Post on 25-Feb-2021
1
Medienpreis Bildungs- journalismus
Die Preisträger
2017
2 Inhalt
DOKUMENTATION
ZUM NACHLESEN16 AnantAgarwala:„Abifüralle!“27 BjörnStephan:„Klassenunterschied“38 FlorianGüßgen:„RevolutionimKlassenzimmer“45 InterviewmitTimoGroßpietsch48 DieEntstehungdesBeitrags„Changemaker“
50 DerMedienpreis51 DeutscheTelekomStiftung/Kontakt
KATEGORIE
TEXT06 1.Preis:AnantAgarwala07 2.Preis:BjörnStephan08 3.Preis:FlorianGüßgen
KATEGORIE
AUDIO/VIDEO/MULTIMEDIA10 1.Preis:TimoGroßpietsch11 Sonderpreis:AnnaBühler&ChristianAlt
KATEGORIE
NACHWUCHS13 Preisträgerin:JuliaRieger14 Preisträger:JosaMania-Schlegel
03 Vorwort04 DieJury
3
WenngleichimWesentlicheneineZuständigkeitderLänder,warBildungimzurückliegendenBundestagswahlkampffürdieMenscheninDeutsch-landlautMeinungsumfrageneinesderwichtigstenThemen.BeidenAuftrittenderSpitzenkandidatenindenTV-Talkshowsund-WahlarenenspiegeltesichdieserFaktaberleidernurbedingtwider.ObdasanderKomplexitätderMaterielag?AspektewiegebührenfreieKita-Angebote,dieheterogeneSchullandschaftoderdieMedienkompetenzvonSchü-lernundLehrernkamenindenDebattenjedenfallsmeistzukurz.
MitunseremMedienpreisBildungsjournalismusengagierenwirunsbereitsimviertenJahrdafür,derBildunginunseremLandmehrÖffent-lichkeitunddamitGewichtzuverschaffen.Wirfreuenunssehr,dassdasInteresseanunsererAuszeichnungungebrochenist:Rund100Einrei-chungenvonüber50verschiedenenMediensindindenvergangenenMonatenbeiderStiftungeingegangen.DieunabhängigeFachjurymitdemVorsitzendenHansWernerKilzhatteerneutdieschwereAufgabe,darausdiebestenBeiträgeauszuwählen.Welchedassind,erfahrenSieindiesemHeft.IchwünscheIhnenvielFreudeundguteImpulsebeimLesen,AnhörenundAnsehenderausgezeichnetenBeiträge.AllenPreisträgerngiltmeinherzlicherGlückwunsch.
IhrProf.Dr.WolfgangSchuster
Vorwort
Prof. Dr. Wolfgang Schuster
VorsitzenderDeutscheTelekomStiftung
4 Die Jury
Hans Werner Kilz (Vorsitz)
ehem.ChefredakteurSüddeutscheZeitungundDERSPIEGEL
Prof. Dr. Matthias Degen
WestfälischeHochschuleGelsenkirchen,LeiterdesInstitutsfürJournalismusundPublicRelations
Prof. Dr. Heidrun Stöger
UniversitätRegensburg,InhaberindesLehrstuhlsfürSchulpädagogik
Jan-Martin Wiarda
freierBildungs-undWissenschaftsjournalist(u.a.brandeins,DIEZEIT,SPIEGELONLINE,SüddeutscheZeitung),Blogger,AutorundModerator
Christine Westermann
TV-undHörfunkjournalistin,Autorin,ModeratorinundBuchkritikerin(„DasLiterarischesQuartett“)
5
KATEGORIE
TEXTAnant AgarwalaBjörn Stephan Florian Güßgen
Preisträger
6
InDeutschlandmachenheuteimmermehrSchülerdasAbitur.GleichzeitigwerdenihreNotenimmerbesser.Wiekanndassein,fragtsichZEIT-Re-porterAnantAgarwala.SinddieDeutschenaufeinmalsoschlau?OderistdasAbiturplötzlichsoleicht?UmdasRätselzuergründen,blicktAgar-walazurückinsJahr2001,alsnachdem„PISA-Schock“einUmdenkeninderBildungspolitikeinsetzte.DenAuswirkungendiesesUmdenkensnähertsichderAutoran,indemermitBildungsexpertenspricht,Abitur-aufgabenanalysiert,BrückenkursefürStudienanfängerbeobachtetundeinenHandwerksbetriebbesucht.AmEndestehtfolgendeErkenntnis:DieAbitur-Anforderungensindheutetatsächlichgeringeralsfrüher,anderswärederWunschderPolitiknachmehrHochschulabsolventengarnichtzuerfüllen.DassimGegenzugdieUnisimmermehrZeitdaraufverwendenmüssen,„Menschen,diestudierendürfen,inMenschenzuverwandeln,diestudierenkönnen“,istdieKehrseitederMedailleundverlangtnachLösungen.DerAutorbrichthiereineLanzefürdieBerufsausbildung.„WersolldenganzenAkademikerninZukunfteigentlichdieDächerdecken?“,fragtimTextderHandwerksmeisterrhetorisch.
Anant Agarwala: Abi für alle!“
„
Die Jury sagt:
KATEGORIE TEXT | 1. Preis
Erschienen in der ZEIT am 30. März 2017
Beeindruckend, wie tief Agarwala in die Forschung eintaucht und wie scharf-sinnig er die Zusammen-hänge verdeutlicht. Sein Stück ist zudem herausragend geschrieben und zieht den Leser mit seiner klugen Drama-turgie direkt in den Bann.
FOTO
:MA
RK
US
KO
NVA
LIN
7
Berlin-Kreuzberg.ZweiSchulen,nureinengutenKilometervoneinanderentfernt,unddochgrundverschieden:DieeineliegtimAltbauviertelundzähltzudenbestendesStadtbezirks,esgibtKinderyogaundeineSchach-AG.DieanderegrenztaneineSozialwohnsiedlung,gerademal2von367SchülernsprechenDeutschalsMuttersprache,über90ProzentderElternerhaltenStütze.BjörnStephanwillwissen,wiestarkdieLeistungenderSchülervonihrerHerkunftabhängenundwiestarkvomUnterricht.DerReporterbegleiteteinganzesSchuljahrlangzweiersteKlassen–imUnterrichtundaufAusflügen,beiLaternenum-zügenundKindergeburtstagen.DafürmusserzunächstdasVertrauenderElternundLehrergewinnen,dieschließlicheinwilligen.AlsProt-agonistenfürseineReportagewähltStephanvonbeidenSchulenjezweiKinder,dieinihrenVoraussetzungenunterschiedlichernichtseinkönnten.ImVerlaufdesTexteswirddeutlich:Siekönntendennochvielvoneinanderlernen,wennmansiedennließe.EinlehrreichesStücküberungleichverteilteBildungschancenineinemderwohlhabendstenLänderderErde.
Björn Stephan: „Klassenunterschied“
KATEGORIE TEXT | 2. Preis
Erschienen im Süddeutsche Zeitung Magazin am 15. Juli 2016
Die Jury sagt:
Sprachlich sensibel bringt Björn Stephan ein Kernpro-blem unseres Bildungssystems auf den Punkt. Dabei ergreift er niemals selbst Partei, sondern überlässt das Urteil für gewöhnlich dem Leser. Es ist große Kunst, wie der Autor seine beiden Erzählstränge miteinander verwebt.
FOTO
:MA
RIA
FEC
K
8
DieVerheißungenderDigitalisierungsindgroß:Allessollkünftigschneller,effizienterundbesserwerden.DasgiltauchfürdieSchulbil-dung.NichtnurinseinerFunktionalsstern-Reporter,sondernauchalsVaterinteressiertFlorianGüßgen,wiesichdieInstitutionSchulevorbe-reitetaufdas,wasdakommt.FürseineReportage„RevolutionimKlas-senzimmer“recherchiertGüßgenaufwendig:ErsprichtmitPionierenderdigitalenBildungwiedemSilicon-Valley-VordenkerSebastianThrunundsiehtsichinderiPad-KlasseeinesAugsburgerGymnasiumsum.Erbeschreibtanschaulich,wieneueTechnologiendenUnterrichtkomplettumkrempeln,dasLernenpersonalisierenundbeiSchülernMotivationfreisetzenkönnen.ErbenenntaberauchRisiken,widmetsichethisch-rechtlichenFragestellungenundlässtKritikerzuWortkommen.LetztlichgelangtderAutorzuderFeststellung,dassSchulegarnichtanderskönnealssichmitderdigitalenWeltauseinanderzusetzen.„EsistwieimStraßenverkehr“,zitiertGüßgendenSchulforscherWilfriedBos:„IchkanngegenAutossein.Aberwernichtaufsievorbereitetist,wirdtotgefahren.“
Florian Güßgen: „Revolution im Klassenzimmer“
Die Jury sagt:
KATEGORIE TEXT | 3. Preis
Erschienen im stern am 13. Oktober 2016
Ein Stück klassischer Bildungs-journalismus, gründlich recher-chiert und virtuos aufge-schrieben. Florian Güßgen denkt immer an den Leser, sein Text vermittelt einen anschau-lichen Eindruck von der Schule der Zukunft.
9
AUDIO/VIDEO/ MULTIMEDIA
Timo Großpietsch Anna Bühler & Christian Alt
Preisträger
KATEGORIE
10
DasReferendariatistderletzteundvielleichtschwersteSchrittaufdemWegzumLehrerberuf.EbennochanderUni,stehendiekünftigenLehrerplötzlichalleinvoreinerSchulklasseundmüssenbeweisen,wassiefachlich,didaktischundpädagogischindenJahrenzuvorgelernthaben.NichtseltenverläuftdieserAbgleichmitderRealitätzunächstschmerzhaft.WieumgehenmitpubertierendenStörern?Wastun,wennauchderfünfteVersuch,dieAufgabezuerklären,nichtfruchtet?UnddasallesunterständigerBeobachtungdurcheinenFachseminarleiter.ZumerstenMaldarfeinJournalistmitderKameradieHerausforde-rungendesReferendariatsdokumentieren.TimoGroßpietschbegleitet18Monatelangdrei„LehrkräfteimVorbereitungsdienst“,soihreoffizi-elleBezeichnung.SeinFilmzeigtaufwunderbareWeisedensteinigenWegvomnochblutigenBerufsanfängerhinzumselbstsicherenundauthentischenPädagogen.DabeikommtderAutorundFilmemacherganzohneerklärendenSprechertextaus,stattdessenlässterdieProta-gonistenfürsichsprechen.
Timo Großpietsch: „Lehrkraft im Vorbereitungsdienst“
Die Jury sagt:
KATEGORIE AUDIO/VIDEO/MULTIMEDIA | 1. Preis
Gesendet im NDR Fernsehen am 15. November 2016
Großpietschs begegnet dem Lehrerberuf mit Respekt und Hochachtung. Seine Kamera beobachtet aus nächster Nähe, ohne das Geschehen zu stören; fast scheint es, als wäre sie unsichtbar. Eine hand-werklich erstklassige Arbeit, die bewegt, berührt und Mut macht.
11
FreiwilligdieeigeneKomfortzoneverlassenundetwasganzNeuesbeginnen?AllesaufeineKartesetzen,umdenwahrenTraumzuverwirk-lichen?DastrauensichnurdiewenigstenMenschen.DergroßeRestscheutamEndedochdasRisiko,wennesdraufankommt,oderbeugtsichdenErwartungenanderer.Marcel,26,gehörtzurerstenFrak-tion.NacheinemWirtschaftsingenieur-StudiumwagterdenradikalenNeustart:alsSchauspielerinHollywood.InihremPodcast„Einfachmachen“begleitendiebeidenAutorenAnnaBühlerundChristianAltMarcelinseinneuesLeben.Siesindvirtuelldabei,wennerSchauspiel-unterrichtnimmtundfürerstekleineRollenvorspricht.SieinterviewenihnviaSkype,wennernachderzehntenAbsagedesillusioniertimBettseinesWG-ZimmersliegtunddieBrockenhinschmeißenwill.UndsieblickeninderFolge„Changemaker“auchzurückaufMarcelskurven-reicheBildungskarriereinDeutschland.ImHintergrundschwingtstetsdieFragemit:KanneinalternativesKonzeptwiedasdesProtagonistentatsächlichaufgehen,wennmandierichtigeEinstellungmitbringt?OderfunktioniertBildungletztlichdochnurimstarrenKorsettdesSystems?
Anna Bühler & Christian Alt: „Changemaker“
KATEGORIE AUDIO/VIDEO/MULTIMEDIA | Sonderpreis
Folge 3 des Podcast „Einfach machen“, veröffentlicht auf br-online.de am 20. November 2016
Die Jury sagt:
Ein innovatives Format, das die Zielgruppe gekonnt anspricht und sich stets auf Augen- respektive Ohrhöhe mit ihr bewegt. Der Beitrag ist nicht nur inspirierend, sondern vermittelt auch ein Lebens- gefühl. Man spürt, mit wie viel Begeisterung die Autoren bei der Sache sind.
12
NACHWUCHS
Julia RiegerJosa Mania-Schlegel
Preisträger
KATEGORIE
13
GehörlosesteheninunsererGesellschaftvielenHerausforderungengegenüber.UmAbiturmachenzukönnen,müssensiemeistaufspezi-elleInternatefürHörgeschädigtewechseln,undnachderSchulehabensieeshäufigschwereralsihreAltersgenossen,ihrenWunsch-berufzuergreifen.WelchePerspektivenbietensichjungenGehör-losen,wennsievorderBerufswahlstehen?WiekönnensiesichaufdemArbeitsmarktorientieren,welcheHilfengibtes,undwelchenEinflusshabenihrUmfeldundihrWohnort?DiesenFragenmöchteJuliaRiegerjournalistischaufdenGrundgehen.DieDüsseldorferStudentinplant,denBerufsfindungsprozessvonGehörlosenundihrenWeginsBerufslebenineinerMultimedia-Reportagezudoku-mentieren.DazuwillsiesowohlSchüler,diekurzvordemAbiturstehen,alsauchStudentenundAuszubildendeübereinenlängerenZeitraumbegleiten.InFormeinesBlogsmitTextenundkurzenVideossollenderWerdegangdieserMenschen,aberauchihrAlltagbeschriebenwerden.DabeiwillRiegeranvielenStellendieGebär-denspracheinihreBeiträgeeinbinden.
Julia Rieger: „Bildung mit den Händen“
Konzept für eine Multimedia-Reportage
Die Jury sagt:
Es ist erstaunlich, wie wenig über dieses gesellschaft-lich relevante Thema bislang berichtet wird. Schon der Titel ist klug gewählt, weil er dem Leser direkt ein starkes Bild vermittelt. Man darf gespannt auf die Protagonisten sein, die die Autorin für ihre Geschichte gewinnt.
KATEGORIE NACHWUCHS | Preisträgerin
14
Die Jury sagt:
Ein komplett vernachlässigtes Thema, das Gehör verdient. Das Programm, das Josa Mania-Schlegel sich vorge-nommen hat, ist vielfältig und gut durchdacht. Mit dem Format Podcast beweist der Autor zudem seine Offen-heit für neue journalistische Darstellungsformen.
KATEGORIE NACHWUCHS | Preisträger
JosaMania-SchlegelgehtseineFreundeslistedurchunderschrickt.Kannessein,dasserseineFreizeitausschließlichmitAkademikernverbringt?Tatsächlich,keineinziger„Arbeiter“istdarunter.DerJour-nalistenschülerbeginntnachzudenkenundstelltdasProblemineinengrößerenZusammenhang.SeinEindruck:AuchdieMedienberich-tetenvorwiegendüberHochschul-undAkademiker-Themen.Porträ-tiertwürdenmeistStudenten,ArbeiterkinderträtenhingegennurinHeldengeschichtenauf:AmEndekriegensiedochnochdieKurve–undschaffenesandieUniversität.Mania-Schlegelbeschließt,die„Akademiker-Bubble“zudurchbrechen.SeineIdeeisteinPodcast,indemerWerktätigeunter25Jahreninterviewen,ihreGeschichtenundAnekdotenzwischenBerufsalltagundFeierabenderzählenmöchte.ImpersönlichenStudiogesprächwillerSpannungendokumentieren,dieStudentenkaumkennen.SosollendiejungenArbeiteretwavonerlebtenVorurteilenberichtenodervomZusammenhangzwischenihrerBiografieunddemerlerntenBeruf.
