischen Tradition die Methode der geistlichen
Schriftlesung – der lectio divina – entwickelt.
Sie besteht aus vier Schritten: Im aufmerksamen
Lesen nähert sich der Beter dem Text. In der
Meditation, etwa im Wiederholen eines Satzes,
versucht er einzelne Gedanken tiefer zu verste-
hen. Im Gebet fragt er, was Gott ihm damit sa-
gen will. In der Kontemplation schließlich sucht
er das Schöne und Gute in Gottes Wirken zu
schauen und tritt in einen liebenden Dialog mit
dem Schöpfer ein. Die Heilige Schrift ruft uns
auf, Gott Gehör zu schenken und das Gehörte in
die Tat umzusetzen. So haben sich viele Heilige
in ihrem Leben vom Wort Gottes führen lassen.
Der Heilige Vater grüßte die deutschsprachi-
gen Zuschauer und Zuhörer auf Italienisch.
Anschließend wurde folgende deutsche Überset-
zung der Grüße vorgelesen:
Einen herzlichen Gruß richte ich an die Gläu-
bigen deutscher Sprache. Wählen wir jeden Mor-
gen ein Wort der Bibel als unseren Begleiter für
den Tag. Es wird uns helfen, Gottes Willen besser
zu verstehen und zu leben. Der Heilige Geist leite
euch auf euren Wegen.
Vatikanstadt. Am Nachmittag des
26. Januar begab sich der Papst in die Ka-
pelle »Maria Königin der Familie«, die sich
im Gebäude des Governatorats des Staates
der Vatikanstadt befindet. Er nahm am
Requiem seines am 9. Januar verstorbenen
Leibarztes, Prof. Fabrizio Soccorsi, teil,
dem Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin
vorstand.******
Rom. In der Basilika Sant’Agnese sind
am 21. Januar die Agnes-Lämmer gesegnet
worden, aus deren Wolle die Stolen fur neu-
ernannte Metropolitan-Erzbischöfe gefer-
tigt werden. Die Zeremonie fand am Fest
der fru hchristlichen Märtyrerin Agnes bei
der nach ihr benannten Katakombe an der
Via Nomentana statt. Gott habe das Schwa-
che erwählt, um das Starke zuschanden zu
machen, sagte Franco Bergamin, Gene-
ralabt der Augustiner-Chorherren vom
Lateran, bei der Segnung der beiden
weißen, mit Blumen bekränzten Tiere. Aus
der Wolle der Lämmer, die in Körben zu der
Segenshandlung hereingetragen wurden,
weben Ordensfrauen die Pallien.
******
Rom. Italiens Kulturhauptstadt für
2022 ist eine kleine Insel. Wie das Kultur-
und Tourismusministerium am 18. Januar
in Rom mitteilte, fiel die Wahl auf die Insel
Procida im Golf von Neapel. Mit dem Titel
verbunden sind eine Million Euro Staats-
zuschüsse für Strukturmaßnahmen. An-
ders als Capri und Ischia hat Tourismus für
Procida keine größere Bedeutung. Be-
kannt ist aber die Karfreitagsprozession
auf der Insel.
Kurz notiert
Erich Leitenberger
gestorben
Wien. Der frühere Chefredakteur der öster-
reichischen Presseagentur Kathpress und lang-
jährige Pressesprecher der Erzdiözese Wien, ist
tot. Erich Leitenberger starb am 18. Januar mit 76
Jahren in Wien. Kardinal Christoph Schönborn
sagte, er verliere einen guten, langjährigen
Freund. Leitenberger sei über viele Jahre die
»Stimme der katholischen Kirche in Österreich«
gewesen. Für ihn sei Leitenberger »all die Jahre
eine unverzichtbare Stütze, ein kluger Berater,
Krisenmanager und ein Mann mit einem treffsi-
cheren Gespür und Urteil« gewesen.
Die Republik Österreich würdigte seine Ver-
dienste mit dem »Großen Ehrenzeichen«. Kirch-
lich wurde er mit dem päpstlichen Gregoriusor-
den ausgezeichnet. Bis zuletzt war er Sprecher
des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRKÖ)
und der Stiftung »Pro Oriente«.
Vatikanstadt/Bagdad. Papst Franziskus
hat den Sprengstoffanschlag auf einen belebten
Markt in Bagdad als »sinnlosen Akt der Brutalität«
verurteilt. Er vertraue auf die Bemühungen aller
Seiten, Gewalt durch Geschwisterlichkeit, Solida-
rität und Frieden zu überwinden, hieß es in ei-
nem Telegramm an den irakischen Staatspräsi-
denten Barham Salih, das am 21. Januar ver-
öffentlicht wurde. Der Papst bete für die Todes-
opfer und deren Familien sowie für die Verletzten
und Einsatzkräfte. Laut Medienberichten hatten
sich am Morgen des 21. Januar zwei Selbstmord -
attentäter auf dem Tayaran-Platz im Zentrum Bag-
dads in die Luft gesprengt und mehr als 30 Men-
schen mit sich in den Tod gerissen. Dutzende
wurden verletzt.
Anfang März will Papst Franziskus den Irak
besuchen; im Mittelpunkt des Programms soll
Bagdad stehen. Der chaldäisch-katholische Patri-
arch Kardinal Louis Raphaël Sako hat in diesen
Tagen die katholischen Bischöfe des Irak im Pa-
triarchat in Bagdad versammelt, um uber den an-
stehenden Besuch zu beraten und am konkreten
Programm zu arbeiten. Als vorgesehene Statio-
nen wurden bisher Bagdad, Erbil, Mossul, Kara-
kosch und Ur benannt.
Gewalt durch
Geschwisterlichkeit
besiegen
Heilige Messe am Sonntag des Wortes Gottes
Aber das Wort Gottes besitzt auch eine spezi-
fische Kraft, das heißt, sie wirkt sich auf jeden di-
rekt und persönlich aus. Die Jünger werden nie
mehr die Worte vergessen, die sie an diesem Tag
am Ufer des Sees, in der Nähe der Boote, der Fa-
milienangehörigen und der Arbeitskollegen ver-
nommen haben. Es sind Worte, die für immer ihr
Leben prägen werden. Jesus sagt zu ihnen:
»Kommt her, mir nach! Ich werde euch zu Men-
schenfischern machen« (V. 17). Er beeindruckt sie
nicht mit hochstehenden und abgehobenen Re-
den, sondern spricht sie in ihrer Lebenswirklich-
keit an: Zu Fischern, die Fische fangen, sagt er, sie
werden Menschenfischer werden.
Wenn er zu ihnen gesagt hätte: »Kommt her,
mir nach, ich werde euch zu Aposteln machen:
Ihr werdet in alle Welt gesandt werden, um das
Evangelium in der Kraft des Heiligen Geistes zu
verkünden, ihr werdet getötet, aber heilig wer-
den«, dann können wir uns vorstellen, dass Pe-
trus und Andreas ihm geantwortet hätten:
»Danke, aber wir bleiben lieber bei un-
seren Booten und Netzen.« Jesus hin-
gegen ruft sie vor dem Hintergrund ih-
res Lebens: »Ihr seid Fischer, ihr
werdet Menschenfischer.« Von die-
sem Satz getroffen, werden sie Schritt
für Schritt entdecken, dass das Leben
als Fischer nichts Besonderes war,
dass aber das Geheimnis der Freude darin be-
steht, auf das Wort Jesu hin ins Weite hinauszu-
fahren. So macht es der Herr auch mit uns: Er
sucht uns dort, wo wir stehen, er liebt uns so, wie
wir sind, und begleitet geduldig unsere Schritte.
Wie auf jene Fischer, so wartet er auch auf uns an
den Ufern des Lebens. Durch sein Wort will er
uns dazu bringen, den Kurs zu ändern, damit wir
aufhören, nur ein bisschen vor uns hin zu leben,
und stattdessen ihm nach ins Weite hinauszu -
fahren.
Daher, liebe Brüder und Schwestern, wollen
wir nicht auf das Wort Gottes verzichten. Es ist
ein Liebesbrief, für uns von dem geschrieben, der
uns kennt wie kein anderer: Beim Lesen hören
wir wieder neu seine Stimme, nehmen wir sein
Gesicht wahr, empfangen wir seinen Geist. Das
Wort lässt uns Gott nahe sein – halten wir es
nicht fern von uns. Tragen wir es immer bei uns
– in der Tasche, auf dem Telefon – und geben wir
ihm einen würdigen Platz in unseren Häusern.
Stellen wir die Heilige Schrift auf einen Platz, wo
wir daran erinnert werden, sie täglich aufzu-
schlagen, vielleicht am Beginn und
am Ende des Tages, sodass unter all
den Worten, die an unsere Ohren
dringen, der eine oder andere Vers
des Wortes Gottes zu unserem Her-
zen gelangt. Dafür bitten wir den
Herrn um die Kraft, den Fernseher
auszuschalten und die Bibel aufzu-
schlagen; das Handy beiseitezulegen und das
Evangelium zur Hand zu nehmen. In diesem Jah-
reskreis lesen wir das Markusevangelium, es ist
das einfachste und kürzeste. Warum lesen wir es
nicht auch allein, jeden Tag einen kurzen Ab-
schnitt? Dies wird uns spüren lassen, dass der
Herr nahe ist, und uns auf unserem Lebensweg
mit Mut erfüllen.
Fortsetzung von Seite 1
Erzbischof Salvatore Fisichella, Präsident des
Päpstlichen Rats zur Förderung der Neuevangeli-
sierung, stand in Vertretung des Papstes der hei-
ligen Messe vor und verlas auch dessen Predigt.
Bessere Zusammenarbeit bei Impfstoffen
Vatikanstadt. Der Vatikan
hat erneut nachdrücklich zur
Teilnahme an Corona-Impfungen
aufgerufen. Der Schutz vor einer
Covid-Erkrankung sei ethisch ge-
boten. »Du spielst mit deiner Ge-
sundheit, du spielst mit deinem
Leben, aber du spielst auch mit
dem Leben anderer«, schrieb die
Päpstliche Akademie für das Le-
ben mit einem Zitat von Papst
Franziskus am 19. Januar auf
Twitter. Der Akademiepräsident
Erzbischof Vincenzo Paglia und
Kanzler Renzo Pegoraro ließen
sich der Kurzmitteilung zufolge
an diesem Tag ebenfalls immuni-
sieren. Sowohl Papst Franziskus
als auch Ethik-Experten des Vatikan hatten zuvor
mehrfach für Impfungen geworben und Impf -
gegner als unsolidarisch kritisiert.
Außerdem haben am Mittwochvormittag,
20. Januar, 25 wohnsitzlose Menschen ihre erste
Impfdosis gegen das Coronavirus erhalten, wie
der Direktor des Presseamtes des Heiligen Stuhls,
Matteo Bruni, mitteilte. Die Obdachlosen seien
derzeit in Einrichtungen des Päpstlichen Almo-
senamtes in Rom untergebracht. In der Woche
zuvor hatte das vatikanische Gesundheitsamt
(FAS) mit den ersten Immunisierungen von Be-
wohnern des Vatikanstaates und Kurienmitarbei-
tern begonnen, unter ihnen Papst Franziskus und
sein Vorgänger Benedikt XVI. Franziskus hat
wiederholt Regierungen und Behörden weltweit
dazu aufgerufen, auch den Ärmsten Zugang zu
Impfungen zu verschaffen.
In diesem Zusammenhang appellierte die
Päpstliche Akademie für das Leben am 22. Januar
an Regierungen, EU-Organisationen und die
Weltgesundheitsbehörde WHO, sich für eine bes-
sere Zusammenarbeit bei der Herstellung und
Verteilung von Corona-Impfstoffen einzusetzen.
Impfstoffe müssten gleichzeitig in verschiedenen
Standorten auf der Welt hergestellt werden, dazu
brauche es internationale Verträge, heißt es in ei-
ner Stellungnahme der Akademie. Nur so sei die
Logik des »Impfnationalismus« zu durchbrechen,
bei dem reiche Staaten sich ohne Rücksicht auf
ärmere gleich als erste eine hinreichende Menge
Impfstoffe sicherten.
Obdachlose und Missionarinnen der Nächstenliebe warten im
Vatikan auf ihre Impfung.
Urteile im Strafprozess
um Immobilienverkäufe
Vatikanstadt. Der frühere Präsident der
Vatikanbank (IOR, »Istituto per le Opere di Reli-
gione«), Angelo Caloia (81), und sein Rechtsbe-
rater Gabriele Liuzzo (97) sind von einem Ge-
richt im Vatikan zu jeweils acht Jahren und elf
Monaten Freiheitsstrafe wegen Geldwäsche
und Unterschlagung verurteilt worden. Der in
die Geschäfte involvierte Sohn Gabriele Liuzzos,
Lamberto Liuzzo, erhielt fünf Jahre und zwei
Monate.
Das erstinstanzliche Urteil folgte auf einen
fast dreijährigen Strafprozess um umstrittene
Immobilienverkäufe in den Jahren zwischen
2002 und 2007, durch die der Vatikanbank IOR
Schaden in zweistelliger Millionenhöhe entstan-
den war. Die Verurteilten kündigten nach dem
Richterspruch am Donnerstagabend, 21. Januar,
Berufung an.
Globale Verantwortung
für das KlimaVatikanstadt. Auf dem Klima-Anpassungs-
gipfel hat Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin in
einer Videobotschaft die Stärkung des Multilate-
ralismus und Solidarität vor allem mit armen
Ländern angemahnt. Die Erderwärmung mit
ihren Folgen stelle eine der Hauptherausforde-
rungen der Menschheit dar, sagte er im Rahmen
der Beratungen der Staats- und Regierungschefs,
die am 25. Januar begonnen haben.
Bei dem von den Niederlanden organisierten
virtuellen Treffen wollten sich unter anderem
UN-Generalsekretär Antonio Guterres, Bundes-
kanzlerin Angela Merkel sowie der Klima-Be-
auftragte der neuen US-Regierung, John Kerry,
zu Wort melden.
Die bevorstehende Aufgabe sei »schwierig
und komplex«, aber die Weltgemeinschaft be-
sitze die Freiheit, die Intelligenz und die Fähigkeit
zu einem menschlicheren, sozialeren und ganz-
heitlicheren Fortschritt. Es gelte jetzt auch den
politischen Willen zu zeigen und zu einer globa-
len gemeinsamen Verantwortung zu finden, so
Parolin.
Privataudienzen
Der Papst empfing:
21. Januar:
– den Präfekten der Kongregation für die Selig-
und Heiligsprechungsprozesse, Kardinal Mar-
cello Semeraro;
22. Januar:
– den Vorsitzenden der Italienischen Bischofs-
konferenz, Kardinal Gualtiero Bassetti, Erzbi-
schof von Perugia-Città della Pieve (Italien);
– den Präfekten des Dikasteriums für die Laien,
die Familie und das Leben, Kardinal Kevin Jo-
seph Farrell;
– den Präfekten der Kongregation für den Gottes-
dienst und die Sakramentenordnung, Kardinal
Robert Sarah;
23. Januar:
– den Präfekten der Kongregation für die
Bischöfe, Kardinal Marc Ouellet.
Bischofskollegium
Ernennungen
Der Papst ernannte:
20. Januar:
– zum Bischof der Diözese Nicopoli (Bulgarien):
Strahil Veselinov Kavalenov, bisher Apostoli-
scher Administrator »sede vacante« dieser Diö-
zese;
25. Januar:
– zum Metropolitan-Erzbischof von Naxos, An -
dros, Tinos, Mykonos und Apostolischen Admi-
nistrator der Diözese Chios (Griechenland): Josif
Printezis, bisher Pfarrer der Kathedrale in Syros;
– zum Bischof der Diözese Kalisz (Polen): Da-
mian Bryl, bisher Weihbischof in der Metropo -
litan-Erzdiözese Posen und Titularbischof von
Suliana.
