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Kleine Bibliothek derWeltweisheit 12 Voltaire Candide oder Der Optimismus

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Kleine Bibliothek derWeltweisheit12

Voltaire

Candideoder

Der Optimismus

BB 1 34252

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In dieser temporeichen Romansatire kritisiert der PhilosophVoltaire (1694–1778) das optimistische Weltbild von Gott-fried Wilhelm Leibniz. Der gutgläubige Candide hat seinemLehrer Pangloß allzu leichtfertig geglaubt, daß die Welt absolutgut sei und alles Geschehen «in der besten aller möglichen Wel-ten» (Leibniz) unausweichlich zu einem guten Ende führenwerde. Er wird eines besseren belehrt und lernt bei seinenabenteuerlichen Reisen Machtgier, Grausamkeit und Krank-heit kennen.In Voltaires scharfsinniger Satire werden Utopien, Heilslehrenund jedes Paradies auf Erden als Illusionen entlarvt. Das Buchwurde nach Erscheinen 1759 in Genf öffentlich verbrannt undvom Vatikan schließlich auf den Index gesetzt. Dieses viel gele-sene, verdammte und gefeierte Werk zählt zu den einflußreich-sten Büchern der Weltliteratur.

Harald Weinrich (geb. 1927) war nach Professuren in Kiel,Köln, Bielefeld und München zuletzt Professor für Romanistikam Collège de France, Paris. Veröffentlichungen u.a.: Lethe.Kunst und Kritik des Vergessens (32000), Tempus: Besprocheneund erzählte Welt (62001), Knappe Zeit. Kunst und Kritik desbefristeten Daseins (2004).

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Voltaire

Candideoder

Der Optimismus

Aus dem Französischen von

Ilse Lehmann

Mit einem Nachwort von

HaraldWeinrich

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Aus dem Deutschen übersetzt von Dr.Ralphund mit Anmerkungen versehen,

die man in derTasche des Doktors fand,als er im Jahre des Heils 1759 zu Minden starb

Voltaire: Candide oder Der Optimismus(aus dem Französischen von Ilse Lehmann)

aus: Voltaire, Sämtliche Romane und Erzählungen Bd. I/II(aus dem Französischen von Ilse Lehmann, Hans Balzer u. Rolf Müller, mit

einer Einleitung von Victor Klemperer) Sammlung Dieterich 58/59© Sammlung Dieterich Verlagsgesellschaft mbH, Berlin, 1950, 1992

(für die Übersetzung von Ilse Lehmann)

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co.KG,München

© 2005 Verlag C. H. Beck oHG dtv, MünchenDruck und Bindung: Druckerei C.H.Beck, Nördlingen

Umschlagentwurf: Phil Baines Studio, LondonPrinted in Germany

www.dtv.de

isbn 978 3 423 34252 0

8. Auflage 2014

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Inhalt

Erstes KapitelWie Candide in einem wunderschönen Schloß erzogen

und dann von dort verjagt wurde 9

Zweites KapitelWas aus Candide bei den Bulgaren wurde 13

Drittes KapitelWie Candide den Bulgaren davonlief und was aus ihm wurde 17

Viertes KapitelWie Candide seinen alten Philosophielehrer wiederfand,

und was daraus entstand 21

Fünftes KapitelSturm, Schiffbruch, Erdbeben, und was aus Doktor Pangloß,

Candide und dem Wiedertäufer Jacques wurde 26

Sechstes KapitelWie man zur Verhinderung von Erdbeben ein schönes Autodafé

veranstaltete, und wie Candide ausgepeitscht wurde 31

Siebentes KapitelWie Candide von einem alten Weib gepflegt wurde, und wie er den

Gegenstand seiner Liebe wiederfand 34

Achtes KapitelKunigundes Geschichte 37

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Neuntes KapitelWas aus Kunigunde, Candide, dem Großinquisitor