Josa Mania-Schlegel: „Schichtwechsel. Junge Arbeiter im Gespräch“
Konzept für einen Podcast
ZUM NACHLESENDOKUMENTATION
Anant Agarwala: „Abi für alle!“ Seite16
Björn Stephan: „Klassenunterschied“ Seite27
Florian Güßgen: „Revolution im Klassenzimmer“ Seite38
Interview mit Timo Großpietsch Seite45
Die Entstehung des Beitrags „Changemaker“ Seite48
16
ImmermehrSchülerinHamburglegendasAbiturab.Inzwischensindesfastzweivondreien,diedenschwierigstenAbschlussschaffen,dendasdeutscheSchulsystemvorsieht.
UndnichtnurdieZahlderAbiturientennimmtzu,auchihreLeis-tungenwerdenimmerbesser.SchonjederviertePrüflinginHamburghatamEndeeineEinsvordemKommastehen.
Wieistdasmöglich?BrittaPohlmannverwandeltdieDatenreiheninbunteTabellenundGrafiken,dieeinBildvondenHamburgerSchulenzeichnen,dasistihreAufgabe.Siesieht,dassdieNotenimmerbesserwerden.Worandasliegt,daraufhatsiekeineAntwort.Sieistdafürzuständig,demRätseleinAussehenzugeben,nichtdafür,eszulösen.Sicherist:HamburgistkeineAusnahme.InganzDeutschlandbeginnenindiesenWochendieAbiturprüfungen.Undüberallistausdereinstigen
IneinerRotklinkersiedlunginHamburg-HammhüteteineFraueinZahlenrätsel,aufdassieselbstkeineAntworthat.BrittaPohlmann,brauneHaare,braunlackierteFingernägelundPsychologinmitHangzurStatistik,verwalteteinspeziellgeschütztesE-Mail-Postfach,indemjedesJahrmehralshundertNachrichtenmitgeheimenDateneingehen.IneinigenWochenwirdeswiedersoweitsein.AlsAbsenderwerdenNamenaufleuchtenwie„GymnasiumBlankenese“,„Heinrich-Hertz-Schule“,„Max-Brauer-Schule“und„GelehrtenschuledesJohanneums“.JedesSchreibenwirdeinenAnhangvollerZahlenenthalten:dieaktu-ellenAbiturnoten.
BrittaPohlmannistReferatsleiterininderHamburgerSchulbehörde.SiebekommtdieseE-MailsjedesJahrnachdenAbiturprüfungen,undjedesJahrwirddasRätselgrößer.DenndieListenmitdenNotenwerdenjedesJahrlänger.
Abi für alle!Nie zuvor gingen so viele Schüler aufs Gymnasium. Nie zuvor schafften so viele das Abitur. Nie zuvor schrieben sie so gute Noten. Sind die Deutschen auf einmal so schlau? Oder ist das Abitur plötzlich so leicht? Anant Agarwala gibt eine Antwort
17
inStuttgart-Zuffenhausen.DasErnährungsverhaltenvonStreifenhörn-chenwirdeineRollespielen,undeinwenigwirdmanauchinderZeitzurückreisenmüssen,nichtbesondersweit,nurindasJahr2001.AlsErstesabermussmansichmitderForschungsarbeiteinesAmerikanersnamensJamesR.Flynnbeschäftigen.
Flynnistüber80Jahrealt,undreinäußerlicherfüllterrechtgenaudasKlischeeeinesProfessors.ErhateinenleichtverzauseltengrauenBart,wirresHaarundeineLesebrilleaufderNase.Ersiehtnichtnurselbstziemlichklugaus,sondernerhatsichauchzeitseinesBerufs-lebensmitderKlugheitandererMenschenbeschäftigt,nochimmerhälterVorträge.FlynnhatzahlloseIntelligenztestsausverschiedenenLändernundverschiedenenGenerationenausgewertetundwardabeisoerfolgreich,dasseretwasgeschaffthat,wasnurwenigenForscherngelingt:EinwissenschaftlichesPhänomenwurdenachihmbenannt,derFlynn-Effekt.
FlynnsUntersuchungenreichenzurückbiszurindustriellenRevolu-tion.Erfandheraus,dassdieMenschenindenvergangenenJahrhun-dertentatsächlichimmerschlauerwurden,nichtnurdieDeutschen,auchdieAmerikaner,dieBriten,dieKoreanerundAustralier.VonGene-rationzuGenerationverbessertensichdieErgebnisseindenIntelligenz-tests.DieKindersind,zumindestimDurchschnitt,klügeralsihreEltern.DasistderFlynn-Effekt.
DiegenauenUrsachendafürkenntniemand,aberesgibteinpaarplausibleErklärungen.Mangelernährung,unbehandelteKrankheiten,BleivergiftungenaufgrundalterWasserrohre–dasalleswurdeimmer
EliteinstitutionGymnasiumeineneueFormderVolksschulegeworden.DasAbitur,dervermeintlicheAusweisderKlugen,istheuteeinAbschlussderMassen.
1992,kurznachderWende,legten31ProzentderSchülerdasAbiturab.
2000warenes37Prozent.2006:43Prozent.2015:53Prozent.Für2016wirddiegenaueQuotenochberechnet,abersiewird
wiederdeutlichüber50Prozentliegen.UndnichtnurBrittaPohlmanninHamburg-Hammstelltfest,dass
dieAbiturnotenimmerbesserwerden,auchdieStatistikerinMünchen,BerlinundErfurtwundernsichdarüber.InThüringenbekommeninzwi-schenfast40ProzentderAbiturienteneinEinserzeugnis.InBayernhatsichdieZahlder1,0-AbiturientenindenvergangenenzehnJahrenverdreifacht,inBerlinsogarversechsfacht.
Wiekannessein,dassaufeinmalsovieleDeutschedasAbiturschaffen–undauchnochmitderartgutenNoten?
WerdendieDeutschenimmerschlauer?WirddasAbiturimmereinfacher?Odergibteswomöglicheinenanderen,wenigernaheliegenden
Grund?DasistdasgroßeRätsel.DieserArtikelwirdversuchen,eszulösen.
HinweiseaufeineAntwortwerdensichineinemHörsaalderFach-hochschuleBielefeldfindenundinderWerkstatteinesDachdeckers
AnantAgarwala:„Abifüralle!“ | DIEZEITKATEGORIE TEXT | 1. Preis
18
Tatsächlichistschwervorstellbar,dass16Bundesländer,egal,welcheParteiendortregieren,heimlichübereinkommen,dieAnforderungenanAbiturientenbewusstzureduzieren.
Trotzdemlohntessich,füreinenMomentbeiderBildungspolitikzubleibenundsicheinenTaginErinnerungzurufen,derinDeutschlandeineganzeVielzahlvonAnweisungen,VorgabenundVerordnungenauslöste.Allerdingswarensienichtgeheim.Undkeinedavonbesagte,dieAbiturprüfungzuerleichtern.
EsistderVormittagdes4.Dezember2001.IneinemBerlinerKonfe-renzraumsitzeneineFrauundzweiMännervoreinembuntenStraußausMikrofonenundmachenbetreteneGesichter.EssindAnnetteSchavan(CDU),PräsidentinderKultusministerkonferenz,ihrVizeWilliLemke(SPD)undJürgenBaumert,DirektordesMax-Planck-InstitutsfürBildungsforschung.SiestellendieErgebnissederPisa-Studievor,dergroßeninternationalenSchuluntersuchung.DeutschlanderlebteinegroßeNiederlage.
KatastrophalhabendiedeutschenSchülerabgeschnitten.SierechnenlangsameralsdieJapaner,verstehenTexteschlechteralsdieFinnen,wissenwenigerüberChemieundPhysikalsdieKanadier.JederviertedeutscheNeuntklässleristaufdemStandeinesGrundschülers.DasdeutscheBildungssystemhatsichblamiert.
Undobendreinistesextremunsozial.KinderderMittel-undOber-schicht,derenElternselbstAbiturhaben,geheninderRegelaufsGymnasium.KindervonArbeiternundMigrantenbesuchenmeistdieHauptschule.SoistdasinDeutschlandimJahr2001.Nirgends,dasist
seltener.GleichzeitighabensichdieSchulenundLehrmethodenindenmeistenLändernzumPositivenentwickelt,Kinderwerdenvielfrüherundbessergefördert.
AufdenerstenBlickscheintdasRätseldamitbereitsgelöst:DiegutenAbi-NoteninDeutschlandsindschlichtdieFolgeeinesimmerfortsteigendenIQ.
BeigenaueremHinsehenallerdingszeigtsich,dassdaetwasnichtstimmenkann.DieIntelligenzwächstnichtmehrsonderlichstark,dermaximalmöglicheDurchschnitts-IQscheintbalderreichtzusein,imMomentliegterbeietwasüber100.Geradeindenvergangenen15JahrenistdieZahlderAbiturienteninDeutschlandjedochnocheinmalkräftiggestiegen,geradeindiesemZeitraumhabensichdieNotennocheinmalkräftigverbessert.DerFlynn-EffektaberwirdseitJahrenschwächer.
IstdasAbituralsoeinfachergeworden?Undwennja,warum?HabenetwajeneFachleute,diesichdiePrüfungsaufgabenausdenken,irgendwanneineAnweisungerhalten,dasNiveauzusenken?
EssindziemlichvieleMenschen,denenmandieseFragestellenmuss.FürdieBildungspolitikistinDeutschlandnichtderBundzuständig,essinddieLänder.JedesBundeslandstelltseineeigenenAbituraufgaben.DieZEIThatfürdiesenArtikelbeisämtlichenKultusmi-nisteriennachgefragt.DieAntwortwarimmer:Nein!SolchegeheimenAnweisungen,VorgabenoderVerordnungengebeesnicht.DasAbiturseinichteinfachergeworden.
19
licheZusammenarbeitundEntwicklung,kurzOECD,dievondengroßenIndustrieländerngetragenwirdundauchdiealledreiJahrestattfin-dendePisa-Studiekonzipierthat.
EinesderoberstenZielederOECDistes,dasWirtschaftswachstumzufördern.DieOrganisationkannkeinGeldverteilenundkeineGesetzeerlassen.Abersiekannöffentlichmahnen,anprangern,Empfehlungenabgeben–auchwasdieBildungspolitikangeht.
IhreEmpfehlungfürdieBundesrepublikDeutschland:mehrAbituri-enten,mehrHochschulabsolventen!
NachreinökonomischerLogikerscheintdiesalsdurchausvernünftig.HochschulabsolventenverdienenmehrGeld,sindseltenerarbeitslosundschaffenmehrWohlstand.DerwichtigsteProduktionsfaktorindermodernenWirtschaftistderMensch,seinGehirn,seineFähigkeiten.
DieOECDverweistaufLänderwieGroßbritannien,Frankreich,dieUSA,indenenvielmehrjungeLeutedieHochschulenbesuchenalsinDeutschland.UndverzeichnendieseLänder,damals,AnfangdesneuenJahrtausends,nichtallesamthöhereWachstumsratenalsDeutschland,wodieWirtschaftstagniertunddieArbeitslosigkeitsteigt?
NichtlangenachBekanntgabederPisa-ErgebnisseäußertsichdiedamaligeBundesbildungsministerinEdelgardBulmahnvonderSPDwiefolgt:„DieZahlenderOECD-Studiebelegen,dasswirzuwenigHoch-schulabsolventenhaben.“
IhreNachfolgerinAnnetteSchavanistzwarvonderCDU,aberindiesemPunktderselbenMeinung:„UnserZielist,dass40ProzenteinesJahrgangsstudieren.“
einweiteresErgebnisderPisa-Studie,istderEinflussdesElternhausesaufdenSchulerfolgsogroßwieinderBundesrepublik.MigranteninGöteborgundArbeiterkinderinBordeauxhabenesweitwenigerschweralsUnterschichtenkinderinBottropundAusländerinGöttingen.InDeutschlandgewinnt,wermitMamaHausaufgabenmachtundimNotfallteureNachhilfestundennehmenkann.LeistunghängtnichtnurvomGripsab,sondernauchvonPapasPortemonnaie.
DieBekanntgabederPisa-Ergebnisseanjenem4.Dezember,siegleichteineröffentlichenVernichtungdesdeutschenSchulsystems.
„Mangelhaft.Setzen“,urteiltderSpiegel.„EinlehrreichesDesaster“,schreibtdieZEIT.Unddietazbefindet:„DerdeutscheBildungsnotstandistnach-
gewiesen.“DiePolitikreagiertmitSondersitzungenundBrandreden.DasWirt-
schaftswunderland,dasgeradeerstdieWiedervereinigunggestemmthat,dieNationderDichterundDenker,dieMade-in-Germany-Repu-blik,vonderganzenWeltbewundertwegenihrerIngenieure–diesesDeutschlandsollausgerechnetbeiderBildungseinerKinderversagen?
Kultusminister,StaatssekretäreundAbgeordneteschwärmenauszuBildungsvorbilderninallerWelt.SiebesuchenGesamtschuleninFinn-land,FleißarbeiterinSüdkoreaundIntegrationsmeisterinKanada.Jahre-langhabendieBildungspolitikerdeninternationalenVergleichgescheut,jetztnehmensiefastjedeStimmeausdemAuslandbeimWort.
VorallemeineInstitutionschwingtsichindiesenMonatenzumEinflüstererderdeutschenPolitikauf:dieOrganisationfürwirtschaft-
AnantAgarwala:„Abifüralle!“ | DIEZEITKATEGORIE TEXT | 1. Preis
20
anderesempfehlen.Imgrün-rotregiertenBaden-WürttembergzumBeispieltrittam8.Dezember2011eineVerordnunginKraft,inderesheißt:„DieErziehungsberechtigtenentscheiden,welcheweiterführendeSchulartihrKindbesucht.SiemüssendieGrundschulempfehlungderaufnehmendenSchulenichtvorlegen.“
WassichindenfolgendenJahrenandeutschenSchulenereignet,isteinBelegfürdieWirksamkeitvonPolitik.DasZielwirderreicht:MehrundmehrKindergehenaufsGymnasium,mehrundmehrSchülermeldensichzumAbituran.UnddankderReformensitzenzwischenEmiliaundJonathannuntatsächlichhinundwiederaucheineAyşeodereinKevin.MankanndasalsErfolgsehen.DieKlassenwerdenbunter,dasdeutscheSchulsystemwirdgerechter.
UnddieAbiturprüfungen?BesuchineinermittelgroßendeutschenStadt.EsempfängteinMann
imgrauenDreiteiler,rundeBrille,akkuratfrisiert.EinBeamter.IndiesemArtikeltritteranonymauf,dennwasererzählenwill,sagter,könnteseinePensionsansprüchegefährden.KurzvordemEndevon40JahrenimSchuldienstseiesdasnichtwert.DerMannsollhierHerrFreseheißen.
EinpaarWortezuFresesBiografie:MitMitte20wirderMathematik-lehreraneinemGymnasium,damals,EndedersiebzigerJahre,machtnurknappjederfünfteSchülerAbitur.EndederachtzigerJahreüber-nimmtFresefürdieSchulaufsichtseinesBundeslandesdieFunktion,dieAbituraufgabenabzunehmen.DamalsunterliegendiesenochdeneinzelnenSchulen.FreseprüftdieAufgaben,bevorsiedenAbituri-entengestelltwerden.ErgebensieSinn?Sindsiezuleicht,zuschwer?
EsistdieZeitnachdemPisa-Schock,inderindenKlassenzimmerndieersteRevolutionseitderantiautoritärenErziehunglosbricht.EineRevolutionvonoben,vorangetriebenvonBildungspolitikernüberallinDeutschland.
DamitmehrjungeMenschenstudieren,müssenmehrvonihnendasAbiturmachen.Bloß–wielässtsichdaserreichen?