Rücktritte
Der Papst nahm die Rücktrittsgesuche an:
25. Januar:
– von Erzbischof Nikolaos Printezis von der
Leitung der Metropolitan-Erzdiözese Naxos,
Andros, Tinos, Mykonos sowie als Apostolischer
Administrator der Diözese Chios (Griechen-
land);
– von Bischof Joseph Luc André Bouchard
von der Leitung der Diözese Trois-Rivières (Ka-
nada);
Todesfälle
Am 19. Januar ist der emeritierte Bischof von
Kimbe in Papua-Neuguinea, William Fey, aus
dem Orden der Kapuziner, im Alter von 78 Jah-
ren in Pittsburgh in den Vereinigten Staaten von
Amerika gestorben.
Am 20. Januar ist der emeritierte Bischof von
Masaka in Uganda, John Baptist Kaggwa, im
Alter von 77 Jahren im »Mulago National Refer-
ral Hospital« in Kampala gestorben.
Am 22. Januar ist der emeritierte Bischof von
Chioggia und Vittorio Veneto in Italien, Alfredo
Magarotto, im Alter von 93 Jahren gestorben.
Am 24. Januar ist der emeritierte Bischof von
Lancaster in England, Patrick O’Donoghue, im
Alter von 86 Jahren in Irland gestorben.
Am 26. Januar ist der emeritierte Bischof von
Armidale in Australien, Luc Julian Matthys, im
Alter von 85 Jahren gestorben.
Der Apostolische Stuhl
Römische Kurie
Der Papst ernannte:
20. Januar:
– zum Mitglied der Päpstlichen Akademie der
Sozialwissenschaften: Prof. Jutta Allmendin-
ger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Ber-
lin für Sozialforschung (WZB);
21. Januar:
– zum Mitglied der Päpstlichen Akademie der
Sozialwissenschaften: Prof. Rodrigo Guerra
López, Professor mit Forschungsauftrag am Phi-
lisophischen Seminar und Mitglied des »Consejo
de Gobierno del Centro de Investigación Social
Avanzada« (CISAV) in Santiago de Querétaro
(Mexiko);
22. Januar:
– zu Konsultoren des Päpstlichen Rats für die
Gesetzestexte als Experten für den Codex des
kanonischen Rechtes: Sac. Davide Cito, Prof.
für kanonisches Strafrecht an der Päpstlichen
Universität vom Heiligen Kreuz; P. Andrea
D’Auria FSCB, Ord. Prof. für kanonisches
Recht an der Päpstlichen Universität Urbaniana;
P. Bruno Esposito OP, Referendar des Obers -
ten Gerichtshofs der Apostolischen Signatur
und Richter am Kirchengericht des Vikariats der
Vatikanstadt; P. Sebastiano Paciolla OCist,
Kirchenanwalt am Obersten Gerichtshof der
Apos tolischen Signatur; P. Ulrich Rhode SJ,
Ord. Prof. für Kanonisches Recht an der Päpstli-
chen Universität Gregoriana; Prof. Vincenzo
Buonomo, Rektor der Päpstlichen Lateran-Uni-
versität;
– zu Konsultoren des Päpstlichen Rats für die
Gesetzestexte als Experten für Ostkirchenrecht:
Elie Béchara Haddad, griechisch-melkitischer
Erzbischof von Sidon; Hanna G. Alwan, Titu -
larbischof von Sarepta und Kurienbischof von
Antiochia der Maroniten; Prälat Paul Pallath,
Relator der Kongregation für die Selig- und Hei-
ligsprechungsprozesse;
25. Januar:
– zu Konsultoren der Kongregation für die Glau-
benslehre: Msgr. Antonio Pitta, Pro-Rektor der
Päpstlichen Lateran-Universität; Sac. Luca Ezio
Bolis, Professor an der Theologischen Fakultät
Norditaliens; Sac. Alessandro Clemenzia, Pro-
fessor an der Theologischen Fakultät Mittelitali-
ens;
– zu Mitgliedern der Päpstlichen Bibelkommis-
sion: Andrés María García Serrano, Prof. für
Neues Testament an der Universidad Eclesiá-
stica San Dámaso, Madrid (Spanien); Federico
Giuntoli, Prof. für Altes Testament am Päpstli-
chen Bibelinstitut, Rom (Italien); Marcin Ko-
walski, Prof. für Neues Testament an der Ka-
tholischen Universität Lublin (Polen); Blazej
Strba, Prof. an der Comenius-Universität in Bra-
tislava, Badín (Slowakei); P. Paul Béré SJ, Prof.
für Heilige Schrift am Päpstlichen Bibelinstitut,
Rom (Italien); P. Philippe Lefebvre OP, Prof.
für Altes Testament an der Université de Fri-
bourg (Schweiz); P. Henry Pattarumada-
thil SJ, Prof. für Heilige Schrift am Päpstlichen
Bibelinstitut, Rom (Italien); Bénédicte Lemme-
lijn, Professorin für Altes Testament an der Ka-
tholieke Universiteit Leuven (Belgien); Maria
Armida Nicolaci, Professorin für Heilige
Schrift an der Päpstlichen Theologischen Fakul-
tät Sizilien San Giovanni Evangelista, Palermo
(Italien).
VATIKANISCHES BULLETIN
L’OSSERVATORE ROMANOWochenausgabe in deutscher Sprache
51. JahrgangHerausgeber: Apostolischer Stuhl
Verantwortlicher Direktor: Andrea Monda
Redaktion
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29. Januar 2021 / Nummer 4/5
4
L’OSSERVATORE ROMANO Wochenausgabe in deutscher Sprache
Aus dem Vatikan
Papst Franziskus hat den Opfern der
Explosion eines Gebäudes, das zur Madri-
der Pfarrei »Virgen de la Paloma« gehört,
sein Beileid und seine Nähe bekundet. In
einem von Kardinalstaatssekretär Pietro
Parolin unterzeichneten Telegramm an
den Erzbischof von Madrid, Kardinal Car-
los Osoro Sierra, heißt es, der Papst bitte
um »ewige Ruhe für die Opfer« sowie Ge-
nesung und Frieden für Verletzte und ihre
Angehörigen. Bei der durch ein Gasleck
verursachten Explosion am 20. Januar ka-
men vier Menschen ums Leben, darunter
der 36-jährige Priester Rubén Pérez Ayala.
Die Wucht der Detonation hat drei Etagen
des Gebäudes komplett zerstört. Es wur-
den gerade Arbeiten an der Gasheizung
durchgeführt.
*******
Anlässlich des »Martin Luther King
Tags«, der am 18. Januar in den Vereinigten
Staaten begangen wurde, hat Papst Fran-
ziskus sich in einem Brief an dessen Toch-
ter Bernice gewandt und die Teilnehmer
am Gedenkgottesdienst gegrüßt. Er be-
tonte in dem Schreiben, dass »Dr. Kings
Traum von Harmonie und Gleichberechti-
gung für alle Menschen, angestrebt mit
friedlichen, gewaltfreien Mitteln« weiter-
hin aktuell sei, gerade in der heutigen Welt,
wo immer mehr soziale Ungerechtigkeit,
Spaltungen und Konflikte die Verwirkli-
chung des Gemeinwohls behinderten.
*******
Angesichts der Corona-Infektionslage
in Italien hat der Vatikan die traditionellen
Exerzitien der Kurie zu Beginn der Fasten-
zeit abgesagt. Stattdessen lade der Papst
die in Rom ansässigen Kardinäle, die Leiter
der Dikasterien und die Oberen der Römi-
schen Kurie ein, private Einkehrtage zu
halten und sich von Sonntagnachmittag,
21. Februar bis 26. Februar zum Gebet
zurückzuziehen, so die Mitteilung des
Presseamtes vom 20. Januar. Im betreffen-
den Zeitraum sind alle offiziellen Termine
des Papstes abgesagt, darunter die Gene-
ralaudienz am 24. Februar.
Aus dem Vatikanin Kürze
Vatikanstadt. Papst Franziskus hat am
21. Januar den Präfekten der Kongregation
für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse,
Kardinal Marcello Semeraro, in Audienz
empfangen. Bei der Audienz hat der Papst
die Kongregation autorisiert, folgende De-
krete zu promulgieren. Sie betreffen:
– das Martyrium des Dieners Gottes Gio-
vanni Fornasini, Diözesanpriester; geboren
in Pianaccio di Lizzano in Belvedere (Italien)
am 23. Februar 1915; getötet aus Glaubens-
hass in San Martino di Caprara (Italien) am 13.
Oktober 1944;
– den heroischen Tugendgrad des Dieners
Gottes Michele Arcangelo Maria Antonio
Vinti, Diözesanpriester; geboren in Grotte
(Italien) am 18. Januar 1893; gestorben eben-
dort am 17. August 1943;
– den heroischen Tugendgrad des Dieners
Gottes Ruggero Maria Caputo, Diözesan-
priester; geboren in Barletta (Italien) am 1.
Mai 1907; gestorben ebendort am 15. Juni
1980;
– den heroischen Tugendgrad der Diene-
rin Gottes Mary Joseph of Jesus (mit bür-
gerlichem Namen: Elizabeth Prout), Grün-
derin der Kongregation der Sisters of the Cross
and Passion; geboren in Shrewsbury (Eng-
land) am 2. September 1820; gestorben in Sut-
ton (England) am 11. Januar 1864;
– den heroischen Tugendgrad des Dieners
Gottes Santiago Masarnau Fernández,
Laie; geboren in Madrid (Spanien) am 10. De-
zember 1805; gestorben ebendort am 14. De-
zember 1882;
– den heroischen Tugendgrad des Dieners
Gottes Pasquale Canzii, Seminarist; gebo-
ren in Bisenti (Italien) am 6. November 1914;
gestorben in Penne (Italien) am 24. Januar
1930;
– den heroischen Tugendgrad des Dieners
Gottes Jérôme Lejeune, Laie; geboren in
Montrouge (Frankreich) am 13. Juni 1926;
gestorben in Paris (Frankreich) am 3. April
1994;
– den heroischen Tugendgrad der Diene-
rin Gottes Adele Bonolis, Laiin, Gründerin
der Opere di Assistenza e Redenzione Sociale;
geboren in Mailand (Italien) am 14. August
1909; gestorben ebendort am 11. August
1980.
Promulgation von Dekreten
Kirchenversammlung in
Lateinamerika mit
Beteiligung der Laien
Mexiko-Stadt/Vatikanstadt. Eine für
den Herbst geplante Kirchenversammlung für
Lateinamerika und die Karibik soll nach dem
Willen von Papst Franziskus unter breiter Betei-
ligung von katholischen Laien stattfinden. Träger
dürfe nicht nur eine »Elite« sein, sagte der Papst
in einer Videobotschaft zur Auftaktveranstal-
tung, die am Sonntag, 24. Januar, in Mexiko-
Stadt abgehalten wurde. Das Treffen müsse Zei-
chen für eine Kirche sein, die niemanden
ausschließt. Die kontinentale Kirchenversamm-
lung soll vom 21. bis 28. November in Mexiko
stattfinden. Ihr Motto lautet: »Wir alle sind mis-
sionarische Jünger im Aufbruch«.
Organisiert wird das Treffen vom Lateiname-
rikanischen Bischofsrat (CELAM). Diese Kir-
chenversammlung sei eine Premiere, betonte der
Papst in seiner Botschaft an den CELAM-Vorsit-
zenden, den peruanischen Erzbischof Miguel
Cabrejos Vidarte. Anders als bei den Treffen der
lateinamerikanischen Bischöfe wie zuletzt in
Aparecida 2007 sei »das ganze Volk Gottes auf
dem Weg« aufgerufen, gemeinsam den Willen
Gottes für die Kirche zu suchen. Wichtig sei das
Hören auf Christus im Gebet. Eröffnet wurde die
Vorbereitungszeit mit einer Messe in der Wall-
fahrtsbasilika von Guadalupe.
29. Januar 2021 / Nummer 4/5 L’OSSERVATORE ROMANO Wochenausgabe in deutscher Sprache
5Kultur
Zweifellos ist sie eine der bedeutends -ten Kirchen Roms: Santa Maria del Popolo,Basilica minor, gelegen an der Piazza delPopolo, an der Nordseite des historischenZentrums.
Von Christa Langen-Peduto
Erst gab es das antike Stadttor, die Porta
Flaminia, die im 16. Jahrhundert wie-
deraufgebaut wurde. Alle, die von Nor-
den über die altrömische Via Flaminia kommend
Einlass in Rom begehrten, Krieger, Wanderer und
Pilger, schließlich Pilgerscharen, mussten das ar-
chitektonisch schöne Monument durchqueren.
Einmal passiert, stand einst linksseitig eine Pap-
pel (lateinisch populus). Der Legende nach war
sie von bösen Geistern bewohnt, die das unter
dem Baum befindliche Grab Kaiser Neros be-
wachten, aber auch die Passanten belästigten.
Soweit die römische Überlieferung. Papst Pascha-
lis II. (1099-1118) machte jedenfalls jenem Trei-
ben ein Ende, ließ den Baum fällen und dort
zunächst eine Marienkapelle bauen. Papst Gre-
gor IX. ersetzte sie 1231 durch eine größere Kir-
che »für das Volk«.
Bis heute ist unklar, ob sich der Name der Ba-
silica minor Santa Maria del Popolo auf die Pappel
bezieht oder auf das Volk. Jedenfalls steht der
Hochaltar über den Wurzeln des einstigen Bau-
mes. Und die Porta Flaminia wurde dann in Porta
del Popolo umbenannt. Solange Rom keine Mil-
lionenstadt war und es noch keine Flugzeuge und
Züge gab, war das Tor-Monument weiterhin der
Durchlass für von Norden eintreffende Besucher.
Auch Goethe durchquerte 1786 die Porta del Po-
polo und ließ sich nur 300 Schritte entfernt in der
Via del Corso 18 nieder. Über Jahrhunderte hin-
weg waren die Passanten aber vor allem christli-
che Pilger, die dann gleich zum Gebet in die erste
Kirche der ewigen Stadt eilten, an der sie vorbei-
kamen. Nämlich Santa Maria del Popolo.
Heutzutage hat sie 2500 Gemeindemitglie-
der. »Pro Jahr haben wir circa zwölf Kom-
munionkinder, feiern 20 Taufen und 20 bis 30
Trauungen«, erzählt Pater Ivan Caputo. Er ist seit
fünf Jahren Pfarrer der Kirche und zugleich Prior
des dazugehörigen Klosters der Augustiner-Ere-
miten. Übrigens soll einigen Biographen zufolge
Martin Luther als junger Mönch während seines
Romaufenthaltes dort übernachtet haben. Doch
einen schriftlichen Nachweis dafür müsse man in
seinem Kloster erst noch suchen, sagt Pater Ivan:
»Bis jetzt gibt es nur die Überlieferung.«
Die meisten Pfarrmitglieder müssen die Porta
del Popolo durchqueren, um zur Messe zu kom-
men. Der Gemeindebereich erstreckt sich bis
zum Marineministerium an der Via Flaminia. Die
Häuser sind vielstöckig, robust gebaut gegen
Ende des 19. Jahrhunderts, als sich Rom mehr
und mehr zur Hauptstadt entwickelte und viele
Italiener aus anderen Teilen des Landes anzog.
