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Gliederung: Bild und Text bei Jochen Gerz S. 3-22: I. Zum Œuvre des Jochen Gerz: Literatur und bildende Kunst . Über die Lingualisierung der bildenden Kunst und die Visualisierung der Literatur im Medienzeitalter. S. 23-103: II. Texte und Verwandtes S. 23-54: 1. Theoretische Texte: Wider das Gesetz(te). Über die Relation von Wort und Bild in einer Gesellschaft des Scheins. S. 23-24: Einleitung S. 25-27: Bedingungen der visuellen Poesie 1972 S. 28-33: Die Schwierigkeit des Zentaurs beim vom Pferd steigen 1976 S. 34-38: Das hat doch nichts mit Performance zu tun 1978 S. 39-41: Einleitung zu den fototheoretischen Texten S. 42-44: Ich bin jemand, der den Fotoapparat benutzt 1980 S. 45-49: Vortrag über Emphase und Fotografie 1981 S. 50-54: Wörter und Bilder 1982 S. 55-70: 2. Performances: Die Destruktion des Bildes und Das Überleben des Wortes. S. 55-59: Einleitung 1 1

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Gliederung: Bild und Text bei Jochen Gerz

S. 3-22:

I. Zum Œuvre des Jochen Gerz: Literatur und bildende Kunst . Über die Lingualisierung der bildenden Kunst und

die Visualisierung der Literatur im Medienzeitalter.

S. 23-103:

II. Texte und Verwandtes

S. 23-54:

1. Theoretische Texte: Wider das Gesetz(te). Über die Relation von Wort und Bild in einer Gesellschaft des Scheins.

S. 23-24:EinleitungS. 25-27:Bedingungen der visuellen Poesie 1972S. 28-33:Die Schwierigkeit des Zentaurs beim vom Pferd steigen 1976S. 34-38:Das hat doch nichts mit Performance zu tun 1978S. 39-41:Einleitung zu den fototheoretischen TextenS. 42-44:Ich bin jemand, der den Fotoapparat benutzt 1980S. 45-49:Vortrag über Emphase und Fotografie 1981S. 50-54:Wörter und Bilder 1982

S. 55-70:

2. Performances: Die Destruktion des Bildes und Das Überleben des Wortes.

S. 55-59:EinleitungS. 59-63:Das Aus- und Betreten des Textes: Leben 1974

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Gliederung: Bild und Text bei Jochen Gerz

S. 63-70:Das sichtbare Schreiben bis zur Unsichtbarkeit:Das Autoportrait 1975S. 71-103:

3. Foto/Text: Autonome Ge-Schichten einer Abhängigkeit.

S. 71-79:EinleitungS. 80-87:Texte von den Fotografien getrennt: Le Grand Amour 1982S. 88-93:Texte neben den Fotografien: Die heiligen Wörter 1984S. 94-98:Texte als Fotografie: Free # 1-6 1990S. 99-103:Texte in den Fotografien: WOLLT IHR 1990

S. 104-105

III. Schlußbetrachtung

S. 106-130:

IV. Anhang

S. 106-127:1. Interview mit Jochen Gerz am 18.11.1993 in Potsdam

S. 128-130:2. Text: Das Autoportrait 1975

S. 131-147:

V. Literatur

S. 131-135:1. Bücher von Jochen Gerz und Bibliografie - Texte über Jochen Gerz

S. 136-147:

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Gliederung: Bild und Text bei Jochen Gerz

2. Allgemeine Literatur

S. 148-179:

VI. Abbildungen

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I. Literatur und bildende Kunst

I. Zum Œuvre des Jochen Gerz: Literatur und bildende Kunst. Über die Lingualisierung der bildenden Kunst im 20. Jahrhundert und die Visualisierung der Literatur im Medienzeitalter.

´Literatur und bildende Kunst` - würde ein Kunstgeschichtler eine Arbeit über Jochen Gerz schreiben, hieße es wahrscheinlich:´Bildende Kunst und Literatur`. In der Benennung wirkt etwas altertümlich nach, was eigentlich überwunden sein könnte - aber eben noch nicht ist. Der Gedanke der Rang- oder doch zumindest Abfolge der Künste spukt in unseren nach Ordnung und Halt such-enden Köpfen. Knifflig wird es, wenn sich zwei Kunstwelten be-gegnen, gar berühren oder ineinander übergehen. Das Problem die-ser Grenzgebiete liegt in ihrer Durchlässigkeit, synästhetischen Vieldeutigkeit.

Die Foto/Text-Arbeiten des Jochen Gerz sind in einer dieser Zwischenzonen angesiedelt. Anstatt die intertextuelle Collage der Medien, sei es im Fern-sehen, im Foto/Text des Jochen Gerz oder im Buch, das als Foto-buch, als Kombination aus Buch und CD1 oder als Unikat oder als Multiple in wenigen Exemplaren2 den Buchmarkt diversifiziert, als zeitgemäße Form der künstlerischen Kommunikation zu akzep-tieren, wenden sich viele Rezipienten irritiert ab. Ob das eine Frage des Alters und damit der, zwangsweise, genossenen modernen ´Bildung` ist, sei dahingestellt. Was im Film unwillkürlich als notwendige Einheit aus Schrift3/Ton und Bild auf breite Akzep-tanz stößt, wird im schöngeistigen Refugium par exellence, dem Buch als Symbol der Schrift-Kultur, als eher störend empfunden. Ausnahmen stellen die sehr populären Bildbände dar. Dabei dürfen