und dem Juden wurde 42

Zehntes KapitelCandide, Kunigunde und die Alte befinden sich bei ihrer Ankunft

in Cadiz in großer Not und schiffen sich ein 45

Elftes KapitelGeschichte der Alten 48

Zwölftes KapitelFortsetzung der Unglücksgeschichte der Alten 54

Dreizehntes KapitelWie Candide sich von der schönen Kunigunde und

der Alten trennen mußte 60

Vierzehntes KapitelWie Candide und Cacambo von den Jesuiten in Paraguay

aufgenommen wurden 64

Fünfzehntes KapitelWie Candide den Bruder seiner geliebten Kunigunde tötete 70

Sechzehntes KapitelWas den beiden Reisenden mit zwei Mädchen, zwei Affen und

Eingeborenen, die man Ohrlappen nannte, widerfuhr 74

Siebzehntes KapitelWie Candide und sein Diener im Lande Eldorado ankamen,

und was sie dort sahen 80

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Achtzehntes KapitelWas Candide und Cacambo im Lande Eldorado erlebten 86

Neunzehntes KapitelWas ihnen in Surinam widerfuhr, und wie Candide

mit Martin bekannt wurde 94

Zwanzigstes KapitelWas Candide und Martin auf dem Meere widerfuhr 102

Einundzwanzigstes KapitelCandide und Martin nähern sich der französischen Küste und

philosophieren 106

Zweiundzwanzigstes KapitelWas Candide und Martin in Frankreich erlebten 109

Dreiundzwanzigstes KapitelWas Candide und Martin sahen, als sie an der englischen Küste

landeten 125

Vierundzwanzigstes KapitelVon Paquette und dem Bruder Giroflée 128

Fünfundzwanzigstes KapitelEin Besuch bei Signor Pococurante, einem venezianischen

Edelmann 135

Sechsundzwanzigstes KapitelVon einem Abendessen, das Candide und Martin

mit sechs Ausländern einnahmen, und wer diese waren 143

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Siebenundzwanzigstes KapitelCandides Reise nach Konstantinopel 149

Achtundzwanzigstes KapitelWas Candide, Kunigunde, Pangloß und Martin widerfuhr 155

Neunundzwanzigstes KapitelWie Candide Kunigunde und die Alte wiederfand 159

Dreißigstes KapitelSchluß 161

NachwortWeltironie im Taschenformat 169

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Erstes KapitelWie Candide in einem wunderschönen Schloß erzogen

und dann von dort verjagt wurde

In Westfalen lebte auf dem Schloß des Freiherrn vonThunder ten Tronck ein Jüngling, dem die Natur densanftmütigsten Charakter mit auf die Welt gegebenhatte. Jede Regung seiner Seele spiegelte sich auf seinemAntlitz wider. Er war arglosen Gemütes und hatte gesun-den Menschenverstand, und aus diesem Grunde wurdeer wohl auch Candide genannt. Die langjährigen Dienerdes Hauses vermuteten, er wäre der Sohn einer Schwe-ster des Herrn Baron und eines biederen, gutmütigenLandjunkers aus der Nachbarschaft. Das Fräulein hattejedoch diesen Junker um keinen Preis heiraten wollen,weil er nicht mehr als einundsiebzig Ahnen nachzuwei-sen vermochte, während der Rest seines Stammbaumsdurch die Unbilden der Zeit verlorengegangen war.

Der Herr Baron war einer der einflußreichsten Edel-leute Westfalens, denn sein Schloß hatte eine Tür undFenster, und der große Saal war sogar mit Wandteppi-chen geschmückt. Aus seinen Hunden konnte man imNotfalle eine Meute zusammenstellen; seine Stallknechtewaren zugleich seine Jäger, und der Dorfpfarrer wargleichzeitig Schloßkaplan. Sie redeten ihn alle mit «EuerGnaden« an und lachten pflichtschuldigst, wenn er Witzemachte.

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Die Frau Baronin wog an die dreihundertfünfzig Pfundund erfreute sich infolgedessen eines beträchtlichen An-sehens, das sie durch die Würde, mit der sie das Hausrepräsentierte, noch zu steigern wußte. Ihre Tochter Ku-nigunde war siebzehn Jahre alt, rotwangig, frisch, molligund appetitlich. Der junge Baron war offenbar in allemder echte Sohn seines Vaters. Der Hauslehrer Pangloß*war das Orakel des Hauses, und der junge Candide nahmseine Lehren mit der ganzen Vertrauensseligkeit seinesjugendlichen Alters und seines Charakters auf.

