Post on 18-Mar-2016
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poetenladen
Uhren zogen mich aufUlrich Koch
Gedichte
Erste Auflage 2012© 2012 poetenladen, LeipzigAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-940691-37-8
Umschlaggestaltung: Miriam ZedeliusDruck: Pöge Druck, LeipzigPrinted in Germany
poetenladen, Blumenstraße 25, 04155 Leipzig, Germanywww.poetenladen-der-verlag.dewww.poetenladen.deverlag@poetenladen.de
Meinen Eltern
Weißt du, was wir vergessen haben?Wir haben vergessen, was unser Geheimnis ist.Jetzt weiß es jeder.
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1Lange hatte ich,
der ich Lieder magund keine Menschen,
die Wahrnehmung nicht mehr bemerkt,dann traten die Dinge
aus dem Dunkel
und betasteten michwie Blinde,
bis ich wieder sichtbar war,
und wenn du dies liest,bist du am Leben,
ich habe es für dich
nicht gestrichen.
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ProLoG
Wo die Musen gelegen hatten,war das Gras noch warmvon den Klageweibern.
Weh!, rief ich, weh!, noch sind die Sakralbauten der Lyrik nicht getrocknet,
da platzen uns Raumfahrern schon die Helmewie Pusteblumen!
Und verbrachte vier Drittelmeines Lebens damit,
Bach zu hören
und zuzusehn,wie sich die Engel
an die Steinwürfe gewöhnten.
Die MUse (№1)Seit kurzem hat sie
dieses Ticken im Bauch, regelmäßigwie ihr Atem, der abends eineStufe nach der anderen nimmt,
wenn sie sich dieTreppen raufschleppt.
Wie sie da so vorm Fernseher hockt,krümmt sich ihr Schatten, ihr Kleidhat sie über die offene Schranktür
geworfen.
Heute Abend bringe ich ihreine kleine Sinnestäuschung mit,die sich ins kollektive Gedächtniseines Bienenvolks gebrannt hat,eine süße Illusion, bevor es uns
wieder in die Sprache verschlägt.
Aber da betrachtet sie schon wiederihre für morgen frisch lackierten Fingernägel,
diese Tonnengewölbe überirdischem Besitz,
der sich rauswächst,die sie jetzt trockenblästmit angespitzten Lippen.
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Die MUse (№2)An diesem schönen klaren Morgen
mit herrlich dampfendem Flüssigteer auf derabgesperrten Bundesstraße
und einer herrenlosen Rüttelmaschine,die sich, vorbei an den drei Baggern,
die mit langen Hälsen ausdem Straßengraben trinken,gut gelaunt hüschwingend
dem Friedhof nähert, lasse ich sie nochein wenig weiter schlafen.
So sieht sie nicht, wie im Nachbargartendie Nachbarswitwe (Schürze
hochgebundenes Haar) die blutigeWäsche auängt: die Kissenhüllen
von den geschlachtetenKaninchen zieht.
Strom- und Wasserzählerschlagen die Augen auf, und
aus dem Laubhaufenunsrer Kleidersteigt Rauch.
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Uhren zoGen Mich aUf
Einmal trat ich auf eine Ameisenstraßeund löschte den Wald.
Ich saß auf einem Strohballenund wusste noch nichts
von der Strichliste meiner Tage.Mein Herz, hieß es,
habe man auf einer Drosselschmiede gefunden,und der Gesang
kam schon näher.Noch verschlossen,
fand mich das Gedicht.
Eine Programmatik, von der er manchmal träumte: Der Grammatik abschwö-ren. Die Trauer um die Tiere der Kindheit zur Staatstrauer erklären. UnsereVornamen zu Arbeitstiteln machen. Morgens gleich nach dem AufstehnVolksaufstandtänze üben. Mit der flachen Hand über die Waldränder streichenund sie danach ans Ohr halten. Einen Schneeball kneten, bis er wieder nachApfel riecht. Das Gesehene aus den Brillengläsern putzen. Vorm leergefischtenSpiegel die Lu anhalten. Das Haar bis auf den Kamm abnagen. Jedem BlattPapier die Pulsadern öffnen. Im Zoo die Bananen verweigern. Allen Katzen ihreHintergedanken verraten.