1 Ein Beispiel wäre: Bert PAPENFUß-GOREK, Endart & Novemberclub: "Nunft. Poesej & Krach". Göttingen 1992.2 Vgl. Rolf DITTMAR, Metamorphosen des Buches, Künstlerbücher; in: Das Kunstwerk, 3 xxx, Juni. Stuttgart Berlin Köln Mainz 1977. S. 8. Und vgl. Dieter ROTH, "Wusten Sie schon, daß alles Gedruckte gut ist?", Gesammelte Werke u.a. Neues Museum Weserburg Bremen. Bremen 1992.3 Schriftliche Rudimente des Stummfilms haben sich - noch - im Abspann und einzelnen erzählerischen Sequenzen (Zeitangaben, Einleitungen oder im Nach-spann, wenn zum Beispiel die Authenzität des Filmstoffes nachgewiesen werden soll) erhalten; von der unbewußten Signalwirkung diverser Straßen-, Ladenschilder oder gefilmter Schriftzeichen generell ganz abgesehen.

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I. Literatur und bildende Kunst

Text und Bild nicht als einander ausschließende, hermetische Me-dien interpretiert, gar gegeneinander ausgespielt werden. Die Synthese aus Bild(Foto) und Text ist eine zeitgemäße Form der traditionsreichen visuellen Poesie, die genau dieses Miteinander versinnbildlicht. Jochen Gerz ist einer ihrer Vertreter.

Es ist nachvollziehbar, daß ein Künstler wie Jochen Gerz als Protagonist dieser (nach)modernen Literatur und bildenden Kunst mit seinem synästhetischen Pendeln zwischen den Gattungen gera-dezu Unverständnis und Ratlosigkeit bei vielen auf das Wort und Werk fixierten Literaturwissenschaftlern evozieren muß. Dabei wird übersehen, daß Gerz, wie andere Künstler seiner Generation auch, Tendenzen der klassischen Moderne nur konsequent weiter-denkt. Seine Art zu schreiben siedelt, wenn mit den Kategorien der traditionellen Gattungstrias gearbeitet wird, an der Peri-pherie des Literaturbetriebes - und dennoch mittendrin in der Art und Weise, wie Menschen ihre immer bunter und komplexer wer-dende Umwelt erfahren können.Helmut Heißenbüttel hat das früh und folgerichtig erkannt:

"Dies sind nicht bloß paradoxe Versuche, Exempel, Experimente. Dies ist, wenn ich provisorisch mit Begriffen hoch-greife, ein philosophischer Ex-kurs, Diskurs, Durchgang, der zugleich eine noch unerprobte Form der Li-teratur darstellt. Oder auch der Mischtechnik, der mixed media oder wie immer behelfsmäßig gesagt werden kann."4

Jochen Gerz selbst zweifelt an dem Buch als Medium, ohne doch vom Schreiben ablassen zu können:

"Falls es nützlich ist, sich einzuordnen, würde ich mich als Schriftsteller bezeichnen. Erst lineare Texte, dann begann ich, die Buchstaben und die Wörter zu stören, von ihrem angestammten Platz zu drängen, eben weil sie mich störten. Ich machte das, was man visuelle Poesie nennt. Später merkte ich, daß nicht allein die Buchstaben mich störten, beengten, sondern das Papier, auf dem die Buchstaben standen; das Papier und das Buch als Medium, dessen tautologische Struktur immer wieder dazu einlud, das gleiche zu tun."5

4 Helmut HEIßENBÜTTEL, Nachwort; in: Jochen GERZ, Das zweite Buch (Die Zeit der Beschreibung). Lichtenberg 1976. Zitat: S. 151/2.5 Zitiert nach Matias MARTINEZ-SEEKAMP, Jochen Gerz; in: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, 30 Nlg. München 1988. Zitat: S. 2. Und Jochen Gerz: "Ja, ich wollte Schriftsteller werden, die ersten Sachen, die ich gemacht habe, sind ´offiziell` Literatur und bei Luchter-hand erschienen. Ich habe damals von dem Kontext, der 1968 entstanden war, profitiert. Die Leute waren damals sehr offen, es durften Fotos drin sein, und trotzdem war es Literatur."; in: Kirstin MARTINS / Peter P.J. SOHN, Performance - Eine andere Dimension. Künstlerhaus Bethanien. Berlin 1983. Zitat: S. 63.

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I. Literatur und bildende Kunst

Das Œuvre des Jochen Gerz widersetzt sich der Kategorisierung. Doris von Drathen bemerkt in einem jüngst publizierten Aufsatz6 über den in Paris und Kanada lebenden Kosmopoliten:

"... nach immer heiklerer Trennung zwischen Text und Bild, sucht Jochen Gerz immer radikaler sein Bild, seine Aussage im <Dazwischen>, als könnte zwischen dem Gezeigten und dem Nichtgezeigten, Gesagten und Nichtgesagten, das Eigentliche für einen Moment vielleicht seine Abwesenheit manifestie-ren."