Pangloß lehrte die Metaphysico-theologico-cosmolo-gie. Er wies in vortrefflicher Weise nach, daß es keineWirkung ohne Ursache gäbe, daß in dieser besten allerWelten das Schloß des Herrn Baron das schönste allerSchlösser und die Frau Baronin die beste aller Baronin-nen sei.

«Es ist erwiesen», so dozierte er, «daß die Dinge nichtanders sein können als sie sind, denn da alles zu einembestimmten Zweck erschaffen worden ist, muß es not-wendigerweise zum besten dienen. Bekanntlich sind dieNasen zum Brillentragen da – folglich haben wir auchBrillen; die Füße sind offensichtlich zum Tragen vonSchuhen eingerichtet – also haben wir Schuhwerk; dieSteine sind dazu da, um behauen und zum Bau vonSchlössern verwendet zu werden, und infolgedessen hatunser gnädiger Herr ein wunderschönes Schloß. Dervornehmste Baron der ganzen Provinz muß eben auch

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* Allreder: griech. pan = alles, glossa = Zunge.

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das schönste Schloß haben. Und da die Schweine dazu dasind, gegessen zu werden, so essen wir das ganze Jahrhindurch Schweinefleisch. Also ist es eine Dummheit, zubehaupten, alles auf dieser Welt sei gut eingerichtet; manmuß vielmehr sagen: alles ist aufs beste bestellt.»

Candide hörte aufmerksam zu und glaubte in seinerUnschuld alles. Er fand Fräulein Kunigunde wunder-schön, wenn er sich auch nie erdreiste, es ihr zu sagen,und er war überzeugt, daß nach dem Glück, als Baronvon Thunder ten Tronck geboren zu sein, der zweiteGrad der Glückseligkeit wäre: Fräulein Kunigunde zusein, der dritte: sie jeden Tag zu sehen, und der vierte:Meister Pangloß zu lauschen, der der größte Philosophder Provinz und somit auch der ganzen Welt war.

Als Kunigunde eines Tages in der Nähe des Schlossesin dem kleinen Wäldchen, das man Park benannte, spa-zierenging, sah sie, wie der Doktor Pangloß im Gebüschgerade der Kammerzofe ihrer Mutter, einer hübschen,kleinen, sehr gelehrigen Brünetten, Unterricht in der Ex-perimentalphysik erteilte. Fräulein Kunigunde hatte einegroße Vorliebe für die Wissenschaften, und so beobach-tete sie mit atemloser Spannung die wiederholten Ver-suche, die sich vor ihren Augen abspielten; deutlich sahsie des Doktors zureichenden Grund*, erkannte die Ur-sachen und ihre Wirkungen und kehrte ziemlich erregtund nachdenklich heim, ganz erfüllt von dem Wunsche,

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* Ironischer Hinweis auf die Lehre des Satzes vom zureichendenGrund.

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ebenfalls gelehrt zu sein. Sie meinte, sie könne sehr wohlfür den jungen Candide und dieser wiederum für sie derzureichende Grund werden. Als sie auf dem Rückwegzum Schloß Candide begegnete, errötete sie; Candidestieg ebenfalls das Blut in die Wangen. Mit versagenderStimme begrüßte sie ihn, und Candide sprach mit ihr,ohne sich bewußt zu werden, was er sagte. Am nächstenTage trafen sie sich, nachdem die Mittagstafel aufgeho-ben war, zufällig hinter einem Wandschirm. Kunigundeließ ihr Taschentuch fallen, und Candide hob es auf. Inaller Unschuld reichte sie ihm ihre Hand, die der Jüng-ling, ebenfalls voller Unschuld, doch lebhaft, gefühlvollund mit ganz besonderer Anmut küßte. Ihre Lippen fan-den sich, ihre Blicke flammten auf, ihre Knie bebten,ihre Hände verirrten sich. In diesem Augenblick kamder Baron von Thunder ten Tronck an dem Wandschirmvorbei, und als er die Ursache und ihre Wirkung ge-wahrte, jagte er Candide mit wuchtigen Tritten in denHintern aus dem Schloß. Kunigunde fiel in Ohnmacht.Als sie wieder zu sich kam, wurde sie von der Frau Baro-nin geohrfeigt, und alle waren bestürzt in dem schönstenund angenehmsten aller Schlösser.

