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ARGYRIS SFOUNTOURIS HISTORISCHES TRAUMA UND SEINE VERARBEITUNG - GEMEINSAME TRAUER UND AUSSÖHNUNG - REUE DES TÄTERS, ENTSCHULDIGUNG UND VERGEBUNG Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da. Sophokles, «Antigone», V. 523 PROLOG 1. Von der Urkunde der Erinnerung zur Legitimation der Hoffnung HISTORISCHES TRAUMA UND SEINE VERARBEITUNG 2. Unsere existentielle Identität 3. Die Deutsche Seite GEMEINSAME TRAUER UND AUSSÖHNUNG 4. Das kollektive absolute Schweigen in Deutschland 5. Wie hat das Deutsche Volk die finstere Erfahrung verarbeitet 6. Die Erlangung der «Unfähigkeit zu Trauern» 7. «Hinsehen und Wegschreiben» 8. Die neue «Besetzung der Herzen» REUE DES TÄTERS, ENTSCHULDIGUNG UND VERGEBUNG 9. «Verzeihen – Vom Umgang mit Schuld» 1

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ARGYRIS SFOUNTOURIS

HISTORISCHES TRAUMA UND SEINE VERARBEITUNG - GEMEINSAME TRAUER UND AUSSÖHNUNG - REUE DES TÄTERS, ENTSCHULDIGUNG UND VERGEBUNG

Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da. Sophokles, «Antigone», V. 523

PROLOG1. Von der Urkunde der Erinnerung zur Legitimation der Hoffnung

HISTORISCHES TRAUMA UND SEINE VERARBEITUNG2. Unsere existentielle Identität3. Die Deutsche Seite

GEMEINSAME TRAUER UND AUSSÖHNUNG4. Das kollektive absolute Schweigen in Deutschland5. Wie hat das Deutsche Volk die finstere Erfahrung verarbeitet6. Die Erlangung der «Unfähigkeit zu Trauern»7. «Hinsehen und Wegschreiben»8. Die neue «Besetzung der Herzen»

REUE DES TÄTERS, ENTSCHULDIGUNG UND VERGEBUNG9. «Verzeihen – Vom Umgang mit Schuld»10. «Das Jahrhundert der Vergebung»11. Die ganze Wahrheit unserer Geschichte12. Nur Reue verspricht Katharsis und Ausgleich13. Die Welt wird zu einem Dschungel ohne Ethik

EPILOG14. Viel mehr als Zuneigung und Liebe

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Rodos, «Ägäis-Universität», 22. Juni 2016

HISTORISCHES TRAUMA UND SEINE VERARBEITUNG - GEMEINSAME TRAUERUND AUSSÖHNUNG - REUE DES TÄTERS, ENTSCHULDIGUNG UND VERGEBUNG

Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da. Sophokles, «Antigone», V. 523

PROLOG1. Von der Urkunde der Erinnerung zur Legitimation der HoffnungIn Max Frisch's 1945 entstandenem Stück Nun singen sie wieder - Versuch eines Requiems1 sagt die Mutter über ihr einjähriges Kind:

DIE FRAU: Es wird nichts mehr von diesem Krieg wissen, wenn es gross ist. ... Es wird sehen, wo unsere Stadt gestanden hat, das schon; aber es wird sich nicht selber erinnern - das ist viel ... Überall dort, wo sich niemand mehr selber an diesen Krieg erinnern kann, dort fängt das Leben wieder an!JEMAND: Oder der nächste Krieg.DIE FRAU: Wieso?JEMAND: Weil sich niemand mehr selber daran erinnern kann.

HISTORISCHES TRAUMA UND SEINE VERARBEITUNG

2. Unsere existentielle IdentitätFür uns alle, für welche die Erinnerung an diesen Krieg persönlichen Schmerz bedeutet, ist im Laufe der Jahrzehnte immer klarer geworden, dass Vergessen keine adäquate Medizin darstellt, weder gegen unseren Schmerz noch gegen die Verführbarkeit der Gesellschaft zu erneuter Grausamkeit. Wir mussten einsehen, dass es wirkungsvoller ist, unsere Erinnerung zu artikulieren, das Gespräch über unsere Erfahrungen nicht zu verweigern, sondern zu intensivieren. Gerade dort, wo es am heikelsten und für uns am anstrengendsten ist, kann dieses Gespräch am