Verfechter der reinen Kunstlehre verkennen oft einerseits den Reiz des <Dazwischen>, der Multimedialität, und propagieren da-bei merkwürdigerweise andererseits Positionen längst etablierter und einst geschmähter, von den Akademien verwiesener Avantgar-den. Hugo Friedrich bietet in seinem populären Buch Die Struktur der modernen Lyrik ein gutes Beispiel für diesen restaurativen Avantgardismus, wenn er Baudelaire und Rimbaud feiert, dagegen die konkrete Poesie seiner Zeitgenossen schmäht:

"Die sogenannte <konkrete Poesie> mit ihrem maschinell ausgeworfenen Wörter- und Silbenschutt kann dank ihrer Sterilität allerdings völlig außer Betracht bleiben."7

Wohl mehr Recht hat der Mediävist Ulrich Ernst, wenn er vehement einfordert, daß die literaturwissenschaftliche Forschung

"angesichts der alten und neuen intermedialen Formen ihre Berührungsängste gegenüber Kunstgeschichte und Medienwissenschaft ablegen und verstärkt in-terdisziplinäre Methoden entwickeln"8 muß.

Die Literatur ist seit dem Dadaismus nicht inhaltsleer geworden, sondern hat eine neue bildliche Terminologie entwickelt.9 Diese Überschreitung der klassischen Künste hat die alten 6 Doris von DRATHEN, Vom Realismus der Poesis; in: Jochen GERZ, Life After Humanism - Photo/Text 1988-1992. Stuttgart 1992. Zitat: S. 126.7 Hugo FRIEDRICH, Die Struktur der modernen Lyrik. Hamburg 1979. S. 13.8 Ulrich ERNST, Optische Dichtung aus Sicht der Gattungs- und Medientheo-rie; in: Ulrich ERNST / Bernhard SOWINSKI (Hrsg.), Architectura Poetica. Köln 1990. Zitat: S. 418.9 Reinhard DÖHL: "Der vorliegende Exkurs hat, so hoffe ich, deutlich ge-macht, daß man statt dessen und im Gegensatz dazu fragen müßte, ob Schrift nicht als ein neuer Bild-Inhalt mit allen Konsequenzen verstanden und in-terpretiert werden muß, ob sich nicht gerade in den Mischformen eine noch für die Kunstrevolution gültige Schizophrenie von Form und Inhalt aufhebt, wenn plötzlich neue Inhalte neue Formen bedingen, wenn z.B. die Schrift als wesentlich neuer Bild-Inhalt neue Techniken zur Folge hat, etwa neben neuen Setz- und Drucktechniken diejenigen der Collage, der Decollage und anderes mehr.". Vgl. den ganzen Aufsatz: Poesie zum Ansehen, Bilder zum Lesen?: Not-wendiger Vorbericht und Hinweise; in:

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I. Literatur und bildende Kunst

ästhetischen Kategorien obsolet werden lassen, ohne daß gänzlich klar wäre, was für andere Begrifflichkeiten die Lücke übergreifend schlies-sen.10 Die mechanische ist durch eine digitale Weltsicht ersetzt worden. Kunstwerke entstehen immer seltener sukzessive oder, wie schon das nicht manipulierte Foto, augenblicklich, sondern im nachhinein, im gleichzeitigen Nebeneinander, als Fleisch gewor-dener digitaler Schein.

Daß die Literatur ihren Teil zur Verwischung der Gattungsgrenzen beigetragen hat, läßt sich bereits für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts belegen. Der damals modern werdende Bilder-bogen nahm thematisch die Bildergeschichte des 19. Jahrhunderts und damit die Comics unserer Tage vorweg.11 Max und Moritz sind, einfach gesagt, die Urahnen von Mickey Mouse.

Auch das Œuvre des Jochen Gerz basiert auf heutzutage etablier-ten Formen. Formen der Kunst, die, singulär betrachtet, ihr Terrain abgesteckt haben, sich allerdings die Zeitläufte hin-durch nicht aus den Augen gelassen hatten. Grenzgänger zwischen Schrift und Bild ist stets die visuelle Poesie gewesen, deren moderne Entwicklung nun paradigmatisch angedeutet werden soll, um die Gerzschen Foto/Texte als Teil einer historischen Kette der klassischen

Ulrich WEISSTEIN (Hrsg.), Literatur und bildende Kunst. Berlin 1992. S. 158-172. Zitat: S. 172.10 "Eine Reihe von Theoretikern hat im 20. Jahrhundert versucht, diese se-miotische und technologische Transformation der Kunst in den Be-Griff zu bekommen: (...). Sie haben versucht, das Verschwinden der zentralen Be-griffe der klassischen ästhetischen Systme zu beschreiben und sie durch neue zu ersetzen. Der Tod des Autors wurde festgestellt, der Verlust der Aura, das Ende des Subjekts. Der Mythos des Originals wurde angeklagt, das Ende der Geschichte, die Agonie des Realen: Technische Reproduzierbarkeit, imaginäres Museum, das Medium als Botschaft, Simulation, Immaterialität, Virtualität wurden als neue Signifikanten eingeführt." Peter WEIBEL, Trans-formation der Techno-Ästhetik; in: Florian RÖTZER (Hrsg.), Digitaler Schein, Ästhetik der elektronischen Medien. Frankfurt/M 1991. S. 205-246. Zitat: S. 241.11 Vgl. Karl RIHA, Bilderbogen, Bildergeschichte, Bilderroman, zu unter-schiedlichen Formen des ´Erzählens` in Bildern; in: Wolfgang HAUBRICHS (Hrsg.), Erzählforschung 3. Göttingen 1978. S. 176-192. Und: Wolfgang KEMP, Ellipsen, Analepsen, Gleichzeitgkeiten. Schwierige Aufgaben für die Bild-erzählung; in: Wolfgang KEMP (Hrsg.), Der Text des Bildes: Möglichkeiten und Mittel eigenständiger Bilderzählung. München 1989. S. 62-88.

