#*2'; #3 #1+4#-...#*2'; #3 #1+4#- ... 3 !

8

Transcript of #*2'; #3 #1+4#-...#*2'; #3 #1+4#- ... 3 !

1 50 JAHRE „DAS KAPITAL“ 1Sonderbeilage zur Avanti² Juli/August 201 7

1 50 Jahre „Das Kapital“*

Die Welt verändern mittelsPhilosophieDem jungen Karl Heinrich Marx, ge-boren am 5. Mai 1818 in Trier, wurdebeileibe nicht an der Wiege gesungen,einmal der Verfasser eines der meist-gedruckten, leider auch meist missver-standenen ökonomisch-philosophischenWerke der Weltliteratur zu werden.Stattdessen sollte er in die Fußstapfenseines Vaters, eines angesehenen Trie-rer Advokaten, treten. So war er dennnach seinem Abitur zunächst in Bonn,ab Herbst 1836 dann in Berlin an derjuristischen Fakultät eingeschrieben.Doch galt sein Interesse immer mehrphilosophischen Studien – sehr zumMissfallen seines Erzeugers. Der Philo-soph G.F.W. Hegel war bis zu seinemTode 1831 Rektor der Universität Ber-lin gewesen und hatte dort eine zahl-reiche Anhängerschaft hinterlassen.Von der – wie er sich in einem Brief anden Vater ausdrückte – „groteskenFelsenmelodie“ der Hegelschen Philo-sophie unwiderstehlich angezogen,schloss sich Marx einem der radikale-ren junghegelianischen Zirkel aus Do-zenten und Literaten an, dem „Dok-torclub“. Er stieg nun endgültig vonder Jurisprudenz auf die Philosophieum und begann an seiner Doktorar-beit über „Die Differenz der demo-kritischen und epikureischen Naturphilosophie“ zu arbeiten, die er 1841nach seinem Abgang aus Berlin derphilosophischen Fakultät der Universi-tät Jena einreichte.

Mittlerweile mit Jenny von Westpha-len, Tochter eines preußischen Regie-rungsrats in Trier heimlich verlobt,kehrte er als frischgebackener Doktorder Philosophie ins heimatlicheRheinland zurück und schrieb als frei-er Mitarbeiter Artikel für die in Kölnerscheinende liberal-bürgerliche Rhei-nische Zeitung, deren Redakteur er imOktober 1842 wurde. Diese Tätigkeitkonfrontierte ihn zum ersten Mal mitökonomischen Fragen, u.a. mit derprekären Situation verarmter Mosel-winzer und den Debatten über Frei-handel und Schutzzölle.Auch während seiner journalisti-

schen Tätigkeit war Marx ohne Zweifelnoch Junghegelianer und so fasste erzwar den preußischen Staat nicht wieHegel selbst und dessen Gefolgsleuteals Verkörperung des „Vernunft-staats“ auf, doch sieht er - an Hegelanknüpfend - im Staat noch eine Kör-perschaft über den Klassen, die nurdem Allgemeininteresse verpflichtetist. Es gelte also nur innerhalb des be-stehenden Staates dessen eigentlichesWesen zu verwirklichen, das identischist mit einer „vernünftigen Freiheit“.Das zu vollbringen sei nur die Philoso-phie berufen.Während seiner Tätigkeit als Redak-

teur hatte er dauernd mit der preußi-schen Zensur zu kämpfen, da dieRheinlande seit dem Wiener Kongress1815 Preußen zugeschlagen wordenwaren. In seinen Artikeln mehr oderweniger deutlich für eine demokrati-sche Republik eintretend, wurde ihm

schließlich nach vielen kleinen Schika-nen das Verbot der Zeitung mitgeteilt,er trat aus der Redaktion aus, zog sichvon „der öffentlichen Bühne in dieStudierstube“ zurück und begann sichkritisch mit Hegels Rechtsphilosophieauseinanderzusetzen. Den Plan einerZeitschriftenherausgabe verfolgendbeschloss er, unmittelbar nach seinerHeirat mit Jenny in das freiere Parisüberzusiedeln.

Die materielle Gewalt derPhilosophie: das ProletariatDort begann er Ende Oktober 1843mit neuen Studien zur Geschichte derfranzösischen Revolution, zur Religi-ons- und Kunstgeschichte und stu-dierte, angeregt durch den Aufsatz„Umrisse zu einer Kritik der National-ökonomie“ von Friedrich Engels, zumersten Mal ökonomische Werke, die er– wie es seit seinem Studium seineGewohnheit war – immer auch exzer-pierte, u.a. A. Smith, D. Ricardo, J.B.Say, und J.C. Sismondi, sämtlich inFranzösisch. Zugleich konnte er ersteKontakte zu in Paris bereits existieren-den Arbeitergruppen knüpfen.Von April bis Juni 1844 entstanden

parallel zu diesen Studien die späterredaktionell so bezeichneten „Ökono-misch-philosophischen Manuskrip-te“, auch „Pariser Manuskripte“ ge-nannt, die jedoch nicht vollständig er-halten sind, und in denen er sich inseiner Kritik an Philosophie und Öko-nomie wesentlich an der AnthropologieFeuerbachs orientierte. Feuerbach hat-

JÜRGEN ARZ________

Am 1 6. August 1 867 um zwei Uhr nachts schrieb Karl Marx in London folgendeNachricht an seinen Freund Friedrich Engels in Manchester: „Eben den letztenBogen des Buchs fertig korrigiert. [...] Also dieser Band ist fertig. Bloß Dir verdankeich es, dass dies möglich war! Ohne Deine Aufopferung für mich konnte ich un-möglich die ungeheuren Arbeiten zu den 3 Bänden machen. I embrace you, ful lof thanks!” Das Buch, auf das sich Marx in seinem Schreiben bezog, erschiendann Anfang September 1 867 in Hamburg – also vor 1 50 Jahren – unter dem Ti-tel „Das Kapital. Kritik der pol itischen Ökonomie. Erster Band“, im Untertitel „DerProduktionsprozess des Kapitals“, in einer Auflage von 1 000 Exemplaren.

