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© 2010 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe der Quelle
Mannheimer Montag-
mittag- Vorlesungen
Politische Streitfragen in zeitgeschichtlicher Perspektive
Verstöße und Verstoßung Thilo Sarrazins. Zur Begrenzung politischer Meinungsfreiheit
in Deutschland
Egbert Jahn
25. Oktober 2010 Adresse des Autors: Prof. Dr. em. Egbert Jahn Universität Mannheim Lehrstuhl für Politische Wissenschaft und Zeitgeschichte Seminargebäude A 5 D-68131 Mannheim Tel.: +49-621 181 2842 Fax: +49-621-181 2845 Vorlesungs-E-mail: streitfragen@uni-mannheim.de www.fkks.uni-mannheim.de/montagsvorlesung.index.html
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Zusammenfassung
Im Abstand von wenigen Jahren reißt immer wieder eine tiefe Kluft zwischen der politischen
korrekten Meinung, die von fast der gesamten politischen und gesellschaftlichen Führungs-
schicht und einem großen Teil der Bevölkerung öffentlich vertreten wird, und der Stamm-
tischmeinung, die von einer starken Minderheit oder manchmal gar der Mehrheit der Bevölke-
rung nur halböffentlich geäußert wird, in Deutschland auf. Nun hat Thilo Sarrazin Ende Au-
gust 2010 mit seinem Buch und mit wenigen Sätzen in Interviews gegen die herrschenden
Normen der „Gemeinschaft der Demokraten“ verstoßen und soll deshalb aus ihr verstoßen
werden. Aus dem Vorstand der Deutschen Bundesbank wurde er bereits Anfang September
verdrängt, aus der SPD soll er noch in den kommenden Monaten ausgeschlossen werden.
Die tiefe Kluft zwischen politischer Klasse und Stammtisch kann auf die Dauer gefährlich für
die Demokratie in Deutschland werden und das bestehende Parteiensystem erschüttern. Sie
könnte dadurch verringert werden, daß die politischen Ängste und Vorstellungen großer Teile
der Gesellschaft in den Medien, in den Verbänden und Parteien ohne die üblichen rituellen
Formeln der Ächtung („Rassismus“, „Ausländerfeindlichkeit“, „Volksverhetzung“, „Faschis-
mus“) öffentlich diskutiert und ihre jeweiligen Irrtümer und Gedankenfehler sachlich aufge-
zeigt werden, anstatt einem Thilo Sarrazin zu empfehlen, in die NPD überzutreten oder eine
neue rechtsradikale Partei zu gründen, dies in der gefährlichen und eitlen Hoffnung, ihn damit
politisch bedeutungslos zu machen. Ein überzeugendes Konzept der Integration von türki-
schen und arabischen Muslimen und von sozialen Unterschichten wäre die einzig richtige
Antwort auf Sarrazins Provokationen. Der Ausschluß von Außenseitern aus den etablierten
Institutionen könnte auf die Dauer ein verhängnisvoller Weg sein.
Von unsäglichen Herabwürdigungen sozialer und ethnisch-religiöser Gruppen abgesehen ent-
hält das Buch zahlreiche wichtige politische Denkanstöße für einen Kurswechsel in der Ein-
wanderungs-, Sozial-, Bildungs- und Integrationspolitik. Deutschland ist seit Jahrzehnten ein
Einwanderungsland, in dem der Anteil der muttersprachlich deutschen Bevölkerung in Zu-
kunft drastisch abnehmen wird. Die „sprachliche Integration“ wird nur mäßige Erfolge bei der
Deutschwerdung von Angehörigen eingebürgerter ethnischer Gruppen mit anderer Mutter-
sprache zeitigen. Freiwillige sprachliche Assimilation und sprachliche Differenz sind glei-
chermaßen in einer liberalen Gesellschaft legitim. Aber das Migrationstempo ist heute we-
sentlich schneller als das Assimilationstempo. Die ethnischen Deutschen können nicht erwar-
ten, daß Eltern anderer Ethnizität deutsche Kinder zeugen und erziehen. Sie müssen selbst
ihre Geburtenenthaltung beenden, wollen sie nicht zur Minderheit in Deutschland werden.
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1 Man wird ja doch wohl noch sagen dürfen
Seit dem Vorabdruck des Buches „Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel
setzen“ von Thilo Sarrazin in „Der Spiegel“ und in der „Bild“-Zeitung am 23. August 2010
beherrschte die Kontroverse um Sarrazins Thesen zu den demographischen und ethno-
religiösen Veränderungen in Deutschland, zur Fehlentwicklung des Sozialstaats, zur Senkung
des Bildungsniveaus der Auszubildenden und Abiturienten, zur mangelhaften Integration von
muslimischen Immigranten in Deutschland und Europa sowie insbesondere um einige seiner
provokanten Formulierungen und Entgleisungen in Interviews wochenlang die Titelseiten der
Zeitungen, der Meldungen in Rundfunk und Fernsehen und vor allem zahlreiche Talk-Shows.
Wieder einmal öffnete sich in Deutschland rasch eine tiefe Kluft zwischen der politischen
korrekten Meinung, die von fast der gesamten politischen und gesellschaftlichen Führungs-
schicht und einem Teil der Bevölkerung öffentlich vertreten wird, und der Stammtischmei-
nung, die von einer starken Minderheit oder manchmal gar der Mehrheit der Bevölkerung nur
halböffentlich in Meinungsumfragen, Leser- bzw. Zuhörerbriefen und Anrufen geäußert wird.
Die Verurteilung der Äußerungen Thilo Sarrazins in der politischen Klasse ist fast einhellig.
Nach Ansicht zahlreicher Politiker aus allen Bundestagsparteien hat Thilo Sarrazin mit eini-
gen Thesen zur Vererblichkeit von Intelligenz sowie mit wenigen Sätzen in Interviews gegen
die herrschenden Normen der „Gemeinschaft der Demokraten“ verstoßen und soll deshalb aus
ihr verstoßen werden. Aus dem Vorstand der Deutschen Bundesbank, dem er auf Vorschlag
des Berliner Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit seit Mai 2009 angehörte, wurde er
bereits Anfang September mit Wirkung zum Ende desselben Monats verdrängt, aus der SPD
soll er möglichst bald ausgeschlossen werden.
Demgegenüber ist die Zustimmung zu Sarrazins Thesen überwältigend. Beispielsweise
stimmten während der Sendung „hart aber fair“ Frank Plasbergs am 1.September 84 Prozent
der Zuschauer Sarrazins Thesen zu, nur 16 Prozent nicht. Dabei bleibt jedoch unklar, welche
seiner Thesen denjenigen bekannt sind, die Partei für ihn ergreifen, und welche darunter tat-
sächlich Zustimmung finden. Viele Parteigänger Sarrazins treten auch nur dafür ein, daß das,
was er sagt und schreibt, öffentlich gesagt werden darf, ohne daß es sogleich geächtet und in
die Ecke verwerflichen Rassismus und Nationalsozialismus gestellt wird. Vermutlich spielen
Sarrazins Ansichten über die soziale Verteilung und die Vererbung von Intelligenz bei seinen
Parteigängern gar keine Rolle, entscheidend für sie ist seine scharfe Kritik an dem zu großzü-
gigen Sozialstaat und an der als zu groß empfundenen Zahl unangepaßter, nicht integrierter
oder integrierbarer muslimischer Zuwanderer.
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Zur Debatte steht nicht die Meinungsfreiheit in Deutschland schlechthin. Kein führender Poli-
tiker fordert eine strafrechtliche Ahndung der Äußerungen Sarrazins wie etwa im Falle einer
Leugnung des millionenfachen Massenmordes an den Juden. Keine von den Regierenden ge-
dungene Gewalttäter bedrohen Gesundheit oder Leben Sarrazins, womit Andersdenkende in
manch anderen Ländern rechnen müssen. Niemand bestreitet das Recht Sarrazins, seine An-
sichten öffentlich zu vertreten. Er hat auch einen renommierten Verlag für die Herausgabe
seines Buches gefunden, der dafür nicht von anderen Autoren boykottiert wird. Wohl aber
wurde durch die Medien und die rigiden politischen Verurteilungen eine politische Atmosphä-
re erzeugt, in der private Morddrohungen Polizeischutz für den Buchautor erforderlich ma-
chen, und in der zahlreiche private Strafanzeigen wegen Volksverhetzung gestellt werden,
auch wenn sie vermutlich erfolglos bleiben werden.
Worum es geht, ist, ob Sarrazin und Gleichgesinnte aus dem Kreis der seriösen und etablier-
ten „Gemeinschaft der Demokraten“ verbannt und in die Randgruppe rechtsextremer Publizi-
sten und Politiker verdrängt werden sollen, die aus den Foren der öffentlichen Meinungsbil-
dung in Deutschland, aus den beiden Volksparteien und den anderen etablierten Parteien, vor
allem aber aus den Fernseh- und Hörfunkmedien und aus den Erwachsenenbildungseinrich-
tungen ausgeschlossen ist. Es entstand jedenfalls der Eindruck, daß Sarrazin zwei Wochen
lang in allen Talksshows vorgeführt und an den Pranger gestellt, von prominenten Politikern
und Publizisten scharf verurteilt und von jungen, attraktiven, intelligenten und perfekt deutsch
sprechenden Musliminnen sicht- und hörbar widerlegt werden sollte, um ihn anschließend wie
alle früheren politischen Tabubrecher in der Versenkung verschwinden zu lassen.
Die vielfach wiederholte Aufforderung an Sarrazin, sich um eine Aufnahme in die NPD zu
bewerben oder eine eigene, rechtspopulistische Partei zu gründen, von der man selbstgefällig
und leichtfertig vermutet, daß sie rasch ins politische Abseits und in der Bedeutungslosigkeit
versinken wird, ist nichts anderes als ein Versuch, Sarrazins Auffassungen aus dem als demo-
kratisch legitim angesehenen Meinungsspektrum zu verbannen. Insofern geht es um kein
Verbot von Sarrazins Meinungen, wohl aber um eine drastische Begrenzung der Meinungs-
freiheit in den etablierten demokratischen Parteien, Verbänden und staatlichen Verwaltungen.
Damit geht es durchaus um das, was man sagen darf und was nicht, um in der etablierten Öf-
fentlichkeit als ernst zu nehmender Gesprächspartner und politischer Konkurrent anerkannt zu
werden oder nicht. Auch in vielen Einrichtungen dürfte eine Stellungnahme zugunsten von
Sarrazin mit beträchtlichen beruflichen oder gesellschaftlichen Nachteilen verbunden sein, so
daß die Sorge, manches nicht öffentlich sagen zu dürfen, nicht völlig unberechtigt ist.