Erstensdadurch,dassauchSchülerdasAbiturmachendürfen,dienichtaufsGymnasiumgehen.IndenerstenJahrendesneuenJahrtausendsschaffenvieleBundesländerdieklassischenHaupt-undRealschulenabundersetzensiedurchSchulformen,andenenalleAbschlüssemöglichsind,auchdasAbitur.InHamburgheißendieneuenSchulen„Stadtteilschulen“,inBerlin„Integ-rierteSekundarschulen“,inBremen„Oberschulen“,imSaarland„Gemeinschaftsschulen“.
Zweitensdadurch,dassschlechteNotendenWegzumAbiturnichtmehrversperren.InBundesländernwieSchleswig-Holstein,ThüringenundBremenhandelndieKultusminister,alswolltensiedasMottoderamerika-nischenMarineinfanteristenaufdieSchulpolitikübertragen:nomanleftbehind.Niemandwirdzurückgelassen.SchlechteSchülerbleibenfortaninderRegelnichtmehrsitzen,sondernwerdenmitgeschleppt,notfallsbiszumAbitur.SitzenbleibendemütigedieSchüler,erklärtdieschleswig-hol-steinischeBildungspolitikerinUteErdsiek-RaveimJahr2006stellvertre-tendfürdieSPD:„SieverlierendieMotivation,sieschämensich.“
Drittensdadurch,dassjeder,wirklichjederSchüleraufsGymna-siumdarf,wenneresnurwill–auchwenndieGrundschullehreretwas
21
künftignurnochleichteFragenzustellen.AberallenBeteiligtenseiklargewesen,sagtHerrFrese,dassdieganzenReformensinnlosgewesenwären,wennalldieneuenAbiturientendurchdiePrüfunggerasseltwären.AlsoseieninvielenRundenmitDezernentenausdenSchulbe-hördendieStandards„heruntergekocht“worden,soFrese.Hiereinbiss-chenwenigeranalytischeGeometrie,dortetwaseinfacherealgebrai-scheGleichungen.Fresesagt:„DiePolitikwilldenschwachenSchülernnichtdasAbiturvorenthalten.“HerrFreseversuchte,sichdemNiveau-verlustzuwidersetzen.Vergeblich.AmEndegaberauf.ErunterrichtetjetztnocheinpaarJahrevorsichhin,dieAbituraufgabendenkensichandereaus.BequemereTypen,wieersagt.
EinAnrufbeiHeinz-ElmarTenorth,emeritierterProfessorderHumboldt-UniversitätinBerlin.TenorthistDeutschlandsbekanntesterBildungshistoriker.Stimmtdas,wasHerrFresesagt–wirddasAbiturwirklichleichter?TenorthsAntwort:DiePolitikhabedieEntwicklungzumehrAbiturientenbefördert.„DassnundieAnforderungengeringergewordensind,istvölligklar.“
ManerkenntdaszumBeispielandenStreifenhörnchen.EineAufgabeauseinerdeutschenAbiturprüfungdesJahres2009,
LeistungskursBiologie.DasThema:Populationsökologie.EsgehtumdieWechselwirkungenzwischenTierenundihrerUmwelt.DieSchülerbekommenfolgendenTextvorgelegt:
IndenLaubwäldernNordamerikaslebenStreifenhörnchen(Tamiasstriatus).SieernährensichvorallemvonSamen,
Freseliest,rechnetnach,bittet,wennnötig,dieseoderjeneSchuleumKorrekturen.
Manmusshierkurzerwähnen,dassHerrFresedieMathematikliebt.WennervonderRiemannschenVermutungerzähltoderdemCollatz-Pro-blem,istes,alssprecheerüberalteFreunde,nichtübertoteZahlen.
AlsMittedernullerJahreauchseinBundeslanddasZentralabitureinführt,alsoeinheitlichePrüfungen,diefüralleSchulengelten,istFresederjenige,derdieMathematikaufgabenstellt.JedenfallseineZeitlang.DennnacheinpaarJahrenreichtesihm:„Ichkonntedasnichtmehrverantworten“,sagter.
ErmeintdasstetigsinkendeNiveau.Früherseiessogewesen,sagtFrese:DieSchulenhättenihre
VorschlägefürdieAbiturklausureneingereicht,UmschlägevollerÜber-raschungen.SchondamalshabeesSchulengegeben,diegeradesodenMindeststandardeingehaltenhätten,aberdiemeistenhättendarübergelegen.MitderEinführungdesZentralabitursseidasvorbeigewesen.VonnunanhabefürdasganzeLandnurnochderMindest-standardgegolten.DieZahldererfolgreichenAbiturientensolltejanichtsinken,sondernsteigen.DerGymnasiastausdemreichenVorort,mitjahrelangerNachhilfeaufSpitzennotengedrillt,solltediePrüfungebensobestehenwiederGesamtschülerimProblembezirk.AlsoorientiertemansichamunterenEndedesLeistungsspektrums.„Wirmusstensichergehen,dassalledashinbekommen“,sagtHerrFrese.
Esistwichtig,zubetonen,dassestatsächlichkeinedirekteAnwei-sungvonoben,ausdemKultusministeriumgab,denAbiturienten
AnantAgarwala:„Abifüralle!“ | DIEZEITKATEGORIE TEXT | 1. Preis
22
UmdieseAbituraufgabeimFachBiologiezulösen,müssendieSchüleralsokeinerleiindenJahrenzuvorangesammeltesWissenabrufen.Esgenügt,einenkurzenTextlesenundbegreifenzukönnen,umanschlie-ßenddenVerlaufvondreiLinienzubeschreiben,diedieSchülerineinerGrafikvorsichsehen.Dasistalles.MühelosernährtsichdasStreifenhörnchen.
HansPeterKlein,ProfessorfürDidaktikderBiowissenschaftenanderGoethe-UniversitätFrankfurt,hattedenEindruck,dassmankeinenLeistungskursBiologiebesuchenmuss,umeinesolcheAufgabezubeantworten.ErlegtederneuntenKlasseeinesGymnasiumsdiesePrüfungsaufgabevor.
DasErgebnis:23von27SchülerngabendierichtigeAntwort.Siewarenerst14oder15JahrealtundhättenschoneineAbituraufgabebestanden.
DasmageinbesonderskrassesBeispielsein,istabernichtunty-pischfürheutigeAbiturprüfungen.NachdemPisa-DebakelwurdeandendeutschenSchulennämlichnichtnurderZugangzumAbiturerleichtert,auchdieLehrplänewurdengeändert.StattzumBeispielauswendigzulernen,wievieleTierartenzurGattungderHörnchengehörenundwiesiesichunterscheiden,kommtesfürdieSchülerheutedaraufan,„Kompetenz“nachzuweisen:HandlungskompetenzenundProblemlösungskompetenzen,prozessbezogeneKompetenzenundinhaltsbezogeneKompetenzen.DarumgingesauchinderPisa-Studie,undgenaudarinwarendiedeutschenSchülerdamalsnichtbesondersgut.
insbesonderevonEicheln.WenndieEichensehrvieleEichelnhaben,sprichtmanvon„Mastjahren“.InsolchenMastjahrenistdieÜberlebensratevonkleinenNagetierenimWinterallgemeinhöher.StreifenhörnchensinddiebevorzugtenWirtevonparasi-tischen,blutsaugendenZecken(Ixodesscapularis).DieZeckensaugeninihremLebendreimalBlut:erstalsLarve,dannnachderHäutungalsNympheundnacheinerweiterenHäutungschließlichalserwachsenesTier,daseingrößeresSäugetieralsWirtsucht.DieEntwicklungdauertmehralseinJahr.Anschlie-ßenderfolgenPaarungundEiablage.ImamerikanischenBundesstaatNewYorkwurdenineinemLangzeitprojektüber8JahreineinemLaubwalddieEichelmenge,dieZahlderStreifen-hörnchenunddieZahlderZeckennymphenuntersucht.
EineAbbildungunterdemTextzeigtdasResultatdieserUntersuchung.MansiehteineGrafikmitdreiunterschiedlichverlaufendenLinien.DieersteLiniebeschreibtdieEichelmenge,diezweitedieZahlderStreifenhörnchen,diedrittedieZahlderZeckennymphen.Esistunschwerzuerkennen:WennbesondersvieleEichelnandenBäumenhängen,wächstdieStreifenhörn-chen-Population–unddaraufhinauchdieZahlderZecken.DieSchülerhabennunfolgendenAuftrag:
BeschreibenSiezusammenfassenddieVeränderungenvonEichel-menge,Streifenhörnchen-PopulationundZeckennymphendichte,underklärenSiediemöglichenUrsachenderSchwankungen.
23
dieWorteaufderWandaufleuchten,dieStiftederStudentenfliegenüberihreBlöcke–bloßnichtsverpassen.
VorkurseoderBrückenkurseheißenVeranstaltungenwiediese,fastalledeutschenHochschulenhabensieinzwischenimAngebot.Unter-richtetwerdennichtnurMathematik,sondernauchPhysikundChemie,teilweiseauchDeutsch,GeschichteundEnglisch.DenneinSchüler,derheutedasAbitur–dieallgemeineHochschulreife–erwirbt,mussnochlangenichtreifseinfüreinStudium.
ElkeHarkließihreStudentenindererstenStundeeinenTestschreiben.„DafrageichWissenausdersiebtenundachtenKlasseab“,sagtsie.Maximal48Punktesindmöglich.
WieistderTestausgefallen?ElkeHarkschweigtkurz,dannsagtsie:„DieSpannelagzwischen0und30Punkten.“
ElkeHarkgehörtnichtzurFrüher-war-alles-besser-Fraktion,daraufhinzuweisenistihrwichtig.AuchfrüherhattenmancheStudentenihreSchwierigkeitenmitderMathematik.AberwennsienuninihremKurswiederundwiederdieFragegestelltbekommt,wiemandenTaschen-rechnerrichtigbedient,dannistsieschoneinwenigirritiert.DasalsoistdieLösungdesgroßenAbitur-Rätsels:AlssichDeutschlandsBildungssystemAnfangdesJahrtausendsineinerSinnkrisebefindet,drückenPolitikeraufallemöglichenKnöpfe,lösenkleineReformenausundgroße.IhrZielist:modernererUnterrichtundmehrGerechtigkeit,besserePisa-ErgebnisseundmehrAbiturienten.Siewollendasallesgleichzeitigerreichen.DassdasNiveausinkt,warnichtihrexplizitesZiel,aberamEndeistesgenaudas,waspassiert.
MankanndiesenAnsatzdurchausfürmodernhalten.HatesSinn,haufenweiseFaktenauswendigzulernen,wennsichdieAntwortauffastjedeWissensfrageinnerhalbvonSekundenimInternetfindenlässt?Kommtesdannnichteherdaraufan,dieFaktenrichtigeinordnenunddeutenzukönnen?
Magsein.TatsächlichhabendiedeutschenSchülerdankderneuenLehrplänebeidenspäterenAuflagenderPisa-StudiedeutlichbessereErgebnisseerzielt.BeijenenjungenLeuten,diejetztbeiElkeHarkimHörsaalB1sitzen,istvongutenLeistungenallerdingswenigzubemerken.
ElkeHark,AbiturientindesJahres1982,isteineLehrkraftfürbeson-dereAufgabenanderFachhochschuleBielefeld.ImMomentbestehtihrebesondereAufgabedarin,Menschen,diestudierendürfen,inMenschenzuverwandeln,diestudierenkönnen.
Vorihrsitzenetwa50ErstsemesteraufgrauenStühlen,diemeistensindfürdasFachBetriebswirtschaftslehreeingeschrieben.JungeMännermitvollenBärten,jungeFrauenmitSonnenbrilleimHaar.SiehabendasAbitur–aberdasbedeutetnicht,dasssieauchAhnungvonMathematikhaben.LeidermussmaneinbisschenMathematikkönnen,umWirtschaftzustudieren.
AufdenKlapptischenliegenTintenkillerundTaschenrechner.ElkeHarksagtzurBegrüßung:„DievierGrundrechenartenhabenwirindenletztenTagenschonkennengelernt.“Addieren,subtrahieren,multipli-zieren,dividieren.NunschreibtdieDozentindenStoffderheutigenStundeaufihrSmartboard:„PotenzenundWurzeln“,derBeamerlässt
AnantAgarwala:„Abifüralle!“ | DIEZEITKATEGORIE TEXT | 1. Preis
24
Menschenzustoßen,dieinderneuenBildungswirklichkeiteinProblemsehen.
Zuffenhausen,einStadtteilimNordenvonStuttgart.PorschebauthierseineAutos.FarbloseFassaden,immergrüneBüsche,zwischendenWohnhäusernkleineUnternehmenundGeschäfte.EineBaufirma.EineGärtnerei.EinBäcker.Betriebe,dieHäuserbauen,Parksbegrünen,Brotebacken.Betriebe,diekeineAbiturientensuchen,sondernMenschenmitGeschick.
MatthiasWalter,53,einMannmitlichtemgrauemHaarundblauenAugen,istDachdecker.ErführtseinUnternehmenindritterGenera-tion.InseinemBürohängenSchwarz-Weiß-FotografienseinesGroßva-ters,einesdickenMannesimAnzugzwischenschmutzigenBauarbei-tern.FürMatthiasWalter,denEnkel,kletternheuteneunAngestellteüberdieStuttgarterDächer,sanierenFirste,erneuernSchindeln.IndergroßenArbeitshalleinZuffenhausenstapelnsichBretter,KupferrollenundGaszylindernebenWerkbänken.EintypischerHandwerksbetrieb,wieesihnzuTausendeninDeutschlandgibt,einstgroßgewordenimBauboomnachdemZweitenWeltkrieg.
„Fastimmer“,sagtMatthiasWalter,habeerjungeLeuteausgebildet.MeistHauptschüler,manchmalRealschüler,sehrseltenGymnasiasten,sowieereinstselbsteinerwar.NunaberstehtdasHolzgerippe,andemdieLehrlingedasDachdeckenüben,schonseitdreiJahrennutzlosinderEcke.
Etwa20BewerbungenhabeerindiesendreiJahrenbekommen,sagtWalter.Deutlichwenigeralsfrüher,aberimmerhin.Nur:Waswaren
VergangeneWocheverschickten130Mathematik-Professorenund-LehrereinenoffenenBrief,adressiertunteranderemandiePräsi-dentinderKultusministerkonferenzundandieBundesbildungsmi-nisterin.DerMathe-Schulstoffseiausgedünnt,schriebensie,dasStudierenfallevielenStudentenzuschwer,sokönneesnichtweiter-gehen.DieProfessorenundLehrerwollenzurückzudenaltenLehrplänen.
AußerihnenaberscheinendasnursehrwenigeLeutezuwollen.Warumauch?DievielenAbiturienten,diegutenNoten,dasfühltsich
gutan,fürfastalleBeteiligten.FürdieSchüler:OhneAbiturkönnensienichtstudieren,undin
Umfragengeben80ProzenteinesJahrgangsan,eineHochschulebesu-chenzuwollen.
FürdieEltern:DasAbiturderKindererscheintihnenalsBeruhi-gungsmittelgegendieAbstiegsangst,ausdemZeugnisentspringtderStolzaufdeneigenenNachwuchs.
FürdieSchulleiter:VieleAbiturientenmitgutenNoten,dassiehtnacheinemBelegfürihreguteArbeitaus.FürdieBildungspolitiker:VieleAbiturientenmitgutenNoten,dasistaucheinZeicheneinererfolgreichenPolitik.
FürdieUniversitäten:SieerhaltenvomStaatimSchnittjährlich26000EurofürjedenStudenten–jemehrAbiturientenzuihnenkommen,destomehrGeldkriegensie.
AufdenerstenBlickbietendievielenAbiturientenalsofürdasganzeLandbloßVorteile.InWahrheitabermussmannichtlangesuchen,umauf
25
derKumpeldenLehrlingzurTatgezwungen,vielleichtgebeesnureineBewährungsstrafe.DerRichterurteilte:zweieinhalbJahreGefängnis.