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I. Literatur und bildende Kunst

Avantgarde zu erkennen. Der Formenkanon der klassischen Moderne hat die Kunst des Medienzeitalters nachhal-tig beeinflußt.

Die visuelle Poesie hat sich in drei Jahrtausenden unablässig verändert, den Medien der jeweiligen Epoche geöffnet und ange-paßt. Verbale und piktorale Einflüsse treffen in der visuellen Poesie aufeinander. Sie war und ist ein Barometer für die Sym-biose der Künste. Ihre "zentaurhafte Grundstruktur"12 erfordert die Kooperation zwischen Kunst- und Literaturwissenschaftlern, die den Trend zur Nivellierung der Kunstgattungen als Herausforde-rung und Chance begreifen, ihre von den Medien (mit)bestimmte artifizielle Lebenswelt und lebendige Kunstwelt zu ergründen. Noch 1979, in der 6. erweiterten Auflage Gero von Wilperts Sach-wörterbuch der Literatur, heißt es über das visuelle Simultan-gedicht:

"(...) intelligente, reizvolle Spielereien mit Wörtern und Buchstaben als bildnerischem Material, mehr Graphik als Lit(eratur)"13.

Hier fehlt der interdisziplinäre Untersuchungsansatz, wird ge-wichtet, anstatt das Gesamtkunstwerk im Auge zu behalten.

Malerei wird oftmals als stumme Poesie bezeichnet, Poesie dage-gen als Lautmalerei. Aus der Reduktion von Bildern ist alle Schrift entstanden, wenngleich die Lautdarstellung ihren Teil zum Schriftbild beigetragen hat. Die Schriftzeichen verloren im Laufe ihrer Genese allmählich an Gegenständlichkeit, gewannen, jedenfalls in Europa, an Abstraktion dazu, bis Form und Inhalt willkürlich verknüpfbar waren. Die Piktogramme und Ideogramme der Sumerer und die Hieroglyphen der Ägypter waren ornamentale Schriften, die das lateinische Alphabet als trockene Sammlung von Phonogrammen erscheinen lassen.

Was bedeutet das für die Relation von Wort und Bild gegenwärtig?

Die Rationalität ´der` Schrift ist keine Selbstverständlichkeit und nicht unbedingt allgemeingültig. Die modernen Künstler, Ma-ler, Fotografen und Literaten, versuchen, oft sehr erfolgreich, Wort und Bild zu vermengen, an den gemeinsamen Ursprung der Gat-tungen anzuknüpfen.14 Die Lesbarkeit allein reicht für die kommu-nikativen Anforderungen, die heutzutage an die Typografie ge-stellt werden, nicht mehr. (Schnell) Gesehen - und damit 12 Jeremey ADLER / Ulrich ERNST, Text als Figur, Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne. Weinheim 1990. Zitat: S. 9.13 Gero von WILPERT, Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart 1979. S. 886.

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I. Literatur und bildende Kunst

regi-striert - wird von den Augenmenschen die ungewöhnliche Display-Schrift, die Mixtur aus Bild und Schrift.15

Für die Schrift-Sprache als Ausdrucksmittel der Kunst gibt es in der Antike, im Mittelalter und bis zum 18. Jahrhundert zahllose beeindruckende Beispiele16. Texte wurden in Bilder integriert, Bilder illustrierten die Texte. Das Typenspektrum allein des carmen figuratum ist breit gefächert, reicht bis in die Gegen-wart hinein.17 Erst mit der Idee des autonomen

Kunstwerks schwächt sich diese Tendenz im späten 18. und im 19. Jahrhundert ab. Goethes zum Schlagwort gewordene These "Bilde Künstler, Rede nicht!"18 und Lessings im Laokoon geäußerte Kritik an den verwischten Grenzen zwischen Malerei und Poesie19, an der

14 Vgl. Johannes STAHL, Worte über Bilder mit Worten; in: Das Kunstwerk, März 1990. S. 5-39. Und: Antje BIRTHÄLMER, Mehr als schöne Worte, Betrach-tungen zum Verhältnis zwischen Kunst, Sprache und Schrift; in: Buchstäb-lich. Katalog Von Der Heydt-Museum. Wuppertal 1991. S. 15-22.15 Vgl. Manfred KLEIN, Schätze der Schriftgeschichte; in: Apply 1/93. Lehrte 1993. S. 6-9 und S. 32-35. Daß Trend-Magazine, wie MAX, ihr Print-design als Bilderflut à la MTV (Videoclip-Fernsehen) gestalten, ist eine Konsequenz dieser Mixtur. Übersicht und Lesbarkeit werden zu Sekundärtugen-den, wie eine im Anhang als Abbildung 1 wiedergegebene Seite der Ressorts Politik/Wirtschaft (MAX 1/94, S. 126) zeigt; der Einsatz von Druckfarbe er-höht diese Diffusion.16 Vgl. Jeremey ADLER / Ulrich ERNST, Text als Figur; a.a.O.17 U. Ernsts Definition des Typenspektrums des carmen figuratum kommt meiner Idee einer gattungsübergreifenden visuellen Poesie nahe: Carmen Figuratum - Geschichte des Figurengedichts von den antiken Ursprüngen bis zum Ausgang des Mittelalters. Köln 1991. Zitat: S. 11: "So lassen sich z.B. nach semantischen Schichtungen des Schriftkorpus` Textgedichte, Intextge-dichte und Metaintextgedichte unterscheiden. Unter dem Gesichtspunkt der Bewegung können statische und kinetische Gedichte, unter der Perspektive des Raumes zweidimensionale und dreidimensionale Formen, unter dem Ge-sichtspunkt der Mimetik gegenständliche, geometrische und literale Gedicht-typen differenziert werden.".18 Johann Wolfgang GOETHE, Hamburger Ausgabe, Band 1 Sprüche V. S. 126.19 Gotthold Ephraim LESSING, Laokoon. Frankfurt/M 1988. S. 10-11: "Völlig aber, als ob sich gar keine solche Verschiedenheit fände, haben viele der neuesten Kunstrichter aus jener Übereinstimmung der Malerei und Poesie die krudesten Dinge von der Welt geschlossen. Bald zwingen sie die Poesie in die engern Schranken der Malerei; bald lassen sie die Malerei die ganze weite Sphäre der Poesie füllen." Und vgl. S. 104-105