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fruchtbarsten werden: in der Auseinandersetzung mit Menschen, die eine ganz andere Erfahrung als wir haben, in der Begegnung mit Menschen aus Deutschland, im Gedankenaustausch mit allen Deutschen, die dazu bereit sind. Solche Gespräche sind unsere grösste Hoffnung. Wir wünschen nichts intensiver, als die schwere Last des Erinnerns zu teilen, sie gemeinsam zu tragen, sie zusammen ertragen zu lernen. Unsere Kinder zu lehren, die Bitterkeit zu überwinden, die noch an unseren Eingeweiden nagt, die ihre hässlichen Spuren auf unsere Seele ätzte. - Können wir allein unsere Kinder davor bewahren? Wir müssen unsere Kinder informieren, sowohl über den grausamen Tod unserer Familien als auch über unser Überleben. Das Überleben war nicht unser persönlicher Verdienst, unabhängig davon, ob wir es als Segen oder Fluch, als Verantwortung oder Freipass empfinden. Wir haben begriffen, dass wir nicht länger dieselbe Identität haben wie vor jenen Ereignissen. Es gibt keine Brücke über den Abgrund, der das Vorher vom Nachher trennt. Wir konnten das arglose Leben, das wir begonnen hatten, nicht weiterleben, sosehr wir es auch wünschten, denn die Ereignisse zwangen uns ein anderes Leben zu beginnen. Ein Leben gegen die Natur – denn es bagann nicht mit einer Geburt, sondern mit dem Tod, nicht Charon, sondern den Meister aus Deutschland, der auszog, die ganze Welt zu erobern und mit einer blutigen Ernte zurückkehrte.In der Erinnerung sind wir mit der deutschen Vergangenheit siamesisch verwachsen. Untrennbar. Dies wird weiterschmerzen, solange sich jede Seite allein daran erinnern muss. Denn diese Erinnerung ist nicht bloss eine Fotografie, nicht die Momentaufnahmen von gewalttätigen Ereignissen, die vor siebzig Jahren ihren Abschluss fanden. Unsere Erinnerung ist ein Film von siebzigjähriger Dauer. Ein Film über den deutschen Umgang mit solchen gewalttätigen Augenblicken. Ein Film, der täglich weitergedreht wurde und wird, in wechselnder Regie - und simultan in quälender Zeitlupe in unseren Alltag eindringt. So sind wir uns bewusst geworden, dass unser Erinnern die lebenslänglich nicht vollendbare Trauerarbeit bleiben wird, die zu unserer existentiellen Identität geworden ist.

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3. Die deutsche Seite

Am 7. März 2014 sagte der Deutsche Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Ansprache im griechischen Lingiades am Mahnmal der dort von den Deutschen ermordeten Opfern:

«Raub, Terror und Mord kamen aus Deutschland, einem Land, das sich in eine gewissenlose Diktatur verwandelt hatte. Deutsche Soldaten und Offiziere exekutierten im besetzten Land, was deutsche Ideologen und Schreibtischtäter in nationalistischer Hybris ersonnen hatten.»2

Es war neu, dass ein hoher deutscher Representant so unveblümt auf die historische Wahrheit der deutschen Kriegsverbrechen hinweist. Hätte ein Deutscher Regierungsvertreter diese Sätze vor zwanzig Jahren gesprochen, wären wir auf dem Weg der wahren Aussöhnung und der gemeinsamen Bewältihung der Trauer viel weiter gekommen. Aber unsere oft schmerzlichen Bemühungen der letzten Jahrzehnte haben entscheident zu dem Ergebnis beigetragen, das sich durch den Besuch und die Worte des deutschen Bundespräsidenten in Lingiades manifestiert. Denn jene „deutschen Ideologen und Schreibtischtäter in nationalistischer Hybris“, wie Bundespräsident Gauck die Nazis und deren Ideologie charakterisiert, haben 1945 nicht automatisch aufgehört zu existieren und sich zu betätigen, auch nicht 1995, als sie uns schriftlich mitteilten, dass das Massaker von Distomo kein terroristisches Verbrechen war, sondern „bloße“ Maßnahmen im Rahmen der Kriegsführung. Genau so wie es der verantwortliche Leutnant bereits am 11. Juni 1944 in seinem „willentlich gefälschten Gefechtsbericht“ dargestellt hatte, um seinen verbrecherischen Befehl zu vertuschen. Und es beruhte nicht auf Unkenntnis, denn diese historische „Distomo-Lüge“ war bereits einen Monat später, im Juli 1944 von der Wehrmacht selbst entlarvt worden. Aber die „nationalistische Hybris“ im Auswärtigen Amt war noch nach 50 Jahren viel stärker als der Respekt vor der Wahrheit. Im Jahre 2005 hat der damalige Bundesaußenminister Joschka Fischer eine Untersuchung in Auftrag gegeben, um den Einfluss dieser „nationalistischen Hybris“ in seinem Ministerium zu untersuchen, die nazistischen Verflechtungen offenzulegen. Die wichtigsten Ergebnisse dieser Untersuchung füllen 8'000 Seiten und sind erst kürzlich publiziert

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worden, eine dicke Sammlung von „Staatsgeheimnissen“ der deutschen Nachkriegszeit! Auch im Bundesjustizministerium war diese „nationalistische Hybris“ jahrzehntelang intensiv am Werk, was durchaus bekannt war, vor allem in den juristischen Fakultäten, da es nie eine «Entnazifizierung» unter den Tausenden von Richtern gegeben hatte, welche einst die Gegner des Nazismus zum Tod verurteilten, und später in den Universitäten den neuen Generationen ungestört das Funktionieren des Rechts lehrten. Doch über diese Vergangenheit herrschte Schweigen. Als aber 1978 der damalige Ministerpräsident von Baden-Württemberg Hans Filbinger, von seiner Vergangenheit bedrängt, sich zum Ausruf verleiten liess, dass heute nicht Unrecht sein kann, was damals (d.h. währemd der Nazizeit) Recht war, wurde er zum Rücktritt gezwungen. Er war nicht länger im Stande, seine Rolle zu spielen, da er sich zum «nackten Kaiser» verwandelte. Damals war es noch notwendig, dass sich Deutschland mit seiner «Vergangenheit» international keine Blößen gab. Dies änderte sich rasch, als nach der Wiedervereinigung die „nationalistische Hybris" erneut aufflackerte. 2006 verkündete der Bundesverfassungsrichter DiFabio, dessen Kammer die Entschädigungsklage gar nicht verhandeln wollte, in einem Interview (nicht etwa im schriftlichen Entscheid), dass die Ereignisse von Distomo «im Rahmen des Völkerrechts» stattfanden. Noch steckt der Mefistofeles in ihnen, diesen uneinsichtigen «deutschen Ideologen und Schreibtischtätern“.