EserzähltvielüberdieSituationdesdeutschenHandwerks,wenneinTraditionsbetriebmitgutemRufdaraufhoffenmuss,dassdereinzigegeeigneteBewerberfüreineLehrstellemiteinerBewährungsstrafedavonkommt.
IrgendwannimLaufedesGesprächssagtMatthiasWalter,erhabeneulichinseinerHandwerkermonturaufderStraßegestanden.AufeinmalzischteihneinMannvonderSeitean:„DuDachdecker!“DaswaralsBeleidigunggemeint.
DeutschlandimJahr2017:HunderttausendejungeMenschenstrebenandieohnehinschonüberfülltenHochschulen;andenbeliebtenStudienortenwirdderNumerusclaususimmerstrenger.JedesdritteUnternehmeninIndustrieundHandelaberfindetnichtmehrgenü-gendAuszubildende,imHandwerksiehteskaumbesseraus.EinBeton-bauerinMemmingensagtaufNachfragederZEIT,ernehmedieGutenvondenSchlechten.EinBäckerimTaunus–findetniemanden.EinElek-trikeramNiederrhein,einHotelimThüringerWald–bildengarnichtmehraus.
DieRepublikbrauchtmehrAbiturienten,mehrHochschulabsol-venten,dieseAnnahmestandamAnfangderdeutschenBildungsre-volution.DieOECDkamzudiesemSchluss,indemsieDeutschlandmitanderenIndustrieländernverglich,mitdenUSA,mitFrankreich,mitItalien.WomöglichaberpassendieseLändernichtsorichtigzusammen.IndenUSAzumBeispielgehttatsächlichfastjederjunge
dasfürKandidaten?WalterlegtdiejüngsteBewerbungaufdenTisch:EinAnschreibenvollerTextbausteine(„Zuverlässigkeit,TeamfähigkeitsowiegroßeMotivationkönnenSiebeimirvoraussetzen“),vermutlichausdemInternetkopiert.EinLebenslaufmitgroßenLücken(Haupt-schulabschluss2010,seitdemhiereinJob,daeinJob).EineBewer-bung,soschlechtundschlichtwiedie20zuvor.MalstandsogarnochderNameMaxMustermannimBriefkopf,malsteckteinjedemzweitenSatzeinFehler.„Vor15JahrenkonntenHauptschülermireinDreieckausrechnen,diekonntenmirsagen,wievieleZiegelwirfürdasDachbrauchen“,sagtWalter.„HeutekönnensienichtmaldaskleineEinmaleins.“
DerHauptschulabschlussistinDeutschlandnichtmehrvielwert,Walterbedauertdassehr.DiegutenHauptschüler,vermuteter,machenheuteAbitur.
Esistnichtso,dassWalterausreinerNächstenliebeLehrlingeausgebildethat.ErbrauchtsiealsArbeitskräfte.IndenvergangenenJahrenmussteerimmerwiederAufträgeabsagen,weilernichtgenü-gendLeutehatte.„Dastutweh“,sagtWalter.Undfügthinzu:„WersolldenganzenAkademikerninZukunfteigentlichdieDächerdecken?“EineinzigerBewerberhatihnindenvergangenenJahrenimVorstellungs-gesprächüberzeugt.AuchimPraktikumbewieserTalent.DerVertragwurdeaufgesetztundunterschrieben.ZweiTagevorAusbildungsbe-ginnraubtederjungeMannbekifftmiteinemKumpeleinenRentneraus.Walterkonnteesnichtglauben,ergingzurGerichtsverhandlung,erhoffte,womöglichseiallesdochnichtsoschlimm.Vielleichthabe
AnantAgarwala:„Abifüralle!“ | DIEZEITKATEGORIE TEXT | 1. Preis
26
direktenZusammenhangabzuleiten.Abereszeigtebenauch,dasseshiernichtnureinenBelegfürdieWirksamkeitvonPolitikzuentdeckengibt,sondernwomöglichdenBeweisdafür,dasseinfacheKausalverbin-dungenihreGrenzenhaben.
WarumalsonichtdieAbiturprüfungenwiederetwaserschweren,dasNiveauanheben,auchwennesdanntatsächlichwiederSchülergebenwird,diediePrüfungnichtbestehen?WeildasunfairwäreunddiskriminierendgegenüberdenKindernaussozialschwachenVerhält-nissen,diejamithilfederReformenandieUnisgebrachtwerdensollten?Nun,istesnichtvieleherdiskriminierend,diesenKindernnichtzuzutrauen,eineschwerereAbiturprüfungzubestehen?WäreesnichtdersozialereWeg,sie–wieseitJahrenoftgefordert,aberseltenumge-setzt–stärkerzufördern,damitsieauchhoheHürdenüberspringenkönnen?
DieandereMöglichkeitist,einfachgarnichtszutun.DieganzeAngelegenheitbliebedanndemfreienSpielvonAngebotundNach-frageüberlassen,sowieesindenvergangenenJahreninChinazubeobachtenwar.EineZeitlangwolltenauchdortallejungenLeuteandieHochschulen,anmanchenOrtenstudierten70ProzenteinesJahr-gangs.DochdanngingendenUnternehmendieFacharbeiteraus,indenWerftenfehltendieSchweißer,umFrachtschiffezubauen.AlsobotendieUnternehmendenwenigenBewerbernmehrundmehrGehaltan,heuteverdienteinSchweißerinShanghaimehralsdiemeistenAkademiker.
JetztwollenwiedermehrChinesenSchweißerwerden.
MenschaufirgendeinCollege,aberdasliegtauchdaran,dassdieUnternehmenundBetriebedortkeinetiefergehendeBerufsausbil-dunganbieten.UndderamerikanischeHighschool-Abschlusswarnochniebesondersschwer.AuchdasfranzösischeBaccalauréatistmitdemdeutschenAbiturschwerzuvergleichen.UndinItalienkannfastjederandieUni,dereinenSchulabschlusshat–unabhängigvonderLeistung.
DiedualeAusbildunginBetriebenundanderBerufsschuleisteinPhänomen,dasesnurinwenigenLänderngibt,sieistdieSäulederdeutschen,österreichischenundschweizerischenWirtschaft.MeistführtsieineinesichereberuflicheZukunft.InDeutschlandaberwachsedieSorge,ohneAbitursozialabgehängtzuwerden,sagtderBildungshistorikerHeinz-ElmarTenorth.„DiealleinigeFixierungaufdasAbituristproblematisch.“AuchhandwerklichesKönnenisteineFormvonBildung.
ErstkürzlichversuchteBundeskanzlerinAngelaMerkel,dasSystemderdualenAusbildungdemamerikanischenPräsidentenDonaldTrumpzuerklären.DemnächstsollseineTochterIvankanachDeutschlandreisen,umsichgenauerzuinformieren.
DasseinMehranAbiturientennichtautomatischzumehrWohlstandführt,erkenntmanschondaran,dassdiedeutscheWirtschaftniewiedersostarkwuchswieindenfünfzigerundsechzigerJahren,alsAbiturundStudiumnocheineSeltenheitwaren.AlsspätermehrundmehrjungeMenschenGymnasiumundHochschulebesuchten,gingendieWachs-tumsratenstetigzurück.Natürlichwäreesübertrieben,darauseinen
27
wiedasimSoziologendeutschheißt:DasisteinndH-Anteilvon40,5Prozent.
DieNydahl-Schulehat367Schüler,nurzweisprechenDeutschalsMuttersprache,dasisteinndH-Anteilvon99,5Prozent.DieSchuleliegthinterdem„Südblock“,einerSozialwohnsiedlungamKottbusserTor,diewieeineFestungwirkt.
WürdenalleElternimEinzugsgebietihreKinderaufdieNydahl-Schuleschicken,lägederndH-Anteilbeinuretwa60Prozent.Aberwerdasvermeidenkann,vermeidetes.Inkaumeinemanderenindus-trialisiertenLandhängtderschulischeErfolgsosehrvondersozialenHerkunftabwieinDeutschland.
DasSZ-MagazinhateinSchuljahrlangzweiersteKlassenbegleitet,die1.2.handerReinhardswaldschuleunddie1-2-3BanderJens-Nydahl-Schule.
EsfängtjaschonbeimFluchenan.WennsichdieKinderanderRein-hardswaldschulestreiten,sagensie:„Hörmalbitteauf!“oderrufennachihrerLehrerin:„FrauFreiesleben,derärgertmich!“
DieKinderanderJens-Nydahl-Schulesagen:„Ey,duBananenkopf“,„duSalami“,„duSalat“oder„duSchawarma“.Manchmalsagensie:„DeineMutteristeineHure!“AbernuraufTürkischoderArabisch,damitFrauSedleresnichtversteht.
DieJens-Nydahl-SchuleunddieReinhardswaldschulesindGrund-schuleninBerlin.SieliegenbeideinKreuzberg,nur1,3KilometerLuft-linievoneinanderentfernt,getrenntvomLandwehrkanalunddervier-spurigenUrbanstraße.UnddochklafftzwischenihneneineunsichtbareSchlucht.DieSchluchttrenntdieStarkenvondenSchwachen.
DieReinhardswaldschule,gesäumtvonsaniertenAltbauten,hat665Schüler.269sindnichtdeutscherHerkunftssprache,ndH,
KlassenunterschiedIn Deutschland soll jedes Kind die gleichen Chancen bekommen. Doch wie stark hängt die Leistung eines Schülers von seiner Herkunft ab – und wie stark vom Unterricht? Das SZ-Magazin hat ein Schuljahr lang zwei sehr verschiedene erste Klassen in Berlin begleitet
BjörnStephan:„Klassenunterschied“ | SüddeutscheZeitungMagazinKATEGORIE TEXT | 2. Preis
28
eingeschult,anderNydahl-Schulenur62,diemeistenaustürkisch-undarabischstämmigenFamilien.„WirbekommenhierkeinebiodeutschenKinderher,dakönnenwirsonstwasanbieten,dasschaffenwirnicht“,sagtBirgitSedler.
Nach45MinutenschicktsiedieKindernachHause.Siesiehtzufriedenaus.SiehatsichanmühsameAnfängegewöhnt,sowiesiesichandieschwerzubuchstabierendenNamengewöhnthat.AnKinder,diemitneunJahrensogutDeutschsprechenwieihreTochter,alssiedreiwar.AnKinder,diezurSchulekommenundnichtwissen,wiesieeinenStiftinderHandhaltensollen,weilsienochnieeinenStiftinderHandgehaltenhaben.
AlsSedlervollerIdealismusanderNydahl-Schuleanfing,warsieüber-raschtvomrauenTon.Sieversuchte,dagegenanzuschreien,aberbaldhattesieKnötchenaufdenStimmbändernundwurdefürzweiMonatekrankgeschrieben.MittlerweilehatSedlerverstanden,dassmanleiserundnichtlauterredenmuss,wennmanwill,dassdieKinderzuhören.
SedleristzurPragmatikeringeworden:Sieweiß,dassvielederKinderzuHausekeinenPlatzhaben,umHausaufgabenzumachen–ofthabensienichteinmalPapier,sondernschreibenaufdieRückseitealterRechnungenundMahnungen.AlsogibtsiekeineHausaufgabenmehrauf.Sieweiß,dassvielederKinderzuHausenichtfrühstückenundkeineZähneputzen,deshalbgibtsieihneninderSchuleZeitdafür,jedenTagvon8.55bis9.05Uhr.SedlerschließtdieTürzumKlassen-raumab.DerfünfteneueSchüler,Jadouh,einFlüchtlingausSyrien,istnichtgekommen.
Samstag, 5.9.2015 Einschulung, Nydahl-SchuleIhreKolleginnenanderNydahl-SchulenennensieeineZauberin.WeilBirgitSedler,47Jahre,dunkleLocken,SanftmutimBlick,selbstdieschwierigstenKinderindenGriffbekommt.Kinder,diemitStühlenschmeißenoderdieerzählen:„PapahatgesternwiederseinenRevolvergeputzt.“
12Uhr,kurznachderEinschulungsfeier.SedlerführtdievierKinder,dieheuteinihrerKlasseeingeschultwerden,vonderAulaindenKlas-senraum.DieGroßensindauchgekommen.AnderNydahl-SchulewerdendieerstendreiJahrgängezusammenunterrichtet,verteiltaufneunKlassen.
„Çüş,dieErstis!“,sagteinJungeausderDritten,alsdievierNeuen,dieSchultüteimArm,denzugroßenTornisteraufdemRücken,indenRaumschwanken.Ali,Leonie,YunusundAras.IhreNamenstehenaufKärtchen,abersiebraucheneineWeile,umsiezuentziffernundihrenPlatzzufinden.Sedlerbittetsie,sichvorzustellen.
„IchheißeAli“,sagteinschüchternerJungemitSegelohren,dermehrflüstertalsspricht.
„WirhabenjetztzweiAlis“,sagtSedler.„Einengroßenundeinenkleinen.“
DerkleineAlihatsiebenGeschwister,SedlerhatschonzweiseinerSchwesternunterrichtet.SeitzehnJahrenarbeitetsieanderNydahl-Schule.Damalsgabeshiernoch600Kinder,heuteistesdieHälfte,immerwenigerElternschickenihreKinderandieNydahl-Schule.ImvergangenenJahrwurdenanderReinhardswaldschule104Kinder
29
dersokleinist,dassihnniemandsieht.Beren,daswirdschonamerstenSchultagdeutlich,isteinbisschenandersalsseineMitschüler.
SeineMutter,41Jahrealt,kommtausIstanbul,sielebtseit37JahreninDeutschland.VonBerensVater,einemTürken,hatsiesichvordreiJahrengetrennt,seitdemerziehtsieBerenundseinengroßenBruder,derauchaufdieReinhardswaldschulegeht,allein.SiewohnenzudrittineinerZweizimmerwohnung,gleichumdieEcke.ZurzeithatBerensMutterkeinenJob.
AnderNydahl-SchulewäredasnichtsBesonderes,dortbeziehen92ProzentderElternTransferleistungen,anderReinhardswaldschulesindesnurrundfünfzigProzent.DieReinhardswaldschulegiltmittlerweilealseinederbesteninKreuzberg:ZweivondreiKindernwechselnvondortaufsGymnasium.DerSchulhof,gemeinsammitdenKindernentwi-ckelt,wurdealseinerderschönsteninDeutschlandausgezeichnet.EsgibtKooperationenmitderSarahWienerStiftungundAlbaBerlin.EinigeSchulleiterinKreuzbergklagen,dieReinhardswaldschulenehmeihnendie„gutenKinder“weg.„IchfindedieMischungbeiunsoptimal“,sagtAnnetteFreiesleben.Sieunterrichtetseit1999anderReinhardswald-schule.InderZeitstiegendieMieten,vieleMigrantengingen,vieleAkademikerkamen,undFreieslebenmusstesichanpassen.
VorallemandieEltern.FreieslebenbekamaufeinmalseitenlangeE-MailsvonVätern,dieihrerklärten,dasArbeitsblattüberdieStein-zeitentsprechenichtdemwissenschaftlichenStand.UndalssieeinmaleineWochelangkrankwar,riefenum23UhrMütterbeiihran:Wannsiegedenke,wiederzurSchulezukommen?
Montag, 7.9.2015 Der erste Schultag, ReinhardswaldschuleLianstehtvordemKlassenraumundweint.SeineMutterstreichtihmseineLockenausderStirn.Lianschluchztnoch,alsersichzudenanderenKindernaufdenBodenhocktundseineMutterzurTürhinausschleicht.
„WashattetihrdennineurenSchultüten?“,fragtFrauFreiesleben,einegroße,geduldigeFrau,48Jahrealt,mitdunkelgefärbtenHaaren,diesehrstrengguckenkann,wennsiewill.Vorihrsitzen28Schüler,14Erst-und14Zweitklässler,siewerdenanderReinhardswaldschulezusammenunterrichtet.LianerzähltmitdünnerStimme,dasserSüßig-keitenundeinTrikotvonHerthaBSCbekommenhat.DannkommtBerenandieReihe.EristfünfMinutenzuspätgekommen,einblasserJungemitschiefgeschnittenemPony.