Heutzutage herrscht dort geschäftiges Treiben
mit viel Autolärm. Es gibt eine U-Bahn-Station, ei-
nen alten Regionalbahnhof mit Zügen in Rich-
tung Viterbo, eine hochmoderne viel genutzte
Straßenbahn, die am Piazzale Flaminio endet und
im Zwei- bis Drei-Minuten-Takt verkehrt.
Doch gleich nach dem Durchqueren des Tores
kehrt weitgehend Ruhe ein. Die 16.000 Quadrat-
meter große Piazza del Popolo, im 19. Jahrhun-
dert neoklassizistisch neu gestaltet von dem re-
nommierten Architekten Giuseppe Valadier, ist
Fußgängerinsel. Es ist einer der berühmtesten
Plätze Roms und fasst 65.000 Menschen. Der
Platz mit seinem ägyptischen Obelisken aus dem
Jahr 10 v. Chr. in der Mitte ist das Reich von spie-
lenden Kindern, von Straßenkünstler-Darbietun-
gen, aber auch von politischen Kundgebungen
und mitunter heftigen Tumulten.
Türder Welt
Zur Basilika gleich neben dem Tor geht es ein
paar Stufen hoch. Drinnen herrscht wohltuende
Stille, in diesen Corona-Krisenzeiten noch mehr
als sonst. Normal, das heißt sonntags mit vielen
Messbesuchern, ging es dort zuletzt bis Anfang
März 2020 zu. Fünf Messen an Sonn- und Feier-
tagen, drei werktags, das war die Regel. Dann
kam der erste Lockdown Italiens, bei dem fast
zwei Monate gar keine Gottesdienste erlaubt wa-
ren, und auch ab Herbst gab es wieder mehr
Restriktionen. Pater Ivan: »Wir mussten verschie-
dene Aktivitäten einstellen, weil wir keine größe-
ren Räume mit guter Durchlüftung zur Verfügung
haben. Wir sind dann auch zu Veranstaltungen in
Streaming übergegangen, um wenigstens jene
Gläubigen zu erreichen, die aus Alters- oder
Krankheitsgründen Angst haben, in die Ge-
meinde zu kommen. Das gilt auch für die Kate-
chismus-Kinder und ihre Familien.« Leider habe
man auch »Janua Mundi«, das kreativ gestaltete
Gemeindeblatt, einstellen müssen. Es ist latei-
nisch benannt nach der Porta del Popolo, die jahr-
tausendelang »Tür der Welt« war.
Eines der letzten Events vor Beginn des ersten
Lockdowns 2020 war im Februar der Zwei-Tage-
Besuch des polnischen Kardinals Stanislaw Dzi-
wisz, einst Privatsekretär von Papst Johannes
Paul II., der Santa Maria del Popolo als römische
Titelkirche erhalten hatte. Pater Ivan: »Ich habe
frühmorgens mit ihm die Eucharistie gefeiert.
Dann hat er sich brüderlich mit der Ordensge-
meinschaft beim Frühstück getroffen und uns ei-
nige Aspekte des Lebens und Wirkens des heili-
gen Johannes Paul II. erläutert.« Danach wurde es
still in Santa Maria del Popolo, wegen des ersten
Lockdowns. Distanz zu halten und Maske zu tra-
gen ist auch jetzt noch Pflicht für Gottesdienstbe-
sucher. Und Gruppenführungen in der Kirche
sind derzeit nicht erlaubt.
In normalen Zeiten ist Santa Maria del Popolo
eine der meistbesuchten Kirchen von Pilgern aus
aller Welt. Sie hat eine komplizierte Baugeschichte
und unglaublich reiche Kunstschätze wie
Gemälde, Skulpturen und kunsthistorisch inter-
essante Grabmonumente zu bieten. Architekten
und Bildhauer, darunter Bramante, Bregno und
Sansovino, große Künstler wie Raffael, Caravag-
gio, Bernini und Pinturicchio wirkten dort.
Aus der kleinen Marienkapelle vom Anfang
des zweiten Jahrtausends wurde schon bald eine
gotische Kirche. Papst Sixtus IV. della Rovere ließ
1472 den bestehenden Bau abtragen und eine
neue Kirche sowie das anschließende Kloster er-
richten. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts wurde
das Gotteshaus im Stil der Frührenaissance um-
gestaltet und erweitert. Heutzutage ist es eine
dreischiffige Gewölbekirche mit Querhaus und
Chor im lombardischen Stil der Renaissance.
Gianlorenzo Bernini baute zwischen 1655 und
1661 im Auftrag von Papst Alexander VII. (1655-
1667) die beiden Flügel des Querschiffes um.
Gleich vom Hauptportal aus fällt der Blick auf
die wunderschöne Ikone im bzyantinischen Stil
vorn über dem Hochaltar. Das aus der Kapelle
Sancta Sanctorum am Lateran stammende Gna-
denbild der »Madonna del Popolo mit dem seg-
nenden Christuskind« wird in Rom hoch verehrt,
ist aber auch weit über Italien hinaus bekannt.
Maria neigt den Kopf zum bekleideten Jesuskind
auf ihrem linken Arm. Dieses hält zum Zeichen
der Verbundenheit die linke Hand der Mutter
fest. Die rechte ist zum Segen erhoben. Im Volks-
glauben wurde das Gnadenbild dem Evangelis -
ten Lukas zugeschrieben. Doch erst bei einer Re-
staurierung des Madonnenbildes mit Kind in den
letzten Jahren hat man eine Künstlersignatur ent-
deckt, die die Ikone später als angenommen da-
tiert. Demnach war es der römische Maler Filippo
Rusuti, der das Bild um das Jahr 1297 schuf. »Die
Entdeckung ist bedeutend, aber wichtig ist, dass
unsere Gemeinde die Ikone erneut mit der übli-
chen Hingabe, in Zuversicht und Zuneigung be-
trachten kann, und jetzt auch mit etwas mehr
kultureller Neugierde«, kommentierte »Janua
mundi«, nachdem die Ikone restauriert an den
Hochaltar zurückgekehrt war.
Dieser, der in den ersten Jahren des 16. Jahr-
hunderts von Donato Bramante neu gestaltet
worden war, verstellt zum Teil den Blick auf
Chor und Apsis. Die Fresken im Chorgewölbe,
die Krönung der Jungfrau Maria auf blauem und
goldenem Hintergrund, sind ein Spätwerk des
Malers Pinturicchio aus den Jahren 1508 bis
1509. Die Glasfenster rechts und links gelten als
die schönsten in Rom. Sie wurden von den fran-
zösischen Meistern Claude und Guillaume Mar-
cillat (1470- 1529) geschaffen und zeigen Sze-
nen aus der Kindheit Jesu und aus dem
Marienleben.
Unter den Päpsten Sixtus IV. , Innozenz VIII.
und Alexander VI. wurde die Augustinerkirche
zunehmend bedeutend als Zentrum geistlicher
und weltlicher Repräsentation. Sie förderten das
Stiftungswesen, und das führte in Santa Maria
del Popolo unter anderem dazu, dass die jeweils
vier Seitenkapellen rechts und links des Lang-
hauses besonders reichhaltig mit Kunstwerken
namhafter Künstler ausgestattet wurden. Sie
dienten zugleich als Grabkapellen papstnaher Fa-
milien, von Kardinälen und sonstigen Persönlich-
keiten.
GefragteKünstler
Besonders hohes Besucherinteresse findet die
Kapelle Cerasi vorn im linken Flügel mit den bei-
den Caravaggio-Werken »Die Bekehrung des Sau-
lus« und »Die Kreuzigung des Petrus«. Das Altar-
bild mit der Himmelfahrt Mariens schuf Annibale
Carracci (1560-1609) aus Bologna. Beide Künstler
gehörten damals zu den gefragtesten ihrer Zeit.
Im rechten Seitenschiff, in der Kapelle der römi-
schen Adelsfamilie della Rovere, befindet sich
das Altarbild »Geburt Christi« von Pinturicchio,
außerdem Fresken aus dem Leben des heiligen
Hieronymus von diesem Maler und seinem Mit-
arbeiter Amico Aspertini. Der Wiener Künstler
Daniel Seiter (oder Seyter, 1647-1705) ist eben-
falls vertreten mit den Ölgemälden »Martyrium
der heiligen Katharina« und jenem des heiligen
Laurentius.
Kostbar ausgestattet ist ferner die Chigi-Ka-
pelle im linken Seitenschiff, die der Muttergottes
von Loreto geweiht ist. Auf Raffael geht der ar-
chitektonische Entwurf zurück, für den Braman-
tes Grundriss der neuen Peterskirche Pate stand:
Ein Zentralbau mit griechischem Kreuz, eine von
vier abgeschrägten Eckpfeilern gestützte Kuppel
und ein Tambour mit Fenstern. Die Kapelle gilt als
eines der architektonischen Hauptwerke von Raf-
fael und wurde um 1514 von seinem Schüler Lo-
renzetto begonnen. Im 17. Jahrhundert hat Ber-
nini sie mit Barockelementen umgestaltet, im
Auftrag von Fabio Chigi, der als Alexander VII.
zum Papst gewählt worden war. Die Ansamm-
lung wertvoller Kunstwerke geht selbst in den
Verbindungskorridoren zur Sakristei und in Ne-
benräumen der Kirche weiter. Um alles gründlich
zu besichtigen, wären folglich mehrere Tage not-
wendig.
Nach der Restaurie-
rung konnte die Ikone
aus dem Ende des
13. Jahrhunderts auf-
grund einer dabei ent-
deckten Signatur
Filippo Rusuti zu -
geschrieben werden.
Die Darstellung zeigt
die Muttergottes als
»Hodegetria«,
diejenige, die den Weg
zeigt. Der Name leitet
sich von einem Heilig-
tum in Konstantinopel
ab.
Die »Basilica minor« Santa Maria del Popolo
Lebendige Gemeinde inmitten wertvoller Kunstwerke
29. Januar 2021 / Nummer 4/5 L’OSSERVATORE ROMANO Wochenausgabe in deutscher Sprache
6 Aus dem Vatikan
Da Papst Franziskus an der ökumenischenFeier in der Basilika Sankt Paul vor den Mau-ern aus gesundheitlichen Gründen nicht teil-nehmen konnte, wurde die Vesper am 25. Ja-nuar stellvertretend von Kardinal Kurt Koch,Präsident des Päpstlichen Rats zur Förderungder Einheit der Christen, geleitet. Er verlas denfolgenden Predigttext:
Ich freue mich, die Predigt vorzulesen, die der
Heilige Vater für uns vorbereitet hat. Im Gebet
bleiben wir mit dem Heiligen Vater verbunden.
»Bleibt in meiner Liebe« (Joh 15,9). Jesus ver-
bindet diese Aufforderung mit dem Bild des
Weinstocks und der Reben, dem letzten, das er
uns in den Evangelien vorstellt. Der Herr selbst ist
der Weinstock, der »wahre Weinstock« (V. 1), der
die Erwartungen nicht enttäuscht, sondern in der
Liebe treu bleibt und uns trotz unserer Sünden
und Spaltungen niemals fallen lässt. In diesen
Weinstock, der er ist, sind wir Getaufte alle als Re-
ben eingepfropft: Dies bedeutet, dass wir nur
wachsen und Frucht bringen können, wenn wir
mit Jesus vereint sind. Heute Abend schauen wir
auf diese unverzichtbare Einheit, die mehrere
Ebenen hat. Wenn wir an den Weinstock denken,
könnten wir uns vorstellen, wie sich die Einheit
aus drei konzentrischen Ringen wie bei einem
Baumstamm zusammensetzt.
Das Bleiben in Jesus
Der erste Kreis, der innerste, ist das Bleiben in
Jesus. Von hier beginnt der Weg eines jeden zur
Einheit hin. In der heutigen schnelllebigen und
vielschichtigen Realität ist es einfach, den Faden
zu verlieren, da man nach allen Seiten hin gezo-
gen wird. Viele fühlen sich innerlich zersplittert,
unfähig, einen festen Bezugspunkt zu finden,
sich in den veränderlichen Lebensumständen
mit Bestand aufzustellen. Jesus zeigt uns, dass
das Geheimnis der Beständigkeit darin liegt, in
ihm zu bleiben. In dem Text, den wir gehört ha-
ben, wiederholt er diese Vorstellung sogar sie-
benmal (vgl. V. 4-7.9-10). Denn er weiß, dass wir
»getrennt von ihm nichts vollbringen können«
(vgl. V. 5). Er hat uns auch gezeigt, wie wir dies
tun können, indem er uns das Beispiel gab: Jeden
Tag zog er sich in die Einöde zurück, um zu beten.
Wir brauchen das Gebet wie das Wasser zum Le-
ben. Das persönliche Gebet, das Verweilen bei Je-
sus, die Anbetung sind wesentlich, um in ihm zu
bleiben. Es ist der Weg, um in das Herz des Herrn
all das zu legen, was unser Herz erfüllt, Hoffnun-
gen und Ängste, Freuden und Leiden. Aber vor
allem erfahren wir, wenn wir im Gebet auf Jesus
als Mittelpunkt ausgerichtet sind, seine Liebe.
Und unsere Existenz zieht daraus Leben, so wie
die Rebe aus dem Stamm den Lebenssaft erhält.
Dies ist die erste Einheit, unsere persönliche In-
tegrität, ein Werk der Gnade, die wir empfangen,
wenn wir in Jesus bleiben.
Einheit mit den Christen
Der zweite Kreis ist der der Einheit mit den
Christen. Wir sind Reben desselben Weinstocks,
wir sind kommunizierende Röhren: das Gute
und das Böse, das jeder tut, wirkt sich auf die
anderen aus. Im geistlichen Leben herrscht so-
dann eine Art »Gesetz der Dynamik«: In dem
Maße, in dem wir in Gott bleiben, nähern wir
uns den anderen, und in dem Maße, in dem wir
uns den anderen nähern, bleiben wir in Gott.
Dies bedeutet, dass, wenn wir in Geist und
Wahrheit zu Gott beten, daraus die Anforderung
entspringt, die anderen zu lieben und anderer-
seits gilt: »Wenn wir einander lieben, bleibt Gott
in uns und seine Liebe ist in uns vollendet«
(1 Joh 4,12). Das Gebet kann nur zur Liebe
führen, ansonsten ist es ein oberflächliches Voll-
ziehen eines Rituals. Es ist nämlich unmöglich,
Jesus ohne seinen Leib zu begegnen, der aus
vielen Gliedern zusammengesetzt ist, die so
zahlreich sind, wie es Getaufte gibt. Wenn un-
sere Anbetung echt ist, werden wir in der Liebe
zu all denen wachsen, die Jesus nachfolgen, un-
abhängig von der christlichen Gemeinschaft, der
sie angehören, weil sie, auch wenn sie nicht zu
»den unsrigen« gehören, sein sind.
Wir stellen jedoch fest, dass die Geschwister
zu lieben nicht einfach ist, weil sofort ihre Fehler
und Mängel in Erscheinung treten und uns die
Wunden aus der Vergangen-
heit wieder in den Sinn kom-
men. Hier kommt uns die
Handlungsweise des Vaters
zu Hilfe, der als erfahrener
Winzer (vgl. Joh 15,1) genau
weiß, was zu tun ist: »Jede
Rebe an mir, die keine Frucht
bringt, schneidet er ab und
jede Rebe, die Frucht bringt,
reinigt er, damit sie mehr
Frucht bringt« (Joh 15,2). Der
Vater schneidet und stutzt zurecht. Warum? Um
zu lieben, müssen wir uns dessen entledigen,
was uns vom Weg abbringt, uns auf uns selbst fi-
xiert sein lässt und uns so hindert, Frucht zu brin-
gen. Bitten wir daher den Vater, die Vorurteile
über die anderen und die weltlichen Anhänglich-
keiten zurückzuschneiden, die die volle Einheit
mit all seinen Kindern verhindern. Wenn wir auf
diese Weise durch die Liebe gereinigt sind, wer-
den wir die irdischen Hindernisse und die einsti-
gen Blockaden zurücktreten lassen können, die
uns heute vom Evangelium ablenken.