GEMEINSAME TRAUER UND AUSSÖHNUNG4. Das kollektive absolute Schweigen in DeutschlandWas die Deutschen selbst als «deutsche Vergangenheit» bezeichnen, ist die Zeit von 1933 bis 1945, von der Machtergreifung durch die Nationalsoziaslisten bis zum Ende des zweiten Weltkrieges. Der Angriffs- und Vernichtungskrieg des Dritten Reichs hat die Welt mit Leid und Trauer überhäuft, welche die Gegenwart und Zukunft von Millionen von Menschen in Europa und der ganzen Welt für viele Generationen prägen. Die Auswirkungen werden weiter bestehen, solange es Überlebende gibt, solange die Erinnerung an jene Zeit lebendig bleibt. Die Erfahrungen sind tief in unserem Leben eingraviert, so tief wie nur der unheilbare Schmerz

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sich einnisten kann. Dieser Schmerz hat auch unsere Beziehung zum Deutschen Volk beeinflusst. Seine Gleichgültigkeit während vieler Jahrzehnte, die Leugnung der Schuld und Nicht-Bestrafung der Täter hat eine Zweite Schuld3 zufolge, jene welche die Opfer sogar aus seinem Gedächtnis ausschliesst. Diese zweite Schuld betrifft nicht nur Einzelne Menschen, sondern alle, da sie erfahren und wissen konnten, es aber nicht wollten. Somit ist das kollektive deutsche Gesächtnis hohl geblieben.

5. Wie hat das Deutsche Volk die finstere Erfahrung verarbeitet

Wie sind uns bewusst, dass für Deutschland der Zweite Weltkrieg zwei Gesichter hat, jenes der Schuld und Verantwortung für die begangenen Kriegsverbrechen und das des Erleidens der eigenen Schluss-Katastrophe. Gerade deshalb ist das klärende Gespräch der einzige, wenn auch langwierige, Generationen überdauernde Weg zu einer echten Aussöhnung.Im Nachhinein können wir entdecken, dass diese Erfahrung in unzählbar vielen Gedächtnissen tief gelagert verblieb, in geheimen Archiven, auf den festgepressten Lippen und den getrübten Augen der Alten und Sterbenden in Deutschland, die ein Leben lang vergeblich darauf hofften, dass ihnen jemand beistehen würde, zu gestehen, um sich von der Last zu befreien. Dieselbe Erfahrung spiegelte und spiegelt sich noch immer in den staunenden Augen der Kinder und Enkel, die lange vergebens auf ein ehrliches Schuldeingeständnis warten. «Unsichtbare» schlaflose Aufpasser bemühten sich auf ihre Art und Weise um eine andere Endlösung. Es gelang ihnen, dass die historische Wahrheit jahrzehntelang verschwiegen wurde, jene Wahrheit über die grauenhaften Ereignisse während einer schrecklichen Zeit, die den schlechten Ruf deutschlands begründet haben. Woraus entspringt aber dieser geheime, schreckliche Wunsch einer anscheinend grossen deutschen Volksmehrheit, dass diese dunkle deutsche Vergangenheit in allen unseren Gedächtnissen rasch verblasst?

Heilsam wäre es dagegen, endlich mit der mühevollen, aber höchst wertvollen Arbeit der korrekten, von allen Betroffenen akzeptierten Auf- arbeitung zu beginnen, um so einen neuen, einen guten Ruf aufzubauen. Es gibt dazu eine tragfähige Brücke: die große Kultur und den starken Geist Deutschlands, die Teil jener universalen Seele gewesen waren und

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wieder sein könnten, die mit Goethe das „Land der Griechen mit der See- le“ suchte. Ein Land, das nicht unser Besitz ist, sondern eine Idee, die seit Jahrtausenden Hoffnung verkündend in die ganze Welt strahlt, weil sie eine Abgrenzung, eine Alternative zur Barbarei darstellt. Um diese «Lösung» zu erreichen, hätten wir von allem Anfang an, eine enge Zusammenarbeit mit Deutschland suchen müssen auf der Basis der gemeinsamen Anerkennung des gemeinsamen Leids. Aber dazu war Deutschland – wie sich im Nachhinein leider bestättigt hat – nicht bereit, solange sie Geisel des Nazismus blieb.