„HastduaucheineSchultütebekommen,Beren?“,fragtFrauFreiesleben.
„Ja“,sagtBeren.„Undwardaauchwasdrin?“„Ja“,sagtBeren.EinigeKinderlachen.„Wasdenn?“,fragtFreiesleben.„Zeitungspapier“,sagtBerenmitgleichgültigemGesicht.„Und
Süßigkeiten.Aberdiewareneklig.“AlleanderenKinderlachen.DanachmalensieihreSchultütenaufeinBlattPapier.Berenkann
sehrgutmalen.ErmöchteKünstlerwerden,sagter,seineLieblingsfarbeistschwarz,weildiesoschöndüsterist.BerenmagauchdieMonaLisa,DinosundSuperhelden,amliebstenAntMan,denAmeisenmann,weil
BjörnStephan:„Klassenunterschied“ | SüddeutscheZeitungMagazinKATEGORIE TEXT | 2. Preis
30
AlikenntdieGegendumdasKottbusserTor,erkenntdenKiosk,derWassereisfürzehnCentverkauft,unddasJugendzentrumimBöck-lerpark,woerHausverbotbekam,weilereineToilettekaputtgemachthatte–aberimWaldwarernochnie.NurindenBüschenaufdemSchulhof,diesieauch„Wald“nennen.
„DasisteinNadelbaum“,sagtdieStudentin,diedieKlassedurchdenDüppelerForstführt,siespricht,alsläsesieeineGutenachtge-schichtevor.„Wisstihrauch,wiederBaumheißt?“
„Zapfen“,sagtEbru.„Nein,alleNadelbäumehabenZapfen“,sagtdieStudentin.„Nadelbaum“,sagtAli.„Ja,dasistderOberbegriff“,sagtdieStudentin,„Aberdieserhier
heißtKiefer.“„Käfer?“,fragtAalaa.„Nein,Mann,Kieferbaum!“,sagtHassan.„Nein,nurKiefer“,sagtdie
Studentin.„Ah,wieKieferorthopäde!“,sagtHassan.BirgitSedlermachtvieleAusflügemitihrenKindern,immeranOrte,
diesienichtkennen:insTheater,insFeuerwehrmuseum,indieBücherei.Siehataufgehört,sichandenLehrplanzuhalten.Siesagt:„MeineKinderhabenesdoppeltschwer,siemüssennichtnurrechnen,lesenundschreibenlernen,sondernauchnocheineneueSprache:Deutsch.“
DieElterndermeistenKinder,dieSedlerunterrichtet,sindschonlängerinDeutschland,sprechenaberkaumDeutsch,im„Südblock“kommtmanmitTürkischoderArabischweiter.Dochselbstihre
SeitdemgibtFreieslebenihreNummerundihreMail-Adressenichtmehrraus,nimmtsichaberhäufigZeitfüreinGespräch,umdenElterndieAngstzunehmen.DieAngst,dassihrKindzudenVerlierernundnichtzudenGewinnernzählenkönnte.
InBerlinsolleigentlichjedesKind–sowieBeren–aufdienächst-gelegeneSchulegehen,dasistdasSprengelprinzip.EsgibtvieleEltern,diewollen,dassihrKindnichtaufdienächstbeste,sondernaufdiebesteSchulegeht.DieReinhardswaldschulebekommtjedesJahrdoppeltsovieleAnfragen,wiesieKinderaufnehmenkann.DamitihrKindaufeineandereSchulekommtalsaufdieSprengelschule,stellenvieleElternAnträgebeimBezirksamt.AllerdingsstetsmitungewissemAusgang.UmihreAussichtenzuerhöhen,legenmancheElternsicheineBriefkastenadressezu,fälschenUntermietverträge,HandyrechnungenundKontoauszüge–soerweckensiedenAnschein,impassendenSprengelzuwohnen.
Freieslebensagt:„FrühergabesmehrKinderaussogenanntenbildungsfernenodersozialschwachenFamilien.“MehrKinderwieBerenundwenigerKinderwieLian.
Montag, 12.10.2015 Waldausflug, Nydahl-SchuleEsistminuseinGrad,derersteWintertagdesJahres,undAli,derkleineJungemitdenSegelohren,stehtmitoffenemMundundzerrissenenJeansimDüppelerForst.SeinersterKlassenausflug.UmihnherumreckensichKiefernindenHimmel,dasnasseLaubklebtamWald-boden,roteundgelbeBlätter.„Boah!“,sagtAli.
31
EsisteinungleicherWettlauf.SchonnachsiebenWochenSchulzeithabensichdieErstklässlerderReinhardswaldschuleeinenuneinhol-barenVorsprungerarbeitet:SiekönnenimZehnerbereichaddieren,siekönnenkonzentriertundselbstständigarbeiten,siekönnensichgewähltausdrücken.Siekönnenalldas,wasdieKinderanderNydahl-Schulenochlernenmüssen.IhrVorsprungwächstmitjedemTag.LiegtdasanderSchuleoderandenSchülern?
AnderReinhardswaldschulegibtesandersalsanderNydahl-SchuleeinFachwieYoBEKA,eineArtKinderyoga,esgibtAGswieJudoundSchach,esgibtLernwerkstätten,indenenKinderMuschelnmikros-kopierenodereineSchatzkammerzimmern.AberdieGemeinsamkeitenüberwiegen:BeideKlassensindGanztagsklassen,dieKinderwerdenvon8bis16Uhrbetreut.InbeidenKlassengibtesjezweiRäume,damitdieLehrerdieJüngerenundÄlterenvoneinandertrennenkönnen.InbeidenKlassensindnebenderKlassenlehrerinimmeranderePäda-gogenanwesend,anderReinhardswaldschuledieMathelehrerin,anderNydahl-SchuleeineErzieherin,esgibtLesepaten,Sonderpäda-gogenundErgotherapeuten.InbeidenKlassenwirdsounterrichtet,wieBildungsexpertenesfordern:kaumFrontalunterricht,vielProjekt-undGruppenarbeit,keineNoten,keineHausaufgaben.KindermitProb-lemenwerdenindividuellgefördert,bekommenwenigerundleichtereAufgaben;siebleibennichtsitzen,sondern„verweilen“,dasheißt,siegeltendannetwaalsZweitklässler,bearbeitenaber,wonötig,nochAufgabenausdererstenKlasse.
MuttersprachebeherrschenvieleKindernichtrichtig.DiemeistenElternlesenihnenseltenvor,redenüberhauptwenigmitihnen.InSedlersKlassesindnurzweiMädcheninderLage,komplexereDingefürJadouh,denFlüchtlingsjungen,deramzweitenSchultagdanndocherschien,insArabischezuübersetzen.
DieKinderimWaldfangenanzufrieren,vieletragennurTurn-schuheunddünneRegenjacken.„Miristkaltikaltikalt“,sagtLeonie,siebenJahrealt.EinMädchenmitzweiblondgefärbtenSträhnen,dasPonysmag,HelloKittyundGlitzer.
InderU-Bahn,aufderRückfahrtzurSchule,istdieLufttrockenundwarm.EinigeKindersindschoneingenickt,alsLeonievonihremVatererzählt:„MeinPapalebtaufeinemgroßenSchiff“,sagtsie,währendsieaufihremHaarreifkaut.„Daschläfterauch,deshalbhatermiramGeburtstagauchgarkeinGeschenkgegeben,dawarichtraurig.“
KurzbevordieU-BahnKreuzbergerreicht,schläftauchLeonie.
Dienstag, 13.10.2015 Reinhardswaldschule„IchzeigeeucheinenBuchstaben,unddannbinichgespannt,werweiß,welchesBildaufderRückseitezusehenist“,sagtFrauFreiesleben.ZweiteStunde,Deutsch.SiehälteinAindieLuft.
„AwieAmeise“,sagtEmma.SiehälteinPindieLuft.„PwiePinsel“,sagtLian.
Sogehtesreihum.FastalleKinderreckenbeijederFrageihreHändeindieLuft,auchBeren.DanachlässtFrauFreieslebenalledasgroßeundkleineIimArbeitsheftweitermalen.Siesagt:„Ichwäregernschonweiter.“
BjörnStephan:„Klassenunterschied“ | SüddeutscheZeitungMagazinKATEGORIE TEXT | 2. Preis
32
LiansElternsindtypischfürvieleElternimneuenKreuzberg:Akade-miker,diegutverdienen,politischeherlinksliberal,sielegenWertaufBildungundChancengerechtigkeitundsindhin-undhergerissen:Theo-retischwollensie,dassalleKinderdiegleichenChancenhaben.AberwenndasinderPraxisnichtmöglichist,wollensie,dassihreKinderbessereChancenhaben.
HättensieLianausÜberzeugungauchaufeineSchulewiedieNydahl-Schulegeschickt?LiansVatersagt:„AufkeinenFall.IchwillmeinKindnichtalsSondeineinsozialesExperimentschießen.“LiansMuttersagt:„Ichfindeschlimm,wasanderNydahl-Schulepassiert,undsicherwäremehrDurchmischungbesser.AberwirkonntenunsfürunsereKindereinesolcheSchulenichtvorstellen.“Undwerwillesihnenverübeln,wennsogarBirgitSedler,dieKlassenlehrerinvonderNydahl-Schulesagt:„IchhättemeinKindnichthierhergeschickt.“
Mittwoch, 11.11.2015 Laternenumzug, Nydahl-SchuleLeoniesMutter,dreißigJahrealt,KajalaugenundFrenchNails,isteinederwenigenFrauen,diekeinKopftuchtragenundkeinenknöchel-langenMantel.Laternenumzug.RundfünfzigKinderundEltern–mehrMütteralsVäter–spazierendenLandwehrkanalentlang.DieLichterderLaternenglimmeninderDunkelheit.
AlsdieGruppedasUrban-Krankenhauspassiert,das„U-Bahn-Kran-kenhaus“,wiedieNydahl-Kinderesnennen,sagtLeoniezuihrerMutter:„Hassanhatmichgesterngeärgert!“IhreMutterdrehtsichum:„WelcherHassan?“
EsgibtnureinenwesentlichenUnterschiedzwischendiesenbeidenerstenKlassen:diesozialeHerkunftderKinder.Dieeinenkönnenschonlernen,dieanderenmüssenerstdasLernenlernen.Weilesihnenniemandbeigebrachthat,wederdieElternnochderKindergarten.ImDurchschnitthabenKinder,derenElternimAuslandgeborenwurden,inderGrundschuleeinenRückstandvoneinemLernjahrgegenüberKindern,derenElterninDeutschlandgeborenwurden.DerVorsprungbestandschonlängst,alsderWettlaufstartete.
Liankonntezählen,rechnenundseinenNamenschreiben,bevorerzurSchulekam.ErhatdasSelbstbewusstseineinesJungen,dervonallengemochtwird:DieJungenschätzenihn,dieMädchenmögenseineLocken,auchwennLiansagt,dasserkeineMädchenmag.ErmöchteFußballerwerden,ermagThomasMüllerundMesutÖzilundspieltgern„Ninjago“aufdemiPadseinesVaters.
LiansElternhabensichvorfastzwanzigJahrenanderFreienUniver-sitätkennengelernt.SeinVater,45,eingroßerMannmitAfro,SohneinesamerikanischenGIs,kommtausBremenundarbeitetalsDigitalBusi-nessDirector.SeineMutter,42,stammtauseinemDorfinSchwabenundarbeitetinderPR.MitihrendreiKindernlebensieineinervierZimmergroßenAltbauwohnung,imBücherregalstehenRomanevonJonathanFranzenundJuliZeh.EigentlichhätteLian,erzähltseinVater,aufeineandereSchulegehenmüssen,miteinemhöherenndH-An-teil,aberweilLiansgroßeSchwester,diesiedamalsextraumgemeldethatten,schonaufdieReinhardswaldschulegeht,durftenseineElternauchihndortanmelden.
33
Licht,ichfürchtmichnicht,rabimmel,rabammel,rabumm!“DieKinderstimmenein,vondenElternsingtnurLeoniesMuttermit.
Donnerstag, 12.11.2015 Laternenumzug, ReinhardswaldschuleDiesmalistsogarBerensMutterda.DenerstenElternabendhattesieversäumt,aberjetztstehtsiewiedreiDutzendandereEltern–fastsovieleVäterwieMütter–vorderReinhardswaldschule.17Uhr.DieGruppesetztsichinBewegung,BerenundseineMutterlaufenamEnde.SiehältseineLaterne,erspieltmiteinemkleinenEselausPlastik,denerausderSchulemitgenommenhat.AlssiedieUrbanstraßeüberquerenwollen,springtdieAmpelaufRot.SeineMutterzerrtBerenüberdieStraße,derEselfälltaufdenAsphalt,dieAutosfahrenan.Berenweint.
„Beren,hörstdubittedamitauf“,sagtseineMutter,„Dunervstmichdamit.IchhattekeineSchuld,duhattestSchulddaran.“
„IchhatteauchkeineSchuld“,sagtBeren.SpätersagtseineMutter:„Ermachtmichverrückt.Manchmal
kommeichnichtmitihmklar!“SiesprichtschlechterDeutschalsBeren.ManchmalliesterihrausseinemLieblingsbuchTierischeRekordevor.Underklärtihr,dassdasgrößteTierderBlauwalunddasältesteTierderMeeresschwammist.BerensMuttersagt,sieweißauchnicht,woherdaskommt,dassBerenimmeralleswissenwill.
ZumSchlusssteuertderZugaufeinenSpielplatzzu.ZweiMütterhabendortbrennendeFackelnaufgereiht,eineanderehatSchokomartins-gänsevomBiobäckermitgebracht,nocheineandereTee,aufdenTher-moskannenklebendieEtiketten,Orange-Ingwer,Waldbeere,Rooibos.
„Derda“,sagtLeonieundzeigtaufeinenJungen,derseineelektrischeLaterneschleudertwieeinDompteurseinePeitsche.„Ey,duÄrger-fritze“,sagtdieMutterundknufftHassan.
„Ey,ischhabgarnixgemacht“,sagtHassanundgrinstso,dassmanihmsofortallesverzeihenmöchte.DannsagterzuLeonie:„IstdeinLichtauchleer?“
„Ja,ihrLichtistauchleer“,sagtLeoniesMutter.SieschütteltdenKopf,belustigt,aberauchirritiert.„Wiedieallereden“,sagtsie.
LeoniesMutter,gebürtigeKreuzbergerin,hateinenerweitertenHauptschulabschlussundarbeitetbeieinerBahnhofsbäckerei.Siewar23,alssieLeoniezurWeltbrachte.DerVaterverließsieimzweitenMonatderSchwangerschaft,erzahltbisheutekeinenUnterhalt,dasletzteMalsaherLeonievoranderthalbJahren,abundanschicktereinFoto.AufeinemistimHintergrundzufälligeinSchiffzusehen,ihreMuttererzählteLeoniedeshalb,dassihrVaterdortwohnt.DieMutterwünschtsich,dassLeonieZahnärztinwird.Siehatteversucht,ihreTochteraufeineranderenSchuleanzumelden,dieNydahlhatjaeinensehrschlechtenRuf,sagtsie.
LeoniesMutteristhalbDeutsche,halbLibanesin;LeoniesVateristhalbPole,halbIndonesier.AberfürdieanderenKinderanderNydahl-SchuleistLeonie„dieDeutsche“,weilDeutschihreMutterspracheist.ZuHausesagtsiejetztmanchmal„Wallah“(Arabischfür„beiGott“)oder„çüş“(Türkischfür„Boahey!“).
DerLaternenzugkommtamBöcklerparkzumStehen.DiemeistenLaternensinderloschen.SedlerstimmteinLiedan:„Ichtragmein
BjörnStephan:„Klassenunterschied“ | SüddeutscheZeitungMagazinKATEGORIE TEXT | 2. Preis
34
DieKinderanderNydahl-Schulesindauffällighilfsbereit:Jadouhhabensiesofortaufgenommen,obwohleranfangsspuckteundumsichschlug.AuchTumaywirdnichtgehänselt,obwohlersostarkstottert.UndMahmoud,dessenElternzweiWochenlangdasEssennichtzahlenkonnten,habensiejedenTagetwasabgegeben.AnderReinhardswald-schulefoppensichdieKinder,wennjemandetwas„Komisches“zumFrühstückdabeihat,Serrano-SchinkenoderDattelnzumBeispiel.
