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Jacob Bussmann Zwischenstudie #1 Lecture-Performance Oktober 2009 „Musik erreicht ihre Verbindlichkeit erst, wenn sie im Leib gespürt wird.“ 1 1.1. Notation Was ist ein Ereignis? Ein Ereignis ist ein auffälliges Geschehen, das sich durch seine Auffälligkeit von gewohnten Vorkommnissen abhebt. Dabei ist es nicht planbar, sondern es muss sich ereignen. Ein Ereignis geschieht nur ein einziges Mal – es ist nicht wiederholbar. 2 Was ist Notation? Notation hat die Wiederholbarkeit von Zeitverläufen zum Ziel. Sie schafft Voraussetzungen für ein Ereignis, sie definiert dessen Grundlage. Sie kann geplant und intentional hergestellt werden und ist die Vorlage zu immer erneuten einmaligen Verwirklichungen. Noten verweisen auf bestimmte komplexe und differenziert gestaltete Klang- und Bewegungsfolgen, die wiederholt aufführbar sein sollen. Die einzelne Bewegung ist ein flüchtiges Ereignis – die schriftlichen Zeichen, die über die Bewegung informieren, bleiben über die momentane Realisation hinaus bestehen. So bildet die wesentlich auf Repräsentation basierende Notation immer einen Gegensatz zum ereignishaften musizieren, das wesentlich Präsentation ist. Gleichwohl sind „text and act“ voneinander abhängig: Die Kräfte, die in der Ausführung einer Partitur wirksam sind, können mit dem Begriffspaar „Unterdrückung und Entfesselung“ 3 beschrieben werden. Der Musiker unterwirft sich sowohl der vorgegebenen Struktur, er passt seine Körperlichkeit dem Diktat der Komposition an, als auch diese wiederum erst zum Ereignis wird, in der Hervorbringung, in der Freisetzung durch den Musiker. Schon im Kompositionsprozess kann der Körper eine entscheidende Rolle spielen: György Ligeti schreibt über den Beginn der Komposition seiner Klavieretüden: „Ich lege meine zehn Finger auf die Tastatur und stelle mir Musik vor.“ Der Notentext entsteht aus dem Zusammenwirken von 1 Brian Ferneyhough zitiert nach: Thomas Meyer, Ein Geflecht einander widerstrebender Kraftlinien – Der Komponist Brian Ferneyhough, in: MusikTexte 18 (1987), S. 33. 2 Vgl. Martin Seel, Ereignis. Eine kleine Phänomenologie, in: Nikolaus Müller-Schöll, Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung, Bielefeld 2003, S. 37-47. 3 Dietmar Kamper, Körper , in: Christoph Wulf (Hg.), Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim/Basel 1997, S. 407.

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Jacob Bussmann

Zwischenstudie #1

Lecture-Performance

Oktober 2009

„Musik erreicht ihre Verbindlichkeit erst, wenn sie im Leib gespürt wird.“1

1.1. Notation

Was ist ein Ereignis? Ein Ereignis ist ein auffälliges Geschehen, das sich durch seineAuffälligkeit von gewohnten Vorkommnissen abhebt. Dabei ist es nicht planbar, sondern es musssich ereignen. Ein Ereignis geschieht nur ein einziges Mal – es ist nicht wiederholbar.2

Was ist Notation? Notation hat die Wiederholbarkeit von Zeitverläufen zum Ziel. Sie schafftVoraussetzungen für ein Ereignis, sie definiert dessen Grundlage. Sie kann geplant und intentionalhergestellt werden und ist die Vorlage zu immer erneuten einmaligen Verwirklichungen.

Noten verweisen auf bestimmte komplexe und differenziert gestaltete Klang- undBewegungsfolgen, die wiederholt aufführbar sein sollen. Die einzelne Bewegung ist ein flüchtigesEreignis – die schriftlichen Zeichen, die über die Bewegung informieren, bleiben über diemomentane Realisation hinaus bestehen. So bildet die wesentlich auf Repräsentation basierendeNotation immer einen Gegensatz zum ereignishaften musizieren, das wesentlich Präsentation ist.Gleichwohl sind „text and act“ voneinander abhängig: Die Kräfte, die in der Ausführung einerPartitur wirksam sind, können mit dem Begriffspaar „Unterdrückung und Entfesselung“3

beschrieben werden. Der Musiker unterwirft sich sowohl der vorgegebenen Struktur, er passt seineKörperlichkeit dem Diktat der Komposition an, als auch diese wiederum erst zum Ereignis wird, inder Hervorbringung, in der Freisetzung durch den Musiker.