6. Die Erlangung der «Unfähigkeit zu trauern»In einem Vorspruch zu „Antigone“ schrieb Berthold Brecht 1948:

Abgewandte, ich weiß,wie Du den Tod gefürchtet hast. AberMehr noch fürchtest Du unwürdig Leben.4

1948 gab es noch Hunderttausende unbeheligter Nazis, welche in der Zeit von 1933 bis 1945 riesige Vermögen erworben hatten und noch immer einen grossen Einfluss besassen. Sie pflegten engste Beziehungen zur neuen Regierung und zu den Massenmedien und beeinflussten viele Entscheidungen von wichtigen Mitgliedern, jenen, welche sie selbst ausgewählt und in wichtige Positionen gebracht hatten. So konnten sie bereits ab 1945 bewusst-unbewusst das anstreben und erreichen, was 20 Jahre später Margarete und Alexander Mitscherlich «Die Unfähigkeit zu Trauern»5 bezeichnet haben. Es war weder Zufall noch Fügung, sondern das Festhalten an einer «nationalistischen Mentalität». Die Propaganda-spezialisten der Nazis hatten diese hochentwickelt und dem Volk eingeflösst mit Sätzen wie «Reue ist undeutsch», wie Beschriftungen an den Tätern-Baracken im KZ Buchenwald bezeugen. Solchen «Spezialisten» waren auch Begründer der strickten, jahrzehntelang nicht angezweifelten Unterscheidung zwischen den verbrecherischen SS und der anscheinend «reinen Wehrmacht», welche lediglich dem «sauberen» Handwerk des Krieges nachging. Erst in den Neunzigerjahren konnte die berühmte Ausstellung «Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-44»6 beweisen, dass auch diese offizielle deutsche Armee in allen ihren Kriegsschauplätzen vielfache Verbrechen

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gegen die Menschlichkeit begangen hatte.Diese Bemühungen der ewigen Nazis verhinderten, dass sich im Nachkriegsdeutschland Empfindungen von Reue und Trauer überhaupt entwickeln konnten. Für den «einfachen» Deutschen wurde es unmöglich, ans Trauern zu denken, und noch viel weniger in einer Gemeinschaft «trauern zu wagen» über die Tragödien während der Bombardierungen ihrer Städte oder über die Strapazen der ersten Nachkriegsjahre und die «Odyssee» der Vertreibung der deutschen Minderheiten aus dem Osten, wo sie jahrhundertelang friedlich mit den andern Völkern zusammen-gelebt hatten, bis die Nazis einfielen mit ihrem blutigen Rassismus.

7. «Hinsehen und Wegschreiben»

Ein erster Höhepunkt und gleichzeitig eine Bestätigung dafür, dass «Herren der Vergangenheit» als Aufpasser die psychologische Entwicklung der Gesellschaft überwachten, war die Gründung im Jahre 1947 der Schriftsteller-Vereinigung «Gruppe 47». Ihr Ziel war sowohl die Unterstützung als auch die Kontrolle der jungen Nachkriegsautoren. Eine der «Forderungen» im Statut der Vereinigung an die Schriftsteller war: «Hinsehen und Wegschreiben».7 Es betraf die persönlichen unangenehmen Erfahrungen aus der Zeit 1933-45 und die möglichen Zeugenaussagen in ihren Werken über Kriegsverbrechen. Auch private Kriegstagebücher dieser Autoren sind erst Jahrzehnte später nach deren Tod publiziert worden. Dies war die auferlegte deutsche Nachkriegs Mentalität des Schweigens und Verschweigens, während wir unsere Traumata verarbeiteten und uns fragten, warum es keine gemeinsame Trauerarbeit mit Deutschland geben durfte.

Wichtiger als jede politische Deutung ist aber für uns die Abwesenheit jedes menschlichen Verständnisses und des Respekts vor den Opfern. So hat sich bestätigt, dass die Art und Weise wie gewisse Deutsche ihre anfängliche Angst bewältigen, um den Opfern und ihrem Schicksal direkt zu begegnen, ein wesentliches Merkmal über ihre wahren Absichten darstellt. Dies ist uns nach vielen bitteren Erfahrungen in den letzten Jahrzehnten bewusst geworden. Sehr wenige Deutsche sind in der Lage, diese Notwendigkeit zu verstehen. Diese wenigen haben erkannt, dass eine mitmenschliche Annäherung die entscheidende Voraussetzung für

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einen echten Dialog darstellt. Und eine solche Annäherung steht ganz im Gegensatz zur bekannten Taktik, welche die Nazis lehrten mit ihrer teuflischen Meisterschaft. In jener «germanozentrischen» Welt waren und sind die fremden Opfer nichts anderes als unvermeidliche und bedeutungslose Hobelspäne während der Gestaltung dieser «germanozentrischen» Welt. Im Bemühen der Nachkommen, eine «korrigierte» Geschichte zu schreiben, wird die noch andauernde ideologische Abhängigkeit und ethische Befangenheit entlarvt.

8. Die neue «Besetzung der Herzen»

Deutsche Christen bemühen sich «Versöhnungs-Messen» zu zelebrieren, versuchen aber nicht, sich mit den Überlebenden, den Kindern der Opfer zu treffen, diese kennenzulernen und mit ihnen zu sprechen, aus erster Instanz von den Handlungen und den schändlichen Taten ihrer Vorfahren zu hören. Es scheint, dass sie sich dafür nicht interessieren – sie haben es tatsächlich nicht gelernt, sich für die Opfer und ihrem Schicksal zu interessieren, sondern nur für sich, für die noch immer präsente Deutsche Überheblichkeit. Deshalb sind ihre Bemühungen nicht durch Verständnis und einer gemeinsamen Trauer, durch Bedauern und Reue begründet, nicht einmal durch echte Demut. Es sind Litaneien zur Verdrängung der Vergangengeit, zum Schuldenerlass und Selbstbeweihräucherung. Möglicherweise sind sie sich überhaupt nicht bewusst, dass sie dadurch den Sinn der Vergebung verkennen. Aber ihr Zweck scheint eine erneute «Besetzung der Herzen» zu sein. Und ihre Partner in Griechenland wollen ihre wirtschsftlichen und politischen Geschäfte weiterführen: Deutsche Firmen verfügen über grosse «Budgets for Public Relations» - und was wäre ihnen lieber als die Beschönigung der Deutschen Vergnganheit.

