Psychologie und Psychiatrie für ZahnmedizinerInnen 5.12.2015 Robert Hämmig Leitender Arzt...

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Psychologie und Psychiatrie für ZahnmedizinerInnen

5.12.2015

Robert Hämmig

Leitender Arzt Schwerpunkt Sucht

Universitäre Psychiatrische Dienste Bern

Fall (Wiederholung)

• 1. Arbeitshypothese– Patientin leidet unter einer Suchtstörung

• Fragen– Wie ist die Störung im Kontext zu

positionieren?– Co-Morbidität?

Fall

• Die Patientin erzählt:– Sie ist als wohlbehütetes Einzelkind

aufgewachsen– In der Schule war sie eher verträumt, keine

Probleme mit dem Unterricht, wenig gefordert– Medizinstudium hat sie nach einem

Unterbruch erfolgreich abgeschlossen– WB bis zur Fachärztin hat 10 Jahre gedauert

Biographie

• Äussere– Schwangerschaft– Geburt– Kindergarten– Schulen– Studium/Lehre– Militär– Berufswahl– Beruf/Arbeit– Arbeitslosigkeit

Biographie• Innere

– Erwünschtheit– frühkindliche Entwicklung– Primordialsymptome, Neurotizismen– Bezugspersonen, Erziehungsstil– Erleben von Zärtlichkeit– Pubertät, Geschlechtsrolle– Freunde, Peer Group– Reaktionen auf Verlust/Kränkungen– Umgang mit Besitz, Ehrgeiz, Ordnung

Allgemeines LebensgefühlReligion, Hobbies, Interessen

Fall

• Patientin erzählt weiter:– Seit ein paar Jahren ist sie Oberärztin in

einem Spital– Die Arbeit mit Pat. gefällt ihr und fällt ihr leicht– Mit administrativen Sachen ist sie ständig im

Verzug, im Büro herrscht Chaos– Sie liebe ihre Arbeit, hat Angst die Stelle zu

verlieren

Fall

• Und weiter:– Seit Jahren leide sie unter inneren

Spannungen– Als Assistenzärztin habe sie einmal Tramal®

eingenommen, das habe sie sehr entspannt -> regelmässige Einnahme

– Seit einiger Zeit vollständiger sozialer Rückzug, einziger Bezug: Partner

Fall

• … und:– Ihre Situation bedrücke sie sehr– Ihre Gedanken kreisten ständig darum, wie es

weiter gehen soll (mit ihrer Sucht, mit ihrer Arbeit), habe Zukunftsängste

– An Selbstmord denke sie hin und wieder, habe aber keine konkreten Pläne

– Sie schlafe schlecht, habe wenig Appetit– Im gesamten fühle sie sich nicht wohl

Fall

• Ergänzungen der Pat.:– Sie glaube, sie sei ein bisschen „Borderline“– Sie stehe unter einer neuropsychologischen

Abklärung wegen ADHD– Sie befürchte von der Fentanylüberdosierung

einen bleibenden Hirnschaden davon getragen zu haben

Kurzcharakteristik der PatientInnen

• Anamnese– Familienanamnese– Lebensgeschichte der PatientInnen– Primärpersönlichkeit– somatische Anamnese– psychiatrische Anamnese

• Befund– psychischer Befund– somatischer Befund– weitere Befunde

• Beurteilung und Diagnose

Psychischer Befund Äussere Erscheinung, Verhalten und Motorik Sprechverhalten, Sprache Bewusstsein und Vigilanz Orientierung Aufmerksamkeit und Gedächtnis Formales Denken Affektivität Befürchtungen, Ängste und Zwänge Wahn Sinnestäuschungen Ich-Störungen

Äussere Erscheinung, Verhalten und Motorik

• Habitus, körperliche Auffälligkeiten

• Kleidung, Selbstpflege

• Verhalten gegenüber dem Untersucher

• Motorik:– Gangbild, Begleitbewegungen– Sitzen– Bewegungsmuster (Tremor, Zittern etc.)– Mimik, Gestik