Schon im Kompositionsprozess kann der Körper eine entscheidende Rolle spielen: GyörgyLigeti schreibt über den Beginn der Komposition seiner Klavieretüden: „Ich lege meine zehn Fingerauf die Tastatur und stelle mir Musik vor.“ Der Notentext entsteht aus dem Zusammenwirken von

1 Brian Ferneyhough zitiert nach: Thomas Meyer, Ein Geflecht einander widerstrebender Kraftlinien – DerKomponist Brian Ferneyhough, in: MusikTexte 18 (1987), S. 33.

2 Vgl. Martin Seel, Ereignis. Eine kleine Phänomenologie, in: Nikolaus Müller-Schöll, Ereignis. Eine fundamentaleKategorie der Zeiterfahrung, Bielefeld 2003, S. 37-47.

3 Dietmar Kamper, Körper, in: Christoph Wulf (Hg.), Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim/Basel 1997, S.407.

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akustischen Imaginationen, taktilen Bewegungsimpulsen, der Form der Tastatur und denBedingungen der schriftlichen Fixierbarkeit.4

John Cage überträgt zur Komposition sein Etudes Australes Sternkarten auf Notenpapier undgewinnt daraus rhythmische Strukturen: „[...] die Korrespondenz zwischen Raum und Zeit soll sosein, dass die Musik 'klingt' wie sie 'aussieht' […].“5 Dieses Verfahren nimmt keine Rücksicht aufdie körperliche Ausführbarkeit. Anders die Gewinnung der Tonhöhen: er trifft sich mit der PianistinGrete Sultan und bittet sie, ihre Hände auf die Tasten zu legen. Dann stellt er Tabellen auf undkatalogisiert die physiognomischen Griffmöglichkeiten der Verbindung von fünf Fingern mit einerKlaviertastatur. Diese Daten bilden das Klangmaterial der Etüden.

1.2. Instrument

Das Instrument ist ein Körper, ein Klangkörper, ein Resonanzkörper. Seine Mechanik kann alsVerlängerung der menschlichen Gelenke und Muskeln, als dinghafte Erweiterung des Körpersbetrachtet werden. Die Art der Bewegung beeinflusst die Form und Handhabung des Instrumentsund wiederum sind die Spielbewegungen durch das Instrument geprägt. Instrumente können so als„auf den Körper und die Motorik des Spielers angepasste Apparaturen der Klangerzeugung“6

beschrieben werden. „Das Ausüben von Musik bedeutet auch immer das Ausüben eines Instruments, was mit dem

Aufeinanderprallen zweier Körper beschreibbar ist, von denen einer mit dem anderen in Aktiongerät.“7 Das Instrument begegnet dem Musiker als Objekt – als Gegen- und Widerstand. Zwischendem unbelebten Instrument und dem lebendigen Spieler besteht ein permanenter Wechsel vonBerührung und Entfernung, Kontakt und Lösung.

Ligeti erzeugt durch die permanente Reihung von Klang an Klang und Bewegung an Bewegung,die Illusion eines Klangkontinuums und vermeidet stille Zeiträume zwischen den Anschlägen – den4 György Ligeti, Etüden, Booklet-Text zu György Ligeti Editon Vol. 3, Works for Piano, Sony Classical SK 62308

(1996), S. 15f.5 John Cage, Etudes Australes, EP 6816a/b, New York, S. 1.6 Tim Becker, Plastizität und Bewegung – Körperlichkeit als Konstituens der Musik und des Musikdenken im frühen

20. Jahrhundert, Inaugural-Dissertation in der Fakultät Pädagogik, Philosophie und Psychologie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, http://www.opus-bayern.de/uni-bamberg/volltexte/2005/39/ (Zugriff: 10. August2008), 2003, S. 161.

7 Martin Zenck, Gestisches Tempo. Die Verkörperungen in der Musik – Grenzen des Körpers und seineÜberschreitungen, in: Erika Fischer-Lichte u.a. (Hgg.), Verkörperung (= Theatralität Bd. 2), Tübingen/Basel 2001,S. 358.