Die gesamte Menschheit
Der dritte Kreis der Einheit, der weiteste, ist
die gesamte Menschheit. Wir können in diesem
Bereich über das Wirken des Heiligen Geistes
nachdenken. In Christus, dem Weinstock, ist er
der Lebenssaft, der alle Teile erreicht. Aber der
Geist weht, wo er will, und überall will er zur Ein-
heit zurückführen. Er führt uns dazu, nicht nur
die zu lieben, die uns mögen und so denken wie
wir, sondern alle, so wie Jesus es uns gelehrt hat.
Er macht uns fähig, den Feinden und das erlittene
Unrecht zu vergeben. Er treibt uns an, in der
Liebe aktiv und kreativ zu sein. Er erinnert uns,
dass der Nächste nicht nur derjenige ist, mit dem
wir unsere Werte und Vorstellungen teilen, son-
dern dass wir gerufen sind, zum Nächsten aller
zu werden, gute Samariter einer verwundbaren,
armen und leidenden Menschheit zu werden, ei-
ner heute besonders leidenden Menschheit, die
auf den Straßen der Welt darniederliegt und die
Gott voll Erbarmen wieder aufrichten will. Der
Heilige Geist, Urheber der Gnade, möge uns hel-
fen, in der Selbstlosigkeit zu leben, auch denjeni-
gen zu lieben, der es nicht erwidert, denn in der
reinen und uneigennützigen Liebe bringt das
Evangelium Frucht. An den Früchten erkennt
man den Baum: an der ohne Gegenleistung er-
brachten Liebe erkennt man, dass wir dem Wein-
stock Jesu angehören.
Der Heilige Geist lehrt uns so die Konkretheit
der Liebe zu allen Brüdern und Schwestern, mit
denen wir die gleiche Menschheit teilen, jene
Menschheit, die Christus auf unzertrennliche
Weise an sich gebunden hat, da er uns sagte, dass
wir ihn immer in den Ärmsten und Bedürftigen
finden werden (vgl. Mt 25,31-45). Wenn wir ih-
nen gemeinsam dienen, werden wir uns als Ge-
schwister wiederentdecken und in der Einheit
wachsen. Der Geist, der das Angesicht der Erde
erneuert, mahnt uns, uns auch um das gemein-
same Haus zu sorgen, mutige Entscheidungen
über die Art und Weise unseres Lebens und Kon-
sumverhaltens zu treffen, denn das Gegenteil
von Fruchtbringen ist die Ausbeutung. Es ist un-
würdig, die kostbaren Ressourcen zu verschwen-
den, derer viele beraubt sind.
Derselbe Geist, der den ökumenischen Weg
angestoßen hat, ist es, der uns heute Abend zum
Gebet zusammenführt. Und während wir die
Einheit erfahren, die aus der Hinwendung zu
Gott mit einer einzigen Stimme entsteht, möchte
ich all denen danken, die in dieser Woche für die
Einheit der Christen gebetet haben und darin
fortfahren. Ich richte meine brüderlichen Grüße
an die Vertreter der hier versammelten Kirchen
und kirchlichen Gemeinschaften: an die jungen
orthodoxen und orientalisch-orthodoxen Chris -
ten, die mit der Unterstützung des Rates zur För-
derung der Einheit der Christen in Rom studie-
ren; an die Professoren und Studenten des
»Ecumenical Institute at Bossey«, die wie in den
vergangenen Jahren hätten nach Rom kommen
sollen, aber leider aufgrund der Pandemie ver-
hindert waren und uns über die Medien folgen.
Liebe Brüder und Schwestern, bleiben wir ver-
eint in Christus: Der Heilige Geist, der in unsere
Herzen ausgegossen ist, möge uns wahrnehmen
lassen, dass wir Kinder des Vaters sind, Brüder
und Schwestern untereinander, Brüder und
Schwestern in der einzigen Menschheitsfamilie.
Die Allerheiligste Dreifaltigkeit, Gemeinschaft der
Liebe, möge uns in der Einheit wachsen lassen.
Zweite Vesper am Fest der Bekehrung des heiligen Paulus – Abschluss der Gebetswoche für die Einheit der Christen
Drei konzentrische Kreise der Einheit
Zu Beginn der Vesper begab sich Kardinal Koch gemeinsam mit dem Vertreter der Anglikanischen Ge-
meinschaft beim Heiligen Stuhl und Leiter des Anglikanischen Zentrums in Rom, Erzbischof Ian Er-
nest, und einem Vertreter der rumänisch-orthodoxen Kirche in Italien, Bischofsvikar Atanasie von Bog-
dania, zum Paulusgrab und verharrte dort einige Momente im Gebet.
Um zu lieben, müssen wir uns dessen entledigen,
was uns vom Weg abbringt,
uns auf uns selbst fixiert sein lässt
und uns so hindert, Frucht zu bringen.
Bitten wir daher den Vater,
die Vorurteile über die anderen und die
weltlichen Anhänglichkeiten zurückzuschneiden,
die die volle Einheit mit all seinen
Kindern verhindern.
Vatikanstadt. Beim jährlich stattfindenden
Treffen zwischen Mitarbeitern des Päpstlichen
Rates für den Interreligiösen Dialog und Vertre-
tern des Büros für Interreligiösen Dialog und Zu-
sammenarbeit des Ökumenischen Rates der Kir-
chen wurde über eine bessere Zusammenarbeit
zwischen den Religionen zugunsten der Bedürf-
tigen in der Coronakrise beraten. Das Treffen
fand am 19. und 20. Januar online statt, wie der
Rat für den Interreligiösen Dialog in einer Presse-
mitteilung am 25. Januar bekanntgab.
Neben einem gegenseitigen Update über die
jeweiligen Aktivitäten reflektierten beide Seiten
über effektive Wege zur Verbreitung des Doku-
ments Serving a Wounded World in Interreligious
Solidarity: A Christian Call to Reflection and Ac-
tion During COVID-19 and Beyond, das während
der herausfordernden Monate der Covid-19-Pan-
demie gemeinsam erstellt wurde. Das Treffen
fand in der Gebetswoche für die Einheit der
Christen statt. Beide Seiten verpflichteten sich
auch darauf, »in der ökumenischen Gemeinschaft
zu wachsen und die gemeinsamen Bemühungen
zur Förderung des interreligiösen Dialogs durch
eine breitere Rezeption und Umsetzung der Do-
kumente zu intensivieren«.
Das jüngste Dokument ist Teil einer Reihe ge-
meinsamer Publikationen und ist Ausdruck der
seit über 40 Jahren bestehenden Freundschaft
und Zusammenarbeit im ökumenischen Engage-
ment für den interreligiösen Dialog. Frühere ge-
meinsame Projekte behandelten die Themen
Interreligiöse Ehe (1994-1997), Interreligiöses Ge-
bet (1997-1998), Afrikanische Religiosität (2000-
2004), Christliches Zeugnis in einer multireligiö-
sen Welt (2006-2011) sowie Erziehung zum
Frieden (2019).
Interreligiöse Solidarität
in Coronakrise stärken
29. Januar 2021 / Nummer 4/5 L’OSSERVATORE ROMANO Wochenausgabe in deutscher Sprache
7Aus dem Vatikan
»Komm und sieh« (Joh 1,46 )
Kommunizieren, indem man den
Menschen begegnet,
wo und wie sie sind
Liebe Brüder und Schwestern,
die Einladung, »zu kommen und zu sehen«,
von der die ersten stimulierenden Begegnungen
Jesu mit den Jüngern geprägt sind, ist auch die
Methode jeder echten menschlichen Kommuni-
kation. Um die Wahrheit des Lebens, das zur Ge-
schichte wird, erzählen zu können (vgl. Botschaft
zum 54. Welttag der sozialen Kommunikations-
mittel, 24. Januar 2020), ist es notwendig, die be-
queme Überheblichkeit des »Weiß ich schon!« ab-
zulegen und sich in Bewegung zu setzen; zu
gehen, um zu sehen, bei den Menschen zu sein,
ihnen zuzuhören und die Anregungen der Wirk-
lichkeit zu sammeln, die uns unter vielerlei Ge-
sichtspunkten immer wieder überraschen wird.
»Halte staunend die Augen offen für das, was du
siehst, und lass deine Hände von frischer Le-
benskraft erfüllt sein, damit die anderen, wenn
sie dich lesen, mit eigenen Händen das pulsie-
rende Wunder des Lebens berühren«, riet der se-
lige Manuel Lozano Garrido1 seinen Journalisten-
kollegen. Ich möchte daher die diesjährige
Botschaft dem Aufruf »Komm und sieh« widmen,
als Anregung für jede kommunikative Aus-
drucksform, die klar und ehrlich sein will: in der
Redaktion einer Zeitung ebenso wie in der Welt
des Internets, in der alltäglichen Verkündigung
der Kirche wie in der politischen oder gesell-
schaftlichen Kommunikation. »Komm und sieh«
ist die Art und Weise, auf die der christliche
Glaube mitgeteilt wird, beginnend bei jenen ers -
ten Begegnungen an den Ufern des Jordan und
des Sees Gennesaret.
Sich die Schuhsohlen ablaufen
Wenden wir uns dem weiten Themenbereich
der Information zu. Aufmerksame Stimmen be-
klagen seit langem die Gefahr einer Verflachung in
»voneinander abkopierten Zeitungen« oder in ein-
ander stark ähnelnden Nachrichtensendungen in
Radio und Fernsehen sowie auf Internetseiten, in
denen das Genre der Recherche und Reportage an
Raum und Qualität verliert und durch eine vorge-
fertigte, autoreferentielle Information in Form ei-
ner »Hofberichterstattung« ersetzt wird, der es im-
mer weniger gelingt, die Wahrheit der Dinge und
das konkrete Leben der Menschen einzufangen,
und die weder die schwerwiegendsten gesell-
schaftlichen Phänomene, noch die positiven
Kräfte, die von der Basis der Gesellschaft freige-
setzt werden, zu erfassen vermag. Die Krise in der
Verlagsbranche droht dazu zu führen, dass Infor-
mationen in Redaktionen, vor dem Computer, in
den Presseagenturen und in sozialen Netzwerken
hergestellt werden, ohne jemals auf die Straße zu
gehen, ohne »sich die Schuhsohlen abzulaufen«,
ohne Menschen zu begegnen, um nach Ge-
schichten zu suchen oder bestimmte Situationen
de visu zu verifizieren. Wenn wir nicht für Begeg-
nungen offen sind, bleiben wir außenstehende
Zuschauer, trotz der technologischen Innovatio-
nen, die uns eine immer umfassendere Wirklich-
keit vor Augen führen können, in der wir schein-
bar versunken sind. Jedes Hilfsmittel ist nur dann
nützlich und wertvoll, wenn es uns dazu führt,
hinauszugehen und Dinge zu sehen, von denen
wir sonst nichts wüssten, wenn es Erkenntnisse
ins Netz stellt, die sonst nicht verbreitet würden,
und wenn es Begegnungen ermöglicht, die sonst
nicht stattfinden würden.
Jener detaillierte Berichtim Evangelium
Nach seiner Taufe im Jordan gibt Jesus den
ersten Jüngern, die ihn kennenlernen wollen, zur
Antwort: »Kommt und seht« (Joh 1,39), und er
lädt sie ein, in der Beziehung zu ihm zu verwei-
len. Mehr als ein halbes Jahrhundert später, als
Johannes in hohem Alter sein Evangelium
schreibt, erinnert er an einige Details jenes »Be-
richts«, die seine Anwesenheit vor Ort und die
Auswirkungen, die jene Erfahrung auf sein Le-
ben hatte, offenbaren: »Es war um die zehnte
Stunde«, schreibt er nieder, also um vier Uhr
nachmittags (vgl. V. 39). Tags darauf – so Johan-
nes weiter in seinem Bericht – erzählt Philippus
dem Natanaël von der Begegnung mit dem Mes-
sias. Sein Freund ist skeptisch: »Kann aus Naza-
ret etwas Gutes kommen?« Philippus versucht
nicht, ihn mit Argumenten zu überzeugen:
»Komm und sieh«, sagt er ihm (vgl. V. 45-46). Na-
tanaël geht hin und sieht, und von jenem Mo-
ment an ändert sich sein Leben. Der christliche
Glaube beginnt auf diese Weise. Und er wird so
weitergegeben: als direkte Erkenntnis, hervorge-
gangen aus Erfahrung, nicht nur vom Hörensa-
gen. »Nicht mehr aufgrund deiner Rede glauben
wir, denn wir haben selbst gehört«, sagen die
Leute zu der Frau aus Samarien, nachdem sich Je-
sus in ihrem Dorf aufgehalten hatte (vgl. Joh 4,39-
42). Das »Komm und sieh« ist die einfachste Me-
thode, eine Wirklichkeit zu erkennen. Es ist die
ehrlichste Überprüfung jeder Verkündigung,
denn um zu erkennen, muss man sich begegnen.
Ich muss dem Menschen, den ich vor mir habe,
ermöglichen, zu mir zu sprechen, und zulassen,
dass sein Zeugnis mich erreicht.
Dank des Mutes vieler Journalisten
Auch der Journalismus als Erzählung der
Wirklichkeit erfordert die Fähigkeit, dorthin zu
gehen, wo sonst niemand hingeht, also einen
Aufbruch und den Wunsch, zu sehen. Neugierde,
Offenheit und Leidenschaft. Wir müssen danken
für den Mut und den Einsatz so vieler Medien-
schaffender – Journalisten, Kameraleute, Filmedi-
toren und Regisseure, die oft unter großen Ge-
fahren arbeiten –, wenn wir heute zum Beispiel
etwas über die schwierige Lage verfolgter Min-
derheiten in verschiedenen Teilen der Welt er-
fahren; wenn die vielfältige Gewalt und Unge-
rechtigkeit gegen die Armen und gegen die
Schöpfung angeprangert werden; wenn über so
viele vergessene Kriege berichtet wird. Es wäre
ein Verlust nicht nur für die Information, sondern
für die gesamte Gesellschaft und für die Demo-
kratie, wenn diese Stimmen verschwinden wür-
den: unsere Menschheit würde ärmer werden.
Zahlreiche Begebenheiten auf unserem Plane-
ten, erst recht in dieser Zeit der Pandemie, richten
an die Welt der Kommunikation die Einladung,
»zu kommen und zu sehen«. Es besteht die Ge-
fahr, die Pandemie und somit jede Krise nur un-
ter dem Blickwinkel der reicheren Welt zu er-
zählen, eine »doppelte Buchführung« zu
betreiben. Denken wir nur an die Frage der Impf-
stoffe wie auch an die medizinische Versorgung
im Allgemeinen, an die Gefahr der Ausgrenzung
der ärmsten Bevölkerungsteile. Wer wird uns
über die Menschen berichten, die in den ärmsten
Dörfern Asiens, Lateinamerikas und Afrikas auf
Heilung warten? Es besteht also die Gefahr, dass
die sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten
auf weltweiter Ebene über die Reihenfolge bei
der Verteilung von Anti-Covid-Impfstoffen ent-
scheiden. Mit den Armen immer an letzter Stelle
und dem Recht auf Gesundheit für alle, das zwar
prinzipiell verkündet, aber seines realen Wertes
beraubt wird. Doch selbst in der Welt der besser
Gestellten bleibt das soziale Drama von Familien,
die plötzlich in die Armut abrutschen, weitge-
hend verborgen: Menschen, die, nachdem sie
ihre Scham überwunden haben, vor Caritas-Zen-
tren Schlange stehen, um ein Paket mit Lebens-
mitteln zu erhalten, tun weh und machen nicht
allzu viel von sich reden.
