Es war einmal in Porto Alegre · Großunternehmer, gerade dabei, sich langfristig im...

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19November 2017LE MONDE diplomatique |

Oktober 2017, 316 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €,ISBN 978-3-8376-3797-7, E-Book: 26,99 €Oktober 2017, 316 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 ISBN 978-3-8376-3797-7, E-Book: 26,99 Oktober 2017, 316 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 ISBN 978-3-8376-3797-7, E-Book: 26,99

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Phillip M. Ayoub

Das Coming-out der StaatenEuropas sexuelle Minderheiten und die Politik der Sichtbarkeit(übersetzt aus dem Englischen von Katrin Schmidt)

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Es war einmalin Porto Alegrevon Gerhard Dilger

Wolfgang Henne, Rotgeflecktes, 2017, Zeichnung über Siebdruck, 21 x 29 cm

Siebzehn Jahre nach seinerGründung muss sich dasWeltsozialforum neu erfinden.Die südamerikanische Linke hofftfür das nächste Treffen aufinternationale Unterstützung.

R iesengedränge im Hauptge-bäude der Bundesuniversi-tät Bahia: Draußen trägt einestudentische Trauergemein-

de Brasiliens öffentliches Bildungswe-sen zu Grabe, drinnen gibt es afrobrasi-lianische Trommelwirbel zur Eröffnungeines großen Unikongresses – und zurBegrüßung von altgedienten Aktivis-tInnen sowie von NGO-Kadern aus denUSA, Afrika und Europa. Die gehörendem Internationalen Rat des Weltso-zialforums (WSF) an und zerbrechensich anschließend gemeinsam mit lo-kalen Machern die Köpfe darüber, wiedie Generalversammlung der Weltzi-vilgesellschaft wieder neuen Schwungbekommen könnte. Denn vom 13. bis17. März 2018 soll von einem nächstenWeltsozialforum in Salvador da Bahiaaus die Botschaft um die Welt gehen:„Widerstand heißt kreative Transfor-mation.“

In den letzten Jahren hatte sich inder Szene Ernüchterung breitgemacht.Zu den letzten globalen Foren in Tunis(2013, 2015) und Montreal (2016) ka-men zwar Zehntausende, doch die me-diale Strahlkraft der Anfangsjahre, alsetwa die New York Times von der „Su-permacht Weltöffentlichkeit“ schwärm-te, ist dahin. Zwischen 2001 und 2005hatte das WSF viermal im südbrasilia-nischen Porto Alegre stattgefunden, da-zwischen (2004) einmal im indischenMumbai. Zur Premiere kamen 15 000TeilnehmerInnen, vier Jahre später wa-ren es zehnmal so viele.

Die brasilianischen Foren waren– als geschickt gesetzter Kontrapunktdes Weltwirtschaftsforums in Davosund in Fortsetzung des Aufstands immexikanischen Chiapas 1994 oder derglobalisierungskritischen Proteste ge-gen den WTO-Gipfel in Seattle 1999 –von der Aufbruchstimmung jener Jahregeprägt. Denn sie wuchsen parallel mitdem politischen Linksruck in Südame-rika: In Venezuela wurde Hugo Chávez

Präsident, in Brasilien der Exgewerk-schafter Luiz Inácio Lula da Silva undin Argentinien der Linksperonist Nés-tor Kirchner.

Gemeinsam begruben sie 2005 dasUS-Projekt einer Freihandelszone vonAlaska bis Feuerland unter dem großenJubel der sozialen Bewegungen. VierJahre später, auf dem WSF in der brasi-lianischen Amazonasmetropole Belém,ließen sich neben Lula und Chávez derbolivianische Präsident Evo Morales,Rafael Correa aus Ecuador und Para-guays Staatschef Fernando Lugo fei-ern. Die lateinamerikanischen Staatenrückten zusammen mit dem Ziel, dieÜbermacht der USA Schritt für Schrittzurückzudrängen.

Heute scheinen diese Zeiten einehalbe Ewigkeit her. Gemeinsame Initia-tiven ohne die USA gehören der Vergan-genheit an. Nur noch in Uruguay undBolivien regiert die Linke einigermaßenkomfortabel. Venezuelas „Sozialismusdes 21. Jahrhunderts“ steckt in einerdramatischen Krise, 2012 wurde in Pa-raguay Fernando Lugo und 2016 in Bra-silien Lulas Nachfolgerin Dilma Rous-seff von reaktionären Parlamentsmehr-heiten gestürzt, und bei Wahlen hat dieRechte immer häufiger die Nase vorn.

In Chile sieht es nach einem Come-back des millionenschweren Unterneh-mers Sebastián Piñera aus, in Argen-tinien ist Mauricio Macri, ebenfallsGroßunternehmer, gerade dabei, sichlangfristig im Präsidentenpalast vonBuenos Aires einzurichten. Die Lin-ke steht dort ebenso hilf- und ideen-los da wie im Brasilien des illegiti-men, äußerst unpopulären Rousseff-Nachfolgers Michel Temer. Und dabeiproklamieren linke Parteien, sozialeBewegungen und ihre Unterstützeror-ganisationen doch seit Porto Alegre un-ermüdlich: Es gibt Alternativen!