Sprechverhalten, Sprache

• Sprechen– Menge– Lautstärke, Betonung– Artikulation– Geschwindigkeit– Rhythmus– Emotionaler Gehalt– Latenz (Pausen)

• Sprachdefizite– Verstehen, Repetieren, Formulieren– Sprachfluss, grammatikalische Korrektheit– Sinngehalt– Lesen

Bewusstseinsstörungen

• Quantitativ– Benommenheit– Somnolenz– Sopor– Koma

• Qualitativ– Bewusstseinstrübung– Bewusstseinseinengung– Bewusstseinsverschiebung /

Bewusstseinserweiterung

Orientierungsstörungen

• Zeitliche Orientierungsstörung

• Örtliche Orientierungsstörung

• Situative Orientierungsstörung

• Orientierungsstörung zur Person

Formale Denkstörungen• Hemmung• Verlangsamung• Umständlichkeit• Einengung, Grübeln• Perseveration• Ideenflüchtiges / sprunghaftes Denken• Sperrung des Denkens /

Gedankenabreissen• Inkohärenz / Zerfahrenheit

– Verlust des logischen Zusammenhangs– Begriffsverschiebung, Begriffszerfall,

Gedankendrängen• Vorbeireden

Affektivität

• Affektarm

• Ratlos, deprimiert, hoffnungslos, ängstlich, euphorisch, dysphorisch, gereizt, innerlich unruhig, klagsam

• Parathym

• Affektlabil, affektinkontinent

• Gestörtes Vitalgefühl, Insuffizienzgefühl, gesteigertes Selbstwertgefühl

Befürchtungen, Ängste und Zwänge

• Misstrauen

• Hypochondrie

• Phobien

• Zwangsgedanken

• Zwangshandlungen

Wahn

• Formale Aspekte– Wahnwahrnehmung (Wahrnehmung mit abnormer

Bedeutung)– Wahneinfall (plötzliche wahnhafte Überzeugung)– Wahngedanken (Verfestigung im Denken)– Systematischer Wahn (vernetzte Wahngedanken)– Wahndynamik (emotionale Beteiligung)

• Inhaltliche Aspekte– Beziehungswahn, Beeinträchtigungs- oder

Verfolgungswahn, Eifersuchtswahn, Schuldwahn, Verarmungswahn, hypochondrischer Wahn, Grössenwahn, andere Wahninhalte

Sinnestäuschungen

• Illusion (Fehldeutung von Sinneseindrücken)

• Pseudohalluzination (Fehlwahrnehmung als solche erkannt)

• Halluzination– Stimmenhören– Optische Halluzinationen– Körperhalluzinationen– Geruchs- & Geschmackshalluzinationen

Ich-Störungen

• Depersonalisation (Störung der Identität)• Derealisation (Umgebung als fremd erlebt)• Gedankenausbreitung (Gedanken gehören nicht

mehr der Person)• Gedankenentzug („gestohlene“ Gedanken)• Gedankeneingebung (Gedanken von aussen

beeinflusst)• Andere Fremdbeeinflussungserlebnisse (Fühlen,

Handeln, Wille)

Fall

• Befund:– Gepflegte, altersentsprechend aussehende

Frau. Wirkt gespannt. Freundlich zugewandt– Flüssige Sprache– Bewusstseinsklar– Allseitig orientiert– Konzentriert auf die Untersuchungssituation,

Gedächtnis ungestört– Keine Störung des formalen Denkens,

Gedankengang flüssig

Fall

• Befund (Fortsetzung)– Wirkt ratlos, etwas herabgestimmt, innerlich

unruhig, beeinträchtigtes Vitalgefühl– Befürchtet einen Hirnschaden von der

Überdosierung erlitten zu haben, Zukunftsängste

– Kein Wahn – Keine Sinnestäuschungen– Keine Ich-Störungen

Fall: Arbeitshypothesen

• Suchtstörung

• Depression

• ADHD im Erwachsenenalter

• Keine Persönlichkeitsstörung („Borderline“)