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I. Literatur und bildende Kunst

<ut pictura poesis> Formel20 des Horaz aufgezäumt, haben die Ent-wicklung der visuellen Poesie jedoch nur kurzfristig beeinträch-tigt.

Spätestens mit Stephane Mallarmés Un Coup de dés Ende des 19. Jahrhunderts beginnt eine neue Blütezeit der literarisch-visuellen Techniken. Am Beginn des 20. Jahrhunderts unieren Schrift und Bild in den kubistischen Werken Braques und Picassos mit ungeahnter Kraft, inspirieren über Jahrzehnte hinweg andere Künstler und Künste. Die Visualisierung der Literatur ging ein-her mit der Lingualisierung der Bilder, quasi als Wechselwir-kung. Der Kubismus benennt die Krise des Realitätsverständ-nisses, integriert Sprache ins Bild. Der ikonische Bildbegriff war, dank der sich etablierenden Fotografie, ins Wanken geraten, die Bildbegründung noch notwendiger geworden. Die peinture conceptuelle der Kubisten resultiert daraus. Das Bild wird durch Sprache legitimiert, und die Sprache findet Eingang ins Bild. 1910/11 erscheint auf Braques Stilleben mit Gitarre die Buchsta-benfolge So Nal. Nicht nur wurde die Gegenstandsdarstellung überwunden, Sprache ins Bild gefügt, sondern auch Realmaterial ins Kunstwerk collagiert. Kunst assimiliert sich der Wirklich-keit, gewinnt eine neue wortlose, haptische Lesbarkeit, wird literarisiert. Das Stilleben ist keine nature morte mehr.

Die vom Futuristen Marinetti 1912 geschaffene parole in libertà befreit die Sprache vom Gerüst der Syntax, gibt das konventio-nell geordnete Schriftbild auf und erweitert den freien Vers der französischen Symbolisten erheblich. Die mimetischen Mittel der tradierten figuralen Dichtung waren für die Zeit, in der die Bilder darauf verzichteten, eine Wirklichkeit abzukupfern, nicht mehr gemäß. "Der Futurismus sollte die Kunstrichtung für das Maschinen-zeitalter

werden."21 Die von dem Begriff der Simultaneität22 (Balla und Boccioni) geprägte futuristische Bildwelt erfährt eine Er-weiterung: Der Klang malt, die Typografie bildet. Dieses Monta-geprinzip wurde von den Dadaisten und Surrealisten übernommen.

(Abschnitt XVI.).20 Ut pictura poesis: (lat.: "wie die Malerei, so die Dichtung"). Auf der bewußt oder unbewußt falschen Auslegung einer Stelle aus der Ars poetica des Horaz (Vers 361 ff.) beruhende Doktrin, derzufolge Dichtung nach bild-lichen Kriterien zu beurteilen und mithin selbst eine Art von Malerei ist. In: Ulrich WEISSTEIN, Literatur und bildende Kunst; a.a.O.; Zitat: S. 319.21 J. ADLER, Text als Figur; a.a.O.; Zitat: S. 255.22 Die Simultaneität geht auf Etienne Jules Mareys Interesse an der Bewe-gungsfotografie Eadweard Muybridges zurück. Abbildung Nr. 2. E. Muybridge,Bewgungsstudie 1887; in: Walter KOSCHATZKY, Die Kunst der Photographie. Wien 1993. Abbildung: S. 330.

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Parallel dazu entwickelt Arnold Schönberg 1909 in den George-Liedern die Ansätze einer freien Atonalität, erscheint zeit-gleich 1911 seine Harmonielehre mit Kandinskys Über das Geistige in der Kunst23. Was die Kubisten forderten, den ablesbaren Reali-tätsbezug, fällt in der entstehenden abstrakten Kunst gänzlich fort - und erstmals muß Sprache dem Bild als reflektierende Be-gründung beigefügt werden. Das Bild braucht den Kommentar. Mon-drian, Malewitsch und Kandinsky produzieren etliche Kommentare zu ihren Bildern24. Die Theorie substituiert die Ikonografie. Das Werk selbst wird als "Formulierung einer <visuellen Sprache>

ausgewie-sen, es erhält den Status eines <Wortäquivalents in begriffsfremden Stoff>"25. Verständige Rezeption bleibt nur über die Kenntnis der Konzeption möglich - oder wird doch so wenigstens erleichtert.

Mit Duchamps Ready-made wird die Sprache anstelle des Kunstwerks oder als Kunstwerk selbst gesetzt, verdrängt das Mentale das Retinale, so Duchamp 1911.26 Seine Bildnerei ist Literatur. Der Gegenstand wird ungebunden gemacht, befreit, in einen neuen Zu-sammenhang gesetzt, was einer Veränderung der Relation von Be-zeichnetem und Bezeichnendem entspricht. Diese Veränderung geschieht vorrangig mittels Sprache. Das Ready-made will als visuell-verbale Einheit wirken.