2 1 50 JAHRE „DAS KAPITAL“Sonderbeilage zur Avanti² Juli/August 201 7

te versucht, den metaphysischen Hegel-schen absoluten Geist in den wirkli-chen, sinnlichen Menschen aufzulösen,und erklärte das Denken, den Geist –bei Hegel noch selbständiges Subjekt –zur Eigenschaft des wirklichen Men-schen, der bei ihm allerdings nicht ineinem gesellschaftlichen Praxiszusam-menhang wurzelt, sondern immer gat-tungsbestimmtes Individuum inunterschiedlichen Entfremdungsstadi-en bleibt. Marx übernahm dessen Ent-fremdungskonzeption, übertrug sie aufdie Ökonomie und stellte fest, dass die-jenige Klasse, die sowohl von ihremProdukt wie von ihrem eigentlichenMenschsein entfremdet war, das Prole-

tariat, das Subjekt kommender gesell-schaftlicher Umwälzungen sein werde.Der Kopf der menschlichen Emanzipa-tion sei die Philosophie, ihr Herz dasProletariat.Beide Texte, sowohl die „Kritik desHegelschen Staatsrechts“ wie auchdie „Pariser Manuskripte“, wurden erstim Rahmen des ersten Versuchs, einehistorisch-kritische Gesamtausgabe derWerke von Marx und Engels (MEGA)herauszugeben, Anfang der dreißigerJahre des vorigen Jahrhunderts veröf-fentlicht. Nur der Text „Zur Kritik derHegelschen Rechtsphilosophie. Ein-leitung“ erschien noch 1844 in der ers-ten und einzigen Nummer der

Zeitschrift Deutsch-Französische Jahr-bücher.

Revolutionäre Praxisstatt PhilosophieNach Marxens Ausweisung aus Frank-reich aufBetreiben Preußens im Januar1845 und seiner Übersiedelung nachBrüssel begann seine lebenslange Zu-sammenarbeit mit Engels, und auf ei-ner gemeinsamen Studienreise nachEngland im Sommer 1845 konnten erund Marx ihre ökonomischen Studienwieder aufnehmen. Zusammen mit ihmverfasste er im ersten Halbjahr 1846 dieStreitschrift „Die deutsche Ideologie“,in der sich beide kritisch mit den Jung-

Foto: Avanti²Wandmalerei in Chemnitz

1 50 JAHRE „DAS KAPITAL“ 3Sonderbeilage zur Avanti² Juli/August 201 7

hegelianern und daher mit Positionenauseinandersetzten, die sie selbst ein-mal vertreten hatten. In ihr wurde zumersten Mal auch der Feuerbachsche Ma-terialismus einer Kritik unterzogen. Siemarkiert methodisch eine Abkehr vonder Gegenüberstellung von Realität undWesen. Die Schrift fand jedoch auf-grund mangelnder Finanzen keinenVerleger und Marx stellte später fest:„Wir überließen das Manuskript dernagenden Kritik der Mäuse umso willi-ger, als wir unsern Hauptzweck erreichthatten – Selbstverständigung.“1847 entstand „Das Elend der Phi-losophie“, eine in Französisch verfasstepolemische Auseinandersetzung mitder Schrift „La philosophie de la misè-re“ des französischen Sozialisten P.-J.Proudhon, Marx’ erste größere veröf-fentlichte Arbeit mit philosophischenund ökonomischen Inhalten, die noch1847 gedruckt erschien. Als Kampf-schrift gegen den Einfluss Proudhonsinnerhalb einer erstarkenden Arbeiter-bewegung konzipiert, bewegt sie sich inihrer Kritik an dessen Methode immernoch auf der Ebene der Hegel-Kritikaus „Die deutsche Ideologie“, wo derBegriffder Philosophie durchweg einenabwertenden Beigeschmack hat, jamanchmal geradezu als Schimpfwortgebraucht wird. Daneben kritisiert erselbstverständlich den romantischenAntikapitalismus Proudhons, der vorallem auf der Unkenntnis ökonomi-scher Zusammenhänge beruhe. Erweist darin Proudhon mehrfach nach,die „klassischen“ Ökonomen AdamSmith und David Ricardo falsch ver-standen zu haben, kann aber selbstnoch nicht Ricardos Positionen kritisie-ren, sondern allenfalls deren Kritikdurch J.B. Say als fehlerhaft nachwei-sen, z.B. was die Rolle des Geldes unddessen Wertbestimmung angeht. Dar-über hinaus hielt er im Dezember 1847im Deutschen Arbeiterverein in Brüsselmehrere Vorträge zum Thema „Lohn-arbeit und Kapital“, deren Drucklegungebenso wie die Fortsetzung seiner öko-nomischen Studien allerdings durch dieFebruarrevolution 1848 und die Aus-weisung Marxens aus Belgien verhin-dert wurde.Von der Anlage her etwas ganz ande-

res ist das „Manifest der Kommunis-tischen Partei“: Die aus dem „Bundder Gerechten“ hervorgegangene kleine