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Zweites KapitelWas aus Candide bei den Bulgaren wurde

Candide war aus dem irdischen Paradies vertrieben wor-den und irrte lange ziellos umher. Er weinte, hob dieAugen gen Himmel und ließ sie des öfteren nach demschönsten aller Schlösser zurückschweifen, das die lieb-reizendste aller Baronessen barg. Ohne etwas gegessen zuhaben, legte er sich mitten auf dem Felde zwischen zweiAckerfurchen zum Schlafen nieder. Der Schnee fiel indichten Flocken vom Himmel herab. Ganz erstarrt vorKälte, ohne einen roten Heller in der Tasche, halbtot vorHunger und Müdigkeit schleppte sich Candide am näch-sten Tage nach Waldberghofftrarbkdickdorff, der nächst-gelegenen Stadt. Traurig blieb er vor der Tür eines Wirts-hauses stehen, wo ihn zwei Männer im blauen Rockbemerkten. «Ein gut gewachsener junger Mann, Kame-rad», sagte der eine, «und das nötige Maß hat er auch.»Sie gingen auf Candide zu und luden ihn sehr höflichzum Essen ein. «Meine Herren», sagte Candide mit ge-winnender Bescheidenheit, «Sie erweisen mir eine großeEhre, aber ich bin leider nicht in der Lage, meine Zechezu bezahlen.» – «Lieber Freund», gab der eine der beidenBlauen zurück, «Leute von Ihrem Aussehen und vonIhren Fähigkeiten brauchen niemals zu bezahlen; Siesind doch fünf Fuß und fünf Zoll groß?» – Candide ver-beugte sich: «Jawohl, meine Herren, richtig getroffen!» –

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«Na also, mein Lieber, Sie sind unser Gast, und wir wer-den auch in Zukunft dafür sorgen, daß ein Mann wie Siestets Geld in der Tasche hat. Wir Menschen sind dochdazu da, uns gegenseitig zu helfen.» – «Sie haben recht»,sagte Candide, «das hat mir Meister Pangloß auch immergesagt, und nun sehe ich, daß wirklich alles aufs beste be-stellt ist.» Einer der Blauen drückte ihm ein paar Taler indie Hand. Candide nahm sie und wollte einen Schuld-schein ausstellen, aber das wurde abgelehnt. Sie setztensich zu Tisch. «Haben Sie nicht eine große Liebe …?»«O ja», antwortete Candide, «ich liebe Fräulein Kuni-gunde von ganzem Herzen.» – «Aber nein», sagte einerder Herren, «wir meinen, ob Sie nicht eine große Vor-liebe für den König der Bulgaren haben?» – «Wie kämeich denn dazu? Ich habe ihn ja noch nie gesehen.» – «WasSie sagen! Das ist doch der liebenswürdigste aller Kö-nige! Wir wollen auf sein Wohl trinken!» – «Aber gern,meine Herren!» – Und Candide trank. «So – das genügtvollkommen», sagte man ihm, «nun sind Sie die Stütze,der Halt, der Beschützer und Held der Bulgaren; IhrGlück ist gemacht und Ihr Ruhm gesichert.» Auf derStelle legte man ihm Fußeisen an und führte ihn zumRegiment. Dort ließ man ihn Kehrtwendungen undLaufschritte machen, brachte ihm die Gewehrgriffe, Zie-len und Schießen bei und verabfolgte ihm obendreindreißig Stockhiebe. Am nächsten Tage machte er seineSache schon etwas besser und bekam nur zwanzig Hiebe,am übernächsten nur noch zehn, worauf er von seinenKameraden wie ein Wunder angestaunt wurde.