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Zweifellos muß eine demokratische, liberale Gesellschaft Regeln setzen, die nicht unter Strafe
des Ausstoßes aus dem allgemein akzeptierten pluralistischen Meinungsspektrums verletzt
werden dürfen. Die Streitfrage, die hier zu diskutieren ist, ist, ob Sarrazins Kernthesen in sei-
nem Buch und seine verbalen Entgleisungen es rechtfertigen, ihn aus dem Kreis der öffentlich
ernst zu nehmenden politischen Meinungsvertreter auszuschließen und ihn in die rechtsextre-
me Ecke zu stellen, damit indirekt auch die große Mehrheit seiner Fürsprecher.
Bei der Kontroverse um Sarrazin lassen sich mindestens sechs recht verschiedene Streitpunkte
und Fragen benennen: Erstens, ist ein prominenter Finanzexperte und Politiker wie Sarrazin
mit seinen neuerdings in einem Buch und in Interviews zugespitzten Äußerungen innerhalb
der etablierten Institutionen (hier Deutsche Bundesbank und Sozialdemokratische Partei
Deutschlands) trag- und tolerierbar oder nicht? Zweitens, ist die offensichtliche Kluft zwi-
schen den vorherrschenden Meinungen in der politischen Klasse einerseits und in einem gro-
ßen Teil, wenn nicht gar in der Mehrheit der Bevölkerung andererseits auf die Dauer eine
Gefahr für die Demokratie in Deutschland? Drittens, verweist Sarrazin im wesentlichen sach-
gerecht bei aller Strittigkeit von manchen empirischen Daten und Befunden auf wesentliche,
vor allem an ihnen selbst liegende Integrationsdefizite von Migranten, und zwar fast aus-
schließlich von türkischen und arabischen Muslimen, nicht von Migranten schlechthin? Vier-
tens, sind seine Erklärungsweisen dieser Integrationsdefizite mit wissenschaftlichen Erkennt-
nissen über die Vererbung von Intelligenz in sozialen Schichten, Ethnien und religiösen Kul-
turen vereinbar? Fünftens, sind seine Vorschläge zur Überwindung der Integrationsdefizite
eine Bereicherung für die politische Debatte und Entscheidungsfindung? Sechstens, drohen
die autochthonen Deutschen langfristig bereits nach wenigen Generationen zu einer Minder-
heit in der Bevölkerung Deutschlands zu werden und sollte dies durch eine erheblich verände-
rungsbedürftige deutsche Politik verhindert werden?
Im Rahmen der heutigen Vorlesung reicht nicht die Zeit aus, all die sozialen, ökonomischen,
bildungspolitischen Argumente und die Intelligenzvererbungslehre Sarrazins zu diskutieren.
Es sollen deshalb nur die Umgangsweise mit seiner Person und seinem Buch sowie die
sprachlich-ethnopolitischen Aspekte von Sarrazins Befunden und Argumenten näher erörtert
werden. Auf den heftigen öffentlichen Streit über die sozial und ethnisch unterschiedliche
Vererbung von Intelligenz braucht hier nicht näher eingegangen zu werden, weil selbst dann,
wenn Intelligenz in allen Schichten und Ethnien gleich verteilt wäre, dies nicht viel an den
stichhaltigen Argumenten Sarrazins über die ungleiche soziale und ethnische Verteilung von
Bildungsanreizen und bildungshinderlichen familiären Verhältnissen ändert, außerdem nichts
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an der Tendenz zur weiteren Verringerung der Zahl des Anteils der muttersprachlichen Deut-
schen an der Bevölkerung Deutschlands. Außerdem kann an der Tatsache riesiger Begabungs-
reserven, die noch nicht für den ökonomischen und soziokulturellen Fortschritt genutzt wer-
den, kein Zweifel bestehen, auch wenn Sarrazin sie als geringer ansieht als andere.
2 Mutiger Tabubrecher oder rassistischer Demagoge?
Auf der einen Seite wird die etablierte öffentliche Meinung gern als bloß veröffentlichte de-
nunziert, weil sie manchmal mit den in großen Teilen der Bevölkerung, hin und wieder auch
einer starken Mehrheit, nicht übereinstimmt. Die demoskopisch ermittelte, in den Medien
kaum vertretene Meinung eines großen Teils der Bevölkerung gibt dabei vor, das zu artikulie-
ren, was die meisten Menschen, selbst im Establishment, wirklich denken, nicht das, was sie
denken „müssen“. Dabei wird Deutschland wehleidig zur quasi totalitären Gesellschaft stili-
siert, in der eine kleine Machtelite zynisch ein ideologisches Weltbild formuliert, das die
wirklichen gesellschaftlichen Verhältnisse verzerre und wahrheitswidrig schönrede und die
selbst oft nicht glaube, was sie sage, ihre konforme Meinung aber der Masse der angepaßten
Funktionsträger diktiere. Der im Geiste der derzeitigen political correctness Verfemte wird
von Volkesstimme nicht selten als mutiger Tabubrecher gefeiert, der endlich einmal die
Wahrheit über die mißlingende Integration und die zu große Zahl der Muslime gesagt habe.
„Der Spiegel“ titelte am 6. September gar „Volksheld Sarrazin“, um ihn gleichzeitig im Un-
tertitel als Provokateur abzuqualifizieren, dem viele Deutsche verfallen seien, was die Massen
ja gemeinhin nur bei Demagogen und Diktatoren zu tun pflegen, nicht bei Demokraten. Sarra-
zin selbst hat „ein Heer von Integrationsbeauftragten, Islamforschern, Soziologen, Politolo-
gen, Verbandsvertretern und eine Schar von naiven Politikern“ im Visier (S. 279). Nebenbei:
das klingt ganz nach Helmut Schmidt-Schnauze, der seinerzeit gelegentlich verächtlich von
den Soziologen, Politologen und anderen Ideologen sprach.
Auf der anderen Seite wird geargwöhnt, daß an den Stammtischen dumpfe, ausländerfeindli-
che und rassistische Vorurteile aus der vom Nationalsozialismus mitgeprägten deutschen Ver-
gangenheit gepflegt werden, die von einer Verunsicherung der deutschen Mittelschicht und
Gesellschaft durch die Herausforderungen der Globalisierung zeugen und die neuerdings von
Sarrazin bedient würden. Es spricht viel dafür, daß Thilo Sarrazin ein einziger Satz in einem
Interview mit der „Welt am Sonntag“ vom 28. August, den er selbst wenige Tage später in der
Sendung „Hart aber fair“ als Riesenunfug charakterisierte, ihm das politische Genick in der
öffentlichen Meinung gebrochen hat: „Alle Juden haben ein bestimmtes Gen, Basken haben
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bestimmte Gene, die sie von anderen unterscheiden.“ Hätte er statt Juden Ostfriesen oder Is-
länder gesagt, so meinte Sarrazin nun, so hätte das kaum Aufsehen erregt. So aber geriet Sar-
razin trotz seiner zahlreichen lobenden Passagen in seinem Buch über die Intelligenz der Ju-
den und ihre kulturelle, wirtschaftliche und gesellschaftliche Rolle in Deutschland und der
Welt in den Verdacht, dem Antisemitismus und Rassismus Vorschub zu leisten. Es rettete ihn
nicht, daß er vehement für die Aufnahme von möglichst vielen osteuropäischen Juden in
Deutschland plädiert, weil sie im Durchschnitt intelligenter seien als die Deutschen. Seine
zahlreichen muslimophoben Äußerungen hatten zwar heftige Kritik an seinem Buch und sei-
nen Interviews hervorgerufen, aber mit dem Satz über das jüdische Gen überschritt Sarrazin
nach Ansicht führender Politiker in Regierung und in SPD „die rote Linie“, die seine Ver-
drängung aus der Deutschen Bundesbank und möglicherweise auch aus der SPD auslöste. Die
Parteiführung der SPD sah ihn nun „in der Nähe nationalsozialistischer Theorien“.
Die fünf Kollegen Sarrazins im Vorstand der Deutschen Bundesbank erklärten zunächst, die
politischen Äußerungen Sarrazins und sein Buch seien seine Privatangelegenheit. Dann mein-
ten sie, er habe mit seinen Provokationen „das Gebot der politischen Mäßigung verletzt“ und
den Betriebsfrieden in der Bank beeinträchtigt. Deshalb beantragten sie seine Amtsenthebung
beim Bundespräsidenten Christian Wulff, nachdem dieser selbst und die Bundeskanzlerin
Angela Merkel ihnen dies in öffentlichen Stellungnahmen nahegelegt hatten. Da aber eine
Abberufung auf erhebliche rechtliche Bedenken stieß, vermittelte das Bundespräsidialamt.
Die Bundesbank nahm ihre Vorwürfe an Sarrazin zurück, zog ihren Entlassungsantrag zurück
und sagte ihm eine großzügige Pensionsregelung zu, woraufhin Sarrazin selbst den Bundes-
präsidenten um die Beendigung seiner Amtstätigkeit bei der Bundesbank bat. Bei diesem gan-
zen Vorgang der faktisch erzwungenen Amtsenthebung Sarrazins hinterließen der Vorstand
der Deutschen Bundesbank, der Bundespräsident und die Bundeskanzlerin ein äußerst be-
denkliches Bild im Umgang mit der politischen Meinungsfreiheit von Amtsinhabern an he-
rausgehobener Stelle. Zum Verlauf des Streits über Sarrazin hat die ehemalige Bundesbeauf-
tragte für Ausländerfragen Cornelia Schmalz-Jacobsen in einem Leserbrief an die FAZ vom
11.9. Überzeugendes geschrieben: „Was immer Sarrazin geschrieben hat – Wahres, Halbwah-
res, Unsinniges und vielleicht auch Unsägliches – die Reflexe der politischen Klasse sind
vielfach erschreckender als Sarrazins Zitate. Kollektive Wut, Abscheu im Chor bis in die
höchsten Spitzen unseres Staates – Augenmaß und Sinn für Balance bleiben auf der Strecke.“
Zahllose Kommentatoren qualifizierten, ohne sich im einzelnen mit Sarrazins Thesen und
ihren ausführlichen inhaltlichen Begründungen auseinanderzusetzen, pauschal oder anhand
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einiger Zitate diese als „rassistisch“, „nationalsozialistisch“, „rechtspopulistisch“, „rechtsex-
trem“, „demagogisch“ im Geiste der „Rassenhygiene“ und „Eugenik“ und als „Verstöße ge-
gen die Menschenwürde“, oft ohne eingestandenermaßen sein Buch gelesen zu haben. Auf
dem Höhepunkt der Sarrazin-Debatte leiteten SPD-Gliederungen auf allen Ebenen bis zum
Bundesvorstand mit unterschiedlichen Begründungen ein Parteiordnungsverfahren mit dem
Ziel ein, Sarrazin aus der Partei auszuschließen. Der Parteivorstand erklärte, Sarrazins Thesen
stünden „diametral den sozialdemokratischen Überzeugungen entgegen“ und befänden sich
teils in der „Nähe zu nationalsozialistischen Theorien.“
Gegen die diskreditierenden Qualifizierungen des Buches von Sarrazin und gegen seine Äch-
tung traten aber auch einige wenige Publizisten und Wissenschaftler (etwa Necla Kelek,
Ralph Giordano, Arnulf Baring, Peter Sloterdijk) und Politiker auf, und in auffallender Weise
vor allem auch prominente ehemalige Amtsträger der SPD wie Klaus von Dohnanyi, Peter
Struck, Helmut Schmidt, Wolfgang Clement und Peer Steinbrück, ohne daß sie sich zu den
Inhalten von Sarrazins Buch näher äußerten, während die aktiven Amtsträger in den Chor der
Verdammung Sarrazins und der Vernichtung seines Rufes als seriöser sozialdemokratischer
Politiker und Autor einstimmten oder schwiegen. Als Entgegenkommen an die mehrheitliche
Volksmeinung kann man ansehen, daß Sarrazin zugebilligt wurde, einige Integrationsschwie-
rigkeiten von Muslimen deutlich aufgezeigt zu haben, wobei er aber die vielen sichtbaren
Erfolge der Integration nicht recht würdige.