Chancen und Fallstricke im Internet
Das Internet mit seinen zahllosen Ausdrucks-
formen sozialer Netzwerke kann die Fähigkeit
zum Erzählen und Teilen vervielfachen: viel
mehr auf die Welt gerichtete Blicke, ein ständiger
Fluss von Bildern und Zeugnissen. Die digitale
Technologie gibt uns die Möglichkeit, Informatio-
nen aus erster Hand und zeitnah zu bekommen,
was mitunter sehr nützlich ist: Denken wir nur
an bestimmte Notsituationen, bei denen die ers -
ten Nachrichten und auch die ersten amtlichen
Durchsagen an die Bevölkerung über das Internet
verbreitet werden. Es ist ein hervorragendes In-
strument, das uns alle als Nutzer und als Anwen-
der in die Verantwortung nimmt. Potenziell kön-
nen wir alle zu Zeugen von Ereignissen werden,
die sonst von den traditionellen Medien vernach-
lässigt worden wären, wir können unseren Bei-
trag als Bürger dazu leisten, mehr Geschichten,
auch positive, bekannt zu machen. Dank des In-
ternets haben wir die Möglichkeit, das, was wir
sehen und was vor unseren Augen geschieht, zu
erzählen und Zeugnisse miteinander zu teilen.
Aber auch die Risiken einer Kommunikation in
den sozialen Netzwerken, die nicht nachgeprüft
wurde, sind mittlerweile für jeden offenkundig ge-
worden. Wir wissen seit geraumer Zeit, wie leicht
Nachrichten und sogar Bilder manipuliert werden
können, aus tausenderlei Gründen, manchmal
auch nur aus banalem Narzissmus. Dieses kriti-
sche Bewusstsein führt nicht dazu, dieses Instru-
ment an sich zu verteufeln, sondern es verhilft zu
einem besseren Unterscheidungsvermögen und
einem reiferen Verantwortungsbewusstsein so-
wohl bei der Verbreitung als auch beim Empfang
von Inhalten. Wir alle sind verantwortlich für die
Kommunikation, die wir betreiben, für die Infor-
mationen, die wir verbreiten, für die Kontrolle, die
wir gemeinsam über falsche Nachrichten aus -
üben können, indem wir sie entlarven. Wir alle
sind aufgerufen, Zeugen der Wahrheit zu sein: zu
gehen, zu sehen und zu teilen.
Botschaft von Papst Franziskus zum 55. Welttag der sozialen Kommunikationsmittel
Die Notwendigkeit der persönlichen Begegnung
Fortsetzung auf Seite 8
Neugier, Offenheit und Leidenschaft: Zu einem Journalismus, der »sich die Schuhsohlen abläuft« und
vor Ort ist, fordert der Papst die Medienschaffenden auf und bedankt sich auch für Mut und Einsatz
von Journalisten, Kameraleuten, Filmeditoren und Regisseuren.
Ich möchte die diesjährige Botschaft
zum Welttag der sozialen Kommunikationsmittel
der Einladung »Komm und sieh« (Joh 1,46) widmen.
Um die Wahrheit erzählen zu können, muss man gehen,
um zu sehen, den Menschen zuzuhören
und die Wirklichkeit zu erfassen.
Tweet von Papst Franziskus
29. Januar 2021 / Nummer 4/5 L’OSSERVATORE ROMANO Wochenausgabe in deutscher Sprache
8 Aus dem Vatikan
Von Andrea Monda
»Ich möchte daher die diesjährige Bot-
schaft dem Aufruf ›Komm und sieh‹widmen, als Anregung für jede kom-
munikative Ausdrucksform, die klar und ehrlich
sein will.« Den Ausgangspunkt für die Botschaft
zum Welttag der sozialen Kommunikationsmittel
2021 entnimmt der Papst dem ersten Kapitel des
Johannesevangeliums, das von den »ersten sti-
mulierenden Begegnungen Jesu mit den Jüngern«
erzählt. Mehrmals hat Franziskus darauf hinge-
wiesen, dass es vor allem in Krisenzeiten wert-
voll ist, im Geist und mit dem Herzen zur »ersten
Liebe« zurückzukehren. Und das tut Johannes.
Der Papst schreibt: »Mehr als ein halbes Jahr-
hundert später, als Johannes in hohem Alter sein
Evangelium schreibt, erinnert er an einige Details
jenes ›Berichts‹, die seine Anwesenheit vor Ort
und die Auswirkungen, die jene Erfahrung auf
sein Leben hatte, offenbaren: ›Es war um die
zehnte Stunde‹ schreibt er nieder, also um vier
Uhr nachmittags.«
An Johannes und Andreas hat der Herr die
Einladung gerichtet: »Kommt und seht!« Dieser
ging eine Frage voraus: »Was sucht ihr?« Sie wer-
den sich für alle Zeiten an jedes Detail dieses Dia-
logs erinnern, auch an die Uhrzeit. Ausgezeich-
nete »Journalisten«! Was war geschehen?
Sicherlich das, was im Titel der Botschaft zu lesen
ist: »Kommunizieren, indem man den Menschen
begegnet, wo und wie sie sind«. Jesus hat mit den
beiden Jüngern kommuniziert, indem er in einer
Begegnung auf sie zuging, indem er mit ihrem
konkreten Leben in Kontakt trat, sich für ihre Si-
tuation als »Suchende« interessierte. Er gab sich
nicht mit einem vorgefassten Urteil, einer seiner
»Ideen« zufrieden, sondern er schuf die Bedin-
gungen für eine reale Begegnung, indem er hin-
ging, um persönlich und tiefer »zu sehen«, und in-
dem er sie bat, dasselbe zu tun. Dieser Stil Jesu
verweist auf eine »Methode«, sagt der Papst, die
sich für alle in der Kommunikation Tätigen als
wertvoll erweist. Denn sie werden heute auch
von den Möglichkeiten der zur Verfügung ste-
henden Technik dazu verleitet, zu arbeiten,
»ohne jemals auf die Straße zu gehen, ohne ›sich
die Schuhsohlen abzulaufen‹, ohne Menschen zu
begegnen, um nach Geschichten zu suchen oder
bestimmte Situationen de visu zu verifizieren«.
Aber diese Art der Kommunikation steht in of-
fensichtlichem Widerspruch zu ihrer Mission,
denn: »Wenn wir nicht für Begegnungen offen
sind, bleiben wir außenstehende Zuschauer,
trotz der technologischen Innovationen, die uns
eine immer umfassendere Wirklichkeit vor Au-
gen führen können, in der wir scheinbar versun-
ken sind. Jedes Hilfsmittel ist nur dann nützlich
und wertvoll, wenn es uns dazu führt, hinauszu-
gehen und Dinge zu sehen, von denen wir sonst
nichts wüssten, wenn es Erkenntnisse ins Netz
stellt, die sonst nicht verbreitet würden, und
wenn es Begegnungen ermöglicht, die sonst
nicht stattfinden würden.« Drei Begriffe sind es
also, die bei einer ersten Lektüre dieser Botschaft
(weitere werden folgen, denn es handelt sich um
einen reichhaltigen Text, der eine weitere Vertie-
fung verdient) deutlich hervortreten: Begegnung,
Erfahrung und Verantwortung.
Begegnung heißt Nähe, Anwesenheit, An-
nahme. Vor allem Annahme der Wirklichkeit des
anderen. Das ist auch die Bedeutung des zweiten
Wortes: »Erfahrung«, was besagt, dass die Wirk-
lichkeit jede Vorstellung übersteigt. Man sagt:
»eine Erfahrung machen«, aber wahr ist auch das
Gegenteil, es ist die Erfahrung, die den Menschen
»macht«, ihn gestaltet. Ein Mensch mit Erfahrung
ist ein Mensch, der hingeht und sieht und daher
berichten kann. Hingehen und nachsehen be-
deutet auch, sich selbst ansehen zu lassen, zu ak-
zeptieren, »gesehen zu werden«. (Das erlebt Na -
thanaël, der schon vor seiner Begegnung mit
Jesus von ihm gesehen wird.) Kommunikator zu
sein in diesem auf direkte Erfahrung gegründeten
Stil ist eine riskante Arbeit. Man muss bereit sein,
sich selbst einzubringen und sich preiszugeben.
Wenn man den anderen begegnen will, »wo und
wie sie sind«, dann gilt das auch für einen selbst:
so wie wir sind, mit all unseren Licht- und Schat-
tenseiten, mit unseren Talenten und Schwächen.
Den Menschen begegnen und eine Erfahrung zu
machen, das bedeutet, Verantwortung zu über-
nehmen. Die Konfrontation mit der Wirklichkeit
verändert uns, und unweigerlich entsteht der
Wunsch, Zeugnis zu geben, von dem, was wir ge-
sehen haben und was uns »berührt« hat. Wenn
ich den Blick eines anderen Menschen kreuze,
dann werde ich, ob ich es will oder nicht, für ihn
verantwortlich, übernehme seine »Last«. Der
Papst sagt dies ganz klar: »Wir alle sind verant-
wortlich für die Kommunikation, die wir betrei-
ben, für die Informationen, die wir verbreiten, für
die Kontrolle, die wir gemeinsam über falsche
Nachrichten ausüben können, indem wir sie ent-
larven. Wir alle sind aufgerufen, Zeugen der
Wahrheit zu sein: zu gehen, zu sehen und zu tei-
len.«
Das Thema der Verantwortung für die Kom-
munikation und bei der Kommunikation liegt die-
ser Zeitung sehr am Herzen. (Wir haben am 30.
November 2019 einen Runden Tisch über dieses
Thema veranstaltet.) Es ist ein umfangreiches,
komplexes Thema, und um es besser zu erken-
nen, ist es notwendig, im Licht der Botschaft des
Papstes auf den ersten Punkt zurückzukommen,
die Begegnung, im Wissen, dass eine wahre Be-
gegnung mehr ist als eine bloße Annäherung
zwischen Menschen. Wenn zwei Menschen sich
»wirklich« begegnen, dann sind es nicht nur sie
beide, sondern es gibt eine Offenheit für etwas
anderes, für jemand anderen. In der Begegnung
wird eine Erfahrung ins Leben gerufen, die,
wenn es eine wirkliche Begegnung ist, die Prota-
gonisten dieses Augenblicks verändert und sie zu
ähnlichen Erfahrungen drängt. Begegnung ist an-
steckend, sie bringt Zeugen, Kommunikatoren
hervor und verleiht der unermüdlichen Suche
des Menschen und nach dem Menschen neue
Impulse.
Am Anfang des Johannesevangeliums steht
die Frage Jesu an die beiden Jünger: »Was sucht
ihr?« Und das Evangelium schließt mit einer an-
deren, ähnlichen Frage, die Jesus an Maria Mag-
dalena richtet: »Wen suchst du?« (Joh 20,15). In
dieser fast nicht wahrnehmbaren Verschiebung
vom Was zum Wen ist für einen Christen – sowie
für alle ehrlich nach Wahrheit Suchenden und
alle aufrichtigen Kommunikatoren der Wahrheit
– der ganze Sinn des Lebens enthalten.
(Orig. ital. in O.R. 23.1.2021)
Nichts kann das persönliche Sehen ersetzen
In der Kommunikation kann nichts jemals
das persönliche Sehen komplett ersetzen. Einige
Dinge kann man nur durch Erfahrung lernen.
Denn man kommuniziert nicht nur mit Worten,
sondern mit den Augen, mit dem Tonfall der
Stimme, mit Gesten. Die starke Anziehungs-
kraft, die Jesus auf all jene ausübte, die ihm be-
gegneten, hing vom Wahrheitsgehalt seiner Ver-
kündigung ab, aber die Wirksamkeit dessen,
was er sagte, war untrennbar mit seinem Blick,
seiner Haltung und selbst mit seinem Schwei-
gen verbunden. Die Jünger hörten nicht nur
seine Worte, sie sahen ihn sprechen. Denn in
ihm - dem fleischgewordenen Logos – wurde
das Wort zum Antlitz, der unsichtbare Gott ließ
sich sehen, hören und berühren, wie Johannes
schreibt (vgl. 1 Joh 1,1-3). Das Wort ist nur dann
wirksam, wenn man es »sieht«, nur dann, wenn
es dich in eine Erfahrung einbezieht, in einen
Dialog verwickelt. Aus diesem Grund war und
ist das »Komm und sieh« von grundlegender Be-
deutung.
Denken wir daran, wie viel leere Beredsam-
keit es auch in unserer Zeit im Übermaß gibt, in
jedem Bereich des öffentlichen Lebens, im Han-
del wie auch in der Politik. »Er spricht unendlich
viel nichts… Seine Gedanken sind wie zwei Wei-
zenkörner in zwei Scheffel Spreu versteckt; Ihr
sucht den ganzen Tag, bis Ihr sie findet, und
wenn Ihr sie habt, so verlohnen sie das Suchen
nicht.«2 Diese beißenden Worte des englischen
Dramatikers treffen auch auf uns christliche Kom-
munikatoren zu.
Die frohe Botschaft des Evangeliums hat sich
dank der Begegnungen von Mensch zu Mensch,
von Herz zu Herz in der ganzen Welt ausge-
breitet. Männer und Frauen, die der selben Ein-
ladung folgten: »Komm und sieh«, und die be-
eindruckt waren von einem »Mehr« an
Menschlichkeit, das in den Blicken, den Worten
und den Gesten von Menschen durchschien,
die Zeugnis von Jesus Christus gaben. Alle Hilfs-
mittel sind wichtig, und jener große Kommuni-
kator namens Paulus von Tarsus hätte sicher
von E-Mail und Mitteilungen in den sozialen
Netzwerken Gebrauch gemacht.
Aber es waren sein Glaube, seine Hoffnung
und seine Liebe, die seine Zeitgenossen beein-
druckten, die ihn predigen hörten und das Glück
hatten, Zeit mit ihm zu verbringen, ihn bei einer
Versammlung oder in einem persönlichen Ge-
spräch zu sehen. An den Orten, an denen er sich
befand, sahen sie ihn wirken und dachten darü-
ber nach, wie wahr und fruchtbar für ihr Leben
die Verkündigung des Heils war, die er durch
Gottes Gnade brachte. Und selbst da, wo man
diesem Mitarbeiter Gottes nicht persönlich be-
gegnen konnte, wurde seine Art, in Christus zu
leben, von den Jüngern bezeugt, die er aussandte
(vgl. 1 Kor 4,17).
»In unseren Händen sind Bücher, in unseren
Augen Tatsachen«, bekräftigte der heilige Augus -
tinus3, und er mahnte uns, die Erfüllung der Pro-
phezeiungen, von denen wir in der Heiligen
Schrift lesen, in der Wirklichkeit zu finden. So er-
eignet sich das Evangelium auch heute jedes Mal
von Neuem, wenn wir das klare Zeugnis von
Menschen empfangen, deren Leben durch die
Begegnung mit Jesus verändert wurde. Seit über
zweitausend Jahren ist es eine Kette von Begeg-
nungen, die die Faszination des christlichen
Abenteuers vermittelt. Die Herausforderung, die
uns erwartet, besteht also darin, zu kommunizie-
ren, indem wir den Menschen dort begegnen,
wo und wie sie sind.
Herr, lehre uns, aus uns selbst herauszugehen,
und uns auf den Weg der Suche nach Wahr-
heit zu machen.