NACH DEN WORTEN
EIN LIED (S. 47): »Ich habe Schmerzen wie eine nasse Katze« – In einemPflegeheim im Süd badi schen wiederholt gehörte Redewendung.
DER GRABEN (S. 51): Nach Hans Christian Andersen.
JULIMOND (S. 66): Nach Philipp Otto Runge.
DIE ELTERN DES KüNSTLERS (S. 67): Nach Otto Dix.
AUS DER EBENE (S. 70): Für Elke Erb.
UHREN ZOGEN MICH AUF (S. 97): Die Drosselschmiede ist ein großer Stein mit flacher Oberseite, auf dem u.a. die Singdrossel Schneckengehäuse zertrümmert,um an ihr Inneres zu kommen.
ANMERKUNGEN
1
PROLOG 9DIE MUSE (№1) 10DIE MUSE (№2) 11DIE MUSE (№3) 12DIE MUSE (№4) 13DIE MUSE (№5) 14DIE MUSE (№6) 15DIE MUSE (№7) 16DIE MUSE (№8) 17DIE MUSE (№9) 18
2
SCHANDE DEN DöRFERN, SCHANDE DEN DöRFLERN 21BLAUER MONTAG 24ICH WUSSTE GAR NICHT, DASS ICH MANCHMAL BETE 25IMMER, WENN ICH DAS MEER SEHE 26NACHMITTäGLICHER AUGENBLICK 27WOHER WIR KOMMEN 28ABSCHIED VON DEN JUNGEN FRAUEN 29DISCOUNTER 30ZWISCHEN ZWEI REIFENWECHSELN 31SCREENSHOT 32KLEINES BESTIARIUM 33DANKE 34
3
ECHO 37WOFüR 38
INHALT
VAGE ERINNERUNGEN 40DIE FEINERE ZEIT 41AUS EINEM LEEREN TAGEBUCH 42LEBENSLAUF 43FRüHE PRäGUNG 44HAUSAUFGABEN 45AM BAGGERSEE 46EIN LIED 47MATERIALIEN FüR EINE ZWEITE KINDHEIT 48DER GRABEN 51DIESER WURM, DER ICH WAR 52UMZUG 53ZUR SEITE 54MEINER KAMERA 55
4
LANGSAMER 59FORMLOSE BEGRüSSUNG 60LEIM 61LA OLA 62NACH DEM FEST 64DURCH DEN SPRUNG DER SCHALLPLATTE 65JULIMOND 66DIE ELTERN DES KüNSTLERS 67ALS ICH EIN WUNDERKNABE WAR 68AUS DER EBENE 70LEISE SANG 71MEINE EINZIGE LIEBE 72WAS DU NICHT SIEHST 73UNSER HALB AUTOBIOGRAPHISCHES LEBEN 74TRAUM 76
5
PENDLERSILBEN 79ES GIBT DIE ERINNERUNG 80DER KAISER SPRICHT 82DEZEMBERMORGEN 83IMBISS 84CLUBHEIM 85NACH DEM VERLORENEN ENDSPIEL 86KARTE VOM MEER 87DIE SCHöNSTEN STRäNDE 88FRüHLINGSVORBEREITUNGEN 89SCHLEICHFAHRT 90RADFAHRT AM ENDE DES SOMMERS 91FRüHAUFSTEHER 92HIMMELFAHRT 93NEUES NOTIZBUCH 94NACHSAISON 96UHREN ZOGEN MICH AUF 97
NACH DEN WORTEN 99ANMERKUNGEN 100BIOGRAPHISCHE NOTIZ 104
ULRICH KOCH wurde 1966 in Winsen an der Luhe geboren und lebt heute inder Nähe von Hamburg. Er veröffentlichte Gedichtbände beim Residenz Verlagund in der Lyrikedition 2000 (zuletzt: Lang ist ein kurzes Wort). Ausgezeichnetwurde er unter anderem mit dem Förderpreis des Stuttgarter Schristeller -hauses (2007), dem Hamburger Förderpreis für Literatur (2011) und demHugo-Ball-Förderpreis (2011).