3 Die gefährliche gesellschaftliche Spaltung in politische Korrektheit und Stammtischwahrheit
Thilo Sarrazin (geb. 1945) war nach einem Studium der Volkswirtschaftslehre kurze Zeit als
Wissenschaftler tätig, dann seit 1975 als Finanzexperte im öffentlichen Dienst. So im Bundes-
finanzministerium, im Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, im Finanzministerium
Rheinland-Pfalz, in der Treuhandanstalt und im Internationalen Währungsfonds. Zeitweise
war er auch bei der Deutschen Bahn AG beschäftigt, wo er gegen eine Kapitalprivatisierung
opponierte und ein Volksaktienmodell entwickelte. Er ist seit 1973 Mitglied der SPD. Als
Finanzsenator in Berlin verfolgte er von 2002 bis 2009 einen rigiden Sparkurs und sanierte
erfolgreich den Landeshaushalt. In dieser Zeit erweckte Sarrazin bereits großes Aufsehen mit
provokanten Äußerungen über angeblich weit verbreitete, schlechte Ernährungs- und Hei-
zungsgewohnheiten von Empfängern des Arbeitslosengeldes II (Hartz IV-Empfänger). Bald
darauf wurde er vom Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit im Mai 2009 in den sechs-
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köpfigen Vorstand der Deutschen Bundesbank weggelobt. Auch danach rief Sarrazin mit ei-
nigen nebenbei gefallenen Äußerungen in einem Interview mit „Lettre International“ (Heft
86) über die wirtschaftliche Entwicklung Berlins im September 2009 Empörung hervor, wor-
auf sich die anderen Vorstandsmitglieder der Bundesbank von seinen „diskriminierenden Äu-
ßerungen“ distanzierten und ihm eine wichtige Amtsaufgabe entzogen. Sarrazin sagte damals:
„Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben:
durch eine höhere Geburtenrate. … Integration ist eine Leistung dessen, der sich integriert.
Jemanden, der nichts tut, muß ich auch nicht anerkennen. Ich muß niemanden anerkennen, der
vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt
und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert. Das gilt für 70 Prozent der türkischen
und 90 Prozent der arabischen Bevölkerung in Berlin.“ Ein damals angestrengtes Ausschluß-
verfahren in der Berliner SPD gegen Sarrazin scheiterte.
In den darauffolgenden Monaten schrieb dann Sarrazin das Buch „Deutschland schafft sich
ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“, das am 30. August erschien und von dem eine
Woche zuvor die erwähnten Auszüge erschienen. Letztere sowie wenige Sätze aus dem Buch
und insbesondere aus Interviews riefen sogleich eine noch viel heftigere Empörung als die
zitierte Passage aus dem Interview des Vorjahres hervor. Das Buch geriet aber nach seiner
scharfen Verurteilung durch die Mehrheit der politischen Klassen sogleich an die Spitze der
Bestsellerlisten. Bereits nach wenigen Wochen stieg die Auflage auf fast eine Million. Ob-
wohl sich die meisten Politiker empört von Sarrazin distanzierten, übernahmen viele von ih-
nen einige seiner integrationspolitischen Forderungen. Plötzlich wurde die „Deutschenfeind-
lichkeit“ vieler Migranten ein Thema, nachdem zuvor nur ständig über die Fremden- und
Ausländerfeindlichkeit bzw. die Islamophobie vieler Deutscher geklagt worden war. Die ve-
hemente Verkündigung des Todes von Multikulti durch die Bundeskanzlerin und noch schär-
fer durch den bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer sowie die Wiederbelebung der
Parole der deutschen Leitkultur Mitte Oktober sowie der These, Deutschland sei kein Ein-
wanderungsland, sind ein bloß rhetorischer Tribut an die zahlreichen Parteigänger Sarrazins.
Nun wurden heftig die Integrationsunwilligkeit und die mangelhaften Deutschkenntnisse vie-
ler Migranten angeprangert, die zu sanktionieren seien bis zum Hartz IV-Entzug.
Der Bundespräsident widmete sich in der zweiten Hälfte seiner Rede zum Jahrestag der Deut-
schen Einheit am 3. Oktober ausführlich den Themen Sarrazins, ohne dessen Namen zu er-
wähnen, und schuf seinerseits mit der pauschalen, inhaltlich unausgeführten und vielfältig
deutbaren Behauptung „Der Islam gehört zu Deutschland“ einen neuen Stein des Anstoßes in
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großen Teilen der Bevölkerung und vor allem in seiner Herkunftspartei CDU und in der CSU.
Die Formulierung besagt ja wohl mehr als die triviale Tatsache: Viele Muslime sind mittler-
weile deutsche Staatsbürger oder gehören zur Bevölkerung der Bundesrepublik.
Niemand kann übersehen, daß in den vergangenen Jahrzehnten viele Millionen Ausländer
eingewandert und zum Teil eingebürgert wurden; niemand kann die offensichtlichen Zeugnis-
se der muslimischen Alltagskultur im Lande übersehen. Die Gesetze zur Familienzusammen-
führung werden unvermeidlich weitere Einwanderung zur Folge haben und prominente Wirt-
schaftsvertreter verlangen im derzeitigen Kulturaufschwung Hunderttausende neuer, qualifi-
zierter Einwanderer aus beliebigen Kulturen. Einwanderung und Multikulturalisierung sind
unbezweifelbare und unabänderliche Realitäten in Deutschland; es läßt sich lediglich darüber
sinnvoll streiten, wie beide Prozesse in Zukunft zu gestalten sind. Davon handelt auch der
seriöse Kern des Buches Sarrazins, den er durch seine unsäglichen Ausfälle verdeckt.
EXKURS: Die Kernaussagen in Sarrazins Buch
Im folgenden sei der Versuch unternommen, die Kernaussagen der 463 Seiten seines Buches
zu erfassen, was ausnahmsweise zur Ausdehnung des Umfangs der Vorlesung führen wird.
Das Buch befaßt sich mit der allgemeinen Bevölkerungs-, Wirtschafts-, Sozial- und Bildungs-
politik in Deutschland, bei der Einwanderungs- oder Migrationspolitik und Integrationspolitik
nur einen, wenn auch wichtigen Teil seiner Abhandlung ausmachen. Sarrazin geht von dem
bevölkerungspolitischen Trend der letzten Jahrzehnte aus, daß die Bevölkerungszahl in
Deutschland trotz wachsender Lebenserwartung infolge niedriger Geburtsraten drastisch sin-
ken wird. Auch die Zuwanderung von Ausländern werde diesen Trend nicht aufhalten kön-
nen, außerdem werfe die bisherige Einwanderungspolitik erhebliche wirtschaftliche, soziale
und kulturelle Probleme auf, die bislang in ihren drastischen Ausmaßen nicht ins allgemeine
öffentliche Bewußtsein gedrungen seien.
Eine Geburtenrate von 2,1 Kindern pro Frau gilt allgemein als Voraussetzung für einen Erhalt
der bestehenden Bevölkerungszahl. Ausgehend von einer seit 45 Jahren unveränderlichen
extrem niedrigen Geburtenrate von 1,4 Kindern pro deutscher Frau werde sich die Bevölke-
rungszahl in Deutschland, falls kein Umdenken in Politik und Gesellschaft stattfinde, in jeder
Generation um ein Drittel verringern, also von derzeit 82 Millionen auf 25 Mio. in 100 Jah-
ren, dann auf 8 Mio. in 200 Jahren und auf 3 Mio. in 300 Jahren (S. 18). Das soll keine Pro-
gnose sein; ganz im Gegenteil: Sarrazin will den vorhandenen Trend aufhalten. Dieser Rück-
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gang der Geburtenzahl werde sich kaum durch Zuwanderung von qualifizierten Ausländern
ausgleichen lassen, allenfalls durch weitere Migranten ins sozialstaatliche System, das ir-
gendwann zusammenbrechen müsse. Außerdem würden bereits in drei Generationen die auto-
chthonen Deutschen (also die bodenständigen Deutschen, die Sarrazin „Einheimische“ im
Unterschied zu denen „mit Migrationshintergrund“ oder „Migranten“ nennt) nur noch die
Hälfte der Bevölkerung darstellen, so daß in wenigen Generationen die „Urdeutschen“, wie
sie Frank Plasberg aus Ermangelung eines geeigneten Worts in seiner Sendung über Sarrazins
Buch und Interviews am 1. September nannte, eine Minderheit im eigenen Land werden wür-
den, wie das bereits heute in vielen deutschen Stadtteilen und manchen kleinen Städten der
Fall ist. Mit anderen Worten: „Die Deutschen hätten sich damit quasi abgeschafft“ (S. 8). Und
damit Deutschland als deutsches Land. Dies fände Sarrazin bedauerlich. Sein Buch richtet
sich nicht so sehr gegen Ausländer und Migranten, insbesondere gegen muslimische Türken
und Araber, wie vielfach angenommen wird, sondern vorrangig gegen die Bevölkerungs-,
Sozial- und Bildungspolitik der Deutschen selbst, dann auch gegen ihre Einwanderungspoli-
tik. Wahrscheinlich deshalb reagierte die politische Klasse so auffällig hektisch und empört.