Vor einem sogenannten „Aussöhnungskonzert“ einer bayerischen Jugendmusikgruppe, welches ausgerechnet Hoteliers aus Delphi gesponsert hatten, fragte, echt besorgt, ein halbwüchsiger Schlagzeuger, ob es nicht unangebracht sei, „solche“ Musik am Distomo-Mausoleum zu spielen, unmittelbar neben dem Schrein mit den Gebeinen der von den Deutschen ermordeten Opfer.

Solche Fragen stellen die deutschen „Versöhnungs-Profis“ nicht, denn sie sind ausschließlich damit beschäftigt, das neueste Modell eines offenbar

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höchst wirksamen deutschen „Friedens-Panzers“ in Bewegung zu halten: die Aussöhnungswalze zur Nivellierung von Geschichte, Gedenken und Erinnerung!

REUE DES TÄTERS, ENTSCHULDIGUNG UND VERGEBUNG

9. «Verzeihen – Vom Umgang mit Schuld»

Die Deutsche Philosophin Svenja Flasspöhler schreibt in ihrem Buch «Verzeihen – Vom Umgang mit Schuld»8, über den Besuch von Bundespräsident Joachim Gauck in Lingiades bei Ioannina:

«Im ehemaligen «Täterstaat» Deutschland, wird die Politik der Vergebung gegenwärtig vo allem durch den ehemaligen Pfarrer und jetzigen Bundespräsidenten Joachim Gauck verkörpert. Im März 2014 reiste er in das griechische Dorf Lingiades, wo Wehrmachtssoldaten 1943 im Zuge einer Vergeltungsaktion 83 Menschen ermordet hatten, die meisten von ihnen waren Frauen, Kinder und Alte. Ganze Familien wurden ausgelöscht, in manchen überlebte nur ein einziger Mensch. «Mit Scham und Schmerz bitte ich im Namen Deutschlands die Familien der Ermordeten um Verzeihung», so Gauck bei seinem Besuch in Lingiades. «Ich wünschte, längst hätte einer gesagt, der damals die Befehle gegeben und ausgeführt hat: Ich bitte um Entschuldigung.»Doch so sehr diese längst fällige Bitte um Verzeihung zu begrüssen war, hat sie bei näherem Hinsehen doch etwas Gezwungenes, Unangemessenes, Vereinnahmendes an sich.

Karolos Papoulias, der damalige griechische Präsident, der selbst als Partisan gegen die Deutschen gekämpft hatte, wohnte dem Gauck-Besuch bei und streckte dem deutschen Bundespräsidenten nach dessen Rede die Hand hin, woraufhin dieser im Überschwang sogleich den ganzen Mann umarmte. Papoulias habe sich, so hiess es in einem Zeitungsbericht, «vorsichtig aus den Armen des Deutschen befreit.»

Der damalige Oppositionsführer Alexis Tsipras machte aus seinem Unmut über die Geste Gaucks keinen Hehl. Es sei ja schön, dass der Bundespräsident um Vergebung bitte, so Tsipras sinngemäss. Doch

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es gebe neben der moralischen Schuld eben auch noch ganz handfeste materielle Schulden, die der deutsche Politiker leider mit keinem Wort erwähnt habe. Der Ruf nach Reparationszahlungen wurde vor allem 2015 im Zuge der Diskussion um den «Grexit» wieder laut. Deutschland weist ihn bis heute zurück, was wiederum, wie sich in Lingiades eindrücklich zeigte, die Griechen nicht verzeihen: Kaum hatte Gauck den Schauplatz des Schreckens wieder verlassen, rollten einige Männer Transparente aus: «Wiedergutmachung» stand dort in grossen Lettern geschrieben.

10. «Das Jahrhundert der Vergebung»

Frau Flasspöhler untersucht in ihrem Buch «Verzeihen» das Thema der Vergebung als ein neues Phänomen in der deutschen Politik und zitiert aus dem Aufsatz von Jacques Derrida «Das jahrhundert der Vergebung»9:

«Das Wuchern solcher Szenen der Reue und der Bitte um ‘Vergebung’ verweist zweifellos auf eine universelle Dringlichkeit des Gedächtnisses: Man muss sich der Vergangenheit zuwenden», beschreibt Derrida die präkere Ambivalenz derartiger politisch motivierter Gesten, Gleichzeitig aber trage das «grosse Szenarium der Reue (...) gerade in seiner Theatralität (...) die Züge einer grossen Konvulsion», ja, gar eine «frenetische (...) Zwanghaftigkeit» in sich. «Das Trughafte, das mechanische Ritual, die Scheinheiligkeit, das Berechnende oder das Nachäffen sind oft daran beteiligt und halten sich parasitär an dieser Zeremonie der Schuld schadlos.»