Zwar haben Südamerikas progres-sive Regierungen den Rohstoffboomdes letzten Jahrzehnts zum Ausbau vonSozialprogrammen genutzt. Die Millio-nen Menschen, die dadurch der Armutentkommen sind, bilden nun das neue,prekäre Proletariat. Doch strukturelleReformen hin zu einer sozialökologi-schen Wirtschaftsweise, die beispiels-weise auf Ernährungssouveränität undkleinbäuerliche Landwirtschaft stattprimär auf Rohstoffexport und Raub-bau an der Natur setzt, blieben aus.

An der enormen sozialen Ungleich-heit änderte sich wenig, nicht nur inBrasilien ist der Zugang zu guter Bil-dung oder zur Gesundheitsversorgungnach wie vor den schmalen Mittel- undOberschichten vorbehalten. Unterdes-sen wucherten Vetternwirtschaft undKorruption. Der Unmut über dieseSchieflage brach sich in den Massen-protesten vom Juni 20131 Bahn, auf diedie Regierung Rousseff hilflos reagier-te, während eine neue Rechte es schaff-te, daraus – mit tatkräftiger Unterstüt-zung der großen Medien – Kapital zuschlagen und den „parlamentarischenStaatsstreich“ von 2016 vorzubereiten.

Eine selbstkritische Aufarbeitungder Frage, wie es zum Ende dieses„progressiven Zyklus“ kommen konn-te, steht bis heute aus. Stattdessen ver-breiten frühere RegierungspolitikerVerschwörungstheorien.

Event oderWiderstandStatt weiterhin von links unten denDruck auf die Regierungen zu organi-sieren, ließen sich zahlreiche Gewerk-schafter oder Protagonisten sozialerBewegungen in die Staatsgeschäfteeinbinden. Eine Folge des Seitenwech-sels war die Schwächung und Entpoliti-sierung der Basis. In Brasilien gründe-ten Dissidenten der Arbeiterpartei (PT)schon bald die Partei für Sozialismusund Freiheit (PSOL), doch deren Ein-fluss blieb, von regionalen Ausnahmenabgesehen, marginal.

Die heute durch Skandale undWahlniederlagen gebeutelte PT hattein den Anfangsjahren des Weltsozialfo-rums eine zentrale Rolle gespielt. Sei-ne Begründer – der israelisch-brasilia-nische linksliberale Unternehmer OdedGrajew, der befreiungstheologisch in-spirierte brasilianische Aktivist ChicoWhitaker und der französische Attac-Gründer Bernard Cassen (einst Direk-tor von Le Monde diplomatique) – habenPorto Alegre als Schauplatz ausgewählt,weil dort das innovative, von PT-Stadt-verwaltungen entwickelte Konzept desBürgerhaushalts angewandt wurde.2

Lula trat hier erst als Präsidentschafts-kandidat und 2003 als neu gewählterStaatschef auf, der sich anschickte, dieBrücke vom Weltsozialforum zum Welt-wirtschaftsforum in Davos zu schlagen.

Die horizontale Struktur des WSFführte zu einem bunten Miteinanderoder eher einem Nebeneinander, dasErwartungen an klare Zuspitzungenzwangsläufig enttäuschte. Machtstra-tegisch denkende Köpfe, die am liebs-ten eine antikapitalistische Fünfte In-ternationale geformt hätten, zogensich aus dem Forum zurück. Unter denMitgliedern des Internationalen Rats,des obersten WSF-Gremiums, sind nurnoch wenige in der globalisierungskri-tischen Bewegung aktiv.

Am Rande des letzten WSF im Som-mer 2016 taten sich AktivistInnen ausMontreal und Nordostbrasilien zusam-men. Ihnen gelang es, das WSF nachSalvador de Bahia zu lotsen – auch weilBahia einer der letzten PT-regiertenBundesstaaten ist und selbst in Zeitenknapper Kassen ein für Linke wenigerfeindseliges Umfeld darstellt als der po-larisierte Süden oder Südwesten Brasi-liens.

Auf einer Ratssitzung im Januarplädierten Whitaker und Grajew ver-geblich dafür, Salvador zu einem vonvielen regionalen „Widerstandsforen“zu erklären. Die große Mehrheit deranwesenden 30 Ratsmitglieder votier-te für einen globalen fünftägigen Event.Auch befürchten Kritiker eine Instru-mentalisierung des WSF durch diePT zu Wahlkampfzwecken, denn 2018werden in Brasilien nicht nur der Prä-sident, sondern auch die Gouverneuresowie alle Landes- und Bundesparla-mente gewählt.

Lula da Silva strebt ein Comebackan. Er führt in allen Umfragen, abergegen ihn läuft auch ein Korruptions-verfahren. Falls die zweite Instanz dasim Juli gegen ihn ergangene Urteil be-stätigt, wäre seine Kandidatur abruptbeendet.

