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ANNE KATRIN FESSLER 1. März 2016, 08:25 Russische Avantgarden: Der Nullpunkt, mit dem ein Ende begann Chagall bis Malewitsch in der Albertina: von Zeiten des leidenschaftlichen Aufbruchs bis zum Beginn der Stalin- Diktatur Wien – "Schock" ist wohl doch ein zu wirkmächtiges Wort, aber die Gegensätze lässt man zum Auftakt der Ausstellung Chagall bis Malewitsch doch sehr laut aneinanderknallen: Die Albertina präsentiert die kurze Epoche der russischen Avantgarden, um diese künstlerische Vorhut dann an den rückwärtsgewandten Stil des Sozialistischen Realismus krachen zu lassen wie den Karren an die Wand. Definitiver Endpunkt ist 1932, als mit dem Schließen der Künstlervereinigungen auch die Verfolgung von Künstlern begann. Ein ideologisch-stilistischer Crash also, den man im ersten von elf Sälen Gemäldekante an Gemäldekante (alle anderen Gattungen hat man ausgeklammert) präsentiert: Bildpaare aus ein und derselben Hand verdeutlichen die Klüfte zwischen zaristischer und revolutionärer und schließlich stalinistischer Zeit. Iwan Kljun und Wladimir Lebedew sind etwa zwei der Künstler, die ihren Stil in den Dienst des Ideals gestellt haben, ja die Erneuerung der Gesellschaft mit der Kunst vorantreiben wollten, um ihn dann später gänzlich der staatlichen Macht zu opfern: Das ästhetisch Zukunftsgewandte vermählt sich stilistisch wieder mit der Vergangenheit. Bei Lebedew wird aus einer in kubistische Formen aufgelösten Wäscherin von 1922 ein verträumtes Aktmodell, das 1935 den bereits fünfzig Jahre alten Impressionismus eines Renoir wachküsst. Bei Kljun trifft eine suprematistische, die Perspektive verhöhnende Komposition von 1915 auf ein Stillleben, das den einstigen Kampf gegen die Schwerkraft aufgegeben hat. Siebenmeilenstiefel-Schau Die Schau hat also im besten Sinne die Siebenmeilenstiefel an, bugsiert uns Saal für Saal von einer Ismus-Avantgarde zur nächsten – ein Neben- und Gegeneinander der um Aufmerksamkeit und den Auftraggeber Staat konkurrierenden Stile: Neoprimitivismus, Rayonismus, Kubofutorismus, die dem Suprematismus vorausgehen, aber auch die faszinierende analytische Gegenständlichkeit eines Pawel Filonow, dessen Motive aus einer Art Splitterornamentik zu bestehen scheinen, Konstruktivismus, Agitprop und Supronaturalismus. Dazu kurze, aber intensive Kapitel zu Malewitsch, – der mit dem Schwarzen Quadrat einen Nullpunkt in der Malerei setzte, die Kunst vom Gewicht der Dinge zu befreien suchte – zu Kandinsky und zu Chagall. Insbesondere der dem erinnernden Erzähler gewidmete Raum ist unglaublich intensiv, trumpft mit Leihgaben foto: staatliches russisches museum, st. petersburg Auch Kasimir Malewitsch, der sich selbst als Gott proklamierte, vollzog mit dem Sozialistischen Realismus eine Wendung: "Rote Kavallerie" (um 1932) aus dem Staatlichen Russischen Museum in St. Petersburg. foto: staatliches russisches museum Nicht der Nullpunkt der Malerei von 1915, sondern eine von drei späteren Fassungen von Kasimir Malewitschs "Schwarzem Quadrat". 17 POSTINGS derStandard.at Kultur Bildende Kunst Russische Avantgarden: Der Nullpunkt, mit dem ein Ende begann - Bild... http://derstandard.at/2000032007624/Die-russischen-Avantgarden-Vo... 1 von 2 03.03.2016 14:46

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ANNE KATRIN FESSLER

1. März 2016, 08:25

Russische Avantgarden: Der Nullpunkt, mit

dem ein Ende begann

Chagall bis Malewitsch in der Albertina: von Zeiten des

leidenschaftlichen Aufbruchs bis zum Beginn der Stalin-

Diktatur

Wien – "Schock" ist wohl doch ein zu wirkmächtiges Wort, aberdie Gegensätze lässt man zum Auftakt der Ausstellung Chagall

bis Malewitsch doch sehr laut aneinanderknallen: Die Albertinapräsentiert die kurze Epoche der russischen Avantgarden, umdiese künstlerische Vorhut dann an den rückwärtsgewandten Stildes Sozialistischen Realismus krachen zu lassen wie denKarren an die Wand. Definitiver Endpunkt ist 1932, als mit demSchließen der Künstlervereinigungen auch die Verfolgung vonKünstlern begann.