BirgitSedlersagt:„DieKindersindhiersehrsolidarischmiteinander.Eskannsiealleerwischen,ichglaube,tiefinihnendrinwissensiedas.“
AmspätenNachmittagsitztsieAlisMutterundeinerSozialarbeiteringegenüber,dieübersetzt.AlisMutterkanndreiWörterDeutsch:„GutenTag“und„Danke“.SieträgteinKopftuchundlächeltverlegen.
„AliisteinfröhlicherundlieberJunge“,sagtSedler.SiesprichtnochlangsameralsimUnterricht.SedlerberichtetAlisMutter,dassihrSohnsichschongutandieRegelnhält;dasserbiszwanzigzählenkann;dasserweiß,wiedieAnlautederBuchstabenklingen;und„auchwennseineGrammatiknichtimmerstimmt,wissenwirimmer,wasermöchte“.UntermTischwippendieKnievonAlisMutteraufundab.Siesiehterleichtertaus.
Sedlerauch.ElterngesprächesindeineschwierigeSache,siedarfnichtzuhöflichseinundnichtzustreng.SchließlichistsiemehralseineLehrerin,sieistzugleichSeelsorgerin,Psychologin,Sozialarbeiterin.SiehättezuAlisMutterauchsagenkönnen:AnfangshatAlisichüber-raschendgutgemacht,erkonntezählenundseinenNamenschreiben,aberseitdemmachterkaumFortschritte,ersprichtseltenundist
EinigeElternbleibenmitihrenKindern,bisdieFackelnerloschensind.BerenundseineMuttersinddaschonlangeweg.
Donnerstag, 17.3.2016 Ausflug und Elterngespräch, Nydahl-SchuleDasBröhan-MuseumliegtinCharlottenburg,hohe,helleRäume,andenWänden:Kubismus,Impressionismus.
„Çüş,diesindjanackig“,sagtBaraaundzeigtmitdemFingeraufeinAktbild:„IstdasseinPipi?“
„Oh,oh,nichtanfassen“,sagtdieFrauvomMuseum,dannführtsiedieNydahl-KinderindenzweitenStockundbleibtvoreinemkubisti-schenGemäldestehen,IneinemCafévonMaxDungert,dasausvielenDrei-undViereckenbesteht.DieKindersetzensichaufdenBoden.„Wasfällteuchauf?“,fragtdieFrauvomMuseum.
„DassiehtauswieeinPuzzle“,sagtYunus.„DaisteinMann,ersiehtauswieeinPinguin“,sagtMarwa.„Dassoll
einMenschsein“,sagtMohammed.„EinMenschausFormen,undertrinkteineTasseTee.“
„Wow!“,sagtFrauSedler,beeindrucktundgerührt.Dann,zurückinderSchule,gibtesMittagessen.KartoffelpufferundApfelmus.DieKinderstürzensichdarauf,nurJadouhnicht,derFlüchtlingsjungeausSyrien,derkleinerunddünneristalsalleanderen.VerträumtschauterausdemFensterindenFrühlingstag.ErhatkeinEssenbekommen,seinVaterhatdasGeldnichtüberwiesen.
„DarfichJadouhwasabgeben?“,fragtMohammed.DannwollenauchdieanderenihrEssenteilen.
35
FreieslebenlegtdieStirninFalten,siemachtsichSorgenumBeren.Erhatzuletztoftgefehlt.ImmermalwiedereinenTag,malBauch-schmerzen,maleineErkältung.KomischerweisewarandenselbenTagenauchseinBruderkrank.
FreieslebeninformiertedenDirektor,dereinenBriefanBerensMutterschriebundsieandieSchulpflichterinnerte.SeitdemfehltBerennichtmehr.VerglichenmitdenKindernvonderNydahl-SchuleistBerenvielweiter,erkannsichsehrgewähltausdrücken,erkannbesserrechnenundbesserschreiben.Dennochkönnteerwomöglicheinervondenensein,dieeinJahrverweilen,sagtFreiesleben.
Freieslebenfragtsich,worandasliegt:Berenistschlau,erkonnteschonzählenundseinenNamenschreiben,bevorereingeschultwurde.VieleshatteerinderKitagelernt,schondortwareruntervielenKindernausAkademikerfamilien.AbereristeinEigenbrötler,erhatseineigenesTempo.WenndieKindermalensollen,spitzterersteinmalinallerRuheseineBleistiftean.
FürBerenwäreesdennochbesser,einJahranderReinhardswald-schulezuverweilen,alsanderNydahl-SchulederBestezusein.DortträfeernuraufKinder,diezuHausenochwenigerUnterstützungbeimLernenbekommenalser.Hierlerntertäglichvondenanderen,sagtFrei-esleben.VonKindernwieLian.
Lianseiunheimlichfit,offenundwach,sagtseineLehrerin.Obwohlersichhäufigablenkenlasse,falleihmvielesleicht.InMathelösterbereitsdieAufgabenderZweitklässler.
morgensmeistensmüde.Aberwassolltedasbringen?AlibekämezuHausevermutlichÄrger.
SeineElternkamenvor15JahrenausSyriennachDeutschland.AlisVater,45,darfnichtarbeiten,weilerkeinendauerhaftenAufenthalts-statushat,AlisMutter,37,sitztimSüdblockinihrer105QuadratmetergroßenSozialwohnungundkümmertsichumdiesiebenKinder.DerÄltesteist15,dieJüngstefünfJahrealt,siewirdnächstesJahraufdieNydahl-Schulekommen.
WennesnachAlisVatergeht,sollenseineKinderstudieren,ÄrzteoderIngenieurewerden.SiehabendiedeutscheStaatsbürgerschaft,siesindseineHoffnung.AberwiesollsicheinKindwieAlizurechtfindenindiesemLand,wennesnichteinmalseineElterntun?
AlisMutterwillschongehen,dafälltSedlernochetwasein:SieerzähltvonAlissiebtemGeburtstag.EswareinDonnerstagimFebruar,Musikunterricht.DieLehrerinspielteKlavier,dieKinderbildeteneinenKreisundsangen:„Wieschön,dassdugeborenbist,wirhättendichsonstsehrvermisst!“AlistandinderMitte,ihmrolltenTränenüberdieWangen.„Aliwarvölligüberwältigt“,sagtSedler.
DieMutterlächelt.ZuHausefeiernsieGeburtstagenicht.
Freitag, 18.3.2016 Osterfrühstück, Reinhardswaldschule„WaswünschtihreuchfürdieOsterferien?“,fragtFrauFreiesleben.
„DassderOsterhasekommt“,sagtMaria.„DassdieSonnescheint,weilwirandieOstseefahren“,sagtLian.„DassichbiseinUhrnachtsaufbleibenundzockenkann“,sagtBeren.
BjörnStephan:„Klassenunterschied“ | SüddeutscheZeitungMagazinKATEGORIE TEXT | 2. Preis
36
arbeiten.SiekönnteaufderReinhardswaldschulemithalten.„FürsiewirddasLernenzurSelbstverständlichkeit,sieweiß,wofürdieSchuledaist,undhatSpaßdaran“,sagtSedler,dieesgenausoinihrZeugnisschreibenwill.SedlertrautLeoniesogarzu,späteraufsGymnasiumzugehen.EtwajedesdritteKindanderNydahl-SchulebekommteineEmpfehlungfürsGymnasium.WennmandieKinderdortfragt,wassiewerdenwollen,müssensieeineWeileüberlegen.
„Taxifahrerin“,sagtMarwa.„ÄrztinoderBusfahrerin“,sagtRayan.„Kocher“,sagtMahmoud.„IchmöchteaufdemBauernhofarbeiten“,sagtLeonie.„Hausmeister“,sagtAli.BeiihmzuHausegebeesaucheinenHaus-
meister,derschmeißeimmerdie„Männers“ausdemTreppenhaus,diekeineWohnunghaben.
BirgitSedlersagt:„Ichwärebeidenmeistenschonfroh,wennsieU-Bahn-Fahrerwerden.“
Manchmal,wennsienacheinemlangenTagnachHauseradelt,fühltsiesichimStichgelassen,vondenEltern,derPolitik,vonallen.Manchmalwirdihrdannklar,dassihreKinderdenWettlauflängstverlorenhaben.InDeutschlanderreichenKindermitMigrationshinter-grunddreimalseltenerdasAbituralsihreMitschülerundverlassendieSchulemehralsdoppeltsohäufigohneAbschluss.
MankannmitBirgitSedlerundAnnetteFreieslebenstundenlangüberBildungspolitikreden.UndobwohlbeideanvölligverschiedenenSchulenarbeiten,kommensiezudengleichenSchlussfolgerungen:
Liansagt:„IchmussnochganzlangezurSchulegehen.“DannüberlegtereineWeile:„NochelfJahrebiszumAbitur!“
Freitag, 20.5.2016 Deutsch als Zweitsprache, Nydahl-SchuleEineKita,einePost,eineBank,einRestaurant.DiefünfErstklässlersitzenvoreinemWimmelbild,dasanderWandaufgehängtist,undsollenbeschreiben,wassiesehen.ErsteStunde,DeutschalsZweit-sprachemitFrauMenzel.
„IchseheeinenMüllwagen“,sagtLeonie.„Undwasmachtder?“,fragtFrauMenzel.„DerMannbringtdenMüllzumMüllwagen.“
LeonieistdieEinzigederfünfErstklässlerausFrauSedlersKlasse,dieinvollständigenSätzenspricht.
FrauMenzelhälteineKartehoch.DieKindersollendenentspre-chendenBerufnennen.„Wasistdas?“,fragtMenzel.Allemeldensich.SienimmtAlidran.
„Mülleimer“,sagtAli.„DasistdochkeinMülleimer“,sagtMenzel.„EinMülleimermann“,
sagtAli.„OhneEimer“,sagtFrauMenzel.„EinEimermann“,sagtAli.DieanderenKinderlachen,„Müllmann!“
schreiensie.„Müllmann?“,sagtAli.Deutschfälltihmnochimmerschwer.ErkannkurzeWörterlesen,
aberzusprechentrautersichselten.LeoniehingegenkannkurzeSätzelesenundschreiben,siekann
addierenundsubtrahieren,siehatgelernt,selbstständigundstillzu
37
Haut.“Darauf,dassseineHautebenfallsdunkleristalsdiederanderenKinderimRaum,kommtLiannicht.Undauchniemandanderes.DieKindersehennurKinder,wennsieeinanderanschauen.
FürLianwäreesebensowenigwiefürBereneinegroßeSache,wennermitAlioderLeonieineineKlasseginge.Wahrscheinlichkönntensieallevoneinanderlernen:AlivonLian,wiemanDeutschspricht,LeonievonBeren,wiemanDinosmalt,BerenvonLeonie,wiemaneinenBriefschreibt,undLianvonAli,woesdasWassereisfürzehnCentgibtundwiemanfüreinanderdaist.AmEndedesVormittagsfragtAnnetteFreieslebenihre28Schüler:„InwelchemLandwolltihrleben?ImLandderBlaukarierten?“
Keinermeldetsich.„ImLandderRotgefleckten?“Keinermeldetsich.„OderimLandderBuntgemischten?“28Händegehennachoben.
ManbrauchtkleinereKlassen,18Kindermaximal,mehrLehrer,mehrErzieher,unddieVorschule,diedenÜbergangvomKindergartenzurGrundschuleerleichtert,musswiederverpflichtendsein.BirgitSedlersagt:„EineKita-PflichtabeinemhalbenJahrwärefürunsereKinderdieRettung.“SiebräuchtensofrühwiemöglichVorbilder,diesiezuHausenichtfinden.
Montag, 13.6.2016 Projekttag, ReinhardswaldschuleProjekttaggegenRassismus.FrauFreieslebenspieltdenKinderneinYoutube-Videovor:ImLandderBlaukarierten.MansiehtKnetmänn-chen,eineMännerstimmesingt:„ImLandderBlaukariertensindalleblaukariert.DochwenneinRotgeflecktersichmaldorthinverirrt,dannrufenBlaukarierte:Derpasstdochzuunsnicht!Ersollvonhierverschwinden,derrotgefleckteWicht.“AlsdasLiedvorbeiist,fragtFrei-esleben:„Washaltetihrdavon?“
„Diesprechennichtsonett“,sagtAnton.„DasBlaustehtfürWasserunddasRotfürirgendetwasRotes“,sagt
Jonathan.„DasistfürdieHautfarben“,sagtEmma.„Esist,weilsiesichnicht
kennen“,sagtSami.FrauFreieslebenschreibtmit.NacheinerhalbenStundehatsiedie
TafelmitdenIdeenderKindergefüllt:„SiehabenAngst“,stehtdort,„Siekennendieanderennicht“,„SiesprecheneineandereSprache“.
„Kenntihrauchjemanden,derandersist?“,fragtFreiesleben.Lianmeldetsich:„JérômeBoateng.UndmeinenPapa,derhatauchdunkle
BjörnStephan:„Klassenunterschied“ | SüddeutscheZeitungMagazinKATEGORIE TEXT | 2. Preis
38
Die16-JährigewischtüberdenBildschirm,liest,tippt,ziehtTextteilevonhiernachdort,flüstert.IneinerViertelstundesollendievierpräsen-tieren.AndieTafelgehenmüssensiedafürnicht.JedesTabletkannmitdemBeameranderDeckeverbundenwerden.Stift?Papier?Unnötig.
Wennesdarumgeht,ComputerimUnterrichteinzusetzen,sinddieLehrerdesMaria-Ward-GymnasiumsPioniere.InBayernistdiekatholi-schePrivatschule„ReferenzschulefürMedienbildung“,einVorbild.
TrotzdemstehensieauchhiererstamAnfang.InderSchulederZukunftwerdenPhones,TabletsundAppsvielmehrersetzenalsnurStiftundPapier.IndennächstenJahrenwirddieDigitalisierungdieSchulenrevolutionieren.Computerprogrammewerdengrundle-gendverändern,wasundvorallemwiegelerntwird.SchülerwerdensichvernetztinvirtuellenKlassenzimmernbewegen,AlgorithmenwerdenLerninhalteundLerntempovorgeben,maßgeschneidertauf
AmMaria-Ward-Gymnasium,Augsburg,kurzvoracht.UntenimKeller,imChemiesaalU06,stehendie23Mädchender10chinterdenTischenundgrüßenimChor:„GutenMorgen,FrauBraun!“
EvasprichteinGebet:„RettenwirdieWelt,heuteundnichtmorgen,bringenwirinOrdnung,wasbisherniemandschaffte!KeineChance?VergeblicheMühe?Nichtmituns!Zuerstmalprobieren,danachbleibtimmernochgenugZeit,denKopfindenSandzustecken.“Undalle:„ImNamendesVatersunddesSohnesunddesHeiligenGeistes.Amen.“
Esgongt,lautunddröhnend,dieBiologiestundebeginnt.MitKreidehatLehrerinRenateBraundasThemaandieTafelgeschrieben:„Wech-selbeziehungenzwischenLebewesen“.Symbiosen,Parasiten.DieMädchenholenihreiPadsausdenTaschen.Jedeeines.„Los,bildetGruppen“,treibtBraunsiean.IsabelarbeitetmitAmelie,MariaundAlexandrazusammen.DasAufgabenblattlädtsiesichvomSchulserver.
Revolution im KlassenzimmerComputer werden das Lernen verbessern – und den Schulalltag umkrempeln. Eine neue Welt für Kinder, Eltern und Lehrer
39
AbersystematischgelerntwirdmitdenGerätenkaum.ImGegenteil.DiedeutschenKlassenzimmerwirkenoftwieverrammelt,wennesumsDigi-talegeht.VieleSchulenhabenimmernochkeinschnellesInternet,vielenichtmalgenugRechner.VorallemaberzögerndieLehrer.2013nutztennur34,4ProzentvonihnenregelmäßigComputerimUnterricht,iminter-nationalenVergleichwarDeutschlanddamitSchlusslicht.2015waresmit47,6Prozentschonbesser.AberausgerechnetdieSchlüsselfigurenfürsLernensindnochallzuhäufigdigitaleAnalphabeten.