„Die lokale PT beginnt eigentlicherst jetzt, sich für das Forum zu inte-ressieren“, versichert Mauri Cruz, beidem in der Vorbereitungszeit viele Fä-den zusammenlaufen. Der Aktivist ausPorto Alegre, der vor 15 Jahren dort Ver-kehrsdezernent war, ist für ein halbesJahr nach Salvador gezogen, um nundas Forum vor Ort mit zu organisieren.

Der Gesamtetat bleibt bescheiden.Die knapp 2,5 Millionen Euro sind ge-rade einmal halb so viel wie ursprüng-lich angestrebt. „Und selbst da warschon eingerechnet, was uns die Bun-desuniversität oder die Landesregie-rung in Form von erlassenen Mietenoder anderen Hilfen bei der Infrastruk-tur zur Verfügung stellen“, sagt Cruz,„wir machen das Beste aus dem, waswir haben.“

Da ist es äußerst willkommen, dassBrot für die Welt – anders als frühereGroßsponsoren wie staatliche Banken,der halbstaatliche Erdölmulti Petro-bras, Oxfam oder die Ford Foundation– das WSF in der Planungsphase wei-terhin unterstützt. „Als Plattform desAustauschs bleibt es für uns wichtig“,meint Francisco Marí, der für das evan-gelische Hilfswerk als Ratsmitgliednach Salvador gekommen ist, „wäh-rend der Woche im März werden wiruns mit unseren Projektpartnern wiebei anderen internationalen Events

auf gemeinsame Veranstaltungen unddie weitere Vernetzung konzentrieren.“Ähnlich sehen das Leute von Attac, po-litischen Stiftungen oder der deutschenGewerkschaft Erziehung und Wissen-schaft (GEW).

Die großen Protestbewegungender letzten Jahre, ob in der arabischenWelt, in Griechenland, Spanien, Groß-britannien oder in den USA, fanden un-abhängig von den Weltsozialforen statt.„Stars wie Jeremy Corbyn oder BernieSanders wären hier höchst willkom-men“, sagt Mauri Cruz.

Der Dauerstreit zwischen den „Ver-tikalisten“, die im Namen des Forumsverbindliche Vorgaben verabschiedenwollten, und den „Horizontalisten“um Chico Whitaker ist in den Hin-tergrund getreten. Von der alten Gar-de der brasilianischen Organisatorensind nur noch Whitaker und Grajewnach Salvador gekommen, doch denTon gibt jetzt die nächste, pragmati-sche Generation um Mauri Cruz an,der im Namen des Netzwerks Abong(Brasilianische Vereinigung von NGOs)für Wirbel sorgt.

In Salvador sollen die Debatten desGastgeberlands im Mittelpunkt stehen.PT-kritische Kräfte wie die Wohnungs-losenbewegung Bahias (MSTB) wollendas WSF nutzen, um für ihre Anlie-gen zu werben. „Am Genozid an jun-gen Schwarzen in den Armenviertelnhat sich auch unter der Arbeiterparteinichts geändert, die Polizei macht, wassie will“, sagt Wagner Moreira von derMSTB und dem neuen linken Debat-tenbündnis „Vamos“, das sich die jungespanische Partei Podemos zum Vorbildgenommen hat.

In Salvador, wo vier Fünftel der Be-völkerung afrikanische Wurzeln haben,werde die Schwarzenbewegung demWSF ihren Stempel aufdrücken, glaubtder Aktivist mit den langen schwarzenZöpfchen. Und auch die Indigenen, diegegen Erdölförderung und Staudamm-oder Bergbauprojekte kämpfen, wer-den sich Gehör verschaffen. Und natür-lich hofft er darauf, dass die südameri-kanische Linke Bilanz zieht.

Ob das Weltsozialforum wenigstensdie brasilianische Linke aus ihrer Le-thargie reißen kann, ist fraglich. „Hof-fentlich kann das WSF soziale Kräfteanziehen, die vorher nicht dabei wa-ren, vor allem die Jungen“, meint Fáti-ma Mello, eine Veteranin der brasilia-nischen NGO-Szene. In den 13 Jahrender Ära Lula/Rousseff wurde eine gan-ze Generation von Aktivistinnen koop-tiert. Nun muss wieder beharrliche Bil-dungs- und Aufbauarbeit an der Basisgeleistet werden.

1 Siehe Gerhard Dilger, Kein Wunder in Brasilien, Le

Monde diplomatique, Juli 20132 Beim Bürger- oder Beteiligungshaushalt in Porto

Alegre – der mittlerweile seit Jahren auf Eis liegt – ent-

schieden die Bürgerinnen und Bürger über die Priori-

täten städtischer Investitionen in ihrem Stadtteil. Das

Mitbestimmungsmodell fand weltweit Nachahmer.

Siehe auch Ignacio Ramonet, „Warum Porto Alegre“,

Le Monde diplomatique, Januar 2001.

Gerhard Dilger leitet das Büro der Rosa-Luxemburg-

Stiftung in São Paulo.

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