Da die „Migranten“ eine weit günstigere Altersstruktur besitzen als die „Einheimischen“
(S. 61) und heute schon ein großer Teil der jungen Generation in der Gesamtbevölkerung,
nämlich 30 Prozent der unter 15-Jährigen, Migranten seien, die kein oder nur wenig deutsch
sprächen, werde sich die ethnisch-sprachliche Struktur Deutschlands stark verändern. Sarrazin
benutzt nicht den politisch „unkorrekten“ Ausdruck der „Überfremdung“, meint ihn aber
zweifelsohne, aber nicht im biologisch-genetischen, sondern im kulturellen Sinne. Er be-
zeichnet es als „absolut realistisch, daß die muslimische Bevölkerung durch eine Kombination
von hoher Geburtenrate und fortgesetzter Einwanderung bis 2100 auf 35 Millionen wachsen
wird“, während bei gleichbleibend niedriger Nettoreproduktionsrate der deutschen autochtho-
nen Bevölkerung deren Zahl auf 20 Mill. sinken werde (S. 317), so daß Deutschland dann ein
mehrheitlich muslimischer, türkisch-arabischer Staat geworden sei, der seine wirtschaftlich-
technische und wissenschaftliche Weltgeltung und seinen Wohlstand wegen fortschreitender
Alterung und Intelligenzminderung („Verdummung“) gänzlich eingebüßt haben werde. In
seiner das Buch beschließenden Satire skizziert er seinen Alptraum eines tendenziellen kultu-
rellen Untergangs der deutschen Sprache und Kultur und einer türkisch-arabischen und mus-
limischen Mehrheitskultur in Deutschland im 22. Jahrhundert. Durch eine entschiedene Poli-
tik der Förderung und Forderung der deutschen Sprache schon im frühkindlichen Alter und
eine Steuerung der Einwanderungspolitik gemäß eigenem Bedarf an hochqualifizierten, inte-
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grationsfähigen Fachkräften hält er allerdings die kulturelle Selbstaufgabe Deutschlands für
abwendbar. Deshalb spielen bildungspolitische neben sozialpolitischen Forderungen, durch-
aus in der Tradition der Sozialdemokratie, eine zentrale Rolle in Sarrazins Buch.
Die zweite These Sarrazins besagt, daß bei vorherrschendem demographischem Trend
Deutschland seinen wirtschaftlich-technologischen hohen Standard nicht halten könne, da mit
der Verringerung der Bevölkerungszahl in Deutschland vor allem die drastische absolute und
relative Verringerung der für den technischen und wirtschaftlichen Fortschritt verantwortli-
chen Absolventen der MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik)
an den deutschen Hochschulen und der sich im produktiv-innovativen Alter befindlichen be-
rufstätigen Hochschulabsolventen einhergehe. Und dies bei gleichzeitigem drastischem
Wachstum von MINT-Absolventen in Ostasien, Indien und anderen Teilen der Welt. Als Fol-
ge davon werde Deutschland schon in wenigen Jahrzehnten seinen heutigen Lebensstandard
einbüßen und seine sozialstaatlichen und kulturellen Leistungen drastisch verringern müssen.
Diese Entwicklung werde durch die weitere Alterung und „Verdummung“ der Gesellschaft
noch potenziert. Auch hier könne eine Umkehr in der Bildungspolitik einiges bewirken, aber
den Rückgang der deutschen Positionen in der Weltwirtschaft nicht mehr gänzlich abwenden.
Mit „Verdummung“ meint Sarrazin einen Rückgang des durchschnittlichen Intelligenz-
Quotienten in der Bevölkerung, den er zum Teil auf sozialkulturelle Faktoren (Bildungsferne
der Familie oder mangelhaften Schulunterricht) zurückführt, zum erheblichen Teil aber auch
auf genetische Faktoren. Eine Standardformel in seinem Buch ist die Behauptung, daß Intelli-
genz zu 50 bis 80 Prozent vererbt sei (z. B. S. 93, 98, 226). Dabei bezieht sich „50 bis 80“
nicht auf die unterschiedliche Wirkung von Genen und damit umgekehrt von 20 bis 50 Pro-
zent Umweltfaktoren auf die Intelligenz des einen oder des anderen Individuums, sondern auf
den Dissens innerhalb der von Sarrazin für autoritativ gehaltenen Forschergemeinde über den
hohen Einfluß von Erbfaktoren bei der Entstehung menschlicher Intelligenz.
Die „Verdummung“ Deutschlands belegt Sarrazin mit zahlreichen Studien über die sinkende
Leistungsfähigkeit von Auszubildenden in den Industrieunternehmen und über sinkende Lei-
stungsanforderungen an Schulen und Universitäten, durch die erst der politisch erwünschte
hohe Output an Abiturienten und Hochschulabsolventen erreicht werden könne. Er erklärt
diese Befunde durch dreierlei Faktoren. Die moderne Gesellschaft habe die soziale Chancen-
gleichheit beträchtlich erhöht und bewirke dadurch eine soziale und dabei auch genetische
Selektion von Begabten und weniger Begabten in den Unter-, Mittel- und Oberschichten, so
daß die Unterschicht tendenziell ihr Reservoir an Intelligenten verloren habe, das mittlerweile
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in die Mittel- und Oberschichten durch Leistung aufgestiegen sei. Da intelligentere Frauen
auch meist intelligentere Männer bevorzugten, würde die soziale Schichtung der Begabungen
durch die heutige freiwillige Partnerschaftswahl verstärkt. Da aber die intelligenteren Mittel-
und Oberschichten im heutigen Deutschland weit weniger fruchtbar seien als die weniger be-
gabten Unterschichten, senke sich notgedrungen das Intelligenz- und Begabtenpotential der
Gesellschaft im Laufe der Jahrzehnte (S. 98f.).
Die Gesamtzahl der Kinder je Frau sei um so niedriger, je höher der Bildungsgrad ist. „Von
den Frauen mit niedriger Bildung hatten (Stand 2008) 39 Prozent drei und mehr Kinder, bei
Frauen mit mittlerer Bildung waren es 21 Prozent und bei jenen mit hoher Bildung 19 Pro-
zent“ (S. 90). (Man könnte also sagen: Bildung ist indirekt das wirksamste empfängnisverhü-
tende Mittel. Es ist in den Entwicklungsländern willkommen, in den hochentwickelten Indu-
strie- und Dienstleistungsländern hat sie in einem höchst komplexen Verursachungskontext
bislang eher eine unerwünschte demographische Wirkung.) Als dritten Faktor für die gesell-
schaftliche Intelligenzminderung in Deutschland macht Sarrazin die Zuwanderung von Tür-
ken und Arabern aus den bildungsfernen Unterschichten aus, die sich zudem überdurch-
schnittlich stärker vermehren als die Deutschen. (Eigentlich müßten die muslimischen Zu-
wandererunterschichten in der Logik Sarrazins ein noch höheres Begabtenpotential haben als
die deutschen, weil sie nicht in einer durchlässigen Gesellschaft aufwuchsen, die den sozialen
Aufstieg der Intelligenten ermöglicht hatte. Nach Sarrazin spricht aber großfamiliäre Inzucht
gegen eine solche Hypothese großer ungenutzter Intelligenzreservoire der Muslime.) Vor al-
lem die türkischen und arabischen Hartz IV-Empfänger, denen die deutsche Grundsicherung
ein höheres Einkommen verschaffe als das durchschnittliche Einkommen von Erwerbstätigen
in ihrer Heimat, würden sich überdurchschnittlich vermehren. So behauptet Sarrazin brutal:
„Insbesondere unter den Arabern in Deutschland ist die Neigung weit verbreitet, Kinder zu
zeugen, um mehr Sozialtransfers zu bekommen, und die in der Familie oft eingesperrten
Frauen haben im Grunde ja kaum etwas anderes zu tun“ (S.150). Allgemein gelte, also auch
für Deutsche: „Nicht Kinder produzieren Armut, sondern Transferempfänger produzieren
Kinder“ (S. 149). Eine solche These läßt sich wohl kaum durch empirisch sozialwissenschaft-
liche Methoden belegen oder widerlegen; vor allem aber fehlen anscheinend die sozialstatisti-
schen Daten hierzu und schon gar sozialpsychologische Motivationsanalysen für eine höhere
Geburtenfreudigkeit im Hartz IV-Status.
Sarrazin erklärt seine Trendaussagen nicht zu Prognosen, was oft fälschlich behauptet wird,
da er eine Umkehr von derzeitigen Trends mittels einer drastischen Umkehr der Politik und
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der Einstellung der Deutschen zu sich selbst für möglich hält und dafür wirbt. Er argumentiert
alles andere als genetisch-deterministisch und fatalistisch, sondern vehement bildungspoli-
tisch im Sinne der Steigerung von Leistungsfähigkeit und vor allem von Leistungswillen,
auch mittels einer drastischen Kürzung der sozialen Transferleistungen, die er für Ausländer
nach US-amerikanischen Vorbild ganz streichen will. Allerdings sieht er skeptisch Grenzen in
der Erzieh- und Bildbarkeit von wenig begabten Unterschichten und Einwanderern aus den
Unterschichten der Türkei und Arabiens. Aus diesem Grund will er besondere finanzielle An-
reize für Akademikerinnen und allgemein für die Mittel- und Oberschichten schaffen, selbst
vermehrt Kinder in die Welt zu setzen, ihr Bildungspotential auch familiär, nicht nur beruflich
zu nutzen und nicht alle sozialen Hoffnungen auf die Erziehung von Unterschichten- und
Ausländerkindern zu setzen, die ihnen eines Tages ihre Renten, Pensionen und Zinsansprüche
erarbeiten sollen. Diese vorherrschende gesellschaftliche Verhaltensweise und die sie för-
dernde Politik hält Sarrazin längerfristig erstens für illusionär und zweitens für die Zukunft
des Lebensstandards und der Kultur der Deutschen wie auch Deutschlands verhängnisvoll.
4 Selektive Einwanderungsbeschränkung oder internationale Freizügigkeit
Die tiefe Kluft zwischen politischer Klasse und Stammtisch kann auf die Dauer gefährlich für
die Demokratie in Deutschland werden und das bestehende Parteiensystem erschüttern. Das
steht vorerst nicht in Aussicht, noch nicht einmal konkret das Auftreten einer neuen „rechts-
populistischen“ Partei wie in fast allen anderen EU-Ländern. In einer länger währenden, tie-
fen Krise, nicht in einer so glimpflich verlaufenden wie in den vergangenen Monaten, kann
sich der Vertrauensverlust in die bestehende politische Klasse und in die traditionellen Partei-
en verheerend auswirken, wenn Demokratie als eine stammtisch-, also letztlich volksfeindli-
che Herrschaftsform im Interesse einer intellektuell und moralisch verkommenen Minderheit
wahrgenommen wird. Den Prozeß der Selbstdiskreditierung der Demokraten, der zur erneuten
autokratischen Formierung der Gesellschaft beiträgt, konnte man jüngst wieder in Osteuropa
studieren. Auch die Deutschen könnten eines Tages die Angst hinter sich lassen, als Nazis
denunziert zu werden, ohne es zu sein und vor allem sein zu wollen, und sich einer neuen
ethnonationalen und antiislamischen Partei wie der eines Geert Wilders von der Partei für die
Freiheit (Partij voor de Vrijheid) in den Niederlanden anschließen, nicht morgen aber über-
morgen, wenn einige politisch begabte Intellektuelle darin eine Aufstiegschance wittern.