Dassollsichjetztändern.MinisterinWankahatdenLänderndieseWocheeinen„DigitalPakt#D“vorgeschlagen.IndennächstenfünfJahrenwillderBundfünfMilliardenEurofürRechnerundWlananden40.000Schulenbereitstellen.ImGegenzugsollendieLänder„gutepädagogischeKonzepte“garantieren,sagtWanka.„Schülermüssenheuteauchdigitallernenundarbeitenkönnen,stattnurzudaddeln.“DieKultusministerkonferenz,dasobersteBildungsgremiumderLänder,willindenkommendenWocheneineArtGrundsatzpapierbeschließen,dasdenrund790.000LehrerninDeutschlanddenWegindieZukunftweist.
Das umgekehrte KlassenzimmerAmMaria-Ward-Gymnasiumhabensieschon2012iPadsangeschafft,aufKostenderEltern.MiteinerzehntenKlasseging’slos,baldhattejederinderOberstufesoeinDing.WenndieJüngerendaraufübensollen,rollteineAlukistedurchdenFlur.IndenSchaumstoffschlitzendes„iPad-Wagens“stecken16Leihgeräte.Stifte?DieTabletssinddigi-taleSuperfüller.
dieBedürfnissejedeseinzelnenKindes.DieRollenvonSchülernundLehrernwerdensichwandeln.VielleichtsindMaschinenbaldsogardiebestenallerLehrer.
„WirhabendieChance,Bildung10.000malbesserzumachen“,schwärmtSebastianThrun.DerDeutschewarfrüherProfessorfürKünstlicheIntelligenzanderStanford-UniversitätinKalifornien,dannVordenkerbeiGoogle.JetztisterGründereinesBildungs-Start-ups.Ergehörtzujenen,diedaranglauben,dassdieComputerfürmehrTeil-habeundmehrGerechtigkeitandenSchulensorgenwerden.„WirimSiliconValley“,sagtThrun,„machenMenschenstärker.“
Werwilldasnicht?79ProzentderDeutschenfinden,dassmehrdigitaleTechnikinderBildung„unabdingbar“ist,umim21.Jahrhundertbestehenzukönnen.70Prozentglauben,dasssiedasLernenerleich-tert.DashateinebislangunveröffentlichteEmnid-UmfragefürdasBundesforschungsministeriumergeben.
Nur:WielässtsichdiedigitaleVerheißunginsföderaledeutscheBildungssystemübersetzen?WasistamE-Learningpädagogischsinn-voll?WolauernRisiken,undwasistvondenArgumentenderKritikerzuhalten?DersternhatSchulenbesucht,mitLehrernundBildungsfor-scherngesprochen,auchmitPolitikernundPsychologen.
InganzenLandgibtesengagiertePioniereundvieleProjekte.UnddochhatBildungsministerinJohannaWanka,CDU,recht,wennsievon„Insellösungen“spricht.DieMehrheitderSchulenistnichtaufderHöhederdigitalenZeit.ComputerprägenlängstdenAlltagzuHauseundaufdenPausenhöfen;KinderundJugendlichegoogeln,daddelnundchatten.
FlorianGüßgen:„RevolutionimKlassenzimmer“ | sternKATEGORIE TEXT | 3. Preis
40
DramasVideosproduziert.„DietreffensichaußerhalbderSchuleundinvestierenZeitamWochenende“,erzähltBerner.MotivierteSchülerlernenbesser.UndmancheFilmesindsogut,dasssiefürkünftigeJahr-gängealsErklärvideostaugen.MiteinemKlicksindsieaufdemSchul-serveroderaufYoutubeallenzugänglich.Peer-to-Peer,nennenPäda-gogenes,wennSchülersichgegenseitigunterrichten.
IrgendwannkönntenessichTausendevonLehrernsparen,immerwiederdenimmergleichenStoffaufzubereiten.ReineZeitverschwen-dung,wennesstattdessenhochwertigeLernvideosgibt.Eswürdereichen,wennderbesteLehrereinenFilmverantwortet,etwaüberdieEntdeckungAmerikasoderüberBruchrechnung.„Vielleichtwirdeskünftig100MillionenDollarkosten,denbestenMathematikkurszuproduzieren“,sagtSebastianThrun.„Aberderwirddannsoirregutsein,dassergutgenugistfüralleKinderaufderganzenWelt.“MitdemStart-upSofatutorgibtesinDeutschlandsogarschoneinenprofessio-nellenAnbietervonErklärvideos.
AuchanderedigitaleLernmediendrängenindieSchulederZukunft.Spielewie„Minecraft“könnenKreativitätfördern,Virtual-Re-ality-BrillenneueErlebniswelteneröffnen.DasKlassenzimmerwirddemnächsttatsächlichfliegenkönnen–invergangeneEpochen,ferneStädteoderdurchmenschlicheAdern.SelbstdieerweiterteWirklichkeit,eineTechnikwieimHandyspielPokémonGo,hatpädagogischesPoten-zial.LernenalsErlebnis,maldraußen,maldrinnen.
DasZauberwortaberlautet:digitalePersonalisierung.Compu-terprogramme,sodieIdee,sollendieStärkenundSchwächeneines
BisweilenbildensiediealteWeltnurab.Dasistso,wennIsabelihrBiologie-ArbeitsblattaufdemBildschirmbearbeitetstattaufPapier.Inder7agehtEnglischlehrerStefanFiegerschonweiter.ErprojizierteinenQR-CodeandieWand.MitderiPad-KamerascannendieSchülerdasgrauweißeKrisselquadratundgelangensozueinemVokabel-trainer.Washeißt„Turm“?FürRechtschreibübungenkönnendieKindersichdasWortauchdiktierenlassen.OdersieordnenineinerBegriffs-wolkedendeutschenundenglischenAusdruckeinanderzu:„Turm“zu„Tower“.EineStoppuhrmisst,wielangeesdauert,bisalleBegriffspaarebearbeitetsind.SophiaundFranziskateilensicheinTablet.IhreZeitennotierensieaufPapier.WeristdieSchnellere?KlassischesPaukenistdas–nurspielerischundmitSpaß.
DieneueTechnikkanndenUnterrichtauchkomplettumkrempeln.EtwadurchErklärvideos.FrüherreferiertederLehrervornamPult–dieSchülerhörtenzu.DieVideoskönnensieabrufen,wannundwosiewollen.Weretwasnichtbegreift,siehtsichdenFilmebennocheinmalan.OdernochhundertMal.Wenndasimmernochnichtreicht,fragtmanbeimLehrernach.WissenwirdsonichtimUnterrichtvermitteltundzuHausevertieft,sondernumgekehrt:ZuHausewirdgelernt,inderSchulevertieft.DasKonzeptheißt„FlippedClassroom“–dasumge-kehrteKlassenzimmer.
SarahBerner,33,unterrichtetDeutschundSpanischundistdiemedienpädagogischeBetreuerinderiPad-KlassenamMaria-Ward-Gym-nasium.IhreKlassehatsie„EmiliaGalotti“vonLessinglesenlassen,zäherStoff.AberdannhabendieSchülerzueinzelnenAspektendes
41
gibtesTests.Wohaktes?Womussnachgeholfenwerden?UmhalbfünfpräsentiertderRechnerdanneinenStundenplanfürdennächstenTag.An40Schulenlerneninzwischenrund13000SchülernachdiesemModell,diemeistenmitüberdurchschnittlichemErfolg.SindComputeralsowirklichdiebesserenLehrer?„Nochnicht“,sagtSebastianThrun.„Aberirgendwannwirdessosein.“
MitMillionenausdemSiliconValleyhateinandererEx-Googler2013die„AltSchool“gegründet,mitbislang400SchülerninSanFran-ciscoundNewYork.DieUnterrichtsräumeverbreitenStart-up-Atmo-sphäre.EsgibtSofas,verschiedeneTischformationen,Konferenz-räume.DasGegenteilvonFrontalunterricht.MikrofoneundKameraszeichnenjedeBewegung,jedeÄußerungderSchülerauf.DieLehrersollensoimNachhineinjedeStundeanalysierenkönnen,wieFußball-trainerdasletzteSpielihrerMannschaft.Allesistmessbar,allesinZahlendarstellbar.DieGründermeinenesernst,wennsiesagen,dassjedesKindhiersein„vollesPotenzialentfalten“solle.DasKindisteineArtDatensatz,derimLaufderJahremithilfederAlgorithmenoptimiertwird.„DerErzieheristfürunsehereindatengestützterDetektiv“,sagteGründerMaxVentillademUS-Magazin„NewYorker“.
KanndasdieZukunftsein?DieethischenundrechtlichenFragenerscheinenriesig.WilleineGesellschaftwirklichgläserneSchüler?WasgeschiehtmitdenLeistungsdaten?Undwas,wenneinAlgorithmuseinemAchtjährigenmit98ProzentWahrscheinlichkeitvoraussagt,dassernichtdasZeughatzumAbitur?DarfderdannnichtaufsGymnasium,weildasnurVerschwendungvonSteuergeldwäre?
jedenSchülerssogenauerfassen,dasssiestetsdiepassendeÜbungvorschlagen–wieeinautomatisierterPrivatlehrer.JörgDraeger,VorstandderBertelsmannStiftung,hältdasfüreinenSchritthinzumehrGerechtigkeit.DasDigitaleversöhnedieForderungnacheinem„Zugangfüralle“mitdemRufnach„Personalisierungfürjeden“,schreibterindemBuch„DiedigitaleBildungsrevolution“.
Dennesstimmtja:Inklusion,Integration–vonderSchulewirdimmermehrverlangt.FrüherschienesinjederKlassesoetwaswieeineMehrheitsgesellschaftzugebenmitKindernausähnlichenVerhält-nissenmitähnlichenFähigkeiten.DaswarschonimmereineFiktion,aberLehrerunterrichtetenfrontalundhofften,dassmöglichstvielhängenbleibtundmöglichstwenigezurückbleiben.HeutesitzendadiekleineLydiamitdemHörgerät,derkleineMassoudausSyrienundderhochbegabteKevin.„WirhabenkeinehomogeneSchülerschaftmehrineinerKlasse“,sagtderDortmunderBildungsforscherWilfriedBos.GleichzeitigsollenLehrerjedesKindoptimalfördern.Wiesolldasgehen,überalleSchulartenhinweg?DieLösungkönnteeinaufmerk-samer,nimmermüderAssistentsein:einAlgorithmus.GutenMorgen,Algo!
IndenUSAtreibtdasgemeinnützigeUnternehmenNewClassroomsdieseIdeemitseinemMathematik-Programm„TeachtoOne“voran.DasKonzeptsetztaufVideos,Spiele,individuellesLernen,malmitLehrer,malinGruppen,allesistdabei.DasHerzjedochistderComputer.DieMaschineüberwachtdieSchülergenau,siemisstständigderenLeis-tungsstand.VorKursbeginnundjedenNachmittagnachdemUnterricht
FlorianGüßgen:„RevolutionimKlassenzimmer“ | sternKATEGORIE TEXT | 3. Preis
42
Rückmeldung“,sagtsie,„hättedasÜbenmitdemiPadnichtdiegewünschtenachhaltigeWirkung.“
FürdieLehrerbringtdieneueZeiteineneueRollemitsich.Früherhießes:Lehrerhabenvormittagsrechtundnachmittagsfrei.Dasistvorbei.InderSchulederZukunftwerdenicht„lehrerzentriert“,sondern„schülerzentriert“gearbeitet,sagendiePioniere.DerLehreristmehrLotse,aufAugenhöhemitdemSchüler.Bernersagt,sieseiofteherLernbegleiterin.SieempfindetdasDigitaledabeinichtalsBedrohung.SielässtsicheinaufdieArbeitsteilungmitderMaschine,demneuenKollegen,dermanchesbesserkann,aberfürvielesebenauchkeinenSinnhat.NatürlichregtsichgegendiesenKollegenWiderstand.Mehrnoch:UmdieFrage,wiegutsichmitdigitalenMedienlernenlässt,tobteinKulturkampf.DerbekanntesteKritikeristManfredSpitzer.DerUlmerHirnforscher,AutorvonBüchernwie„DigitaleDemenz“oder„Cyber-krank“,argumentiert,dasHirnseiwieeinMuskel,dertrainiertwerdenmüsse.GelerntwerdedurchdieAuseinandersetzungmitderechtenWelt.ComputernähmenKinderndasgeistigeTrainingab.EsdrohtenKontrollverlust,schlechtereLeistungen,sogarSucht.„ComputersindLernverhinderungsmaschinen“,soseinUrteil.„DiehabenanSchulennichtsverloren.“WissenschaftlichsindSpitzersAnalysenundseineSchlussfolgerungenumstritten.TatsächlichbelegenUntersuchungen,dassdigitaleGeräteauchablenkenundNotensichverschlechternkönnen.Und2015zeigteeineOECD-Studie,dassselbstLänder,dievielGeldinsDigitalestecken,denAbstandzwischenprivilegiertenundwenigerprivilegiertenSchülernnichtverringernkonnten.Aberdigitale
Ein virtueller Stern als LobInDeutschlandgibtespersonalisiertesLernennurinerstenAnsätzen.DasProgramm„Bettermarks“etwaautomatisiertanetlichendeut-schenSchulenTeiledesMathematikunterrichts.EsstelltdenSchü-lernAufgaben,erläutertLösungswege,prüftderenKönnenspielerisch:Diesmalnur10von14Punkten?Dafürgibt’seinenSmiley,aberkeinenStern.DenLehrernzeigtdieAppdieWissenslückeneinzelnerSchülerunddergesamtenKlasse.SiekönnenihrenUnterrichtdanndaraufausrichten.Danke,KollegeComputer!
ImFachDeutschgibteseinevergleichbareAppnicht.SarahBernerausAugsburghateinsolchesProgrammdahergemeinsammiteinemSchweizerStart-upselbstentwickelt.MitdendigitalenAngebotenderSchulbuchverlageistsienichtzufrieden.DiehängenzusehramPapier,sagtsie.VertiefungsstundeDeutschalso,inder6d.GeradenochhabendieKindergejohlt,jetztbeugensiesichüberihreiPads.Jederübtfürsich,jederetwasanderes.RaffaelbeschäftigtsichmitGrammatik.WielautetderSingularvon„Mäuse“?TabeatrainiertRechtschreibung,NicositztaneinerPrüfungausdemvergangenenJahr.
BernergehtvonTischzuTisch,deutet,erklärt.AufihremLehrer-Ta-bletkannsieverfolgen,wieesbeideneinzelnenKindernvorangeht.EinProgrammverrätesihrmitSignalfarben.Grünheißt:allesklar.Orange:Obacht.Rot:Dermussnochmalran.Arbeitsblätterkopieren,einsammeln,auswerten?Vergangenheit.BernerweistjedemKinddieAufgabenelektronischzu.InderStundekannsiesichaufdasWesent-lichekonzentrieren:nämlicherklärenundhelfen.„Ohneeinekonkrete
43
nichtablenktenoderdenLeistungenschadeten.„WirkanntendasausunserereigenenSchulerfahrungnicht“,sagter.AberdieElternmachtenmit.Fürrund500EurokaufteBüschelseinerTochterAlisaeiniPad.Ja,dieChatnachrichtenwährenddesUnterrichtslenktenab,dieNotenseieninetwagleichgeblieben,sagter.Aber,wichtigersei,dassAlisamitFreudedabeiseiundhochmotiviert.Sieorganisieresichsehrgut.„IchverstehedasalsfortschrittlichesLernen.DasbereitetsiegutaufdieArbeitsweltvor.“
Pädagogik-ProfessorWilfriedBoshältdieAuseinandersetzungmitderdigitalenWeltohnehinfürdieeinzigrichtigeStrategie.„Ichkanndochnichtsotun,alsobesdasDigitalenichtgäbe“,sagter.„EsistwieimStraßenverkehr:IchkanngegenAutossein.Aberwernichtaufsievorbereitetist,wirdtotgefahren.WenndieSchulenichtaufneueMedienvorbereitet,geschiehtmitSchülerndasGleiche.Werkanndasverant-worten?“Esgehedeshalbvorallemdarum,LehrerndieneuenMöglich-keitennäherzubringen.Wieschwierigdasist,weißBosgenau.EristMitautormehrererStudienzurDigitalisierungvonSchule.„UnsereFach-lehrersindnichtausgebildet,imUnterrichtmoderneInformationstech-nologiezuverwenden“,sagter.EsmüsseendlichausreichendFortbil-dungengeben,andenSchulen,zuzumutbarenZeiten.DasDigitalemüssePflichtwerden,injedemFach,injedemLehrplan.