Was Dada noch hinzuzufügen bleibt, ist die letzte, konsequente Negation des Werkbegriffs27. Das Kunstwerk fällt mit seiner Pro-duktion zusammen, ist reine Aktion, "die Sprache im

Kunstwerk wird zum Sprechen"28. Kurt Schwitters verbindet künstlerische Techniken wie Typografie und Reklame, schafft die Merz- und i-Kunst, wel-che in der Parzellierung von gesammeltem Sprach- und Bildmate-rial besteht29.23 Vgl. Jean-Louis FERRIER (Hrsg.), Chronik der Kunst im 20. Jahrhundert. Köln 1990. S. 120 f: Der Blaue Reiter stürmt voran und Kandinskys Über das Geistige in der Kunst (Auszug).24 Wolfgang Max. FAUST, Bilder werden Worte. München Wien 1977. S. 117.25 Vgl. Arnold GEHLEN, Zeit-Bilder. Frankfurt / M 1960. S. 44; und W.M. FAUST, Bilder werden Worte; a.a.O.; (S. 126).26 W.M. FAUST, Bilder werden Worte; a.a.O. Zitat: S. 135. Und Marcel DUCHAMP, Der Entwurf einer trockenen Technik; in: Jürgen CLAUS, Malerei als Aktion. Frankfurt/M 1986. S. 14-15.27 Eine ebenso konsequente, wenn auch anders gelagerte Negation des Werk-begriffs kann in der nicht-musealen Konzeption der modernen land-art ge-sehen werden.28 W.M. FAUST, Bilder werden Worte; a.a.O.; Zitat: S. 162.29 Kurt SCHWITTERS, Eile ist des Witzes Weile. Stuttgart 1987. S. 37: Das i-Gedicht. Und: Kurt SCHWITTERS, Ausstellungskatalog, mit einer Einleitung von G. Giedion-

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I. Literatur und bildende Kunst

Eine politische Dimension bekommt der Berliner Dadaismus als "Standarte des

Internationalismus"30, da in Berlin 1918 tatsächlich eine Revolution stattfand. Die Fotocollage und -montage erlaubt die Integration aktuellen Fotomaterials ins Kunstwerk. Diese Mixtur des statischen Films desavouiert den gerade gefestigten Anspruch des Fotos, die Realität adäquat abzubilden, beziehungs-weise bedient sich dieser ´Tatsache`.

Als eine "kunsthandwerkliche reminiszenz", als unzeitgemäße Be-schwörung einer "historisch(en)

größe"31 kommt Eugen Gomringer 1954 der Gebrauch bewährter lyrischer Mittel wie Prosodie und Reim-gebrauch vor. Die weiße Blattfläche ist Teil der änigmatischen Struktur, die allerdings auch eine sofortige, einfache, das visuelle Gesamtkunstwerk betreffende Sehmöglichkeit bietet, und tritt in Korrespondenz mit den vorhandenen Lettern, die "eigen-

gewicht"32 besitzen:

"das schweigen zeichnet die neue dichtung gegenüber der individualistischen dichtung aus"33.

Nicht zuletzt die kulturellen Novitäten des Films finden ihren synästhetischen Widerhall in der Konkreten Poesie. Multi-Media ist das Stichwort. Schon André Bretons Écriture automatice und Tristan Tzaras Zufallsgedichte34 nehmen die beliebige, durch Computerprogramme in unendliche Schleifen geschraubte Kombinier-barkeit von permutativen Textbausteinen vorweg. In der Offenheit der Gattung visuelle Poesie, exemplarisch für die Konkrete Poe-sie dingfest gemacht, liegt die Schwierigkeit, eine umfassende Theorie zu erstellen35.

Die objektlose Kunst Ende der sechziger Jahre bildet nur einen scheinbaren Gegenpol zur ´Sammelleidenschaft`, da sie, quasi als Software, die theoretische Seite derselben Hardware-

Welcker. London 1972. Vgl. auch Herbert LECHNER, Die Dada-isten und ihr Einfluß auf die Typographie; in: Bernhard SPRUTE / Peter WE-BER (Hrsg.), Experiment Kunst. Hannover 1984. S. 95-98.30 Roul HAUSMANN, Dada empört sich, regt sich und stirbt in Berlin; in: Karl RIHA (Hrsg.), Dada Berlin. Stuttgart 1977. Zitat: S. 3.31 Eugen GOMRINGER, vom vers zur konstellation, in: E. GOMRINGER (Hrsg.), konkrete poesie. Stuttgart 1972. Zitat: S. 154.32 Ebd.; Zitat: S. 155.33 Ebd.; Zitat: S. 156-157 und, als beispielhafte Konstellation, S. 58.34 Vgl. K. RIHA, 113 Dada Gedichte. Berlin 1987. S. 69.35 Vgl. U. ERNST, Optische Dichtung aus Sicht der Gattungs- und Medien-theorie; a.a.O.; Zitat: S. 418.