Internationale Freizügigkeit als Recht des Weltbürgers, in jedem beliebigen Land zu wohnen,
zu arbeiten und sich dort einbürgern zu lassen, ist in der heutigen Welt und auch nicht in den
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Demokratien zu verwirklichen. Die USA, Kanada und Australien haben als lange Zeit weltof-
fene Einwanderungsländer schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts Einwanderungsbeschrän-
kungen eingeführt und die Zahl der willkommen geheißenen, legalen Einwanderer beschränkt
und zwar nicht nur für Menschen schlechthin, sondern für bestimmte soziale Gruppen (nach
Bildungsstand und Wohlstand) und auch für Ethnien bzw. für Bürger bestimmter Staaten.
Es liegt an den etablierten Parteien selbst, ob sie den unvermeidlichen Streit über Form und
Grenzen der Einwanderungsbeschränkung innerparteilich führen wollen oder die Gründung
neuer ethnonationaler Parteien begünstigen, um ihn dann zwischenparteilich austragen zu
müssen. Wenn sie das nicht wollen, müssen alle etablierten Parteien „rechtspopulistisch“
werden, die einen mehr, die anderen weniger. Faktisch sind sie es in ihrer bisherigen Politik
sowieso schon fast alle in einem uneingestandenen Ausmaße, da keine Regierungspartei es
zuläßt, das jeder Ausländer einwandern darf, der dies will, von Not gedrungen oder ohne Not.
5 Fundierte Widerlegung statt politisch-soziale Ächtung Sarrazins
Was ist in Sachen Sarrazin zu empfehlen? Auf die zahlreichen Seiten der Sarrazin-
Kontroverse sollte es ganz unterschiedliche Antworten geben. Man kann durchaus der An-
sicht sein, daß ein Bundesbanker, der sich derart engagiert und zeitaufwendig wie Sarrazin in
eine allgemeine Debatte über Bevölkerungs- und Integrationspolitik begibt, auf sein Amt von
sich aus oder auf diskrete Empfehlung anderer verzichten sollte, da er nur noch wenige Zeit
und Aufmerksamkeit seiner eigentlichen Amtstätigkeit widmen kann. Aber er hätte nicht zum
„freiwilligen“ Amtsverzicht faktisch gezwungen werden dürfen.
Von einem Ausschluß Sarrazins aus der SPD kann nur abgeraten werden, nicht nur deshalb,
weil es schädlich für die SPD und ihre Wahlaussichten wäre, sondern weil längerfristig durch
derartige Ausschlüsse das gesamte etablierte Parteiensystem in Deutschland gefährdet wird.
Es ist eine ausgesprochene politische Dummheit, einem Thilo Sarrazin zu empfehlen, in die
NPD überzutreten oder eine neue rechtsradikale Partei zu gründen, dies in der gefährlichen
und eitlen Hoffnung, sie damit politisch bedeutungslos zu machen. Ein überzeugendes Kon-
zept der Integration von türkischen und arabischen Muslimen und von sozialen Unterschich-
ten wäre die einzig richtige Antwort auf Sarrazins Provokationen. Die brutalen, verbalen Ent-
gleisungen Sarrazins sollte man scharf kritisieren und zurückweisen. Aber im Vergleich zu
zahlreichen anderen Politikern und ihrem menschenverachtenden Beschimpfungsrepertoire ist
Sarrazin ein Waisenknabe. Man erinnere sich nur an Franz Josef Strauß, der viele Mitbürger
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zu Schmeißfliegen erklärte. Statt daß die SPD den Parteiausschluß Sarrazins betreibt, sollte
die Friedrich-Ebert-Stiftung vielmehr zahlreiche Seminare über sein Buch organisieren, um
die kritische Auseinandersetzung mit seinen überzeugenden und abwegigen Thesen und den
sie unterstützenden Stimmungen in der Bevölkerung zu suchen.
Die Ansichten Sarrazins über die von ihm propagierte maßgebliche Rolle der staatlichen Er-
ziehung im Vorschul- und Schulalter, damit über eine weitreichende Entrechtung der Eltern,
stehen zudem viel eher in der „linken“ Tradition der Sozialdemokratie, ja der Sozialisten, als
in der der CDU/CSU. Sarrazin selbst bemerkte in einem Interview selbstkritisch auf die Frage
von WELT ONLINE „Aber können die Schule und der Staat wirklich alles richten“?“: „Daß
ich mit meinem bürgerlichen Hintergrund sage, mit drei in die Kita, danach Ganztagsschule,
zack zack, das ist ein purer Schrei der Hilflosigkeit. …Ein ganz großer Teil der deutschen
Unterschicht und ein großer Teil der Migranten – Ausnahmen Kinder aus Osteuropa und
Fernost – machen in der Schule nicht ausreichend mit, und das Elternhaus fällt als Stütze
weitgehend aus. Der einzige Weg, diese Probleme anzugehen, ist, für diese Kinder den nega-
tiven Einfluß des Elternhauses und des übrigen sozialen Umfeldes weitgehend zu kompensie-
ren, um den umweltbedingten Anteil des Begabungspotentials möglichst zu optimieren.“
Bei seinem Buch handelt es sich im wesentlichen um eine sachliche politische Abhandlung,
deren Grundauffassungen von zahlreichen SPD-Mitgliedern und vor allem SPD-Wählern ge-
teilt werden. Es wäre für die Entwicklung der deutschen Demokratie sicherlich nützlicher,
wenn politische Positionen wie die von Sarrazin innerhalb der bestehenden deutschen Partei-
en, insbesondere der beiden sogenannten Volksparteien, zur Geltung kommen würden. Statt
stammtischhörig zu werden, sollten diejenigen, die Sarrazins Ansichten nicht teilen, durch
politische Aufklärungsarbeit dazu beitragen, daß diese in der politischen Minderheit nicht nur
in den Parlamenten bleiben, sondern es auch an den Stammtischen werden, sowohl bei der
SPD als auch in der ganzen Gesellschaft. Im Verlaufe der öffentlichen und innerparteilichen
Debatte werden Sarrazins Thesen sowieso modifiziert werden, und sie werden ja auch Min-
derheitsmeinung im Laufe des demokratischen Prozesses bleiben, wenn sie stichhaltig wider-
legt und politisch angemessen bekämpft werden. Dazu ist es erforderlich, Alternativen zur
bisherigen Laissez-aller-Politik im Umgang mit demographischen und Integrationsfragen
nicht nur vorzuschlagen, sondern auch zu praktizieren. Dabei sind die üblichen politischen
Denunziationen (Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Rechtspopulismus usw.) kontraproduktiv.
Der Vorwurf des „Rassismus“ gegen Sarrazins politische Vorstellungen ist völlig abwegig.
Weder hält er Völker für genetisch voneinander geschiedene „Rassen“ trotz seines unsinnigen
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Interview-Satzes über ein jüdisches Gen und baskische Gene, den er selbst nachträglich zu
einem „Riesenunfug“ erklärte, noch wendet er sich gegen die sprachliche Assimilation von
Ausländern jeglicher Herkunft. Im Gegenteil: genauso wie alle deutschen Regierungen und
Parteien fordert er die „sprachliche Integration“ in deutschsprachigen Ganztagskitas ab dem
3. Lebensjahr. Das vorherrschende integrationspolitische Ziel aller Parteien wie auch Sarra-
zins benannte Plasberg „ganz präzise“, wie er sagte, durch eine kurze Einblendung am Ende
seiner zweiten Sarrazin-Sendung am 15. September. Vor dem Hintergrund einer russischen
und türkischen Flagge sagt ein kleiner Junge mit deutscher Flagge im Vordergrund im akzent-
freien Deutsch: meine Mama ist Russe (sic!), mein Papa ist Türke und ich bin Deutscher.
Gemeint ist damit nicht nur die Staatsangehörigkeit, sondern auch die sprachliche und kultu-
relle Identität. Für den Vorgang der sprachlichen Assimilation analog zur Anglisierung haben
die Deutschen keinen politisch korrekten Ausdruck: Germanisierung und Eindeutschung sind
historisch belastet, nicht nur durch die nationalsozialistische, sondern auch durch die wilhel-
minische Vergangenheit und Gewaltpolitik. Das in der Regel gemeinte politische Ziel, das
auch Sarrazin teilt, ist zweifellos die sprachlich-kulturelle Deutschwerdung der eingebürger-
ten Ausländer und die Verhinderung des Entstehens dauerhafter ethnischer oder gar nationaler
Minderheiten. Da man die Muslime nicht christianisieren kann und will, will man die Entste-
hung eines säkularisierten, deutsch-europäischen Islam fördern, den es bislang kaum in be-
scheidenen Ansätzen gibt. Allerdings gibt es bereits massenhaft Muslime, die wie die meisten
Christen Gotteshäuser allenfalls noch aus touristischen Motiven besuchen oder noch nie in
einer Moschee waren. Dennoch könnte die Zahl der muslimischen Moscheegänger schon in
wenigen Jahrzehnten bald größer sein als die der protestantischen Kirchgänger. Selbst wenn
sehr viele Türken und Araber der zweiten und dritten Generation deutsche Staatsbürger mit
deutscher Muttersprache würden, wird die muslimische Minderheit in Deutschlands aufgrund
der demographischen Struktur unvermeidlich in den kommenden Jahrzehnten absolut und vor
allem relativ größer werden, die nominell christliche Mehrheit drastisch schrumpfen. Dies ist
einfach Fakt, wie man gemeinhin sagt. Ausgesprochenes oder unausgesprochenes Vorbild für
die sprachliche Assimilation sind zweifellos die Anglisierung der meisten Einwanderer in den
USA – Sarrazin beruft sich ausdrücklich auf den anglisierenden Schmelztiegel (melting pot) –
und die Deutschwerdung der Hugenotten und Ruhrpolen in vergangenen Jahrhunderten.
Dem Ziel der sprachlichen und damit längerfristig ethnischen Assimilation soll die wohl weit-
gehend aussichtslose Aufforderung à la Alexander dem Großen von einigen deutschen Politi-
kern dienen, die Einwanderer sollten sich mit autochthonen Deutschen verheiraten, vor allem
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nicht so oft mit Türkinnen (Sarrazins Brutalsprache: „Importbräuten“) und Türken aus der
Türkei, um keine weitere muslimische Einwanderung per Familienzusammenführung zu ver-
anlassen und sich nicht in einer türkischen „Parallelgesellschaft“ einzurichten. Zwar rufen
mittlerweile der türkische Staatspräsident Abdullah Gül und Ministerpräsident Recep Tayyip
Erdoğan auch die Türkdeutschen und die Türken in Deutschland ebenfalls dazu auf, Deutsch
fließend und akzentfrei zu sprechen, meinen damit aber etwas ganz anderes als die deutschen
Politiker einschließlich Sarrazin, nämlich, daß sie Türkisch als Muttersprache behalten sollen,
Deutsch nur als Zweitsprache erwerben und sich weiterhin als Türken empfinden und auch
politisch verhalten sollen, gleichgültig, ob sie die deutsche Staatsangehörigkeit annehmen
oder nicht. Noch vor wenigen Jahren hatte Erdoğan Assimilation als ein völkerrechtliches
Verbrechen bezeichnet, womit er Recht gehabt hätte, wenn er damit nur die Zwangsassimila-
tion gemeint haben sollte.