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Candide war völlig verwirrt und vermochte noch nichtrecht zu fassen, wie er zum Helden geworden war. Aneinem schönen Frühlingstage kam er auf die Idee, einenSpaziergang zu machen, und so wanderte er immer derNase nach, in der Meinung, es sei ein Vorrecht der Gat-tung Mensch wie der Gattung Tier, sich seiner Beinenach Belieben bedienen zu dürfen. Er hatte noch keinezwei Meilen zurückgelegt, als er von vier anderen, sechsFuß großen Helden eingeholt, gefesselt und ins Gefäng-nis abgeführt wurde. Vor Gericht wurde er gefragt, waser vorzöge: sechsunddreißigmal vor dem ganzen Regi-ment Spießruten zu laufen oder ein Dutzend Bleikugelnauf einmal in den Schädel gejagt zu bekommen. Da hatteer nun gut reden von der Freiheit des Willens und daß erweder das eine noch das andere wolle – er mußte wäh-len: und so entschloß er sich kraft der Gottesgabe, dieman «Freiheit» nennt, lieber sechsunddreißigmal Spieß-ruten zu laufen. Zwei von diesen Läufen hielt er aus. DasRegiment war zweitausend Mann stark; das bedeutetefür ihn viertausend Rutenhiebe, die ihm Muskeln undNerven vom Nacken bis zum Hintern bloßlegten. Beider dritten Runde brach er zusammen und bat flehent-lich um die Gnade, man möge ihm den Schädel zer-trümmern. Diese Bitte wurde ihm gewährt; man ver-band ihm die Augen und befahl ihm niederzuknien. Indiesem Augenblick ritt der König der Bulgaren vorbeiund erkundigte sich, welches Verbrechen der arme Sün-der begangen habe. Und da dieser Monarch ein sehrgeistvoller Mensch war, schloß er aus allem, was er über

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Candide erfuhr, daß es sich hier um einen in den Dingendieser Welt reichlich unerfahrenen jungen Metaphysikerhandelte, und er begnadigte ihn mit einer Milde, die inallen Chroniken und zu allen Zeiten gepriesen wordenist. Ein tüchtiger Wundarzt heilte Candide innerhalb vondrei Wochen mit Hilfe von Arzneien nach den Lehrendes Dioskorides. Die Haut war schon etwas nachgewach-sen, und er konnte auch bereits wieder gehen, als derKönig der Bulgaren dem König der Avaren eine Schlachtlieferte.

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Drittes KapitelWie Candide den Bulgaren davonlief

und was aus ihm wurde

Man kann sich nichts Schöneres, Tüchtigeres, Glänzen-deres und Wohlgeordneteres vorstellen als die beidenArmeen! Die Trompeten, Hörner, Trommeln, Quer-pfeifen und Kanonen vollführten ein wahres Höllenkon-zert. Zunächst mähten die Geschütze auf jeder Seite etwasechstausend Mann nieder; dann befreite das Musketen-feuer die beste aller Welten von neun- bis zehntausendSchurken, die sie bisher verpestet hatten, und endlichwaren die Bajonette der zureichende Grund des Todesvon einigen tausend Mann. Der Gesamtverlust mochtesich auf etwa dreißigtausend Seelen belaufen. Candidezitterte wie ein Philosoph und versteckte sich währenddieser heroischen Schlächterei so gut er konnte. Zu guterLetzt, als jeder der beiden Könige in seinem Lager einTedeum anstimmen ließ, faßte er den Entschluß, sich aufund davon zu machen, um anderswo über Ursachen undWirkungen nachzudenken. Er stieg über Berge von To-ten und Sterbenden und erreichte zunächst ein Dorf, dasin Schutt und Asche lag. Es war ein Avarendorf, das dieBulgaren nach den Bestimmungen des Völkerrechtesniedergebrannt hatten. Hier mußten aus tausend Wun-den blutende Greise mit ansehen, wie ihre erwürgtenFrauen noch im Sterben ihre Kinder an die blutenden

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Brüste preßten. Dort hauchten Mädchen mit aufge-schlitzten Bäuchen ihre letzten Seufzer aus, nachdemeinige Helden ihre natürlichen Bedürfnisse an ihnenbefriedigt hatten. Andere, die halb verbrannt waren,flehten schreiend um den Gnadenstoß – und ringsumbedeckten Gehirne und abgehauene Arme und Beineden Boden.