Frau Flasspöhler ergänzt:

«Diese Sätze klingen hart – und doch stellt sich in der Tat die Frage, ob die Vergebung als öffentlicher politischer Akt funktioniert. Wie sollen jene, die der Rede des Buespräsidenten beiwohnten, Verzeihung gewähren? Sie sind Überlebende, nicht Opfer. Und steht es Gauck überhaupt zu, um Verzeihung für Verbrechen zu bitten, an denen er selbst gar nicht beteiligt war? Geht eine solche Stellvertreter-Bitte nicht allzu leicht über de Lippen? Zwangsläufig bleibt bei den Zuhörern ein schaler Nachgeschmack und das Gefühl,

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der Politiker mache es sich zu leicht, ja er verfolge im Grunde doch nur das politsche Ziel der Versöhnung, das der Schwere des persönlichen Schicksals nie gerecht zu werden vermag.»

Und nochmals Jacques Derrida:

«Die Sprache der Vergebung im Dienste determinierter Zwecke ist alles andere als rein und uneigennützig. Wie immer im politischen Feld.»

Trotz all dieser wichtigen Vorbehalte, ist am Tag des Besuchs von Bundespräsident Gauck in Lingiades im März 2014 de facto ein anderes Kapitel in den deutsch-griechischen Beziehungen eröffnet worden. Dazu muss aber, so hoffen wir, die Bundesregierung noch ihre eigenmächtigen Beschlüsse, die nicht auf bilaterale Gespräche basieren, überdenken.

11. Die ganze Wahrheit unserer GeschichteJacques Derrida spricht von einer universellen Dringlichkeit des Gedächtnisses. Dieses Gedächtnis ist nicht unser privates Gedenken, ist nicht die persönliche Erinnerung der Opfer, sondern ein Vermächtnis, das wir durch die Verarbeitung unseres Traumas und unserer Trauer für die Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder gestalten. So hoffen wir, dass eine unabhängige und frei denkende Jugend heranwachsen wird, welche die historische Wahrheit erkennen und verstehen kann und will.

Aber wer wünscht sich heute eine unabhängige und frei denkende Jugend, welche die historische Wahrheit zu begreifen sucht? Haben wir selber etwa unsere Jugend rechtzeitig in den letzten Jahrzehnten das freie und unabhängige Denken gelehrt und die ganze Wahrheit unserer Geschichte? Welche Vorbilder konnten wir ihr vorstellen?

Warum haben wir in unserem Land – wenn nicht ganze zweihundert Jahre – so doch zumindest die letzten zwei Generationen an Entwicklung und Fortschritt verpasst, keine funktionierende Organisation und Reorganisation der staatlichen Verwaltung ermöglicht und die rechtzeitige Auseinandersetzung mit allen Herausforderungen und Chancen der Zukunft verhindert? Wer lehrte unsere Kinder, immer wieder dieselben Parteien und Regierungen zu wählen, welche die Gesetze, die sie selber erlassen, nicht befolgen und keine Charakterstärke besitzen, ihre eigenen

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verkündeten Programme in die Tat umzusetzen?

12. Nur Reue verspricht Katharsis und AusgleichChristoph U. Schminck-Gustavus schreibt 2001 in der Zeitschrift „Kritische Justiz“10:

Nemesis − Anmerkungen zum Urteil des Areopags zurEntschädigung griechischer Opfer von NS-Kriegsverbrechen

« ... Einer der Prozessvertreter der Distomo-Kläger vor dem Areopag, Professor Alexandros Mangakis, [...] hat unterstrichen, dass er es für einen Skandal halte, wenn die deutsche Seite versuche, einerseits den Areopag mit dem Argument fehlender Zuständigkeit zu blockieren, während sie gleichzeitig die Zuständigkeit deutscher Gerichte mit dem gleichen Argument bestritten habe. In diesem Zusammenhang deutete Mangakis auch die Möglichkeit an, dass Griechenland Gelder für Entschädigungsleistungen von der EU-Kommission fordern könnte; diese müssten dann von EU-Leistungen an die Bundesrepublik abgezogen werden, worauf dann bei Zweifeln der Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof Klage erhoben werden könnte. − Den Ohren deutscher Juristen werden solche Ankündigungen fremd und abwegig erscheinen. Dies kann wohl auch nicht verwundern in einem Land, das die Verbrechen seiner Väter und Großväter immer wieder von sich geschoben hat und in dem selbst die Katholische Kirche sich heute noch weigert, in den Entschädigungsfonds für Zwangsarbeiter einzuzahlen, weil sie sich nicht für „betroffen“ hält. Die ehedem in Buchenwald an einer Lagerbaracke für die Wachmannschaften angebrachte Maxime „Reue ist undeutsch!“ scheint auch in anderen Bereichen noch zu gelten. Dennoch sollte das Urteil des Areopag nicht nur unter den Lesern der Kritischen Justiz zur Kenntnis genommen werden. Auch Juristen könnten sich an die Geschichte des Areopags erinnern, des ältesten europäischen Gerichts, das nach der Vorstellung der Alten über die Herrschaft des Rechts und der göttlichen Gebote zu wachen hatte. Werden diese Gebote missachtet, so greift Nemesis, die göttliche Rächerin des Frevels, ein. In ihrem Auftrag handelt der Areopag. − Auf dem Ares-Hügel in Athen, gleich gegenüber der Akropolis, befand sich in der Antike sein Sitz, und direkt vor seiner Tür waren die drei Altäre für die Erinnyen errichtet: für

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Alekto, die nie Rastende, für Tisiphone, die Rächerin des Mords, und für Megära, die niemals Verzeihende. Unter der Erde wohnen sie, die drei Erinnyen. Aischylos nennt sie „Töchter der Nacht“, die unerbittlichen Verfolgerrinnen jeglichen Frevels. Als uralte, vampirähnliche Gestalten jagen die Erinnyen den Frevler wie Hunde ein gehetztes Wild, sie hauchen ihm Wahn- sinn ein und verwirren seinen Sinn. Nur Reue kann sie besänftigen, nur Reue verspricht Katharsis und Ausgleich.»