Es könnte keine bessere Propaganda für Sarrazins Sorge und für Erdoğans Politik geben als
das Fußballspiel Deutschland-Türkei in Berlin am 8. Oktober, als die deutsche Nationalmann-
schaft ein „Auswärtsspiel“ zu bestreiten hatte, bei dem nicht nur die vielen ausländischen Tür-
ken (was normal ist) sondern auch sehr viele Türkdeutsche Fahnen des Staates Türkei
schwenkten, und wo der Deutsche Mesut Özil von Türken und offenbar auch von zahllosen
Türkdeutschen ausgepfiffen und ausgebuht wurde, nicht weil er schlecht, sondern für die
deutsche Nationalmannschaft spielte. Erfreulich war lediglich, daß es keine ethnische Randale
zwischen autochthonen Deutschen und Türken plus Türkdeutschen in Berlin gab und daß vie-
le Türken und Türkdeutsche anerkannten, daß die bessere Mannschaft auf dem Platz das Spiel
gewonnen hatte. Wo aber werden in den USA Sportler des eigenen Landes von US-
Amerikanern ausgepfiffen und ausgebuht, weil sie für die USA in den Wettkampf gehen?
Solche Phänomene wie in Berlin liegen nicht nur daran, daß viele Türken allenfalls beim
Ordnungsamt angekommen sind, wo sie sich einen deutschen Paß (oft nur als zweiten neben
ihrem türkischen) abholen, aber längst noch nicht politisch-emotional und geistig in der deut-
schen Staatsnation. Es liegt aber auch daran, daß viele „Urdeutsche“ Mesut Özil und alle
Türkdeutschen mit ihm nicht als (Staats-)Deutsche begreifen und anerkennen, außerdem dar-
an, daß die Deutschen meist keinerlei Wert auf deutsch-bundesrepublikanisches Gemeinbe-
wußtsein legen, sondern nur auf die Beachtung der Straßenverkehrsordnung, der Steuergeset-
ze und einiger sonstigen Gesetze und „Werte“. Die Nichtbeachtung von verfassungsmäßigen
Grundrechten durch manche Einwanderer in deren Familien waren ihnen lange egal, meist
auch ohne dies im Namen eines undurchdachten Multikulturalismus zu rechtfertigen, der die
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Notwendigkeit einer gemeinsamen staatlichen politischen Kultur verkennt. In anderen westli-
chen Ländern nennt man politisches Gemeinbewußtsein demokratischen Patriotismus und
Nationalbewußtsein, ohne dabei ein post-nationalsozialistisches schlechtes Gewissen zu ha-
ben. In Deutschland demonstrieren Zehntausende Deutsche für „Nie wieder Deutschland“.
Die Deutschen können auch nicht mit der historisch entstandenen Mehrdeutigkeit der Wörter
deutsch und Deutschland umgehen und nicht die Unterschiede zwischen Staatsangehörigkeit,
Nationalität und Ethnizität sehen, wie übrigens auch viele andere aus Ländern nicht, die den
Namen einer Ethnie tragen oder deren Landesname eine ethnische Bedeutung erlangt hat. In
Frankreich etwa gelten erst einmal alle Bürger Frankreichs als Franzosen. Gleichwohl kann
man von arabischen Franzosen sprechen. Was aber sind alle die Franzosen (französische
Staatsbürger), die keine Araber, Basken, Bretonen, Elsässer oder Afrikaner sind? Die hilflose
Antwort ist entweder humoristisch „Gallier“ (obwohl es realiter eher germanisch-römische
Gallier sind) oder fragwürdig: echte Franzosen, französische Franzosen usw. Manche Wissen-
schaftler nennen sie ethnische Franzosen.
6 Zur Legitimität ethnischer Differenz
Wenn es legitim ist, daß ethnische Türken, Kurden, Araber, Juden, Polen und andere trotz der
Annahme der deutschen Staatsangehörigkeit ethnische Türken usw. bleiben oder aber sich
nach Gutdünken an die Deutschen assimilieren wollen, dann sollte es auch legitim sein, daß
„Urdeutsche“ ethnische Deutsche bleiben wollen und eine entsprechende sprachlich-ethnische
Politik betreiben, die nicht ständig unter Rassismus- und Faschismusverdacht gestellt wird.
Deutsch war durch Jahrhunderte eine Bezeichnung für alle Menschen mit deutscher Mutter-
sprache, gleichgültig ob fränkischer, sächsischer, alemannischer, keltischer, römischer, slawi-
scher, jüdischer oder sonstiger Herkunft. Deutsche lebten in Hunderten deutscher Länder und
auch in vielen nichtdeutschen Staaten. Sprachlich wurde dann im Zeitalter des aufkommenden
Nationalbewußtseins aus den deutschen Ländern Deutschland. Dieses sprachlich-ethnische
Deutschland war demzufolge viel umfangreicher und größer als etwa das Deutsche Reich von
1871 und reichte bekanntlich von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt,
existierte aber auch in kleinen Sprachinseln Rußlands, Amerikas, Asiens und Afrikas. Erst seit
1949 ist Deutschland auch ein Staatsname, so daß seither die Bezeichnung deutsches Volk
manchmal ausschließlich für die deutschen Staatsangehörigen (in der staatsrechtlichen, politi-
schen Sprache, so auch im Grundgesetz), oft aber auch noch im ursprünglichen sprachlich-
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ethnischen Sinne gebraucht wird. In der Übergangsphase von 1871 bis 1949 unterschied man
deshalb noch zwischen Reichs-, d.h. Staatsdeutschen und Volksdeutschen, d. h. Deutschen in
anderen Ländern mit deren Staatsangehörigkeit. Rußlanddeutsche waren demzufolge nicht
deutsche Russen, Ungarndeutsche nicht deutsche Ungarn oder Madjaren usw. Umgekehrt
leben seit Jahrhunderten auf dem Gebiet des heutigen Schleswig-Holsteins Dänen, Branden-
burgs und Sachsens Sorben, also nicht Deutsche dänischer und sorbischer Herkunft. Viele von
ihnen wollen auch in fünfhundert Jahren noch Dänen oder Sorben als ihre Nachfahren sehen,
obwohl sie heute fast alle überzeugte deutsche Staatsbürger geworden sind. Sie wollen nicht
nur eine sprachlich-kulturell-ethnische Herkunft haben, sondern auch eine Zukunft. Warum
sollen nicht auch Türken und Araber in Deutschland einen solchen legitimen Wunsch haben?
Und warum soll nicht auch die unvermeidlich abnehmende Zahl der ethnischen Deutschen in
Deutschland gleichwohl ein legitimes Interesse und den politischen Wunsch haben, sprach-
lich-ethnische Mehrheit zu bleiben?
Der politisch-korrekte Ausdruck für die Mesut Özils als „Deutsche türkischer Herkunft“ ist
ein verräterisches Zeichen für den traditionellen westlichen assimilatorischen Sprachnationa-
lismus, der im 19. Jahrhundert den Bretonen und Iren recht häufig buchstäblich mit dem
Stock die bretonische und irisch-gälische Muttersprache ausgeprügelt hat, ihnen aber gleich-
zeitig den sozialen und kulturellen Aufstieg in der französischen bzw. englischen Sprache und
Gesellschaft anbot. Preußen-Deutschland versuchte dasselbe historisch verspätet noch kurz
vor dem Ersten Weltkrieg in seinen polnisch-sprachigen Ostgebieten und scheiterte mit seiner
brutalen Eindeutschungs- oder Germanisierungspolitik. Eine liberale Gesellschaft sollte so-
wohl die freiwillige sprachlich-ethnische Assimilation wie die Dissoziation erlauben und le-
diglich die Kenntnis der Landessprache als Zweitsprache fördern und fordern.
Jede moderne Gesellschaft gliedert sich in Hunderte oder gar Tausende „Parallelgesellschaf-
ten“ mit geringer oder fast keiner Kommunikation untereinander. Nach 1685 waren zwanzig
Prozent der Berliner Bevölkerung Franzosen mit einer anderen religiösen Konfession (Calvi-
nisten, die später sogenannten Hugenotten) als die Deutschen. Der Französische Dom im Zen-
trum der Stadt zeugt noch heute von ihnen, ebenso wie noch viele Familiennamen wie de
Maizière, deren Träger in jüngster Zeit deutsche Ministerpräsidenten und Innenminister wur-
den. Die Franzosen lebten in eigenen Stadtvierteln, anderswo sogar in eigenen Kleinstädten
und Dörfern, sprachen über mehr als ein Jahrhundert noch Französisch untereinander, heirate-
ten lange Zeit kaum Deutsche und wurden von diesen auch als Ehepartner abgelehnt. Bis die
in Deutschland eingewanderten 40.000 Franzosen Deutsch als Muttersprache übernahmen,
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also sich sprachlich assimilierten (in heutiger politisch korrekter Sprache: „integrierten“), die
Kirchengemeinschaft mit Lutheranern akzeptierten und sich auch ohne weiteres mit Deut-
schen verheirateten, vergingen mehr als hundert Jahre. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß
heute 4 Millionen oder morgen weit mehr Türken, Araber und andere Muslime, die in weni-
gen Stunden die Länder ihrer Vorfahren besuchen können, oftmals nur die Fernsehprogramme
dieser Länder sehen, die in ihren Stadtvierteln und Schulen in Deutschland kaum einen Deut-
schen näher kennenlernen, so rasch „sprachlich integriert“ werden wie seinerzeit die wenigen
Franzosen, die kaum noch eine Gelegenheit hatten, Kontakt mit Frankreich zu halten.
Soziale Aufsteiger haben sich zu allen Zeiten bereitwillig sprachlich-kulturell assimiliert, aber
diese Vorzeige-Integrierten in den Talkshows stellen nicht die Masse der Türken, Araber und
aller sonstigen ethnischen Gruppen dar, die so groß sind, daß sie auch ohne Kontakte zu den
ethnischen Deutschen auskommen. Sie werden vermutlich eines Tages die Forderung nach
türkischen und anderen Quoten an den Universitäten, in den Behörden und Parteien erheben.