Ein ideologisch-stilistischer Crash also, den man im ersten vonelf Sälen Gemäldekante an Gemäldekante (alle anderenGattungen hat man ausgeklammert) präsentiert: Bildpaare ausein und derselben Hand verdeutlichen die Klüfte zwischenzaristischer und revolutionärer und schließlich stalinistischerZeit.

Iwan Kljun und Wladimir Lebedew sind etwa zwei der Künstler,die ihren Stil in den Dienst des Ideals gestellt haben, ja dieErneuerung der Gesellschaft mit der Kunst vorantreiben wollten,um ihn dann später gänzlich der staatlichen Macht zu opfern:Das ästhetisch Zukunftsgewandte vermählt sich stilistischwieder mit der Vergangenheit. Bei Lebedew wird aus einer inkubistische Formen aufgelösten Wäscherin von 1922 einverträumtes Aktmodell, das 1935 den bereits fünfzig Jahre altenImpressionismus eines Renoir wachküsst. Bei Kljun trifft einesuprematistische, die Perspektive verhöhnende Kompositionvon 1915 auf ein Stillleben, das den einstigen Kampf gegen dieSchwerkraft aufgegeben hat.

Siebenmeilenstiefel-Schau

Die Schau hat also im besten Sinne die Siebenmeilenstiefel an,bugsiert uns Saal für Saal von einer Ismus-Avantgarde zurnächsten – ein Neben- und Gegeneinander der umAufmerksamkeit und den Auftraggeber Staat konkurrierendenStile: Neoprimitivismus, Rayonismus, Kubofutorismus, die demSuprematismus vorausgehen, aber auch die faszinierendeanalytische Gegenständlichkeit eines Pawel Filonow, dessenMotive aus einer Art Splitterornamentik zu bestehen scheinen,Konstruktivismus, Agitprop und Supronaturalismus.

Dazu kurze, aber intensive Kapitel zu Malewitsch, – der mit demSchwarzen Quadrat einen Nullpunkt in der Malerei setzte, dieKunst vom Gewicht der Dinge zu befreien suchte – zu Kandinskyund zu Chagall. Insbesondere der dem erinnernden Erzählergewidmete Raum ist unglaublich intensiv, trumpft mit Leihgaben

foto: staatliches russisches museum, st. petersburgAuch Kasimir Malewitsch, der sich selbst als Gott

proklamierte, vollzog mit dem Sozialistischen Realismuseine Wendung: "Rote Kavallerie" (um 1932) aus dem

Staatlichen Russischen Museum in St. Petersburg.

foto: staatliches russisches museumNicht der Nullpunkt der Malerei von 1915, sondern einevon drei späteren Fassungen von Kasimir Malewitschs

"Schwarzem Quadrat".

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aus Bern, Basel, Amsterdam auf. Hauptleihgeber der Schau istjedoch das Staatliche Russische Museum in St. Petersburg.

Dass so ein schneller Spaziergang durch die russischeMalereigeschichte überaus emotional ist, dafür sorgen dieEigenarten des Mediums: Farben und Texturen, Strichdynamikenund Motive kitzeln unsere Befindlichkeiten. Allerdings passiertdas hier auch auf der Ebene der historischen Faktenvermittlung:Zum Ende der Zarendynastie, zur Ära Lenin und zum Beginn desStalinismus wurden drei kurze Videos produziert.

Inhaltlich beschränken sie sich auf wenige Headlines, den Resterledigen Filmsequenzen – und Musik! Freilich, Filmmusik hat dieAufgabe, die Seele zu massieren, aber diese Vierminüter sindkeine Monumentalepen, weder Panzerkreuzer Potemkin nochBen Hur – und auch nicht History mit Guido Knopp. In die mitromantisch-unbeschwerten Klängen unterlegten Bilderspielender Zarenkinder mischen sich daher mehr und mehr tiefeBläser, weil: Es dräut ihnen ein grausames Schicksal. Mal töntes staatstragend, mal ahmen die Instrumente das Stakkatoindustriellen Fortschritts oder auch unruhiger Zeiten nach. Oderman stört die mit Klavier untermalte Aufschwungsidylle unterStalin mit der singenden Säge, weil trügerisch und so.

Enzyklopädische Dichte? Gerne. Aber populistischeErgriffenheitsmelodik? Geht gar nicht. Gegen akustischeUntergriffigkeiten helfen nur Ohrstöpsel. (Anne Katrin Feßler,1.3.2016)

Bis 26. 6.

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