Lehre uns, zu gehen und zu sehen,
lehre uns zuzuhören,
nicht vorschnell zu urteilen,
keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.
Lehre uns, dorthin zu gehen,
wohin sonst niemand gehen will,
uns die Zeit zu nehmen, zu verstehen,
auf das Wesentliche zu achten,
uns nicht von Überflüssigem
ablenken zu lassen,
den trügerischen Schein von der Wahrheit
zu unterscheiden.
Schenke uns die Gnade,
deine Wohnstätten in der Welt zu erkennen,
und die Ehrlichkeit, zu erzählen,
was wir gesehen haben.
Rom, Sankt Johannes im Lateran,
am 23. Januar 2021, Vigil des Gedenktags
des heiligen Franz von Sales
Fußnoten1 Spanischer Journalist, geboren 1920 und ge-
storben 1971, seliggesprochen im Jahr 2010.2 W. Shakespeare, Der Kaufmann von Vene-
dig, Erster Aufzug, Erste Szene.3 Sermo 360/B, 20.
Botschaft des Papstes zum 55. Welttag der sozialen Kommunikationsmittel
Fortsetzung von Seite 7
Leitartikel unseres Direktors
Herausforderungen der Kommunikation
Caravaggio, Berufung der Apostel Petrus und Andreas (ca. 1603-1606).
Vatikanstadt. Der Welttag der sozia-
len Kommunikationsmittel, auch Medien-
sonntag genannt, wurde nach dem Zwei-
ten Vatikanischen Konzil eingeführt. In
Deutschland wurde der Tag erstmals am
7. Mai 1967 begangen. Er hat jedes Jahr ein
spezielles Thema, zu dem der Papst eine
Botschaft veröffentlicht. In den meisten
Ländern wird er an Christi Himmelfahrt
begangen (16. Mai 2021). In Deutschland
ist es der zweite Sonntag im September
(12. September 2021).
Kurz notiert
29. Januar 2021 / Nummer 4/5 L’OSSERVATORE ROMANO Wochenausgabe in deutscher Sprache
9Aus dem Vatikan
Ansprache von Papst Franziskus beim Angelusgebet am Sonntag, 24. Januar
Zeit und UmkehrVatikanstadt. Papst Franziskus hat die
Gläubigen an die Notwendigkeit der Umkehrerinnert. Das Heil komme nicht automatisch,sondern verlange als freies Geschenk Gotteseine freie Antwort des Menschen. Dies erfor-dere eine Änderung von Denken und Leben,betonte er. Franziskus hielt das Gebet und dievorausgehende kurze Ansprache in der Privat-bibliothek des Apostolischen Palastes. Meh-rere andere öffentliche Termine am Sonntagund Montag hatte er wegen seines Ischiaslei-dens absagen müssen. Er sagte:
Liebe Brüder und Schwestern,
guten Tag!
Der Abschnitt aus dem Evangelium des heuti-
gen Sonntags (vgl. Mk 1,14-20) zeigt uns gewis-
sermaßen den »Stabwechsel« von Johannes dem
Täufer zu Jesus. Johannes war sein Wegbereiter,
er hat ihm den Boden bereitet und den Weg
geebnet: Nun kann Jesus seine Sendung aufneh-
men und das Heil verkünden, das jetzt gegen-
wärtig ist, denn Er war das Heil. Seine Verkün -
digung lässt sich in folgenden Worten zusam-
menfassen: »Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes
ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evange-
lium!« (V. 15). Ganz einfach. Jesus hat ohne Um-
schweife geredet. Es ist eine Botschaft, die uns
einlädt, über zwei grundlegende Themen nach-
zudenken: die Zeit und die Umkehr.
In diesem Text des Evangelisten Markus ist
die Zeit als die Dauer der von Gott gewirkten
Heilsgeschichte zu verstehen. Die »erfüllte« Zeit
ist also jene, in der dieses Heilswirken seinen
Höhepunkt, seine volle Verwirklichung erreicht:
Es ist der historische Moment, in dem Gott sei-
nen Sohn in die Welt gesandt hat und sein Reich
mehr denn je »nahegekommen« ist. Die Zeit des
Heils ist erfüllt, weil Jesus gekommen ist. Das Heil
ereignet sich jedoch nicht automatisch; das Heil
ist ein Geschenk der Liebe und wird der mensch-
lichen Freiheit als solches angeboten. Immer
wenn wir von Liebe sprechen, sprechen wir von
Freiheit: eine Liebe ohne Freiheit ist keine Liebe;
sie kann Interesse sein, sie kann Angst sein und
vieles mehr, aber Liebe ist immer frei, und da sie
frei ist, verlangt sie eine freie Antwort: sie erfor-
dert unsere Umkehr. Es geht also darum, unsere
Mentalität zu ändern – darin besteht Umkehr,
unsere Mentalität zu ändern – und unser Leben
zu ändern: nicht mehr den Vorbildern der Welt zu
folgen, sondern dem Vorbild Gottes, das Jesus ist;
Jesus zu folgen, wie Jesus es getan und wie Jesus
uns gelehrt hat. Es ist eine entscheidende Ände-
rung der Perspektive und Haltung. Tatsächlich ist
die Sünde, besonders die Sünde der Weltlichkeit
wie Luft, sie durchdringt alles, und sie hat eine
Mentalität hervorgebracht, die dazu neigt, sich
selbst gegen andere und auch gegen Gott zu be-
haupten. Das ist merkwürdig… Was ist deine
Identität? Und oft hören wir, dass man die eigene
Identität in Begriffen des »Gegensatzes« zum
Ausdruck bringt. Es ist schwierig, die eigene Iden-
tität im Geist der Welt in positiven Begriffen, in
Begriffen des Heils auszudrücken: Sie richtet sich
gegen sich selbst, gegen die anderen und gegen
Gott. Und zu diesem Zweck schreckt sie nicht da-
vor zurück – die Mentalität der Sünde, die Men-
talität der Welt –, sich der Täuschung und der
Gewalt zu bedienen. Täuschung und Gewalt.
Schauen wir, was mit Täuschung und Gewalt ge-
schieht: Gier, Machtstreben und keine Bereit-
schaft zu dienen, Kriege, Ausbeutung von Men-
schen… Das ist die Mentalität der Täuschung, die
ihren Ursprung sicherlich im Vater der Täu-
schung, dem großen Lügner, dem Teufel, hat. Er
ist der Vater der Lüge, so definiert ihn Jesus.
All dem steht die Botschaft Jesu entgegen, der
uns einlädt, uns in unserer Bedürftigkeit nach
Gott und seiner Gnade zu erkennen; eine ausge-
wogene Haltung gegen -
über den irdischen Gü-
tern einzunehmen; allen
gegenüber einladend und
demütig zu sein; uns
selbst in der Begegnung
und im Dienst am ande-
ren zu erkennen und zu
verwirklichen. Die Zeit, in
der wir das Heil empfan-
gen können, ist für einen
jeden von uns kurz: Sie
entspricht der Dauer un-
seres Lebens in dieser
Welt. Sie ist kurz. Viel-
leicht scheint es lang…
Ich erinnere mich, dass
ich zu einem sehr guten,
sehr betagten Mann ging,
um ihm die Sakramente
zu spenden, die Kranken-
salbung, und in diesem
Moment, bevor er die
Eucharistie und die Kran-
kensalbung empfing, sag-
te er diesen Satz zu mir: »Mein Leben ist wie im
Flug vergangen«, als wollte er sagen: Ich glaubte,
es würde ewig dauern, aber… »Mein Leben ist
wie im Flug vergangen.« So haben wir, die Älte-
ren, das Gefühl, dass das Leben wie im Flug ver-
gangen ist. Es fliegt dahin. Und das Leben ist ein
Geschenk der unendlichen Liebe Gottes, aber es
ist auch eine Zeit der Überprüfung unserer Liebe
zu ihm. Deshalb ist jeder Moment, jeder Augen-
blick unserer Existenz eine kostbare Zeit, um
Gott zu lieben und unseren Nächsten zu lieben
und so ins ewige Leben einzugehen.
Die Geschichte unseres Lebens folgt zweierlei
Rhythmen: der eine, messbare, besteht aus Stun-
den, Tagen, Jahren; der andere besteht aus den
Jahreszeiten unserer Entwicklung: Geburt, Kind-
heit, Jugend, Reife, Alter, Tod. Jede Zeit, jede
Phase hat ihren eigenen Wert und kann ein be-
vorzugter Augenblick der Begegnung mit dem
Herrn sein. Der Glaube hilft uns, die geistliche
Bedeutung dieser Zeiten zu entdecken: Jede von
ihnen enthält einen besonderen Ruf des Herrn,
auf den wir eine positive oder eine negative Ant-
wort geben können. Im Evangelium sehen wir,
wie Simon, Andreas, Jakobus und Johannes rea-
gierten: Sie waren reife Männer, sie hatten ihre
Arbeit als Fischer, sie hatten ein Familienleben…
Doch als Jesus vorbeikam und sie rief, »ließen sie
sofort ihre Netze liegen und folgten ihm nach«
(Mk 1,18).
Liebe Brüder und Schwestern, lasst uns auf-
merksam sein und Jesus nicht vorbeigehen las-
sen, ohne ihn zu empfangen. Der heilige Augus -
tinus sagte: »Ich habe Angst vor Gott, wenn er
vorbeigeht.« Angst wovor? Ihn nicht zu erken-
nen, ihn nicht zu sehen, ihn nicht willkommen
zu heißen.
Die Jungfrau Maria helfe uns, jeden Tag, jeden
Augenblick als eine Zeit des Heils zu leben, in der
der Herr kommt und uns aufruft, ihm zu folgen,
jeden seinem eigenen Leben entsprechend. Und
sie helfe uns, von der Mentalität der Welt, die aus
den Phantasien der Welt besteht, die nur Feuer-
werk sind, zur Haltung der Liebe und des Die-
nens umzukehren.
Nach dem Angelus unterstrich der Papst er-neut die Bedeutung des Wortes Gottes für dasLeben der Kirche und jedes Christen. Er sagte:
Liebe Brüder und Schwestern,
der heutige Sonntag ist dem Wort Gottes ge-
widmet. Eines der großen Geschenke unserer
Zeit ist die Wiederentdeckung der Heiligen
Schrift im Leben der Kirche auf allen Ebenen.
Noch nie war die Bibel für alle so zugänglich wie
heute: in allen Sprachen und jetzt auch in audio-
visuellen und digitalen Formaten. Der heilige
Hieronymus, dessen 1600. Todestag ich kürzlich
gedachte, sagt, dass wer die Schrift nicht kennt,
Christus nicht kennt (vgl. In Isaiam Prol.). Und
umgekehrt ist es Jesus Christus, das fleischge-
wordene Wort, das gestorben und auferstanden
ist, der unseren Geist für das Verständnis der
Schrift öffnet (vgl. Lk 24,45). Das erfolgt vor allem
in der Liturgie, aber auch, wenn wir allein oder in
Gruppen beten, vor allem mit den Worten des
Evangeliums und der Psalmen. Mein Dank und
meine Ermutigung gelten den Pfarreien für ihre
unablässigen Bemühungen, die Menschen im
Hören auf Gottes Wort zu unterweisen. Möge es
uns nie an der Freude fehlen, das Evangelium zu
verbreiten! Und ich möchte noch einmal sagen:
Wir sollten es uns zur Gewohnheit machen, bitte
macht es euch zur Gewohnheit, immer ein klei-
nes Evangelium in der Jackentasche, in der Ta-
sche zu tragen, damit wir es während des Tages
lesen können, wenigstens drei, vier Verse. Das
Evangelium immer bei uns tragen.
Morgen Nachmittag werden wir in der Basi-
lika St. Paul vor den Mauern zum Abschluss der
Gebetswoche für die Einheit der Christen ge-
meinsam mit Vertretern der anderen Kirchen und
kirchlichen Gemeinschaften die Vesper zum Fest
der Bekehrung des heiligen Apostels Paulus fei-
ern. Ich lade euch ein, euch in geistiger Weise un-
serem Gebet anzuschließen.
Heute ist auch der Gedenktag des heiligen
Franz von Sales, Schutzpatron der Journalisten.
Gestern wurde die Botschaft zum Welttag der so-
zialen Kommunikationsmittel veröffentlicht mit
dem Titel »Komm und sieh. Kommunizieren, in-
dem man den Menschen begegnet, wo und wie
sie sind«. Ich fordere alle Journalisten und in der
Kommunikation Tätigen auf, »zu kommen und zu
sehen«, auch dort, wo niemand hingehen will,
und Zeugnis von der Wahrheit zu geben.
Mein Gruß gilt euch allen, die ihr über die Me-
dien verbunden seid. Mein Gedanke und mein
Gebet gelten den Familien, die in dieser Zeit am
meisten zu kämpfen haben. Nur Mut, lasst uns
vorwärts gehen! Lasst uns für diese Familien be-
ten, und lasst uns ihnen, soweit möglich, zur Seite
stehen. Und ich wünsche allen einen schönen
Sonntag. Bitte vergesst nicht, für mich zu beten.
Gesegnete Mahlzeit und auf Wiedersehen!
Die Berufung der ersten Jünger in einer Darstellung aus dem Echternacher »Codex aureus«: Im ersten Boot sitzen Petrus und Andreas, im zwei-
ten Boot Jakobus und Johannes mit ihrem Vater Zebedäus. Papst Franziskus verwies auf den »besonderen Ruf des Herrn, auf den wir eine po-
sitive oder eine negative Antwort geben können. Im Evangelium sehen wir, wie Simon, Andreas, Jakobus und Johannes reagierten: Sie waren
reife Männer, sie hatten ihre Arbeit als Fischer, sie hatten ein Familienleben… doch als Jesus vorbeikam und sie rief, ›ließen sie sofort ihre
Netze liegen und folgten ihm nach‹ (Mk 1,18).«
Für Edwin
In seinen Worten nach dem Angelus-gebet verwies der Papst auch auf das tra-gische Schicksal eines Mannes aus Ni-geria:
Am vergangenen 20. Januar wurde ein
46 Jahre alter, nigerianischer Obdachloser
namens Edwin nur wenige Meter vom Pe-
tersplatz entfernt gefunden, der erfroren
war. Seine Geschichte reiht sich ein in die
vieler anderer Obdachloser, die in letzter
Zeit in Rom unter den gleichen dramati-
schen Umständen gestorben sind. Lasst
uns für Edwin beten. Mögen wir uns der
Worte des heiligen Gregor des Großen ent-
sinnen, der angesichts des Kältetodes eines
Bettlers sagte, dass an diesem Tag keine
Messen gefeiert werden sollten, weil es
gleichsam wie am Karfreitag sei. Denken
wir an Edwin. Denken wir daran, wie sich
dieser Mann, 46 Jahre alt, in der Kälte
fühlte, von allen unbeachtet, verlassen,
auch von uns. Lasst uns für ihn beten.
29. Januar 2021 / Nummer 4/5 L’OSSERVATORE ROMANO Wochenausgabe in deutscher Sprache
10 Aus dem Vatikan
Von Kardinal Kurt Koch
Auf dem Weg zu einem
großen Jubiläum
Die gesamte Christenheit geht auf ein großes
Jubiläum zu. Im Jahre 2025 werden wir den
1700. Jahrestag des Ersten Ökumenischen Kon-
zils in der Geschichte der Kirche begehen, das im
Jahre 325 in Nizäa stattgefunden hat. Dieses be-
deutende Ereignis ist gewiss auch von vielen
historischen Bedingtheiten geprägt gewesen.