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Pulsschlägen. Während er so das Verklingen des Klaviers überlisten will, lässt er sich an andererStelle von der technisch-topographischen Beschaffenheit des Instruments leiten: die eine Handspielt jeweils nur auf schwarzen Tasten, die andere nur auf weißen Tasten, so prägt diePhysiognomie des Instruments die harmonische Struktur.

Cages Etudes Australes sind in mehrfacher Hinsicht vom Klavier als Körper inspiriert: durchseine Tastenkonfiguration ist es Ideengeber für die Grifftabelle. Den entscheidensten Einflussnimmt das Instrument allerdings als Klanghorizont für die stillen Zeiträume zwischen denAnschlägen: in jeder Etüde gibt es einen oder mehrere Töne im Bassregister, die nicht aktiv gespieltwerden, sondern die stumm gedrückt sind und so einen spezifischen Resonanzraum für jede Etüdeschaffen.

1.3. Bewegung

„Die Musik, die man spielt, entspricht weniger einer auditiven, als vielmehr einer manuellen(und in gewissem Sinn weitaus sinnlicheren) Aktivität; […] es ist eine muskuläre Musik […]; es ist,als ob der Körper hörte […]“8 So beschreibt Roland Barthes den Prozess der Erzeugung von Musik.In diesem Vorgang wird die Notation zum Ereignis.

Im Augenblick des Spielens wird der Gegensatz von Notation und Ereignis in derPerformativität der Musik aufgehoben. In den Spielbewegungen eines Musikers wird der fixierteNotentext zu klanglicher Wirklichkeit. In der Verkörperung durch den Musiker ist die Musiksowohl Text, als auch Ereignis, es geschieht eine „[…] experimentelle Demonstration derunergründlichen Identität von Konkretem und Abstraktem […].“9

Der Musiker/Performer führt den Text aus, übersetzt die notenschriftlichen Vorgaben inBewegung und ruft mittels seiner Bewegungen das Klangereignis hervor. So begreift er die Ideen,Imaginationen und Formen des Komponisten, lässt sie von seinem Körper Besitz ergreifen undverhilft ihnen durch seinen Körpereinsatz zur Existenz. Roland Barthes verweist auf die Präsenz diedieser Körpereinsatz spürbar werden lässt diesseits von jeder semiotischen Bedeutung der Musik:„Er [der Körper] spricht, sagt aber nichts: Denn sobald die Rede – oder ihr instrumentaler Ersatz –musikalisch ist, ist sie nicht mehr sprachlich sondern körperlich.“10

Die musikalische Gattung an der sich die Performativität von Musik und die Rolle des Körpersbesonders gut zeigen lässt ist die Etüde, da in Etüden Bewegungsabläufe selbst die musikalischenIdeen sind.

Für Ligeti ist der Aspekt der Virtuosität zentral: er verlangt Bewegungen und Geschwindigkeitenan der Grenze des Möglichen. Die zwölfte Etüde trägt den Titel Entrelacs, was „Verflechtungen“oder „Verschlingungen“ bedeutet. Beide Hände spielen jeweils lange Ketten aus gleichmäßigpulsierenden Sechzehnteln, wobei durch Akzentuierungen von bestimmten Pulsschlägenübergeordnete Linien in langsameren Geschwindigkeiten entstehen, die sich scheinbar chaotischüberlagern. So wird die Etüde zu einer Fahrt der Hände durch einen labyrinthischen Knoten. Dabeischeinen sich die Klangbänder der beiden Hände um sich selbst und umeinander zu drehen.

Cages Partitur bedeutet für den Pianisten, dass einerseits jeder notierte Griff als Einzelklangmöglich ist, andererseits aber die Sukzession der Griffe externen Gesetzen jenseits derunmittelbaren Ausführbarkeit unterliegt, nämlich den Sternenkarten. Erschwert wird die Aufgabedadurch, dass beide Hände unabhängig voneinander auf der ganzen Tastatur agieren müssen undjede Hand alle für sie bestimmten Klänge ohne die Hilfe der Anderen realisieren soll. Der Körperwird durch klare Regeln gesteuert und die Spielmotorik bildet eine autonome Schicht.11 DieBewegung, das Zustandekommen des Tons, ist das Zentrale. Der Musikmach-Prozess desUmsetzens von Schrift in Bewegung wird nach außen gekehrt.