So schnell er konnte, flüchtete Candide in ein anderesDorf. Es gehörte den Bulgaren, und die avarischen Hel-den hatten dort ebenso entsetzlich gehaust. Mit einemkleinen Mundvorrat im Brotbeutel und Fräulein Kuni-gunde im Sinn eilte Candide über zuckende Gliedmaßenund Ruinen weiter, bis er sich schließlich außerhalb desKriegsgebietes befand. Als er in Holland ankam, warenseine Vorräte zu Ende. Aber er hatte gehört, daß in die-sem Lande alle Leute reich und christlich gesinnt wären,und so zweifelte er nicht daran, daß man ihn ebensogutbehandeln würde wie ehedem im Schlosse des HerrnBaron, bevor er um Fräulein Kunigundes schöner Augenwillen weggejagt worden war.

Er bat mehrere würdige Bürger um ein Almosen, er-hielt aber von allen zur Antwort, daß man ihn, wenn erdieses Handwerk weiter betreibe, in eine Besserungsan-stalt einsperren würde, um ihm andere Sitten beizu-bringen.

Hierauf wandte er sich an einen Mann, der gerade ineiner großen Versammlung eine geschlagene Stunde langüber Wohltätigkeit gesprochen hatte. Der Redner sahihn durchdringend an und sprach zu ihm: «Was wollen

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Sie hier? Sind Sie aus unserer guten Ursache gekom-men?» – «Es gibt keine Wirkung ohne Ursache», er-widerte Candide bescheiden, «alles ist notwendigerweisemiteinander verknüpft und aufs beste eingerichtet: ichmußte aus Fräulein Kunigundes Nähe weggejagt wer-den, mußte Spießruten laufen und muß nun um Brotbetteln, bis ich es mir verdienen kann; all das konnte garnicht anders sein.» – «Lieber Freund», sagte der Rednerzu ihm, «glauben Sie, daß der Papst der Antichrist ist?» –«Davon habe ich noch nichts gehört», gab Candide zu-rück, «aber ob er’s ist oder nicht – ich muß etwas zu essenhaben!» – «Du verdienst keinen Bissen», antwortete derandere, «mach, daß du fortkommst, elender Schurke,und komm mir nie wieder unter die Augen!» – Die Fraudes Redners sah gerade aus dem Fenster, und als sie einenMann erblickte, der bezweifelte, daß der Papst der Anti-christ sei, goß sie ihm einen vollen…über den Kopf.Herrgott! Zu welchen Ausschreitungen vermag doch derReligionseifer die Frauen zu verleiten!

Ein Mann, der nicht getauft worden war, ein braverWiedertäufer namens Jacques, sah, wie grausam undschändlich man einen seiner Brüder, ein mit einer Seelebegabtes, zweibeiniges Geschöpf ohne Gefieder behan-delte. Er nahm ihn mit in sein Haus, säuberte ihn, bewir-tete ihn mit Brot und Bier, schenkte ihm zwei Guldenund wollte ihn sogar in seiner holländischen Fabrik, inder persische Teppiche hergestellt wurden, beschäftigen.Candide warf sich ihm zu Füßen und rief: «Meister Pan-gloß hatte doch recht! Alles auf dieser Welt ist aufs beste

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bestellt, denn Ihre außerordentliche Güte hat mich weitmehr berührt als die Hartherzigkeit jenes Herrn imschwarzen Rock und seiner Frau Gemahlin.»

Am nächsten Tage begegnete er auf einem Spazier-gang einem Bettler, dessen Haut über und über mit Pu-steln bedeckt war. Seine Augen waren erloschen, seineNasenspitze abgefressen, und dazu hatte er einen schie-fen Mund und schwarze Zähne. Er sprach mit heisererStimme, von heftigen Hustenanfällen unterbrochen,wobei er jedesmal einen seiner Zähne ausspie.

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