Dazu gehört in erster Linie, dass dieses Konzil von
einem Kaiser, genauer von Kaiser Konstantin, ein-
berufen worden ist. Dies ist freilich nur zu verste-
hen auf dem geschichtlichen Hintergrund, dass in
der damaligen Christenheit ein heftiger Streit da -
rüber entbrannt war, wie das christliche Be-
kenntnis zu Jesus Christus als dem Sohne Gottes
mit dem ebenso christlichen Glauben an einen
einzigen Gott vereinbart werden könne. In die-
sem Streit erblickte der Kaiser eine große Gefahr
für seinen Plan, die Einheit des Reiches auf dem
Fundament der Einheit des christlichen Glaubens
zu festigen.
In der beginnenden Kirchenspaltung nahm
der Kaiser deshalb in erster Linie ein politisches
Problem wahr; auf der anderen Seite war er jedoch
weitsichtig genug, um einzusehen, dass die Ein-
heit der Kirche nicht auf politischem, sondern nur
auf religiösem Weg zu erreichen sein wird. Um die
einander bekämpfenden Gruppierungen zu ver-
einigen, berief Kaiser Konstantin das Erste Öku-
menische Konzil in die kleinasiatische Stadt Nizäa
in der Nähe der von ihm gegründeten Metropole
Konstantinopel ein.
Auf diesem geschichtlichen Hintergrund
leuchtet die große Bedeutung des Ersten Öku-
menischen Konzils erst recht auf. Es hat nicht nur
das vom alexandrinischen Theologen Arius pro-
pagierte Modell eines strikt philosophischen Mo-
notheismus, dem gemäß Christus nur in einem
uneigentlichen Sinn »Sohn Gottes« sein konnte,
mit dem Glaubensbekenntnis zurückgewiesen,
dass Jesus Christus als Sohn Gottes »wesens-
gleich mit dem Vater« ist. Dieses Bekenntnis ist
zur Grundlage des gemeinsamen christlichen
Glaubens geworden, zumal das Konzil von Nizäa
in einer Zeit stattgefunden hat, in der die Chris -
tenheit noch nicht von den vielen späteren Spal-
tungen verwundet war.
Das Bekenntnis des Konzils verbindet deshalb
auch heute noch alle christlichen Kirchen und
kirchlichen Gemeinschaften und ist deshalb in
seiner ökumenischen Bedeutung nicht zu unter-
schätzen. Denn für die ökumenische Wiederge-
winnung der Einheit der Kirche ist die Überein-
stimmung im wesentlichen Inhalt des Glaubens
erforderlich, und zwar nicht nur zwischen den
heutigen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaf-
ten, sondern auch die Übereinstimmung mit der
Kirche der Vergangenheit und vor allem mit
ihrem apostolischen Ursprung. Das 1700-Jahr-
Jubiläum des Konzils von Nizäa wird von daher
eine günstige Gelegenheit sein, dieses Konzils in
ökumenischer Gemeinschaft zu gedenken und
sich seines christologischen Bekenntnisses er-
neut zu vergewissern.
Synodalität als ökumenische
Herausforderung
Noch in einer weiteren Hinsicht ist dem Kon-
zil von Nizäa eine große ökumenische Bedeutung
eigen. Es dokumentiert die Art und Weise, mit der
strittige Fragen in der Kirche auf einem Konzil
synodal beraten und entschieden werden. Dar-
auf weist bereits das Wort hin; denn »Synode« ist
zusammengesetzt aus den griechischen Begrif-
fen »hodos« (Weg) und »syn« (mit) und bringt zum
Ausdruck, dass ein Weg gemeinsam gegangen
wird. Im christlichen Sinn bezeichnet das Wort
den gemeinsamen Weg der Menschen, die an
Jesus Christus glauben, der sich selbst als »Weg«
offenbart hat, genauer als »der Weg, die Wahrheit
und das Leben« (Joh 14,6). Die christliche Reli-
gion wurde deshalb ursprünglich als »Weg«, und
die Christen, die Christus als Weg nachfolgen,
wurden als »Anhänger des Weges« bezeichnet
(Apg 9,2). In diesem Sinne konnte Johannes
Chrysostomos erklären, »Kirche« sei ein Name,
»der für einen gemeinsamen Weg steht«, und Kir-
che und Synode seien »Synonyme«.1 Das Wort
»Synodalität« ist deshalb genau so alt und grund-
legend wie das Wort »Kirche«.
Im Konzil von Nizäa darf man von daher den
gesamtkirchlichen Beginn der synodalen Art und
Weise der Entscheidungsfindung in der Kirche er-
blicken. Dabei handelt es sich wiederum um eine
Erkenntnis, die in ökumenischer Hinsicht von
grundlegender Bedeutung ist, wie zwei wichtige
neuere Dokumente belegen: Vor wenigen Jahren
hat die Kommission für Glauben und Kirchenver-
fassung des Ökumenischen Rates der Kirchen die
Studie Die Kirche auf dem Weg zu einer gemein-
samen Vision vorgelegt, mit der eine multilaterale
und ökumenische Vision vom Wesen, von der Be-
stimmung und der Sendung der Kirche ange-
strebt wird. In dieser Studie wird als ökumenisch
gemeinsame ekklesiologische Aussage festgehal-
ten: »Die gesamte Kirche ist auf allen Ebenen des
kirchlichen Lebens – lokal, regional und univer-
sal – synodal / konziliar unter der Leitung des
Heiligen Geistes. In der Eigenschaft der Synoda-
lität bzw. Konziliarität spiegelt sich das Geheim-
nis des trinitarischen
Lebens Gottes wider,
und die Strukturen der
Kirche verleihen die-
ser Eigenschaft Aus-
druck, um das Leben
der Gemeinschaft als
Gemeinschaft zu ver-
wirklichen.«2 Diese
Sicht wird auch geteilt
von der Internationa-
len Theologischen Kommission in ihrem Grund-
satzdokument Die Synodalität in Leben und
Sendung der Kirche. Darin wird mit Freude kon-
statiert, der ökumenische Dialog sei so weit vor-
angeschritten, dass er in der Synodalität »eine
Offenbarungsdimension des Wesens der Kirche«
erkennt, indem es sich dabei um die Annäherung
an die »Auffassung von der Kirche als koinonia«
handelt, »die sich in jeder Ortskirche und in ihrer
Beziehung zu den anderen Kirchen verwirklicht,
und zwar durch spezifische Strukturen und syn-
odale Prozesse«3.
Synodal auf den Heiligen Geist
hören
In dieser ökumenischen Sinnrichtung spricht
sich auch Papst Franziskus stark für die Förde-
rung von synodalen Prozessen und Vorgängen in
der Katholischen Kirche aus. Denn er ist über-
zeugt, dass den Weg der Synodalität entschieden
zu gehen und zu vertiefen das ist, »was Gott sich
von der Kirche des dritten Jahrtausends erwar-
tet«.4 In erster Linie geht es ihm dabei allerdings
nicht um Strukturen und Institutionen, sondern
um die spirituelle Dimension der Synodalität, in
der die Rolle des Heiligen Geistes und das ge-
meinsame Hören auf ihn von grundlegender Be-
deutung sind: »Wir hören, wir diskutieren in
Gruppen, aber vor allem anderen achten wir dar-
auf, was der Geist uns zu sagen hat.«5 Von dieser
starken geistlichen Akzentuierung her versteht
man auch den Unterschied zwischen Synodalität
und demokratischem Parlamentarismus, den
Papst Franziskus immer wieder stark unter-
streicht. Während das demokratische Verfahren
vor allem der Ermittlung von Mehrheiten dient,
ist Synodalität ein geistliches Geschehen, das
sein Ziel darin findet, in den Glaubensüberzeu-
gungen und in den daraus fließenden Lebens-
weisen des einzelnen Christen und der kirchli-
chen Gemeinschaft auf dem Weg der Unter-
scheidung tragfähige und überzeugende Ein-
mütigkeit zu finden. Die Synode ist deshalb »kein
Parlament, wo man sich auf Verhandlungen, auf
die Aushandlung von Absprachen oder Kompro-
missen stützt, um einen Konsens oder eine ge-
meinsame Vereinbarung zu erreichen. Die ein-
zige Methode der Synode ist dagegen, sich mit
apostolischem Mut, evangeliumsgemäßer Demut
und vertrauensvollem Gebet dem Heiligen Geist
zu öffnen, damit er es sei, der uns führt.«6
Von daher versteht es sich, dass im Vorder-
grund des Interesses von Papst Franziskus die
Vertiefung der Einsicht steht, dass Synodalität
eine elementare Wesensstruktur der Katholi-
schen Kirche ist: »Kirche zu sein bedeutet, Ge-
meinschaft zu sein, die gemeinsam unterwegs
ist. Es genügt nicht, einen Synod zu haben, man
muss Synode sein. Die Kirche braucht einen tie-
fen inneren Austausch: einen lebendigen Dialog
zwischen den Hirten sowie zwischen den Hirten
und den Gläubigen.«7
Damit ist auch evident, dass Synodalität kei-
nen Gegensatz zur hierarchischen Struktur der
Kirche darstellt, sondern dass vielmehr Synoda-
lität und Hierarchie sich wechselseitig fordern
wie fördern. Die Synodalität als konstitutive
Dimension der Kirche bildet deshalb den »geeig-
netsten Interpretationsrahmen für das Verständ-
nis des hierarchischen Dienstes selbst«, insofern
diejenigen, die Autorität in der Kirche ausüben,
»im ursprünglichen Sinn des Wortes minister ge-
nannt« werden.8 Dies gilt in den Augen von Papst
Franziskus auch und gerade für den petrinischen
Primat selbst, der in einer synodalen Kirche bes-
ser geklärt werden kann: »Der Papst steht nicht
allein über der Kirche, sondern er steht in ihr als
Getaufter unter den Getauften, im Bischofskolle-
gium als Bischof unter den Bischöfen und ist – als
Nachfolger des Apostels Petrus – zugleich beru-
fen, die Kirche von Rom zu leiten, die in der Liebe
allen Kirchen vorsteht.«9
Damit ist auch die ökumenische Dimension
der kirchlichen Synodalität in der Sicht von Papst
Franziskus offenkundig. Denn für ihn stellt eine
»sorgfältige Untersuchung, wie im Leben der Kir-
che das Prinzip der Synodalität und der Dienst
dessen, der den Vorsitz hat, zum Ausdruck kom-
men«, einen wichtigen Beitrag zur ökumeni-
schen Versöhnung zwischen den christlichen
Kirchen dar.10 Das theologische und pastorale
Bemühen, eine synodale Kirche aufzubauen, ent-
hält deshalb reiche Auswirkungen auf die Öku-
mene, wie Papst Franziskus mit dem Grundprin-
zip des ökumenischen Dialogs verdeutlicht, das
im Austausch von Gaben besteht, in dem wir von
den anderen lernen können. In solchem Aus-
tausch geht es vor allem darum, das, was der Hei-
lige Geist in den anderen Kirchen gesät hat, »als
ein Geschenk aufzunehmen, das auch für uns be-
stimmt ist«. In diesem Sinn hebt Papst Franziskus
hervor, dass wir Katholiken im Dialog mit den or-
thodoxen Brüdern die Möglichkeit haben, »etwas
Beitrag zur Gebetswoche für die Einheit der Christen
Gemeinsam unterwegs auf demselben Weg
Fortsetzung auf Seite 11
Das erste Ökumenische Konzil von Nizäa (325) auf einem Fresko in der Kirche des heiligen Nikolaus
in Demre (in der Nähe des antiken Myra) in der Türkei.
Für die ökumenische Wiedergewinnung
der Einheit der Kirche ist die Übereinstimmung
im wesentlichen Inhalt des Glaubens erforderlich,
und zwar nicht nur zwischen den
heutigen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften,
sondern auch die Übereinstimmung mit der Kirche
der Vergangenheit und vor allem mit
ihrem apostolischen Ursprung.
Das inthronisierte Evangelium während des Zweiten Vatikanischen Konzils.
29. Januar 2021 / Nummer 4/5 L’OSSERVATORE ROMANO Wochenausgabe in deutscher Sprache
11Aus dem Vatikan
mehr über die Bedeutung der bischöflichen Kol-
legialität und ihre Erfahrung der Synodalität zu
lernen«11. Da damit das Kernthema des katho-
lisch-orthodoxen Dialogs angesprochen ist, soll
die ökumenische Dimension der Synodalität an-
hand dieses wichtigen Dialogs noch etwas kon-
kretisiert werden.
Synodalität und Primatialität im katholisch-
orthodoxen Dialog
In diesem Dialog konnte ein bedeutender
Schritt getan werden auf der Vollversammlung
der Gemischten Internationalen Kommission in
Ravenna im Jahre 2007, auf der das Dokument
verabschiedet worden ist: Ekklesiologische und
kanonische Konsequenzen der sakramentalen
Natur der Kirche. Kirchliche Communio, Konzi-
liarität und Autorität.12 In diesem Dokument wird
zunächst eine theologische Klärung der Begriffe
»Konziliarität« und »Autorität«, beziehungsweise
»Synodalität« und »Primatialität« vorgenommen.
Dann wird gezeigt, dass sich Synodalität und Pri-
matialität auf den drei elementaren Ebenen des
kirchlichen Lebens aktualisieren, nämlich auf der
lokalen Ebene der Ortskirche, der regionalen
Ebene, auf der mehrere benachbarte Ortskirchen
miteinander verbunden sind, und auf der univer-
salen Ebene der auf der ganzen bewohnten Erde
verbreiteten Kirche, die alle Ortskirchen umfasst.
In einem weiteren Schritt wird dargetan, dass
Synodalität und Primatialität auf allen Ebenen des
Lebens der Kirche in dem Sinne wechselseitig
voneinander abhängig sind, dass der Primat im-
mer im Kontext von Synodalität und Synodalität
im Kontext des Primats betrachtet und verwirk-
licht werden müssen. Dies bedeutet konkret,
dass es auf allen Ebenen auch einen protos, be-
ziehungsweise eine kephale geben muss: Auf der
lokalen Ebene ist der Bischof in Beziehung zu den
Priestern und zum ganzen Volk Gottes der protos
in seiner Diözese; auf der regionalen Ebene ist der
Metropolit der protos in der Beziehung zu den
Bischöfen in seiner Provinz; und auf der univer-
salen Ebene ist der Bischof von Rom in der Bezie-
hung zur Vielzahl der Ortskirchen der protos,
während in den Orthodoxen Kirchen eine ana-
loge Aufgabe dem Ökumenischen Patriarchat
von Konstantinopel zukommt. Abschließend
bringt das Dokument die Überzeugung der Kom-
mission zum Ausdruck, dass die dargebotenen
Reflexionen über kirchliche Communio, Konzi-
liarität und Autorität einen »positiven und be-
deutsamen Fortschritt in unserem Dialog« dar-
stellen und eine »feste Basis für künftige
Diskussion über die Frage des Primats auf der uni-
versalen Ebene der Kirche« bieten.13
Dass beide Dialogpartner zum ersten Mal
gemeinsam erklären konnten, dass die Kirche auf
allen Ebenen und damit auch auf der universalen
Ebene synodal strukturiert ist und einen protos
braucht, stellt einen Meilenstein im katholisch-
orthodoxen Dialog dar. Damit dieser ver-
heißungsvolle Schritt in eine gute Zukunft führen
kann, muss im ökumenischen Dialog das Ver-
hältnis zwischen Synodalität und Primat weiter
vertieft werden. Dabei kann es nicht darum ge-
hen, einen Kompromiss auf dem kleinstmögli-
chen gemeinsamen Nenner anzuvisieren. Es
müssen vielmehr die jeweiligen starken Seiten
beider kirchlicher Gemeinschaften miteinander
ins Gespräch gebracht werden, wie dies der or-
thodox-katholische Arbeitskreis St. Irenäus in sei-
ner Studie Im Dienst an der Gemeinschaft in syn-
thetischer Weise ausgesprochen hat: »Vor allem
müssen die Kirchen danach streben, ein besseres
Gleichgewicht zwischen Synodalität und Primat
auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens zu errei-
chen, und zwar durch eine Stärkung synodaler
Strukturen in der katholischen Kirche und durch
die Akzeptanz eines gewissen Primats innerhalb
der weltweiten Gemeinschaft der Kirchen in der
orthodoxen Kirche.«14
Ökumenische Versöhnung von Synodalität und Primatialität
Es ist somit Lernbereitschaft auf beiden Seiten
notwendig. Auf der einen Seite muss die Katholi-
sche Kirche eingestehen, dass sie in ihrem Leben
und in ihren ekklesialen Strukturen noch nicht je-
nes Maß an Synodalität entwickelt hat, das theo-
logisch möglich und notwendig wäre, und dass
eine glaubwürdige Verbindung des hierarchi-
schen und des synodal-communialen Prinzips
eine wesentliche Hilfe für das weitere ökumeni-
sche Gespräch mit der Orthodoxie darstellen
würde. In der Verstärkung der Synodalität darf
man ohne Zweifel den wichtigsten Beitrag der Ka-
tholischen Kirche für die ökumenische Anerken-
nung des Primats sehen.