8 Roland Barthes, Musica Practica, in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt 1990, S. 264.9 Antonin Artaud, Briefe über die Grausamkeit, in: ders., Das Theater und sein Double, Frankfurt 1979, S. 116.10 Barthes, Rasch, in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, S. 305, Hervorhebung im Original.11 Marion Saxer, Spiel- und Übeanweisungen für motorische Automatisierungsprozesse, in: Ulrich Mahlert (Hg.),

Handbuch Üben, Wiesbaden/Leipzig 2006, S. 237.

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John Cage (1912-1992)

Etude Australe No. 32 (Book 4, 1976)

2.1. Wahrnehmung

„'O, mein Körper, der du mir jeden Augenblick zu Bewusstsein bringst [...]. Instrument desLebens, das du bist, du bist für jeden von uns der einzige Gegenstand, der sich dem Weltallvergleichen lässt. Der ganze Himmelsumkreis hat dich zur Mitte [...]. Du bist recht das Maß derWelt, von der meine Seele sich nur das Äußere vorstellt [...]. Von sich eingenommen [...] glaubt siesich fähig, eine Unzahl anderer Realitäten zu schaffen; sie bildet sich ein, es gäbe noch andereWelten, aber du rufst sie zurück zu dir [...].'“12 So besingt Paul Valéry den Körper als ultimativenReferenzpunkt unseres Erlebens. Der Körper wird verstanden als unhintergehbare zeitliche undräumliche Begrenzung unserer Reflexionsfähigkeit.13 Er hat keinen Objektstatus, er ist uns keinGegenstand – er steht uns nie gegenüber – sondern gehört immer zum Subjekt: ist das Subjekt.Gleichwohl ist der Körper durch seine räumliche und zeitliche Ausdehnung Teil der Welt derDinge. Mit den Worten Jean-Luc Nancys: „Er ist ein Innen, das sich als Außen spürt.“14 So befindetsich der Körper in einem Zwischenstadium, er ist die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt,wobei es genau diese Kategorien sind, die er überwindet. „Ist mein Leib Ding, ist er Idee? Er istweder das eine noch das andere, er ist der Maßstab der Dinge“, schreibt der französische PhilosophMaurice Merleau-PoAus phänomenologischer Perspektive ist die Wahrnehmung als Wechselspielzwischen Körper und Welt zu denken, wobei der Körper als „In-der-Welt-sein“15 verstanden wirdund in diesem „In-der-Welt-sein“ auch die gegenseitige Bezogenheit von Körper und Welt gefasstist. So ist der Blick in die Welt nicht aus der Distanz definierend nominal, sondern er istkonditional, erwächst aus der beidseitigen Verschlingung.16

12 Paul Valéry, Eupalinos oder der Architekt, Frankfurt 1962, S. 116.13 Vgl. Kay-Uwe Kirchert, Wahrnehmung und Fragemtierung – Luigi Nonos Werke zwichen Al gran sole carico

d'amore und Prometeo, Saarbrücken 2006, S. 17.14 Jean-Luc Nancy, Corpus, Berlin 2003, S. 119.15 Vgl. Thomas Csórdas, Embodiment and Experience. The Existential Ground of Culture and Self, Cambridge 1994,

S. 10.16 Vgl. ebd.

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2.2. Ästhetik

In der ästhetischen Wahrnehmung verliert die im Alltag gebräuchliche instrumentelleBetrachtungsweise an Bedeutung und die phänomenale Reichhaltigkeit des – wie auch immergearteten – Gegenstandes der Wahrnehmung wird erfahren. Dabei sind es nicht nur Merkmale desGegenstandes, sondern genauso die eigene Wahrnehmungsweise, die in der ästhetischenAnschauung zu Bewusstsein kommt. Durch Verschiebungen der Rahmen der Wahrnehmungwerden wir unserer eigenen Wahrnehmungsmöglichkeiten gewahr. Entscheidend ist hier dieDimension der Zeit. Das Spiel der Rahmenverschiebungen, das Oszillieren derWahrnehmungsweisen, die Folge dadurch ausgelöster Assoziationen sind erlebte Zeit, sind bewussterfahrene Augenblicke. Ein Augenblick ist definiert durch seine Endlichkeit. Die Erfahrung desHier und Jetzt ist durch unser begrenztes Dasein, durch die Vergänglichkeit unseres Körpers undunser Wissen darum möglich.17