revolutionäre Gruppe „Bund der Kom-munisten“ hatte schon auf ihrem erstenKongress im Juni 1847 beschlossen, einProgramm vorzubereiten und beauf-tragte im November desselben JahresMarx und Engels mit dessen Ausarbei-tung. Entsprechend dieses Auftragswerden dort einerseits emphatisch undmit kühnem Schwung die Entwick-lungslinien der kapitalistischen Pro-duktionsweise nach- undvorgezeichnet, allerdings ohne die Basisder klassischen politischen Ökonomiezu verlassen. Doch ist dort lediglich vonder Bourgeoisie als Motor der Ge-schichte die Rede, sodass sich Engelsbei einer Wiederauflage des Manifests1888 veranlasst sah, zu erklären, dassunter Bourgeoisie „die Klasse der mo-dernen Kapitalisten“ zu verstehen ist.Auf der anderen Seite wird der nochjungen Arbeiterklasse eine Befreierrollezugewiesen, die Marx aber nicht aus ei-ner Analyse der Struktur der Bewegungs-gesetze der kapitalistischen Produktions-weise gewonnen hatte, zu der er zu die-ser Zeit noch gar nicht in der Lage war;vielmehr machte sich hier noch immereine stark an Hegel erinnernde Ge-schichtsphilosophie geltend.Nach einem vorübergehenden Auf-

enthalt in Paris kehrte Marx nachDeutschland zurück, wozu ihn die re-volutionären Entwicklungen in ganzEuropa im Jahr 1848 veranlasst hatten.Publizistisch nahm er vor allem durchdie von ihm mitbegründete Neue Rhei-

nische Zeitung in Köln lebhaften Anteildaran. Darin erschien auch vom 5. bis11 . April 1849 eine Artikelfolge unterdem Titel „Lohnarbeit und Kapital“,die auf der Vortragsreihe in Brüssel1847 beruhte.Nach dem Scheitern der Revolution

von 1848, seiner Ausweisung aus Preu-ßen und Aufenthalten in Süddeutsch-land emigrierte er wiederum nachParis, doch die französische Regierungwies ihn bald auf Druck der preußi-schen ebenfalls aus, und zwar nach demDepartement Morbihan, das er als die„Pontinischen Sümpfe“ der Bretagnebezeichnete. Diesem, wie er fand, „ver-kleideten Mordversuch“ kam er zuvorund reiste Ende August 1849 in seinletztes Exil – London.

Endstation London:Heimstatt des Kapitals und derpolitischen Ökonomie

Am 27. August 1849 legte in Dover derDampfer „City ofBoulogne“ an, dessenKapitän vorschriftsmäßig dem briti-schen Innenministerium alle Fremdenmeldete, die sich an Bord seines Schif-fes befanden, darunter ein gewisserCharles Marx, der als Beruf „Dr.“ ange-geben hatte. Dieser reiste von dort zuseinem letzten Exil London – die größ-te und reichste Metropole der damali-gen Welt, zugleich jedoch umgeben vonendlosen Slums voller Elendshütten,ganz ähnlich wie in den heutigen Me-

Foto: Avanti²Marx-Monument in Chemnitz

gametropolen.Dort erhielt Marx ab Juni 1850 Zugang

zur Bibliothek des British Museum – lauteigener Einschätzung der günstigste„Standpunkt“, um das „ungeheure Materi-al“ zur Geschichte der politischen Ökono-mie „kritisch durchzuarbeiten“ – undkonnte so seine ökonomischen Studienwieder aufnehmen, wobei er noch einmal„ganz von vorn“ anfing. Doch nicht nurtheoretisch, auch praktisch war Londonder geeignete Ort, die kapitalistische Ent-wicklung zu studieren. So untersuchte erzunächst anhand der Zeitung The Econo-mist die konkrete ökonomische Entwick-lung der letzten zehn Jahre. Die von ihmverfassten Exzerpte aus der Zeit von 1850bis 1853 umfassen darüber hinaus soziemlich alle für Wirtschaft und Wirt-schaftsgeschichte relevanten Werke vor-nehmlich englischer, aber auch fran-zösischer, italienischer und deutscher Au-toren, u.a. J. Mill, Tooke, Carey, Malthus,Ramsay, Hume, Hodgskin, Locke, Ricardound Smith – diesmal alle in der Original-sprache. In der IV. Abteilung der seit 1976erscheinenden zweiten Marx-Engels Ge-samtausgabe (MEGA²) füllen sie alleinefünfBändemit zusammen ca. 3000 Seiten.Dabei entstanden erste genauere Überle-gungen zu jenem großen ökonomisch-phi-losophischen Werk, das ihm schon seit1844 in verschiedenen Varianten vor-schwebte.Marx arbeitete unter unwahrscheinlich

schwierigen Bedingungen. Ermusste stän-dig gegen eine drückende materielle Notkämpfen und oft seine breit gestreuten Stu-dien unterbrechen, um durch publizisti-sche Tätigkeiten den Lebensunterhalt fürsich und seine wachsende Familie zu ver-dienen, vor allem mit Artikeln zur politi-schen und ökonomischen Situation dereuropäischen Mächte für die große ameri-kanische TageszeitungNewYork Daily Tri-bune. Seine Frau Jenny schrieb an einenBekannten: „Karl arbeitet am Tage, umfürs tägliche Brot zu sorgen, nachts, umseine Ökonomie zur Vollendung zu brin-gen.“ Dazu kamen ständig länger andau-ernde Krankheitsperioden, Krankheitenund Todesfälle in der Familie und ermü-dende Auseinandersetzungen unter denverschiedenen Emigrantengruppen. Ohnedie ständigen Zuwendungen seines Freun-des Engels, der eine väterliche Firma inManchester als Teilhaber führte, wäre die-se Arbeit nicht zu bewältigen gewesen;doch auch so wanderte ein ums andere