Auch hierzulande werden Quotenforderungen der Frauenbewegung Vorläufer von denen eth-
nischer Bewegungen sein. In jedem Falle ist das Assimilationstempo wesentlich langsamer als
das Migrationstempo. Aus dem US-amerikanischen Schmelztiegel ist schon längst weitge-
hend eine Salatschüssel geworden, in dem die Einwanderer ihre Ethnizität behalten, sich nicht
anglisieren, auch wenn sie Englisch als Zweitsprache lernen. Auch die Deutschen werden sich
daran gewöhnen müssen, daß große ethnische Minderheiten in Deutschland entstanden sind
und daß es noch größere geben wird. Ein Teil ihrer Angehörigen wird sich assimilieren,
Deutsch als Muttersprache übernehmen und sich mit Deutschen verheiraten, der größere Teil
wird es aber mindestens in den nächsten hundert bis zweihundert Jahren nicht tun. Das
schließt nicht aus, wie schon gesagt, daß man nicht erfolgreich Deutsch als Verkehrssprache
fördern und fordern könnte und auch sollte, vor allem bei allen deutschen Staatsbürgern. Aber
das macht noch lange nicht aus Einwanderern und Eingebürgerten muttersprachliche, ethni-
sche Deutsche wie die de Maizières. Zwischen bürokratischer Integration (als Paßbesitzer),
politischer Integration (als Teilnehmer an der deutschen politischen Kultur), sozialer Integra-
tion (als Erwerbstätiger), aufgeklärt-religiöser Integration (evtl. als reformierter oder gemein-
atheistischer Moslem), verkehrssprachlicher Integration (um in deutscher Sprache kommuni-
zieren zu können) und muttersprachlicher Assimilation und Deutschwerdung gibt es zahlrei-
che Übergangsstufen. Immer mehr Menschen sind zudem nicht einsprachig und monoeth-
nisch, sondern wachsen, weil sie bi-ethnisch sind, mit zwei Muttersprachen auf, z. B. der der
Mutter und der des Vaters oder auch der der Großmutter oder der Umwelt. Manche haben
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einen „Migrationshintergrund“, aber gleichzeitig einen „autochthonen, alteingesessenen Hin-
tergrund“. Manche sind sogar polyethnisch wie Eldrick „Tiger“ Woods mit afroamerikani-
schen, indianischen, chinesischen, thailändischen und niederländischer Vorfahren. Er kann
sicher nicht alle Sprachen seiner weiteren Verwandtschaft sprechen. Die sogenannte ethnokul-
turelle Identität ist zwar mit Abstammung verknüpft, letztlich aber eine Sache der subjektiven
Entscheidung von Eltern und Kindern für eine bestimmte Muttersprache und die in ihr aufge-
hobene und mit ihr vermittelte Sprachkultur. Genetisch können wir „Wurzeln“ in einer unbe-
grenzten Zahl von Völkern haben, obwohl die Zahl unserer Eltern auf zwei und die unserer
Großeltern auf vier begrenzt ist und wir meist nicht wissen, aus wie vielen und welchen Völ-
kern wir tatsächlich abstammen. Sprachlich-kulturell aber sind wir immer noch meist mutter-
sprachlich monolingual, eher noch selten bi- oder trilingual, auch wenn wir weitere Fremd-
sprachenkenntnisse erwerben können, in denen wir aber kaum ein Gefühl der sicheren psychi-
schen Geborgenheit gewinnen, auch wenn wir hin und wieder in der Fremdsprache träumen.
Nationale Etatisten wollen das Verständnis von „deutsch“ allein auf die Staatsangehörigkeit
beschränken. Der Spiegel schrieb einmal (Zitat aus dem Gedächtnis): „Ein Deutscher ist der
Inhaber eines deutschen Passes, basta!“. Dieser bürokratisch-rechtliche Deutschenbegriff hat
eine gute und sinnvolle Berechtigung, aber er ist unzureichend. Staaten mögen lange Zeit als
„Nationalstaaten“ funktionieren, solange seine Bürger die Straßenverkehrsordnung und die
anderen Gesetze, und sei es nur aus Furcht vor der Polizei, befolgen. Haben die Bürger kein
staatsbezogenes Nationalbewußtsein, so brechen solche Staaten oft unvermittelt oder in Kri-
sen wie Kartenhäuser zusammen, wie einstmals Österreich-Ungarn, jüngst die DDR, die So-
wjetunion und Jugoslawien. Ohne ein staatsbezogenes Nationalbewußtsein, mag man es auch
Gemeinbewußtsein, Patriotismus oder anders nennen, kann vor allem keine Demokratie auf
Dauer existieren. Insofern ist die Entstehung und Pflege einer politischen Gemeinkultur, eines
Bürgerbewußtseins aller Staatsangehörigen, unabhängig von ihrer sprachlich-ethnisch-
kulturellen „Identität“ unerläßlich. Ziel einer darauf gerichteten politischen Erziehung ist, daß
aus Einwanderern, sofern sie sich zur Einbürgerung entschlossen haben – der gängige Begriff
„Migrant“ vernebelt nur den politisch extrem wichtigen Unterschiede zwischen ausländischen
und eingebürgerten Einwanderern – Deutsche werden, die sich als zur deutschen (Staats-)
Nation zugehörig denken und fühlen, also deutsches Nationalbewußtsein entwickeln, auch
wenn sie anderer Ethnizität als die „Urdeutschen“ bleiben und ihre Kinder in einer nichtdeut-
schen Muttersprache aufziehen wollen. Im politischen Sprachgebrauch sollte man sie türki-
sche Deutsche oder Türkdeutsche, nicht deutsche Türken oder gar nur Türken in Deutschland
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nennen, um die politische Priorität der Staatsangehörigkeit und auch des Nationalbewußtseins
gegenüber dem ethnischen Bewußtsein zu betonen. 65 Jahre nach der Ermordung der europäi-
schen Juden durch die deutschen Nationalsozialisten und ihre Parteigänger in anderen Län-
dern sollten wir auch behutsam dafür werben, daß selbst Juden sich nicht als länger bloß als
Juden in Deutschland oder nur als deutsche Juden empfinden, sondern wieder als jüdische
Deutsche. In ethnologischen Diskurs mag man dennoch ohne politisch-korrigierende Zensu-
ren weiter von Türken, Deutschen, Juden usw. in Deutschland und in aller Welt sprechen.
Eine Alternative zu diesem Sprachgebrauch wäre, daß man Wörter wie deutsch, französisch,
türkisch (im Unterschied zu kurdisch) allein sprachlich-ethnisch besetzt, dann aber neue Na-
men für die sprachlich-ethnisch indifferente Staatsangehörigkeit einführen müßte, und zwar
analog zur Unterscheidung zwischen finnischen und schwedischen Finnländern, russischen
und tatarischen Rußländern, slowakischen und madjarischen Ungarländern, schottischen und
englischen Briten, flämischen und wallonischen Belgiern, griechischen und türkischen Zy-
prern. In der deutschen Sprache ist das leichter als in manch anderen Sprachen. Man könnte
dann von türkischen und deutschen Deutschländern (Staats- und Nationsangehörigen) spre-
chen, von französischen und arabischen Frankreichern, müßte also nicht länger von französi-
schen, echten Franzosen und arabischen Franzosen, von ethnischen, autochthonen oder Ur-
deutschen sprechen. Selbstverständlich klingen Wörter wie Frankreicher im Unterschied zu
Österreicher oder Deutschländer im Unterschied zu Engländer und Isländer höchst seltsam.
Sie würden aber die Legitimität eigener Ethnizität im Rahmen umfassender, staatsbezogener
Nationalität und Staatsangehörigkeit auch sprachlich betonen ohne Furcht, daß die sprachliche
Anerkennung ethnischer Differenz dem „Rassismus“, dem Bürgerkrieg und dem Staatszerfall
Vorschub leistet. Eine solche Alternative hätte den immensen Vorteil, leichter vom alten eta-
tistischen Sprach- und Ethnonationalismus Abschied nehmen zu können, der aus allen Bür-
gern Frankreichs muttersprachliche und ethnisch „eingeschmolzene“ Franzosen, aus den Bür-
gern des Vereinigten Königreiches faktisch „Engländer“ machen wollte, aus allen Bürgern
Deutschlands sprachlich-ethnische Deutsche. Die Gegner innerstaatlicher ethnischer Diffe-
renz merken meist gar nicht, daß sie ausdrücklich oder stillschweigend die sprachlich-
ethnische Homogenisierung aller Staatsangehörigen im Sinne der ethnischen Mehrheit betrei-
ben wollen, wenn auch nicht mehr mit dem Prügel in der Hand wie im 19. Jahrhundert, wohl
aber mit administrativem Zwang. So hofft auch Sarrazin, durch eine rigorose staatliche Ganz-
tageskindergarten- und -schulpolitik das ethnopolitische Ruder noch herumreißen zu können,
um aus Zuwanderern anderer Ethnizität deutsche Muttersprachler machen zu können.
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Sicher wird ein Teil der Nachkommen eingebürgerten Zuwanderer muttersprachlich und kul-
turell deutsche Kinder und Enkel hervorbringen. Wegen der größeren Emanzipationschancen,
die Deutschland gegenüber vielen Herkunftsländern den Frauen bietet, dürften zugewanderte
Frauen eher häufiger als zugewanderte Männer deutsch werden und ihre Kinder zu Deutschen
erziehen, so daß emanzipationsfeindliche Männer sich ihre Ehefrauen lieber weiterhin aus
dem traditionalistischen Ausland holen. Aber insgesamt dürften die politische Klasse in
Deutschland wie auch Sarrazin einer modernen, gebärmutterkolonialistischen Illusion anhän-
gen, daß die Zuwanderer den Deutschen die deutschen Kinder zeugen und erziehen, die sie
selbst nicht zeugen und erziehen wollen, und die ihnen das Altwerden im Rentnerwohlstand
ermöglichen sollen. Vermutlich wird man in der Ära nach dem Sarrazin-Buch verstärkt das
Ruder von der Arbeitslosen- oder Hartz IV-Einwanderungspolitik zu einer verstärkten Fach-
kräfte-, „Inder“- (hier als Synonym für ausländische Informatiker, Mathematiker, Ingenieure
und Techniker gemeint) oder MINT-Einwanderungspolitik herumreißen. Dies hat aber die
fatale Folge, den Entwicklungsländern ihre besten Fachkräfte zu rauben. Wenn es aber nach
Sarrazin auf dem Weltmarkt immer weniger disponible Fachkräfte geben wird, die nach
Deutschland gehen wollen, wo sie unter Umständen auch noch Deutschkenntnisse mitbringen
oder erwerben sollen, dann ist auch die Strategie der Wirtschaftsfachleute, daß Zuwanderer
die Güter und Dienstleistungen für die Einlösung der Rentenansprüche der Deutschen erarbei-
ten sollen, zum Scheitern verurteilt. Die Deutschen ziehen sich dann, zugespitzt gesagt, im-
mer mehr in gated communities für Senioren, quasi Reservate für die indigenen Deutschen,
mit billigen Pflegekräften aus anderen Ländern und anderer Ethnizität (heute Polen, morgen
Ukrainer, schließlich Thais) zurück. Das Wirtschaftswachstum, die Arbeitsproduktivität, der
Wohlstand und die Bevölkerungszahl Deutschlands müßten dann tatsächlich sinken.