Besonderer Nachholbedarf besteht dabei vor
allem auf der regionalen Ebene. Sie ist in den Or-
thodoxen Kirchen stark entwickelt, insofern die
Metropoliten nach wie vor jene wichtige Verant-
wortung wahrnehmen, die ihnen bereits in den
frühen Jahrhunderten zugekommen ist und hin-
sichtlich derer gewichtige Entscheidungen im
Ersten Ökumenischen Konzil von Nizäa 325 und
im Vierten Ökumenischen Konzil von Chalkedon
451 vorliegen. Zu denken ist dabei auch an den
berühmten Apostolischen Kanon 34, der in der
frühen Kirche sowohl in Ost als auch in West
anerkannt gewesen ist, der die Beziehungen
zwischen den Ortskirchen einer Region regelt
und von einem sensiblen Zusammenspiel von
Synodalität und Primatialität geprägt ist: »Die
Bischöfe jeder Provinz müssen den anerkennen,
der unter ihnen der Erste ist, und ihn als ihr Haupt
betrachten und nichts Wichtiges ohne seine Zu-
stimmung tun; jeder Bischof soll nur das tun, was
seine eigene Diözese und die von ihr abhängigen
Gebiete betrifft. Aber der Erste kann nichts tun
ohne die Zustimmung aller. Denn auf diese Weise
wird Eintracht herrschen und Gott wird geprie-
sen werden durch den Herrn im Heiligen Geist.«
Dem gegenüber besteht in der Katholischen
Kirche auf der regionalen Ebene der Kirchenpro-
vinzen und der kirchlichen Regionen, der Parti-
kularkonzilien und der Bischofskonferenzen
Nachholbedarf, wie Papst Franziskus feststellt:
»Wir müssen nachdenken, um durch diese Orga-
nismen die Zwischeninstanzen der Kollegialität
noch mehr zur Geltung zu bringen, eventuell
durch Integration und Aktualisierung einiger
Aspekte der alten Kirchenordnung.«15
Auf der anderen Seite wird man von den Or-
thodoxen Kirchen erwarten dürfen, dass sie im
ökumenischen Dialog lernen, dass ein Primat
auch auf der universalen Ebene nicht nur möglich
und theologisch legitim, sondern auch notwendig
ist. Die innerorthodoxen Spannungen, die vor al-
lem bei der »Heiligen und Großen Synode« von
Kreta im Jahre 2016 deutlich zum Ausdruck ge-
kommen sind, dürften es nahelegen, über ein
Amt der Einheit auch auf der universalen Ebene
der Kirche nachzudenken, das freilich mehr sein
muss als ein reiner Ehrenprimat, sondern auch ju-
risdiktionelle Elemente einschließen muss. Ein
solcher Primat würde keineswegs im Gegensatz
zu einer eucharistischen Ekklesiologie stehen,
sondern wäre mit ihr kompatibel, wie der ortho-
doxe Theologe und Metropolit John D. Zizioulas
immer wieder in Erinnerung gerufen hat.
Eucharistische Natur von Synodalität
und Primat
Den Primat des Bischofs von Rom betrachten
wir Katholiken als Geschenk des Herrn an seine
Kirche und sehen deshalb in ihm auch ein Ange-
bot an die ganze Christenheit auf dem Weg des
Wiederfindens und des Lebens der Einheit. Um
dies glaubwürdig dartun zu können, muss auf ka-
tholischer Seite weiter vertieft werden, dass der
Primat des Bischofs von Rom nicht allein eine ju-
ridische und schon gar nicht rein äußerliche Zu-
tat zur eucharistischen Ekklesiologie darstellt,
sondern in ihr selbst begründet ist. Denn die Kir-
che, die sich als weltweites Netz von Eucharistie-
gemeinschaften versteht, braucht auch auf der
universalen Ebene einen vollmächtigen Dienst
an der Einheit. Der Primat des Bischofs von Rom
ist deshalb, wie Papst Benedikt XVI. eingehend
gezeigt hat, letztlich nur von der Eucharistie her
zu verstehen, genauer als Primat in der Liebe im
eucharistischen Sinn, der in der Kirche um eine
Einheit besorgt ist, die eucharistische Gemein-
schaft ermöglicht und glaubwürdig verhindert,
dass ein Altar gegen einen anderen Altar gestellt
wird.
Von daher zeigt sich, dass nicht nur Primatia-
lität, sondern auch Synodalität eine zutiefst litur-
gisch-eucharistische Natur aufweisen. Dass Kir-
che als Synode vor allem dort lebt, wo sich
Christen zur Feier der Eucharistie versammeln,
macht sichtbar, dass das tiefste Wesen der Kirche
als Synode die eucharistische Versammlung ist,
wie die Internationale Theologische Kommission
mit Recht hervorhebt: »Der synodale Weg der
Kirche wird von der Eucharistie gestaltet und
genährt.«16 Denn Synodalität findet ihren Ur-
sprung ebenso wie ihren Höhepunkt in der be-
wussten und aktiven Teilnahme an der eucharis -
tischen Versammlung und weist insofern eine
elementare geistliche Dimension auf. Dies
kommt auch heute noch darin zu sichtbarem
Ausdruck, dass synodale Versammlungen wie
Konzilien und Bischofssynoden mit der Feier der
Eucharistie und der Inthronisation des Evangeli-
ums eröffnet zu werden pflegen, wie es bereits
von den Konzilien von Toledo im siebten Jahr-
hundert bis hin zum im Jahre 1984 verabschie-
deten Zeremoniale für die Bischöfe vorgeschrie-
ben ist.
Die synodale Tradition der Christenheit ent-
hält ein reiches Erbe, das es zu revitalisieren gilt.
Es ist deshalb ein wichtiges Zeichen, dass Papst
Franziskus entschieden hat, die Vollversamm-
lung der Bischofssynode im Jahre 2022 der Syn-
odalität selbst zu widmen: »Für eine synodale Kir-
che: Gemeinschaft, Partizipation und Mission«.
Diese Synode wird nicht nur ein wichtiges Ereig-
nis in der Katholischen Kirche sein, sondern auch
eine bedeutende ökumenische Botschaft enthal-
ten, da Synodalität ein Thema ist, das auch die
Ökumene intensiv bewegt.
Fußnoten
1 Johannes Chrysostomos, Explicatio in Ps
149, in: PG 55, 493.2 Die Kirche auf dem Weg zu einer gemeinsa-
men Vision. Eine Studie der Kommission für
Glauben und Kirchenverfassung des Ökumeni-
schen Rates der Kirchen (ÖRK), Gütersloh-Pader-
born 2015.3 Internationale Theologische Kommission,
Die Synodalität in Leben und Sendung der Kirche
(= Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls
Nr. 215), Bonn 2018, Nr. 116.4 Franziskus, Ansprache bei der 50-Jahr-Feier
der Errichtung der Bischofssynode am 17. Okto-
ber 2015.5 Franziskus, Wage zu träumen! Mit Zuver-
sicht aus der Krise. Im Gespräch mit Austen Iver-
eigh, München 2020, S. 111.6 Franziskus, Eröffnungsansprache bei der
Bischofssynode für die Familie am 5. Oktober
2015.7 Franziskus, Ansprache an die Vertreter der
Griechisch-Katholischen Kirche der Ukraine am
5. Juli 2019.8 Franziskus, Ansprache bei der 50-Jahr-Feier
der Errichtung der Bischofssynode am 17. Okto-
ber 2015.9 Ebd.10 Franziskus, Ansprache an die ökumenische
Delegation des Patriarchats von Konstantinopel
am 27. Juni 2015.11 Franziskus, Evangelii gaudium. Nr. 246.12 Dokumentiert in: J. Oeldemann, F. Nüssel,
U. Swarat, A. Vletsis (Hrsg.), Dokumente wach-
sender Übereinstimmung. Band 4: 2001-2010,
Paderborn-Leipzig 2012, S. 833-848.13 Nr. 46.14 Im Dienst an der Gemeinschaft. Das Ver-
hältnis von Primat und Synodalität neu denken.
Eine Studie des Gemeinsamen orthodox-katholi-
schen Arbeitskreises St. Irenäus, Paderborn 2018,
S. 94.15 Franziskus, Ansprache bei der 50-Jahr-Feier
der Errichtung der Bischofssynode am 17. Okto-
ber 2015.16 Internationale Theologische Kommission,
Die Synodalität in Leben und Sendung der Kirche,
Nr. 47.
Beitrag von Kardinal Kurt Koch
Fortsetzung von Seite 10
Papst Franziskus und Patriarch Bartholomaios I. beim Interreligiösen Friedenstreffen auf dem römi-
schen Kapitol am 20. Oktober 2020.
Kardinal Kurt Koch ist seit fast genau zehn Jahren
Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung
der Einheit der Christen. Er wurde am 1. Juli 2010
von Papst Benedikt XVI. ernannt.
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Franziskus
Co
ron
a
Paul V. vollendete den Bau des neuen Petersdoms
Baumeister und ReformpapstSein Name ist so prominent platziert wie
kaum ein anderer. Wer auf die Fassade des Peters-
doms zugeht – normalerweise etwa 20 Millionen
Besucher jährlich –, sieht über dem Hauptein-
gang in hohen Lettern den Namen »Paulus V
Burghesius«.
Papst Paul V. aus der römischen Familie
Borghese hat im Jahr 1612 die Fassade
der Basilika zu Ehren des Apostelfürs -
ten Petrus vollendet und sich dort mit einer
großen Inschrift verewigt. Der Neubau der bis
heute größten katholischen Kirche der Welt war
damit zwar noch nicht ganz fertig; die ab -
schließende Weihe erfolgte erst 1626. Aber der
Papst hatte nach über hundertjähriger Bauzeit
endlich die entscheidenden Weichen für den Ab-
schluss gestellt und mit einem architektonischen
Kraftakt umgesetzt. Am 28. Januar jährte sich
sein Todestag zum 400. Mal.
Paul V. (1605-21) war aber nicht nur Bauherr.
Das Hauptanliegen des frommen Juristen war die
Durchführung der Reformen des Trienter Konzils
(1545-63), mit der die katholische Kirche nach der
Reformation wieder Tritt zu fassen suchte. Er
stärkte die katholischen Orden, erkannte die Ka-
puziner an, die nach den Jesuiten zum wichtigs -
ten Orden für die innerkirchliche Reform wur-
den, er bestätigte die Statuten der Oratorianer von
Philipp Neri. In seinem Pontifikat fand auch der
erste Prozess gegen Galileo Galilei statt. Er wurde
damals nicht selbst verurteilt, wohl aber das ko-
pernikanische Weltbild.
Vor dem Amtsantritt von Paul V. hatten be-
reits 17 Päpste und zehn Baumeister – unter ih-
nen Genies wie Bramante, Raffael und Michelan-
gelo – an der Petersbasilika gebaut. Fertig war
bislang der Zentralbau mit der gewaltigen Kuppel
und vier gleichlangen Armen. Strittig war, ob
dem Zentralbau ein Langhaus vorgesetzt werden
sollte. Es stellte sich auch die Frage, ob der noch
stehende Ostteil von Alt-Sankt-Peter dabei inte-
griert oder durch einen Neubau ersetzt werden
sollte. Paul V. entschied sich für den Anbau eines
neuen Langhauses, auch um eine größere Teil-
nahme an Gottesdiensten zu ermöglichen.
Der Papst drängte seinen Baumeister Carlo
Maderno zu einem enormen Arbeitstempo. Der
Abriss des restlichen Altbaus erfolgte nicht so ra-
dikal und respektlos wie unter Julius II. Der Papst
ließ zuvor eine Inventarliste sämtlicher Monu-
mente, Grabmäler und Kunstwerke anfertigen,
teils mit Skizzen. Viele wurden in den Grotten
von Sankt Peter gelagert, umgebettet oder auf an-
dere Kirchen verteilt.
Bereits von seinen Zeitgenossen wurde Ma-
derno heftig kritisiert. Etwa weil das Langschiff
leicht abgewinkelt von der Kuppel und dem Zen-
tralbau verläuft. Damit korrigierte Maderno aber
einen Fehler von Sixtus V., der den Obelisken
nicht genau in der Verlängerung von Michelange-
los Kreuzarm aufgestellt hatte.
Lauter ist freilich die Kritik an der Fassade des
Doms: Zu plump, zu unproportioniert, die gran-
diose Kuppel Michelangelos komme nicht mehr
zur Geltung. Allerdings stand Maderno vor einer
schier unmöglichen Aufgabe. Durch das Lang-
haus war die Kuppel um 150 Meter nach hinten
gerückt, die Fassade sollte daher möglichst nied-
rig werden. Zudem musste die Eingangsfront
noch nach rechts und links um ein Joch erweitert
werden, weil der Papst den Petersdom mit dem
Apostolischen Palast verbinden wollte. Zwei Kir-
chentürme, die Maderno als vertikale Elemente
geplant hatte, durften aus statischen Gründen
nicht gebaut werden.
Erst 40 Jahre später gelang es dem Barock-
künstler Bernini bei der Gestaltung des Peters-
platzes, mit einigen optischen Tricks die augen-
fällige Breite der Fassade Madernos zu mildern.
Er verband die beiden Säulenarme der Kolonna-
den mit der Kirchenfassade durch zwei Flügel-
bauten, die zur Fassade hin nicht zueinander
sondern auseinanderlaufen. Dadurch rückt die
Kirche scheinbar weiter nach vorn, die Fassade
erscheint weniger breit und wirkt damit höher.
Weiteres leistet die breite ansteigende Frei-
treppe.
Nichts ändern konnte aber auch Bernini an
der Tatsache, dass die Kuppel Michelangelos
durch das lange Hauptschiff nicht mehr angemes-
sen zur Geltung kommt. Vom Petersplatz aus
sieht man nur ihren oberen Teil. In ihrer ganzen
Schönheit präsentiert sie sich nur von weitem
aus, am besten von der Engelsbrücke.
Johannes Schidelko
Die Fassade des Petersdoms wurde 1612 unter
Papst Paul V. vollendet. Er hat sich dort verewi-
gen lassen (oben). Am 28. Januar jährte sich sein
Todestag zum 400. Mal. Sein Grab befindet sich
in der Basilika Santa Maria Maggiore.