Mal das familiäre Tafelsilber, Erbe seinerFrau, ins Pfandhaus.Die sich 1857 anbahnende erste große

Weltwirtschaftskrise veranlasste ihnschließlich, in einem Kraftakt zwischenOktober 1857 undMai 1858 ein nurweniggegliedertes Manuskript von fast 800Druckseiten niederzuschreiben, das unterdem redaktionellen Titel „Grundrisse derKritikder politischenÖkonomie (Ro-hentwurf)“ in zwei Bänden erstmals1939-41 in Moskau veröffentlicht wurde.„Ich arbeite wie toll die Nächte durch ander Zusammenfassung meiner ökonomi-schen Studien, damit ich wenigstens dieGrundrisse imKlaren habe“, bevor die vonihm prognostizierte revolutionäre Flut imGefolge der Krise hereinbrechen würde,schrieb er im Dezember 1857 an Engels.Dabei kam ihm nach eigenem Bekundensehr zustatten, dass er zufällig Hegels „Lo-gik“ wieder durchgeblättert hatte. Es han-delt sich bei diesem Text um den erstenEntwurfzu seinemHauptwerk, der schondie spätere Dreigliederung in Produktions-,Zirkulations- und Gesamtprozess ahnenlässt, in dem jedoch, „alles wie Kraut undRüben durcheinander“ geht, wie Marx ei-nigeMonate später selbst zugab. Die Krisevon 1857/58, der keineswegs die erwarteterevolutionäre Entwicklung folgte, stellteauch Marx und seine Familie vor große fi-nanzielle Schwierigkeiten. Jedenfalls be-kannte er 1859 halb ironisch, halb ernst:„Ich glaube nicht, dass unter solchemGeldmangel je über ‚das Geld’ geschriebenworden ist.“Nachdem sich ein Verleger durch die

Vermittlung Ferdinand Lasalles fand, ar-beitete Marx den Text zur Veröffentlichungin zwei Etappen völlig um: August bis Ok-tober 1858 entstand der Urtext – unvoll-ständig erstveröffentlicht im Rahmen der„Grundrisse“ 1939-41 – und dannNovem-ber bis Januar 1859 der eigentlicheDrucktext. Marx hatte 1858/59 mehrfachdie Absicht geäußert, sein ökonomischesWerk in sechs Büchern abzuhandeln, wo-von das erste vom Kapital, die fünfweite-ren vom Grundeigentum, von derLohnarbeit, vom Staat, vom auswärtigenHandel und vom Weltmarkt handeln soll-ten. Das erste, das Kapital-Buch, war wie-derum in die Abschnitte: das Kapital imAllgemeinen, die Konkurrenz, der Kreditund das Aktienkapital unterteilt und des-sen erster Abschnitt in die Kapitel Wert,Geld und Kapital. In der Ausarbeitung re-duzierte Marx jetzt den Text von den ur-

sprünglich drei Kapiteln auf nunmehrzwei (Ware - vorher Wert - und Geld),die im Juni 1859 im Verlag Duncker inBerlin unter dem Titel „Zur Kritik derPolitischen Ökonomie“ erschienenund die der erste Teil eines auf Fortset-zung berechneten Werks sein sollten. Je-denfalls teilte er Engels Ende 1858 mit,dass der erste Teil umfangreicher gewor-den sei, als ursprünglich geplant, da daserste Kapitel über die Ware im Rohent-wurf gar nicht enthalten war und daszweite über das Geld „nur in ganz kurz-en Umrissen“. In der MarxschenSelbstverständigung hatte zu dieser Zeitdas Kapital-Buch jene auch später bei-behaltene Dreiteilung in Produkti-onsprozess, Zirkulationsprozess undEinheit der beiden bereits feste Gestaltangenommen, wobei jedes Kapitel wie in„Zur Kritik ...“ einen theoriegeschichtli-chen Anhang haben sollte.

Neue Schwierigkeiten und die Ver-änderung des ursprünglichen PlansNach derWiederaufnahme seiner ökono-mischen Studien in der Bibliothek desBritischen Museums Ende 1859 /Anfang1860 folgte eine eineinhalbjährige Unter-brechung durch Krankheit, Erwerbsar-beit, Prozesse und Konflikte innerhalb derEmigration. So schrieb er 1862 an Ferdi-nand Lasalle: „Was mein Buch betrifft, sowird es vor zwei Monaten nicht fertig. Ichhabe während des letzten Jahrs, um nichtzu verhungern, das schnödeste Hand-werkszeug machen müssen und oft mo-natelang keine Zeile an der ‚Sache’schreiben können. Dazu kömmt meineEigentümlichkeit, dass, wenn ich nach 4Wochen etwas fertig Geschriebenes vormir sehe, ich es ungenügend finde undwieder total umarbeite.“Es sollte allerdings noch mehr als fünf

Jahre dauern! Doch von August 1861bis Juli 1863 entstand zunächst einneues Manuskript von etwa 2400Druckseiten, das im ersten Teil alsFortsetzung von „Zur Kritik der poli-tischen Ökonomie“ angelegt und auchso betitelt ist (heute in MEW 43). DieserManuskriptteil kann zusammen mit denbeiden unter diesem Titel veröffentlichtenKapiteln als der zweite Entwurf zu sei-nem Hauptwerk gelten. In den letztenbeiden Teilen handelt das Manuskriptauch schon mit Themen des späterendritten Bandes, ist jedoch mit vielen Ab-schweifungen und unausgearbeiteten