Die eigentliche Alternative, die Sarrazin anspricht, wird merkwürdigerweise oder vielleicht
aus dem naheliegenden Grund, weil sie auch den Beifallsspendern von Sarrazin unangenehm
ist, öffentlich fast nicht diskutiert. Die Zuwanderungs- und Integrationsthematik ist eigentlich
nur ein Nebenschauplatz der bevölkerungspolitischen Thematik. Eine Bevölkerungsschrump-
fungspolitik, die ja nicht grundsätzlich unakzeptabel sein muß, ist offenbar ökonomisch nicht
möglich ohne Inkaufnahme einer erheblichen Senkung des allgemeinen Wohlstands. Somit ist
das eigentliche Problem Deutschlands die selbst im Vergleich zu den meisten anderen Indu-
strie- und Dienstleistungsstaaten äußerst niedrige Geburtenrate. Die Deutschen müßten also
ihre Geburtenenthaltung aufgeben, wollen sie zumindest ihren heutigen Lebensstandard in
Zukunft wahren und zusätzlich nicht längerfristig zur muttersprachlich-ethnischen Minderheit
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in Deutschland werden. Aus Deutschland würde sicher nicht Türkland, aber wohl eine Art
habsburgischer Staat, wo es keine sprachlich-ethnische Mehrheit gibt, sondern eine Fülle sol-
cher Minderheiten, in der nicht, wie in Sarrazins satirischem Alptraum eines Tages die deut-
sche Verkehrssprache durch die türkische abgelöst würde, sondern vermutlich eher durch die
englische. Denn vermutlich wird man den MINT-Immigranten, also den tatsächlichen und
virtuellen „Indern“ schon bald erlauben, nur Englisch zu sprechen und die Pflicht, Deutsch zu
lernen, ersparen, so daß die Deutschen zumindest in der Mittel- und Oberschicht sich den „In-
dern“ anpassen müssen. Aus Deutschland würde längerfristig eher ein ethnisch kunterbuntes
anglophones Euromusterland, dem sich noch manch anderes europäische Land angleichen
würde. Bereits heute beginnt man schon, an deutschen Universitäten manches Wissen nur
noch in englischer Sprache zu vermitteln, anstatt gleichzeitig die Englischkenntnisse bei den
Studenten und die Entwicklung der deutschen Fachsprachen zu fördern.
Die Erwartung, daß Ausländer und deutsche Bürger nichtdeutscher Ethnizität deutsche Kinder
zeugen und erziehen, ist nicht nur illusionär, sondern sie ist auch politisch-moralisch eine
höchst fragwürdige ethnische Leihmutter- und Leihelternpolitik. Die richtige Antwort auf
dieses Problem kann nur lauten: die Deutschen müssen ihre deutschen Kinder vorwiegend
selbst zeugen und erziehen, also von ihrer bisherigen „Inder“-statt-Kinder-Politik abgehen.
Eine liberale Gesellschaft muß zweifellos freiwillige oder unfreiwillige Kinderlosigkeit und
Kinderarmut von Individuen, Mönchen und Schwulen, Nonnen und Lesben, an sich Fruchtba-
ren und nicht Fruchtbaren nicht nur dulden, sondern auch achten und anerkennen. Dann kann
sie aber nicht die Ein- und Zweikinderfamilie als Normalfamilie darstellen und damit indirekt
propagieren, im täglichen Fernsehen, in populären Filmen, in der Demonstration sozialstatisti-
scher Musterfamilien, in der alltäglichen Erziehung in den Medien und anderswo. Vielmehr
muß sie die Drei- bis Vierkinderfamilie als Normalfamilie propagieren und institutionelle
Grundlagen für sie schaffen, z. B. in Form von als familienfreundlich ausgewiesenen Betrie-
ben, um gesamtgesellschaftlich eine durchschnittliche Geburtenrate von 2,1 Kindern pro Frau
zu erreichen. Eltern mit vier oder mehr Kindern dürfen nicht als Karnickel oder als Aspiranten
auf das nationalsozialistische Mutterkreuz denunziert werden. (Die Vermutung wurde schon
seit Jahren nicht zu Unrecht geäußert, daß die geringe deutsche Geburtenzahl auch eine post-
und nachholende antinationalsozialistische Reaktionsweise in der politischen Psyche der
Deutschen darstellt.) Darüber hinaus gilt es nach Sarrazin, auf die selbst in Deutschland über-
durchschnittlich hohe Geburtenenthaltung der Mittel- und Oberschichten durch ein progressi-
ves Kindergeld zu reagieren, wie es im einzelnen auch immer rechtlich organisiert wird, das
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allen Kindern nicht einen egalitären finanziellen Anspruch gewährt, sondern einen, der dem
Lebensstandard der jeweiligen Schicht entspricht. Dies heißt anzuerkennen, daß hart arbeiten-
de Mittel- und Oberschichtangehörige andere Personen anstellen müssen, die einen großen
Teil der Kindererziehung übernehmen, weitgehend durch den Staat, indirekt also durch die
Kinderlosen und Kinderarmen, im Interesse des Gemeinwohls und der eigenen Altersversor-
gung finanziell entlastet werden – abzüglich einer gewissen „Vergnügungssteuer“, da Kinder
nicht nur Arbeitslast, sondern auch Freude bedeuten. Wenn in oberen Schichten Männer wie
Frauen sechzig bis achtzig Stunden pro Woche arbeiten wollen und müssen, sonst könnten sie
sich ja gar nicht in dieser sozialen Position halten, und sie viel beruflich unterwegs sind, dann
können sie nur dann vier Kinder aufziehen, wenn sie hierfür erheblich mehr Kosten aufbrin-
gen, als die, die bei Arbeitslosen oder 38-Stunden-Erwerbstätigen oder Halbtagsbeschäftigten
anfallen. Die Kinderlosigkeit und -armut der Mittel- und Oberschichten ist, auch ohne die
sozialen Vererbungsthesen Sarrazins, eine enorme Vergeudung von Bildungsressourcen. Die
denkbare Alternative: den Vielarbeitern in den Mittel- und Oberschichten eine 38-Stunden-
Arbeitszeitbegrenzung aufzwingen, dürfte völlig unrealistisch sein, weil sie nicht nur politisch
und psychosozial undurchsetzbar, sondern vor allem auch unökonomisch ist.
Kurzum, die letzten Endes tatsächlich tabubrechenden kultur- und ethnopolitischen Untersu-
chungen Sarrazins über die Selbstabschaffung Deutschlands, d. h. die längerfristig quantitati-
ve Schrumpfung der Deutschen bis auf eine ethnische Minderheit in Deutschland, haben mit
Rassismus, Rassenhygiene, Populismus (d.h. fundamentaler Ablehnung parlamentarischer
Demokratie und volkstribunenartiger Massenmobilisierung gegen Recht und Gesetz), Auslän-
der- und Fremdenfeindlichkeit und ethnischer Ausgrenzung absolut nichts zu tun, obwohl das
Buch auch hier und da fatale ethnische bzw. religiös-kulturelle und übrigens auch ge-
schlechtsspezifische Vorurteile und bösartige Herabwürdigungen ethno-religiöser Personen-
gruppen enthält. Fragwürdig ist zweifellos Sarrazins ständig wiederholte These, daß Intelli-
genz zu „50 bis 80 Prozent“ vererbt sei. Die Intelligenz-Vererbungsthese Sarrazins ist wissen-
schaftlich falsch oder richtig, oder sie enthält ein oder zwei Körnchen Wahrheit; aber sie hat
nichts mit irgendwelchen Wertvorstellungen, Welt- und Menschenbildern zu tun, die es zu
bekennen und durch Parteiausschlüsse zu retten gilt.
7 Sarrazins Erfolgschancen Wie geht es weiter mit der Kontroverse um Sarrazin und sein Buch? Sarrazins Vorstoß, die
mit dem drastischen Geburtenrückgang der Deutschen und der massiven Zuwanderung von
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vornehmlich türkischen und arabischen, sicher auch kurdischen Muslimen verbundenen Pro-
bleme deutlicher zur Kenntnis zu nehmen und nach politischen Antworten zu suchen, war
bisher ungewöhnlich erfolgreich. Zwar wird er weiterhin verfemt, aber viele seiner Argumen-
te wurden von manchen seiner Kritiker übernommen, auch die eine oder andere Politikände-
rung im Sinne Sarrazins angekündigt. In den Medien ist bereits eine tendenzielle Themenum-
kehr (Paradigmenwechsel nennt man das im akademischen Jargon) zu beobachten: Berichte
über die „Deutschenfeindlichkeit“ und die „Integrationsunwilligkeit“ von türkischen und ara-
bischen Einwanderern drängen die über die „Fremdenfeindlichkeit“ der alteingesessenen
Deutschen in den Hintergrund.
Wenig spricht dafür, daß es sich bei der Sarrazin-Kontroverse um eines der üblichen medialen
Strohfeuer handeln wird, weil die von ihm angerissenen Probleme nicht von der Tagesord-
nung verschwinden werden. Vermutlich hat sich der Name Sarrazin bereits jetzt schon in das
kollektive politische Gedächtnis eingenistet, anders als etwa der Name Herbert Gruhls, der
mit seinem Buch „Ein Planet wird geplündert – Die Schreckensbilanz unserer Politik“ von
1975 einen wichtigen Anstoß nicht nur für die Entstehung der Partei Die Grünen gegeben hat,
sondern für die heutige ökologische Politik sämtlicher Parteien. Gruhl gab damals die Parole
aus: „Weder links, noch rechts, sondern vorn“. Diese Parole dürfte auch für eine von Sarrazin
angeregte Einwanderungs- und Integrationspolitik gültig werden. Vielleicht wird Sarrazin in
einigen Jahren sogar das Bundesverdienstkreuz für seine längst überfälligen politischen An-
stöße zur Bevölkerungsentwicklung erhalten, wie einst Gruhl für seine ökologischen.
Auffällig ist jedoch, daß über Sarrazins Überlegungen zum deutschen Geburtenrückgang
kaum öffentlich diskutiert wird, obwohl der eigentlich das zentrale, von ihm angesprochene
Problem ist, nicht die Zuwanderung von Nichtdeutschen. Aber dies liegt wohl eher daran, daß
es leichter ist, über den Splitter in den Augen anderer zu reden, als den Balken des beklagten
Übels an seinen eigenen, deutschen Wurzeln anzupacken.
Das große Deutschensterben unter den Alteingesessenen beginnt erst in zwanzig und dann
verstärkt in dreißig bis vierzig Jahren, wenn, grob geschätzt, auf zwei Geburten sechs Beerdi-
gungen (und nebenbei gesagt: eine Taufe) fallen dürften. Dieser Trend ist bereits unabwend-
bar, allenfalls leicht korrigierbar. Auch die deutsch sozialisierten Neubürger und ihre mutter-
sprachlich deutschen Kinder und Enkel und die bi-ethnischen Deutschen werden diesen Ver-
lust an „urdeutscher“ Bevölkerung nur zum Teil kompensieren können, da sie dieselbe Gebur-
tenarmut bevorzugen wie die Alteingesessenen.