13. Die Welt wird zu einem Dschungel ohne Ethik

Reue, Katharsis, Ausgleich! Das erschreckende in der Herrschaft des Ehrlosen, Verbrecherischen und absolut Bösen ist überall und immer, dass es spontan und schnell das Reine als sein Gegenteil erkennt und nicht ruhen kann, bis er es total ausgerottet hat. Was zurückbleit ist eine für Jahrzehnte ethisch verdorbene Gesellschaft. Und wenn wir uns nicht ernsthaft für einen ethischen Wiederaufbau anstrengen, wird aus der Welt ein Dschungel ohne Ethik. In einem solchen Dschungel verschlingen die Nachgriegsherrschaften und Klassen die Reste ihrer Kriegsbeute. Es ist eine traurige Feststellung, dass durch diese Nachkriegsherrscher auch die rechtmässigen Entschädigungen der Opfer geraubt worden sind. Wir konnten von einem Nazideutschland keine Gerechtigkeit erwarten. Aber wir wollten doch herausfinden, ob sich diesbezüglich etwas verändert habe.

Die Fortschritte lassen lange auf sich warten. Trotzdem hoffen wir noch, dass eine Mehrheit der neuen Generation in Deutschland die Lehren aus der Geschichte wahrnimmt, den Willen und die moralische Stärke aufbringt, um all das zu erkennen und nachzuholen, was ihre Vorgänger vernachlässigt oder bewusst vermieden haben. Diese Hoffnung basiert auf die Unterstützung, welche wir bereits in Deutschland erfahren. Hier wirken z.B. der «Arbeitskreis Distomo-Hamburg», eine wegweisende und kämpferische Gruppe, die seit 2001 sich für die Rechte der Nazi-Opfer einsetzt, die «Gruppe der Historiker» in Hannover, Gewerkschafts-Gruppen in Berlin und anderswo. Alle unterstützen unsere Bemühungen, allen voran, eine breite Öffentlichkeit in Deutschland besser zu informieren. Wir hoffe, dass solche Bemühungen sowohl in Griechenland als auch in Deutschland verstärkt werden. Der Unterricht der historischen

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Wahrheit in den Schulen, Begegnungen von Jugendlichen verschiedener Herkunft, Tagungen zur vertieften historischer Information – alles wird langfristig dazu beitragen, dass wir ein Europa aufbauen, in welchem das Zusammenleben der Völker alle nationalen und ökonomischen Differenzen überwinden kann.

Eine zusätzliche Möglichkeit bietet seit kurzem der «Deutsch-Griechische Zukunftsfond» des Auswärtigen Amtes, das dadurch den Wunsch von Bundespräsident Gauck in die Tat umsetzt, durch seinen Besuch in Lingiades und seine klaren Worte über die Vergangenheit, möge ein neues Kapitel in den deutsch-griechischen Beziehungen eröffnet werden. Es ist sehr begrüssenswert, dass Deutschland dadurch unserer wiederholten Einladung zu einer gemeinsammen Verarbeitung der traumatischen Vergangenheit nun entspricht. Obwohl in so vielen anderen Fällen Deutschland eine Vorreiterrolle einnimmt, hat es es in diesem Fall kaum gehandelt, sondern immer nur reagiert, und dies mit dem time lag der ethischen Wiederanpassung. Zweck dieses Zukunftsonds ist, währen fünf Jahren 1 Mill. Euro pro Jahr zur Verfügung zu stellen,

«mit dem Ziel der Etablierung einer deutsch-griechischen Erinnerungskultur, die gemeinsame Geschichte der letzten 200 Jahre gemeinsam aufarbeiten und dabei insbesondere auch in Deutschland das Bewusstsein für die in Griechenland begangenen deutschen Weltkriegsverbrechen schärfen, undzur Versöhnung mit den Märtyrerdörfern und mit den jüdischen Gemeinden in Griechenland beitragen» -

wie es in einer offiziellen Mitteilung heisst11.

Nur 2-3 Fälle von vielen Dutzend Anträgen an den Fond sind in den beiden letzten Jahren abgelehnt worden, da sie nicht unmittelbar seinen Zielen entsprachen. Und die Befürchtungen vieler Griechen (allen voran des Nationalrates zur Entschädigungsforderung und vieler der Opfergemeinden), dieser Zukunftsfond könnte zu einem Trojanischen Pferd in der Entschädigungsfrage werden, versuchen die Geldgeber zu entschärfen und betonen, dass, wer einen Antragt an den Zukunftsfond stellt, keinesfalls auf seine Entschädigungsforderungen verzichtet. (An anderer Stelle wird trotzdem etwas «heimtückisch» vermerkt, dass die Entschädigungsfrage «erledigt» sei – eine willkürliche «Auffassung» der

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BRD-Regierung, die weder durch das Internationale Recht, noch durch bilaterale Abmachungen begründet und gerechtfertigt ist.)