4 1 50 JAHRE „DAS KAPITAL“Sonderbeilage zur Avanti² Juli/August 201 7

Hinweisen versehen. In diese Zeit fielauch die Entscheidung von Marx, dieTheoriegeschichte nicht mehr an dieeinzelnen Kapitel anzuhängen, sondernals selbständiges Buch zu publizieren. Immittleren Kern des Manuskripts ist es ei-ne umfassende Auseinandersetzung mitden Mehrwerttheorien seiner Zeit. Fol-gerichtig wird es später „Theorien überdenMehrwert“ genannt, allerdings erst1905-1910 durch Karl Kautsky, nach En-gels‘ Tod einflussreichster Theoretikerder Sozialdemokratie, veröffentlicht undfälschlicherweise als 4. Band des „Kapi-tal“ betrachtet werden, denn es kann nurals ein sehr roher Entwurf zu einer um-fassenden Theoriegeschichte gelten, wiesie Marx geplant hatte. Komplett veröf-fentlicht wurde das Manuskript erst inder zweiten MEGA mit den TeilbändenII/3.1 bis 3.6 von 1976-1982.Ab 1863 ging Marx – wie er in einem

Briefan seinen Freund Kugelmann, Arztin Hannover, Ende 1862 allzu optimis-tisch annahm – an die Reinschrift seinerManuskripte: „Der zweite Teil ist nunendlich fertig, d.h. bis zum Reinschreibenund der letzten Feilung für den Druck.[...] Es ist die Fortsetzung von Heft I, er-scheint aber selbständig unter dem Titel‚Das Kapital’ und ‚Zur Kritik der Politi-schen Ökonomie’ nur als Untertitel.“ Indiesem Brief nannte Marx auch die inerster Linie materiellen Schwierigkeitenals Ursache für die große Verzögerungseiner Arbeit und fügte prophetisch hin-zu: „Es ist wahrscheinlich, dass dieselbenUrsachen die schließliche Fertigmachungfür den Druck länger, als mir lieb ist, hin-ziehen.“Wie so oft bei Marx kamen auch wäh-

rend der Niederschrift bis Dezember 1865neue Studien hinzu, sodass ein großer Teildes neuenManuskriptes ebenfalls Arbeits-charakter besitzt. Es entstanden noch ein-mal fast 1800 Druckseiten, jetzt betitelt„Das Kapital“, zu Themen des zweitenund dritten Bandes und dazu noch einmalca. 440 Manuskriptseiten zu Themen desersten Bandes, die jedoch nicht überliefertsind. Von diesem Teil des Manuskriptsexistieren nur einzelne Blätter und ein Ka-pitel „Resultate des unmittelbaren Produk-tionsprozesses“, das dann aber keineAufnahme in den ersten Band fand. Es istdies derdritte Entwurfzu seinemHaupt-werk. Der überlieferte Teil des Manuskriptsenthält jedoch die zentrale Textgrundlagefür Engels’ Bearbeitung des späteren drit-

ten Bandes. Die komplette Veröffentli-chung dieses Manuskriptes zusammenmit zur gleichen Zeit entstandenenkomplementären Texten in der zweitenMEGA in den drei Teilbänden II/4.1 bis4.3 – begonnen 1988 – wurde erst imSommer 2012 (! ! ! ) abgeschlossen.Bei der Niederschrift der letzten bei-

den Entwürfe zum ersten Band von1861-63 und 1863-65 gelangte Marxzunehmend zu der Überzeugung, dassdas Kapital selbst in seinen allgemeins-ten Zügen nicht darstellbar sei, ohnegrundlegende Fragen der Lohnarbeit,

des Grundeigentums und des Welt-markts einerseits, sowie der Konkur-renz und des Kredits andererseits zuintegrieren, also Probleme, die ur-sprünglich für die anderen Bücher bzw.die weiteren Abschnitte des ersten Bu-ches vorgesehen waren. Damit gewanndas erste Buch über das Kapital imRahmen des Gesamtkonzepts erheblichan Bedeutung und Raum, während denanderen mehr und mehr die Rolle vonSpezialuntersuchungen zufiel. In dieseZeit fällt wohl auch die sich langsamdurchsetzende Erkenntnis, dass er nicht

1 50 JAHRE „DAS KAPITAL“ 5Sonderbeilage zur Avanti² Juli/August 201 7

Foto: Avanti²Karl Marx - Das Kapital als Sparbüchse

in der Lage sein werde, das Gesamt-werk in 6 Büchern fertig zu stellen.Das verbleibende Werk hat dann

wohl 1865/66 seine endgültige Gestaltbekommen; jedenfalls schrieb er imOktober 1866 an Freund Kugelmann:„Das ganze Werk zerfällt nämlich infolgende Teile: Buch I. Produktionspro-zess des Kapitals. Buch II. Zirkulations-prozess des Kapitals. Buch III.Gestaltung des Gesamtprozesses. BuchIV. Zur Geschichte der Theorie. [.. .] Ichhabe es für nötig erachtet, in dem ers-ten Buch wieder ab ovo zu beginnen,d.h. meine bei Duncker erschieneneSchrift“ – gemeint ist „Zur Kritik derPolitischen Ökonomie“ von 1859 – „ineinem Kapitel über Ware und Geld zuresümieren.“Im Juni 1865 hielt Marx in London