Interviewer Fähigkeiten und modifizierende Faktoren

• Einleiten des Interviews

• Interview als klinische Prozedur

• Fragebogen

• Notizen machen

• Wichtigkeit von eingeschränkten Aktivitäten

• Themenwechsel

• Fragen stellen

Fragetypen

• Offene Fragen (Eröffnungsfrage (z.B. „Wie geht es Ihnen?“, bei Problemen, die den Patienten emotional bewegen)

• Gezielte Fragen (genauere Exploration von Beschwerden und Problemen)

• Geschlossene Fragen (exakte Symptomexploration, Notfallsituation)

• Suggestive Fragen (nicht verwenden!)

Erzählung des Patienten unterstützen: spezifische

Interview Techniken

• Distanz wahren

• Rapport herstellen

• Unterstützen

• Interpretation

• Zusammenfassen

Nicht-verbale Kommunikation

• Berührung

• Körpersprache– Depression– Ärger und Feindlichkeit– Angst

• Kleidung und persönliche Hygiene

• Schweigen

Schwachpunkte der Gesprächsführung

• Unterbrechen

• Mangelnde Strukturierung

• Einengung des Patienten

• Nichteingehen auf emotionale Äusserungen

• Unklare und missverständliche Erklärungen

Kommunikation

• Lateinisch communicare „teilen, mitteilen, teilnehmen lassen; gemeinsam machen, vereinigen“

• Aufnahme, Austausch und Übermittlung von Informationen zwischen zwei oder mehrerer Personen

• wechselseitige Übermitteln von Daten oder von Signalen

Signale

• Sprache• Gestik• Mimik• Schrift, Bild oder Musik • Autonome Signale

• Um die Signale zu verstehen, braucht es eine gemeinsame Basis -> Kultur

Autonome Signale

• Erröten (Schamröte, Zornesröte)

• Erblasen (Angst, Zorn)

• Pupillenreaktion• Zittern• Schwitzen• Geruch• etc.

Süditalienisches „Nein“

Desmond Morris: Der Mensch mit dem wir leben. Droemer Knaur 1978

Barriere-Signale

Desmond Morris: Der Mensch mit dem wir leben. Droemer Knaur 1978

Abstand

Desmond Morris: Der Mensch mit dem wir leben. Droemer Knaur 1978

Amygdala: die unbewusste Prüfstelle

Little shop of horrors (Frank Oz, 1986)

Strukturelle Probleme

• Asymmetrien in der Kommunikation:– Begrüssung im Normalleben stehend mit

Augenkontakt– Nähe und Distanz– Vermittlung von komplexen technischen

Erklärungen durch Experten an Laien– Verbale Kommunikation durch Behandlung

dem Patienten unmöglich– „Verkleideter“ Experte und „normal“

gekleideter Patient

Hinweise

• Machtgefälle abbauen – im Dienste einer besseren Kooperation

(compliance, adherence)– zur Angstreduktion

• Gespräch im Sitzen mit gleicher Augenhöhe vor der Behandlung

• Überprüfen, ob die Botschaft angekommen ist

Subjektive Faktoren der Wahrnehmung

• Selektion

• Generalisierung

• Kategorisierung

Wahrnehmung ist lernbar!

Psychiatrie

• Wahrnehmung des Untersuchers hat eine Schlüsselfunktion

• Probleme:– Quantifizierung– Qualifizierung

Quantifizierung

• Ausschaltung des „Wahrnehmungsfehler“ durch vom Untersucher unabhängigePsychologische Testverfahren

Qualifizierung

• Begriff der Normalität

• Wo liegt die Grenze zwischen Normalität und Abnormalität?