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I. Literatur und bildende Kunst

Medaille darstellt. Die "artistische Information"36 tritt in den Vordergrund; was für die visuelle Poesie bedeutet, daß sie als publizi-stisches Mittel, als lancierte Information, rein phänomenolo-gisch, die Idee des Kunstwerks als Kunstwerk selbst verkörpert. Kunst-Poesie als visualisierte Idee eines Prozesses? Möglicher-weise. Dieser Prozeß muß gar nicht realisiert werden, seine bildnerische Idee kann auch nur in der durch Schlüsselwörter oder, im doppelten Sinne, Beschriebenes evozierten Imagination des Künstlers oder des Publikums auftauchen.37

"Das Problem von "Abbild" und "Sprache" beherrscht nahezu die gesamte Conceptual Art"38.

So auch bei Hanne Darboven, die Zahlen beim ´Wort` nimmt. Wie viele ihrer Künstlergeneration vertritt sie nur scheinbar eine extreme Position; vielmehr handelt es sich "um eine Neudefinition des immer gleichen"39. Im ´Prolog` ihres Katalogbuches Die geflü-gelte Erde / Requiem notiert sie auf der mit g gekennzeichneten Rückansicht einer Postkarte:

"ich bin Künstler u.d. ich schreibe u.d. habe nicht / werde nicht Maler zu Schriftstellern erklären habe nicht / werde nicht Schriftsteller zu Malern erklären und schreibe weiter positiv u. nicht progressiv (...)"40.

Hanne Darboven komponiert ihre poetischen Visionen als Bild-reihe, kokettiert mit den eigenen Ausdrucksmitteln, im Span-nungsfeld der modernen visuellen Poesie, die kein ´entweder-oder`, vielmehr ein ´sowohl-als auch` ist. Zwanzig Jahre früher, im Frühling 1971, haben die immer als Duo auftretenden Konzept-künstler Gilbert und George in den Zehn Reden 41 versucht, ihr Selbstverständnis als Kunstschaffende zu definieren. Dabei stel-len sie sich als Künstler, Bildhauer, Leute, Denker, Zeichner, Maler, Träumer, Sucher, Menschen

36 Klaus HONNEF, concept art. Köln 1971. S. 7.37 So fand 1966, als das "totale Fluxus-Kunstwerk", von Ben Vautier eine Aktion mit dem Titel Niemand statt, bei der sich der Vorhang pünktlich hob und senkte, ohne daß jemand zur Schau zugelassen worden wäre.38 K. HONNEF, concept art; a.a.O.; Zitat: S. 41. Und: concept art minimal art arte povera. Bielefeld 1991. S. 263: "Concept Art bezeichnet eine Kunstrichtung, deren gedanklicher, "konzeptioneller" Prozeß das eigentliche Wesen des Kunstwerks ausmacht, wobei die Umsetzung der Idee, also die Aus-führung des Werkes, nicht zwingend notwendig ist, Mit dem Jahr 1967 tritt die eigentliche Concept-Art als weltweites Phänomen auf. Ihre Erscheinungs-form ist die Auflösung der traditionellen Kunstformen, indem sie das Ob-jekthafte bis zu seiner Entmaterialisierung reduziert.".39 Udo KULTERMANN, Leben und Kunst. Tübingen 1970. S. 8.40 Abbildung 3: Hanne Darboven - Postkarte vom 7.9.1991, in: H. DARBOVEN, Die geflügelte Erde / Requiem. Stuttgart 1991. S. 7.41 K. HONNEF, concept art; a.a.O. S. 181-192.

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und auch als Schriftsteller42 vor: "They weren`t Good Writers / They weren`t Bad Writers / But, my God, they were Writers." Sie brechen aus den fein säu-berlich getrennten Schubladen der vergangenen Jahrhunderte aus, wo ein Künstler zwar mehrere Talente haben und ausüben, aber nicht wirklich gleichzeitig und -gültig synästhetisch schaffen konnte. Nicht die Frage der Qualität, der Gewichtung der ein-zelnen Talente stellt sich, sondern allein die des Tuns.

Was die Dada- und Surrealisten anstießen, gipfelte in der puren schriftlichen Notation der Konzept-Künstler. Die schnörkellose Schrift, die Spurensicherung, die Abstraktion modifizierten den Werkbegriff radikal und derart umstoßend, daß viele der soge-nannten Bildungsbürger nicht mehr an die moderne Kunst glauben mochten und bei Mondrian, Picasso und Kandinsky stehen blieben.43

Die tradierten Gattungsdefinitionen landeten auf dem histo-rischen Abfallhaufen. Die wechselseitige Durchdringung der literarischen und visuellen Avantgarden findet in multi-medialen Aktionen einen vorläufigen Höhepunkt. So wie die Performance ge-hört die Integration von Grafiken oder Fotografien in Texte zu diesem Bereich. Das Bild muß kein gemaltes sein. Die Fotografie hat keine Realität abzukupfern, um die Wörter, die Legende zu illustrieren oder zu verdecken, von der Banalität der Wörter ab-zulenken. Daß die Reizüberflutung der Mediengesellschaft mehr als ein Schlagwort ist, läßt sich an der kontroversen Auseinan-dersetzung der Künstler mit ihren Medien ablesen.44