einen Vortrag im Zentralrat der Inter-nationalen Arbeiter-Assoziation inEnglisch unter dem Titel „Value, pri-ce and profit“, wobei sich dessen Textin sehr popularisierter Form of-fensichtlich auf Teile des Kapital-Ma-nuskriptes stützt. Ab Januar 1866begann er dann tatsächlich – oft vonKrankheitsschüben seines Leberlei-dens unterbrochen – mit der Rein-schrift und der stilistischen Ausfeilungdes Textes. Wie er Engels mitteilte, er-weiterte er ihn dabei um historischeTeile: „Mit dem eigentlichen theore-tischen Teil konnte ich nicht vorange-hen. Dazu war das Hirn zu schwach.Ich habe daher den Abschnitt über den‚Arbeitstag‘ historisch ausgeweitet,was außer meinem ursprünglichenPlan lag.“ In dieser Zeit gab er dennauch auf Engels’ Anraten seinen ur-sprünglichen Plan auf, alle drei Bändefertig zu stellen und dann erst in denDruck zu geben.Mit Unterbrechungen arbeitete er bis

Ende März 1867 daran; Engels undFreund Kugelmann überzeugten ihnnach Erhalt der ersten Druckbogen voneiner mehr didaktischen Auseinander-setzung der Wertform, sodass Marxnoch einen diesbezüglichen Anhangzur ersten Auflage verfasste. Im August1867 schickte er die letzten Korrekturenan den Verleger Otto Meissner in Ham-burg, sodass die erste Auflage von Band1 von „Das Kapital“ noch im Septem-ber erscheinen konnte, heute in derzweiten Marx-Engels Gesamtausgabeim Band 5 der Abteilung II zu finden.

Von der ersten bis zurvierten Auflage 1 890

Unterbrochen durch Krankheiten, dendeutsch-französischen Krieg 1870/71 ,den Bürgerkrieg in Frankreich imFrühjahr 1871 und durch eine breit ge-streute Tätigkeit im Rahmen des Gene-ralrats der Internationalen Arbeiter-Assoziation arbeitete Marx am zweitenund dritten Band des „Kapital“ bis En-de 1871 . Sodann ging er an die Überar-beitung des ersten Bandes für diezweite Auflage, gliederte ihn stärkerund arbeitete den Anhang der erstenAuflage in das erste Kapitel der zweitenein. Wie er 1872 in einem Brief an denÜbersetzer des „Kapital“ ins Russischeschrieb, nahm er außerdem größereVeränderungen am Text für eine fran-zösische Ausgabe vor, die in Fortset-zungen publiziert wurde: „Obgleich diefranzösische Ausgabe [.. .] von einemgroßen Kenner beider Sprachen ange-fertigt ist, so hat er doch oft zu wörtlichübersetzt. Ich bin daher gezwungen,ganze Passagen Französisch umzu-schreiben [.. .] “.Im April 1872 erschien der erste Band

auf Russisch, der problemlos die in derEinschätzung staatsgefährdender Schrif-ten unübertroffene zaristische Zensurpassierte, weil der Zensor der Meinungwar, das Werk sei zwar vollständig so-zialistisch, aber „nicht für jeden zu-gänglich“; im August desselben Jahreskam die erste Lieferung in Französischheraus.Die zweite Auflage des ersten Bandes

mit einem ausführlichen Nachwort undeiner übersichtlicheren Gliederung so-wie Zusätzen aus der französischenAusgabe erschien im Mai 1873, heute inder zweiten MEGA im Bd. II/6. Trotzder darin enthaltenen Änderungen warMarx mit dem Ergebnis alles andere alszufrieden, wie er im Nachwort mitteil-te: „Dennoch finde ich jetzt bei der Re-vision der zu Paris erscheinendenfranzösischen Übersetzung, dass man-che Teile des deutschen Originals hiermehr durchgreifende Umarbeitung,dort größere stilistische Korrektur oderauch sorgfältigere Beseitigung gelegent-licher Versehen erheischt hätten. Esfehlte dazu die Zeit“.Von Mitte bis Ende der 70er Jahre be-

schäftigten ihn vor allem die russischeund irische Landwirtschaft sowie Ar-

beiten zum zweiten Band des „Kapital“,für den ihm jedoch keine endgültigeRedaktion gelang. Zum dritten Band,der ebenfalls unvollendet bleibt, ent-stand ein neues Manuskript, vorwie-gend mit mathematischen Berech-nungen zum Zusammenhang vonMehrwert- und Profitrate. Vom viertenBand, Geschichte der Theorie, gibt esnicht einmal ein durchgängiges Manu-skript. Sicherlich hätte einiges aus dem„Theorien über den Mehrwert“ ge-nannten Manuskript von 1861-63 Ver-wendung gefunden, doch eineumfassende Theoriegeschichte der po-litischen Ökonomie, wie sie Marx vor-schwebte und 1867 in einem Brief aneinen Freund in New York beschrieb, istdieses Manuskript nicht: „Ich hoffe,dass heut übers Jahr das ganze Werkerschienen ist. Band II gibt Fortsetzungund Schluss der Theorie, Band III dieGeschichte der Politischen Ökonomie seitMitte des 17. Jahrhunderts.“ Erklärendmuss hinzugefügt werden, dass Marx zudieser Zeit noch plante, die heutigenBände 2 und 3 des „Kapital“ in einemBand II herauszugeben.1875 schrieb Marx noch eine aus-