Das phänomenale Erscheinen im Hier und Jetzt ist die gemeinsame Kategorie, in der sichKunstwerk und Körper entsprechen. So schreibt Merleau-Ponty: „Nicht einem physikalischenGegenstand, sondern eher einem Kunstwerk ist der Leib zu vergleichen. Die Idee eines Bildes odereines Musikstücks kann sich auf keine andere Weise mitteilen als durch die Entfaltung der Töneselbst.“18

So kann in einem Konzert der Körper des Musikers nicht ausschließlich als Mittel betrachtetwerden, dass dazu dient die Musik zu verwirklichen. Dem Körper in seiner physischenAnwesenheit kommt eine eigene Kraft zu, die ein solches instrumentelles Verständnis übersteigt.Der Musiker verweist nicht auf die Musik als etwas, das er selbst nicht ist. Sondern im Modus derDarstellung verkörpert er die Musik.19 So wird in einem Konzert mehr wahrgenommen, als diegespielte Musik: das Spielen selbst. Dieser Akt der Präsentation ist selbst nicht repräsentierbar, erist performativ.

17 Vgl. Seel, Ästhetik des Erscheinens, München 2000, S. 29.18 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, München 1966, S. 181.19 Vgl. Dieter Mersch, Paradoxien der Verkörperung, in: Winfried Nöth/Anke Hertling (Hgg.), Körper –

Verkörperung – Entkörperung (= Intervalle 9), Kassel 2005, S. 19f.

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2.3. Resonanz

„[…] wenn ich dem Anderen, der spricht, genügend nahe bin, um seinen Atem zuhören, um seinAufbrausen und seine Erschöpfung zu spüren, so kann ich das ungeheuerliche Entstehen seinerLauterzeugung fast so miterleben wie mein eigenes.“20 Merleau-Ponty spricht hier das Phänomender Resonanz, der Empathie an. Er bereichert seine Überlegungen zur Verflechtung der Sinne hierum eine dritte Ebene. Nachdem in einem ersten Gedanken der Körper und dieWahrnehmungsfähigkeit als mit der Welt verflochten dargestellt werden und in einem zweitenSchritt die Verschränkung der Sinne untereinander thematisiert wird, lenkt er den Blick nun auf dieWahrnehmung „des Anderen“. Dadurch, dass ich weiß, wie sich meine Stimme anfühlt – „meineeigene Vibration höre ich von innen her […] mit der Kehle“21 –, kann ich ein ähnliches Gefühl beimHören einer fremden Stimme entwickeln: „[…] jeder Stimmlaut weckt ein musikalisches Echo inmir.“22

Roland Barthes überträgt dies auf die Konzertsituation: „Wir sind es, die spielen, wenn auchwieder nur über Stellvertreter.“23 Indem die Zuschauer einen empathischen Resonanzraum bilden,bringen sie die Aufführung aktiv mit hervor und es entseht zwischen den Aufführenden und demPublikum eine besondere Beziehung. Die gemeinsame körperliche Anwesenheit von Akteuren undPublikum und die Konzentration mit der agiert und wahrgenommen wird führen zu einer intensivenGegenwartserfahrung, wobei deren Intensität abhängig ist von den kulturellen Konventionen derBetrachtungsweise von Aufführungen.24

Das Phänomen der Resonanz macht das Wahrnehmen als performative Handlung deutlich, in derder Zuhörer/Zuschauer als sich fühlender, als resonnierender Körper an der Präsenz der Musikselbst beteiligt ist. Indem der Hörer von der Musik ergriffen oder angegriffen wird, indem sie sichseinem Körper aufdrängt, „führt jeder Zuhörer aus, was er hört.“25 In der Erfahrung der Fülle undPräsenz der Musik, wird „jede Unterscheidung zwischen dem Komponisten, dem Interpreten unddem Zuhörer aufgehoben.“26 Dort geht die Musik in die Körper aller Beteiligten gleichermaßenüber.

György Ligeti (1923-2006)

Étude No. 12 „Entrelacs“ (Deuxième livre, 1993)

20 Merleau-Ponty, Die Verflechtung – Der Chiasmus, S. 189.21 Ebd.22 Ebd.23 Barthes, Rasch, S. 303.24 Vgl. Fleig, Körper-Inszenierungen, S. 14f. sowie Erika Fischer-Lichte, Entrgrenzungen des Körpers, S. 21ff., beide

in: Fischer-Lichte/Fleig (Hgg.), Körper-Inszenierungen, Tübingen 2000.25 Barthes, Rasch, S. 303.26 Ebd.