PolitischisteineeinheitlicheStrategieschwerdurchsetzbar.FürSchulensinddieLänderzuständig,derBundkannnurbeiderInfra-strukturhelfen,dasVerhältnisistheikel.Deshalbistesbemerkenswert,dassBildungsministerinWankadieZusagefürInvestitionennunaneine
AbstinenzhältdennochkaumeinExpertefürdierichtigeLösung.Medienpädagogenbemühensicheherumeineverbesserte,altersge-rechteEinbindungderGeräteindenUnterricht,umeineMischungausanalogenunddigitalenLerntechniken.„BlendedLearning“,integriertesLernen,nennensiedas.UndselbstdieOECD-ExpertenfordernneuepädagogischeAnsätze,damitdieTechnikihrPotenzialentfaltenkann.
EinigeKritikerbehauptenauch,beiderDebattegeheesvorrangigumGeschäftemacherei.„DieDigitalisierungderBildungerfolgtinersterLinietechnologie-undökonomiegetrieben–pädagogischeKonzepteentstehenerstalsAbfallprodukt“,schreibenGeraldLembkeundIngoLeipnerinihremBuch„DieLügederdigitalenBildung“.DieSkepsisistweitverbreitet.68ProzentderDeutschenfürchten,dassdigitaleTechno-logienderWirtschaftzuvielEinflussaufLerninhalteerlauben.
Bildung als GeschäftNatürlichgibtesGeschäftsinteressen.IndenUSAistEdTech,Educa-tionTechnology,derletzteSchrei.Bertelsmann,derMutterkonzerndesstern,hatdortundinDeutschlandindendigitalenBildungsmarktinves-tiert,auchinSebastianThrunsWeiterbildungs-PlattformUdacity.DieTelekom,Apple,Microsoft–allewollenverdienen.AnderMaria-Ward-SchuleverwendensievieleApple-Produkte.SarahBernerhatsichsogarvonAppleschulenlassen–weilessonstlangekeinergemachthat.Esistwieimmer:WoderStaatausfällt,übernehmenandere.
UnddieEltern?AnfangshättensieFragengehabt,sagtFrankBüschel,ElternbeiratandemAugsburgerGymnasium.ObdieComputer
FlorianGüßgen:„RevolutionimKlassenzimmer“ | sternKATEGORIE TEXT | 3. Preis
44
verbessertePädagogikkoppelt.Immerhin:ImDezemberwilldieKultus-ministerkonferenzdasKonzept„BildunginderdigitalenWelt“verab-schieden.Lehrersollenkünftig„Medienexperten“sein,sichmitGerätenauskennen,mitProgrammen,mitLehr-undArbeitsplattformen.Auchdasistambitioniert.NurwarErkenntnisinderBildungspolitiknochnieknapp.„WirhabeneinUmsetzungsproblem“,sagtdieSPD-Bildungsex-pertinSaskiaEsken.
Vielleichtwürdeeshelfen,sichbisweilenEvasMorgengebetindenSinnzurufen.Darinheißtes:„WirhabenesinderHand.Ich,du,sie,er,wir...habendiePower,dieseWeltzuverbessern.“
45
Lehrer – einer der wichtigsten Berufe überhaupt“
„
Ungewöhnliche Einblicke in eine Ausbildung, die es in sich hat: „Lehrkraft im Vorbereitungsdienst“ heißt der sehenswerte Dokumentarfilm von Timo Großpietsch, der nun erstmals im NDR Fernsehen gezeigt wurde. Großpietsch hat drei Referendare in Hamburg 18 Monate lang mit der Kamera begleitet – auch in Situationen, in denen bislang noch kein Filmemacher drehen durfte. So war er nicht nur im Unterricht dabei, sondern auch im Seminar für Lehrerausbildung und sogar während der Prüfungen. NDR.de hat mit dem preisgekrönten Dokumentar-filmer über die Dreharbeiten und den Lehrberuf gesprochen.
vonKristinaFestring-HashemZadeh,NDR.de
TimoGroßpietsch:„Lehrkraf timVorbereitungsdienst“ | NDRFernsehenKATEGORIE AUDIO/VIDEO/MULTIMEDIA | 1. Preis
46
DieanderenbeidenProtagonisten,IsabelleRömerundMichaelStock-hammer,habeichselbstangesprochen.IsabellewarmirimSeminaraufgefallen,sieunterrichtetNaturwissenschaftenanderStadtteilschuleFischbek.BesondersbeeindruckendfandichMichaelsGeschichte:EristinMümmelmannsbergaufgewachsenundnuntatsächlichanseineraltenSchuleLehrerfürSportundEnglischgeworden–nachdemerzuvorunteranderemBasketballprofiwar.EristvonAnfangansehrselbstbewusstaufgetreten–unddieKinderfindenihnalletoll.Vorallemfürdiejenigen,diezuHausekeinenfestenHalthaben,istMichaeleineechteBank.
Sie begleiten die „Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst“ 18 Monate lang bis zur Prüfung. Wie entwickeln sie sich?GROSSPIETSCH:AlledreisindanSchuleninsozialeherschwierigenStadtteilen.ZudemstehensievorderHerausforderung,einigeKlassenzuunterrichten,indenendieSchülermitteninderPubertätstecken.DassindKinderimExplosionsmodus,anUnterrichtistzumTeilnichtzudenken.Ichhabemichimmergefragt:WannkommtderBurn-outbeidenReferendaren,diejavonAnfanganalleinundselbstverantwortlichvorderKlassestehen.DochobwohlesgeradeanfangsimmerwiederzuSituationenkommt,indenensiezuverzweifelndrohen,brichtkeinerzusammen.Stattdessenwerdensieimmersouveräner.
Woran liegt das?GROSSPIETSCH:Ichglaube,dasliegtvorallemdaran,dassdieReferendareinihrerAusbildungsogutbegleitetwerden.Die
Wie kamen Sie auf die Idee, einen Film über angehende Lehrer zu machen?TIMOGROSSPIETSCH:SchuleistmeinerAnsichtnacheinOrt,andemsichfürunsereGesellschaftwahnsinnigvielentscheidet.DortgehtesumdasZusammenleben,umToleranzunddarum,KinderaufdieZukunftvorzubereiten.UndLehreristeinerderwichtigstenBerufeüberhaupt.NebendenElternsindesdochdieLehrer,diesichumunsereKinderkümmernunddieWeichenfürihrLebenstellen.ZugleichgibtesunfassbarvieleVorurteileihnengegenüber:Sieseienschlechtausgebildet,überfordert,faul.AberwieläuftdieAusbildungwirklich?AlsDokumentarfilmerhatesmichgereizt,angehendeLehrkräftezubegleitenunddieDingemöglichstunverstelltzuzeigen,sodasssichderZuschauereineigenesBildmachenkann.DaherverzichtetderFilmauchaufeineneinordnendenSprecherkommentar.
Nach welchen Kriterien haben Sie die Referendare für Ihren Film ausgesucht?GROSSPIETSCH:Eswarmirwichtig,unterschiedlichePersönlichkeitenzufinden.FreundlicherweisehatmirdasLandesinstitutfürLehrerbil-dungseineTürengeöffnet.UndsobinichdurchdieSeminaregetingelt,habeunserProjektvorgestellt,LeutebeobachtetundaufmeinenBauchgehört.Einigehabensichdannbeimirgemeldetundgesagt,dasssiegernmitmachenwürden–zumBeispielSebastianKorff,deramKurt-Kör-ber-GymnasiuminHamburg-BillstedtPhysikundMusikunterrichtet.DieseFächerkombinationundseinePersönlichkeitfandichspannend.
47
sein,dieunserenKindernheutebegegnen.IchdenkeindiesemZusam-menhanggernanmeinenehemaligenDeutschlehrer,dermirinvielerleiHinsichtein„RoleModel“war.VerrückterweisesindwirmittlerweileFreundebeiFacebookundwarenletztenssogarzusammenessen.
Hauptseminarleiterin,diesieimUnterrichtbesucht,reflektiertimgemeinsamenGesprächdiejeweiligenStärkenundSchwächenjedesEinzelnen.Beeindruckthatmich,wiepersönlichundauthentischsiedabeicoacht.Esgehtnichtdarum,dassdiedreieinempädagogischen„IdealbildLehrer“nacheifernodereineRollespielen.VielmehrwerdensieinihrereigenenPersönlichkeitgestärkt–unddasschlägtauffallendgutan.Eshatmichwirklicherstaunt,wieprofessionelldieLehreraus-bildungheuteist.Allerdingshabeichmichauchgefragt:WaskommtnachdemReferendariat,wenndieLeutenichtmehrderartengmaschigbegleitetwerden?VermutlichwäresoeinCoachingauchfürLehrer,diebereitsimDienstsind,eineguteSache.
Gab es noch andere Dinge, die Sie im Verlauf der Dreharbeiten erstaunt haben?GROSSPIETSCH:Insgesamtbinicherstauntundfrohdarüber,wasfüreinentiefenEinblickmiralleBeteiligtenindieLehrerausbildunggewährthaben.ZumBeispieldurftenwirsogarwährendderPrüfungendrehen,wasbisdahinnochniemandemerlaubtwurde.DasistnatürlicheinsehrgroßerVertrauensbeweis.
Was zeichnet einen guten Lehrer aus?GROSSPIETSCH:Amwichtigstenistes,glaubeich,denSchülernaufAugenhöhezubegegnen.Sieernstzunehmen,esernstmitihnenzumeinenundkeineSpielchenzutreiben.Wennsiegutsind,könnenLehrereinewichtigeAlternativezudenfraglichenmedialenVorbildern
TimoGroßpietsch:„Lehrkraf timVorbereitungsdienst“ | NDRFernsehenKATEGORIE AUDIO/VIDEO/MULTIMEDIA | 1. Preis
DenFilm„LehrkraftimVorberei-tungsdienst“findenSieinderMediathekdesNDRFernsehens:bit.ly/mp_lehrkraft
48
Making-of: Wie ist der Beitrag „Changemaker“ entstanden?
Wieerdasgenauanstellenwill,weißernochnicht.WasMarcelaberweiß:DerklassischeBildungswegistfürihnpersönlichnichtdasRich-tige.SeinenneuenLebensabschnittplantersichnachdemDo-it-Your-self-Prinzipselber–undzwarnichtirgendwo,sonderninHollywood.Dennda,soMarcelsHoffnung,kannmansichmitdenrichtigenFragen,mitdenrichtigenBekanntschaftenundmiteinbisschenGlückschonhocharbeiten.
ImHerbst2015erfahrenwiraufFacebook:Marcel,einBekanntervonuns,machteinenradikalenNeustart.MarcelkennenwirbisdahinalsfleißigenStudentenundeifrigenBusinessmacher,alsjemand,dersichinVerbändenengagiertundsichauchmalalsVersuchskaninchenfüreinSchlafexperimenthergibt.Dasalles,solesenwirineinemPostingbeiFacebook,willernunaufgeben–fürseinenwahrenTraum:Schau-spielerwerden.
Anna Bühler und Christian Alt über die Idee hinter ihrem Podcast „Einfach machen“.
49AnnaBühler&ChristianAlt:„Changemaker“ | Podcast„Einfachmachen“KATEGORIE AUDIO/VIDEO/MULTIMEDIA | Sonderpreis
GenaudiesesDetailhatunsanMarcelsVorhabensofasziniert:ErsetztallesaufeineKarteundtrautsichzu,sichalles,waseingroßerSchauspielerbraucht,selberbeibringenzukönnen.
WährendMarcelsReisesindwirperSkypeinständigemKontaktmitihmunderselbermachtregelmäßigTonaufnahmenvonseinentägli-chenHerausforderungen:ErnimmtunsmitzuCastingsinLosAngeles,zeichnetRecherchegesprächemitanderenSchauspielernoderCoachesaufunderklärtunsinsDetail,welcheSchritteergeht.Natür-lichsindwirbeeindrucktvonMarcelsWillen,vonseinemSelbstbewusst-sein–trotzdemgehenwirkritischmitdemum,wasunserProtagonistberichtet.
IndenMonatenseinerReisehinterfragenwirdarumimmerwieder:GehtdiesesautodidaktischeKonzeptauf?KannmansichseinengroßenTraum,eineKarriere,ausvielenkleinenStückeneinfachselberzusam-menbasteln?UndwohernimmtMarceldieseEnergie?
InderdrittenEpisodeunseresPodcasts„EinfachMachen“gehtesvorallemdarum,warumMarcelsotickt,wieertickt:WarumverlässtersichnichtmehraufklassischeBildungswege?WarumhaterfürsichkeinenPlatzimdeutschenBildungssystemgefunden?
DasFeedback,dasunsHörerdesPodcastsgeschickthaben,hatunsgezeigt:GenauwieMarcelsindvielejungeLeuteaufderSuchenachalternativenBildungswegen.MarcelsGeschichtehatihnengezeigt,dassdieArbeitdaranaberanstrengendist,undaufwasmansicheinlässt,wennmanseinenTraumganzaufeigeneFaust,außerhalbvongewachsenenStrukturen,verwirklichenwill.
DenPodcast„Einfachmachen“findenSieaufderSeitedesBayerischenRundfunks:bit.ly/mp_change
50
FüreinrohstoffarmesLandwieDeutschlandstelltBildungeinesderzentralenZukunftsthemendar.LeideristunserBildungssystemsehrkomplexundfürLaienoftnurschwerverständlich.JournalistinnenundJournalistenkommthiereinewichtigeRollezu:Siesorgendafür,dassBildungsthemennichtnurinkleinenExpertenzirkeln,sonderninderbreitenÖffentlichkeitwahrgenommen,verstandenunddiskutiertwerden.
UmdieseLeistunganzuerkennen,schreibtdieDeut-scheTelekomStiftungjedesJahrdenMedienpreisBildungsjournalismusaus.ErwirdindenKategorien„Text“sowie„Audio/Video/Multimedia“verliehen.NachwuchsjournalistenkönnensichzudemmiteinemStory-Konzeptbewerben.MehrzumPreisunter
www.telekom-stiftung.de/medienpreis
Der Medienpreis
51
KontaktDeutscheTelekomStiftung53262Bonn
Telefon:0228181-92001Telefax:0228181-92005kontakt@telekom-stiftung.de
DieDeutscheTelekomStiftungwurde2003gegründet,umdenBildungs-,Forschungs-undTechnologiestandortDeutschlandzustärken.MiteinemKapitalvon150MillionenEurogehörtsiezudengroßenUnternehmensstiftungeninDeutschland.DieStiftungengagiertsichfürguteBildunginderdigitalenWeltundkonzentriertsichdabeiaufdieFächerMathematik,Informatik,Naturwissen-schaftenundTechnik(MINT).DieAktivitätenderStiftungsindinvierthematischenSchwerpunktengebündelt:Bildungsmacher,Bildungschancen,Bildungsinnova-tionenundBildungsdialog.ImHandlungsfeldBildungsdialog,unterdasderMedi-enpreisfällt,sinddieVorhabenzusammengefasst,beiderdieStiftungmitPolitikundGesellschaftkooperiert,umBildungbesserzumachen.
www.telekom-stiftung.de
Die Deutsche Telekom Stiftung
52
Medienpreis Bildungs- journalismus