führliche Kritik des Programms, das aufdem Parteitag in Gotha als Grundlageder neu entstandenen „Sozialdemokra-tischen Arbeiterpartei Deutschlands“angenommen wurde: „Abgesehen davonist es meine Pflicht, ein nach meinerÜberzeugung durchaus verwerfliches unddie Partei demoralisierendes Programmnicht durch diplomatisches Stillschweigenanzuerkennen.“ Darüber hinaus warendie industrielle Entwicklung Kaliforni-ens und eine Reihe von statistischenWerken zur ökonomischen Entwick-lung der Vereinigten Staaten bis zumOktober 1880 seine Forschungsgegen-stände. 1879/80 las er Adolf Wagners„Lehrbuch der politischen Ökonomie“und fertigte eine ausführliche Kritikdesselben an, die jedoch nicht druck-fertig gemacht wurde.Meißner, der Hamburger Verleger des

ersten Bandes forderte Marx im Okto-ber 1881 auf, eine dritte Auflage vorzu-bereiten. Marx hatte jedoch vor, denVerleger zu bewegen, die geplanten3000 Exemplare auf 1000 zu reduzierenund den ersten Band für eine vierteAuflage so umzuarbeiten, wie er es fürnotwendig hielt. Zu beidem kam es abernicht mehr. Seine Frau Jenny erkrankte

6 1 50 JAHRE „DAS KAPITAL“Sonderbeilage zur Avanti² Juli/August 201 7

zu dieser Zeit ernstlich und starbschließlich am 2. Dezember 1881 , einSchlag, von dem sich Marx nie mehrrichtig erholte. Nochmalige Studien zuden russischen Agrarverhältnissen, deramerikanischen Wirtschaftsentwicklungzusammen mit italienischen Büchernzur Geldtheorie beschäftigten ihn bisAnfang 1883. Im Januar 1883 starb seineälteste Tochter, die ebenfalls Jenny hieß,in Paris, er selbst in seiner Wohnung inLondon am 14. März infolge eines Lun-genabszesses.Nur wenige Monate später erschien

die dritte Auflage, deren EndredaktionEngels aufgrund eines von Marx nochangefertigten Verzeichnisses besorgte.Die Veränderungen, die laut diesemVerzeichnis aus der französischen Aus-gabe eingearbeitet werden sollten, hatEngels zum größten Teil übernommen;darüber hinaus versicherte er in seinemVorwort: „Es ist also in dieser drittenAuflage kein Wort geändert, von demich nicht bestimmt weiß, dass der Ver-fasser es selbst geändert hätte.“1890 erschien die vierte Auflage –

heute vor allem in der gebräuchlichenMarx-Engels-Werkausgabe (MEW) derBand 23, letzte Auflage Berlin 2008 –ebenfalls noch von Engels redaktionellanhand eines Verzeichnisses von Marxüberarbeitet und darüber hinaus miteinigen von ihm selbst verfassten Zu-sätzen und Anmerkungen versehen, diejedoch als solche kenntlich gemachtwurden, wie er im Vorwort erläutert:„Nach nochmaliger Vergleichung derfranzösischen Ausgabe und der hand-schriftlichen Notizen von Marx habeich aus jener noch einige Zusätze in dendeutschen Text aufgenommen. [.. .] Fer-ner habe ich noch einige erläuterndeZusatznoten gemacht [.. .] . Alle dieseZusatznoten sind in eckige Klammerngesetzt und mit meinen Anfangsbuch-staben oder mit ‚D.H.’ bezeichnet.“Die heute gängige Version des Kapi-

tal-Textes beruht also nicht auf einerMarxschen Endredaktion, jedoch sinddie Eingriffe von Engels in den erstenBand weitgehend unproblematisch, wieein Vergleich mit Marxens nach 1867entstandenen Manuskripten zeigt. Dieinzwischen weit verbreitete wohlfeileBehauptung, dass alle drei Bände des„Kapital“ nicht in Marxschen, sondernin Engelsschen Redaktionen vorliegenwürden, ist zwar in ihrer Allgemeinheit

unbestreitbar, verwischt jedoch diequalitativen Unterschiede der Engelss-chen Eingriffe in die Bände 1 bis 3, diegroßenteils dem inhaltlichen und for-malen Zustand der Marxschen Manu-skripte geschuldet sind. Niemand warsich der Schwierigkeiten, die sich mitseiner Redaktionstätigkeit verbanden,mehr bewusst als Engels selbst, der einJahr nach Marx‘ Tod an einen altenMitkämpfer von 1848 schrieb: „DasPech ist vielmehr, dass ich, seit wirMarx verloren, ihn vertreten soll. Ichhabe mein Leben lang das getan, wozuich gemacht war, nämlich zweite Violi-ne spielen, und glaube auch, meine Sa-

che ganz passabel gemacht zu haben.Und ich war froh, so eine famose ersteVioline zu haben wie Marx. Wenn ichnun aber plötzlich in Sachen der Theo-rie Marx’ Stelle vertreten und erste Vio-line spielen soll, so kann das nicht ohneBöcke abgehen, und niemand spürt dasmehr als ich.“

*[Wir veröffentlichen hier zum erstenMal diesen Aufsatz, den unser verstor-bener Genosse Jürgen Arz von Dezem-ber 2015 bis Mai 2016 verfasst hat.]

1 50 JAHRE „DAS KAPITAL“ 7Sonderbeilage zur Avanti² Juli/August 201 7

Foto: Wikipedia / GemeinfreiKarl Marx, 1875 (Fotografie von John Mayall jun. ).