Im Gegensatz zu den eher positiven Entwicklungen in den bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Griechenland in dieser die Verhgangenheit betreffenden Frage, beobachten wir in den letzten Monaten eine sehr negative Entwicklung in Europa, welche – vor allem in der Flüchtlingsfrage – weder den Überzeugungen und erklärten Zielen Europas noch seinem christlichen Hintergrund entsprechen und schon gar nicht seiner historischen und ethischen Mitverantwortung an den dramatischen Enzwicklungen in Afrika und dem Nahen Osten.

Eine ethische Gesellschaft kann nicht bestehen und wirksam sein ohne entsprechende Schulung der Jugend auf allen Ebenen und ohne Vorbilder. Deshalb sind unsere Hoffnungen auf ein stabiles und friedliches Europa gedämpft, und es melden sich erneut die Ängste vor einer unkontrollierbaren Entwicklung. Nur grosse, gemeinsame Anstrengungen und die Rückbesinnung auf die geschihtliche Verantwortung können negative Entwicklungen verhindern

EPILOG

14. Weit mehr als Zuneigung und Liebe

Es ist noch nicht ins allgemeine Bewusstsein gedrungen, wie weit sich der deutsche Ungeist, aber auch die ihn relativierenden deutschen Nachkriegs-behörden von jenen Prinzipien entfernt haben, die grosse deutsche Denker aufgestellt hatten, und die zu den Grundprinzipien einer Epoche geworden sind, die wir Neuzeit nennen. In seiner Schrift "Mutmasslicher Anfang der Menschheitsgeschichte" sprach bereits vor zwei Jahrhunderten Immanuel Kant von Einschränkungen, die die Vernunft dem Willen in Ansehung seines Mitmenschen auferlegen sollte:

"Das erste Mal, dass [der Mensch] zum Schafe sagte: den Pelz, den du trägst, hat dir die Natur nicht für dich, sondern für mich gegeben, ihm ihn abzog und sich selbst anlegte, ward er eines Vorrechtes inne, welches er, vermöge seiner Natur über alle Tiere hatte, die er nun nicht mehr als seine Mitgenossen an der Schöpfung, sondern als seinem Willen überlassene Mittel und

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Werkzeuge zu Erreichung seiner beliebigen Absichten ansah. Diese Vorstellung schliesst (wiewohl dunkel) den Gedanken des Gegensatzes ein: dass er so etwas zu keinem Menschen sagen dürfe, sondern diesen als gleichen Teilnehmer an den Geschenken der Natur anzusehen habe: eine Vorbereitung von weitem zu den Einschränkungen, die die Vernunft künftig dem Willen in Ansehung seines Mitmenschen auferlegen sollte, und welche, weit mehr als Zuneigung und Liebe, zur Errichtung der Gesellschaft notwendig ist."12

Rodos, 22. Juni 2016: Vorlesung von Argyris Sfountouris anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Ägäis-Universität.

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Anmerkungen:

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1 Max Frisch «Santa Cruz», «Nun singen sie wieder», Frankfurt M. 19622

Argyris Sfountouris „Trauer um Deutschland“, Königshausen & Neumann, Würzburg 2015 3

Ralph Giordano „Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein“, Rasch und Röhring, Hamburg 19874

Bertolt Brecht „Gesamelte Werke“ Bd.10, Gedichte 3, S.954, Suhrkamp, Frankfurt M. 19675

Margarete und Alexander Mitscherlich «Die Unfähigkeit zu Trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens», Piper, München 1967 6

Philipp Reemtsma, Ulrike Jureit «Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-44», Hamburger Edition 2002

7 Klaus Briegleb „Neuanfang der westdeutschen Nachkriegsliteratur. Die «Gruppe 47» in den Jahren 1947-1951“, Vortrag Universität Zürich 2.2.1995. In: „Fünfzig Jahre danach. Zur Nachkriegsgeschichte des Nationalsozialismus“, Hochschulverlag Zürich 19968

Svenja Flasspöhler „Verzeihen – Vom Umgang mit Schuld“, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2016, S.168-170 9

Jacques Derrida „Jahrhundert der Vergebung“, Gespräch mit Michel Wieviorka, Lettres International 2000, Heft 48, S. 10-18

10 „Kritische Justiz“ Heft 1/2001, S. 111-117, Nomos, Baden–Baden 2001

11 Aus der Antwort des Auswärtigen Amtes auf eine Anfrage der Partei der Linken im Deutschen Bundestag, Drucksache 18/4863, 06.05.2015 (Als weiteres Instrument der Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der gemeinsamen Geschichte soll ein Deutsch-Griechisches Jugendwerk geschaffen werden. Eine gemeinsame Absichtserklärung zu seiner Errichtung ist am 12.09.14 von Bundesministerin Schwesig und dem Botschafter der Hellenischen Republik in Deutschland in Anwesenheit der beiden Staatsoberhäupter in Berlin unterzeichnet worden.)12

Immanuel Kant: «Mutmasslicher Anfang der Menschheitsgeschichte», Frankfurt M. 1977, S. 91