8 1 50 JAHRE „DAS KAPITAL“Sonderbeilage zur Avanti² Juli/August 201 7

In memoriamJürgen Arz

(1 2.09.1 944 - 1 0.1 2.201 6)

Am10. Dezember 2016 ist Jürgen Arz,unser alter Genosse aus den 1970erJahren, in einemMannheimer Kran-

kenhaus einem schweren Krebsleiden er-legen.Jürgens Eltern waren kriegsbedingt aus

dem zerbombtenMannheim nach Colmarins Elsass ausquartiert worden. Dort er-blickte er am 12. September 1944 das LichtderWelt.Über seine Mannheimer Kindheit ist

uns nichts bekannt.Die Jugendradikalisierung der 1960er

Jahre und die AußerparlamentarischeOpposition (APO) haben ihn stark beein-flusst.Sein großes Interesse an kritischer Lite-

ratur führte ihn zur intensiven Lektüreder Schriften von Marx und Trotzki. Vondaher war sein Kontakt mit der IV. Inter-nationale kein Zufall. Deren Mannhei-mer Ortsgruppe war 1956 von WillyBoepple gegründet worden und durch ei-ne konsequente Betriebs- und Gewerk-schaftsarbeit geprägt.Jürgen engagierte sich politisch in vie-

lerlei Hinsicht.Er half zum Beispiel einem Kreis von

jungen linken Ludwigshafener BASF-Lehrlingen vor etwa 50 Jahren bei den„ersten tastenden Schritte[n] in ein selb-ständiges Denken“. So sieht es eines derdamaligen Mitglieder dieser Sozialisti-schen Betriebsgruppe Ludwigshafen (SBL)im Rückblick. Und unser Zeitzeuge fährtfort: „Das war gar nicht so einfach, zwi-schen dem Zugriff der BASF, die uns -nach Worten des damaligen Personalvor-standes Dr. Bischof - nur als funktionie-rende ,Nummern‘ sehen wollte, und demZugriff der Moskau-Treuen, die die Zu-stimmung zu einem anderen totalitärenSystem haben wollten, einenWeg der Frei-heit und Solidarität zu finden. Jürgen hatmit seiner menschlichen und feinen Artviel dazu beigetragen, einen solchen Wegzu finden.“

Zur Jahreswende 1972/1973 vereinigtesich die Revolutionär Kommunistische Ju-gend (RKJ) mit der „alten“ Organisationder IV. Internationale in Deutschland zurGruppe Internationale Marxisten (GIM).Jürgen war ein führender Kopf ihrerMannheimer Ortsgruppe. Er trug alsMitglied der örtlichen Leitung sehr vielzum lokalen und regionalen Aufbau derSektion bei.An der damaligen Fachhochschule für

SozialwesenMannheimhat er eine Gruppevon Studierenden, die der GIM nahestand,intensivbetreut undneueMitglieder für dieIV. Internationale gewonnen.Einer der von ihm damals frisch „Re-

krutierten“ erinnert sich heute an Jürgenmit den Worten: Ich „habe ihn dann [...]immer erlebt als zumindest lokal sehrwichtigen Genossen, der maßgeblicheBeiträge zumAufbau der Organisation ge-leistet hat. Auch an den innerorganisatori-schen Debatten war er [unter demNamenJuan, W.A.] heftig beteiligt.“Zudem hat sich Jürgen immer wieder

mit inhaltlichen und theoretischen Fragenbeschäftigt. Er führte Kapitalschulungenfür neueMitglieder durch. 1976 veröffent-lichte er gemeinsammit Otmar Sauer dieSchrift „Zur Entwicklung der sowjetischenÜbergangsgesellschaft 1917- 29“.Jürgen arbeitete lange Jahre als Dispo-

nent in einer Spedition. Das war offen-sichtlich nicht nur eine anstrengendeArbeit, sondern sie bot zudem kaum ge-werkschaftliche und politische Einfluss-möglichkeiten.1980 eskalierten die scharfen Differen-

zen in der GIM wegen eines Wahlaufrufsfür die SPD und wegen der Art, wie er in-nerorganisatorisch durchgesetzt wordenwar. Dagegen hatte sich eine neuformierteKompass-Gruppe um die großeMehrheitderMannheimerMitglieder gewendet, dieJürgen zunächst unterstützte. Nach derenAustritt aus der GIM zog er sich von ihrzurück.

Er hielt noch Kontakt zu einigen Freun-den und Genossen, beteiligte sich aberkaum noch an politischen Aktivitäten.Umso mehr konnte er seiner Leidenschaftfür Wanderungen in der Natur und fürgute Bücher frönen.Bald nach Jürgens Verrentung wurde

bei ihm Krebs diagnostiziert. Er konntejedoch diese Erkrankung zunächst besie-gen.Danach hat er, so der bereits zitierte

zweite Genosse, mit „unglaublicher Ener-gie aufhohemNiveau überMarx gearbei-tet, insbesondere über das ,Kapital‘. Und erkam sogar wieder raus aus seiner Studier-stube, hat in kleinen Kreisen referiert unddiskutiert und hatte sich da noch viel vor-genommen. Was alles durch das neueAuftreten einer Krebserkrankung [im Jahr2016] verhindert wurde.“Am 22. Dezember 2016 haben wir ge-

meinsammit vielenWeggefährtInnen beieiner Trauerfeier auf dem MannheimerHauptfriedhof von Jürgen Abschied ge-nommen.Wir werden seinen hinterlassenen Auf-

satz „150 JahreDasKapital“ bald in geeig-neter Form veröffentlichen und auchdamit die Erinnerung an Jürgen Arzwachhalten.

Foto: PrivatJürgen Arz, 2012.

Dieser Nachruf auf unseren verstorbenen Genossen Jürgen Arz wurde zuerst inAvanti² von Januar 201 7 veröffentl icht.

W. A.____