42 Abbildung 4: Gilbert & George - Schriftsteller, in: K. HONNEF, concept art; a.a.O.; S. 187. 43 Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Diskussion um Christos Plan, den Berliner Reichstag kurzfristig einzuhüllen. Das Projekt stieß auf er-bitterten Widerstand vieler, auch ´kunstsinniger` Parlamentarier. 44 Erinnert sei an Jan Dibbets TV as a Fireplace (1969). Ein Video, das das Bild eines brennenden Feuers zeigt. "Gesendet wurde (es) in der Vorweih-nachtszeit 1969, jeweils abends, mehrere Minuten lang. Beginnend mit dem Entzünden der Holzscheite und endend bei rauchenden Ascheresten: ohne Kom-mentar. (...) Aber wärmt ein Bild?" Zitat: Mediale-Katalog Hamburg 1993, S. 62. Und vgl.: Jochen GERZ, Mit/Ohne Publikum, Performances 68-80. Biele-feld 1981. Michael HANEKEs Kinofilm Bennys Video ist eine Reflexion über die durch Medienkonsum hervorgerufene "Vergletscherung der Gefühle" (Hane-ke); dazu schreibt Andreas KILB in einer Kritik für Die Zeit, Nr. 24, 11. Juni 1993: "Vor hundert Jahren entstand der Film, vor vierzig Jahren das Fernsehen, vor zehn Jahren die Videothek. Seit acht Jahren gibt es in Deutschland zehn Fernsehprogramme, seit fünf Jahren zwanzig, seit zwei Jahren dreißig. Diese Vervielfachung des

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Das in das Bild gesetzte Vertrauen wird skeptisch hinterfragt, seine Alleingültigkeit bezweifelt.45 Zum aktuellen künstlerischen Code gehört das schriftliche Zitat.46 Der Betrachter - und damit Leser - wird getäuscht, auf falsche Fährten gelockt, wenn er "naiv", sozusagen werkimmanent an ein Produkt dieser eklektizi-stischen Kunst herangeht. Das Nachdenken über derart intellek-tuelle Kunst erfordert ein (kunst)historisches Wissen, das nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. Doch die Mas-senkultur bedient sich ebenso dieses vieldeutigen Codes, schult das Publikum wie en passant kunsthistorisch. Dabei

Visuellen bringt nicht bloß neue Produkte und Formen hervor - sie züchtet auch ganz neue Lebensläufe, neue Generationen, eine neue Identität. (...) So entstehen Altersunterschiede, die nicht mehr an Erlebnissen, sondern an Bildern und Tönen haften - simu-lierte Erfahrungen in einer erfahrungslosen Welt.".45 Jochen GERZ, Die künstlerische Produktion von Bildern in einer Gesell-schaft des Spektakels: "Vor relativ kurzer Zeit noch meinte man die Wirk-lichkeit, wenn man von Kunst sprach, wobei die Wirklichkeit nicht sie selbst, sondern ein Bild war. Lange Zeit entsprach das Bild selbst einer sakralen Vorgabe. (...) Aus dem Bild der Wirklichkeit ist die Wirklichkeit des Bildes geworden. Die <Wirklichkeit des Bildes> ist aber ein Haustier, schon die <religiöse Wirklichkeit> war ein Papiertiger. Man sollte die Wirklichkeit in Ruhe lassen." In: Florian RÖTZER, Digitaler Schein; a.a.O.; Zitat: S. 534.46 Antje BIRTHÄLMER, Mehr als schöne Worte; a.a.O.: "Die Tendenz der Kunst zu Schrift und Sprache steht jedoch in noch weiterreichenden Zusammenhän-gen. Es geht nicht nur um eine Art Selbstkritik der Kunst, sondern auch darum, daß Erkenntnisse der Kunst das Blickfeld weiten und in dieser Hin-sicht von ähnlicher Bedeutung sind wie Erkenntnisse, die in der Philosophie oder den Naturwissenschaften gefunden werden. Das gilt nun insbesondere für jene Kunstformen, die sich mit Schrift und Sprache beschäftigen, da sie in besonderer Weise mentale Prozesse spiegeln. Die Sprache bildet ein notwen-diges Instrument zur Formulierung der Gedanken; die Schrift verleiht ihnen sichtbare Form. Sie zeichnet die Gedankenspur nach und codiert den Sinn der phonetischen Sprachlaute in den abstrakten Zeichen der Buchstaben." Zitat: S. 15. Die von Horst BREDEKAMP in seiner 1993 in Berlin publizierten Studie "Antikensehnsucht und Maschinenglauben, Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte" geäußerte Vermutung, daß "(d)ie hochtech-nisierten Gesellschaften (...) eine Phase der kopernikanischen Wende von der Dominanz der Sprache zur Hegemonie des Bildes" durchleben, ist an sich schon überholt. Zitat: S. 102.

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impliziert der Begriff ´Massenkultur` keine negative Wertung, sondern soll weit verbreitete künstlerische Ausdrucksmittel wie die viel mit Schrift arbeitenden Video-Clips oder die Print- und Fernseh-werbung bezeichnen. Die oft festgestellte Verschwisterung von kunstgewerblicher Typografie, Malerei und visueller Poesie er-leichtert das Verständnis zusätzlich.47

Kunst ist eine Frage der Definition, definiert im Falle des Jochen Gerz selbst die Fragen. Fragen nach der Realität, dem Bild der Realität, das sich der Mensch - und damit auch der Künstler - macht. Wider die obligatorischen Festschreibungen mixt Gerz Foto und Text, setzt sie für- und gegeneinander ein, ordnet und verwirrt das Bild, die dazugehörige Legende:

"Es ist das Bildliche am Bild und an der Schrift, das wieder aufgelöst werden soll. Und das Bild, das ich mir von der Sache mache, soll auch wieder aufgelöst werden. Dies ist eigentlich beinahe so, wie ich mir vor-stelle zu leben. Also einfach, daß man nie weiß. Wissen ist auch immer eine Form von Angst. Offen bin ich mir eigentlich näher."48

Daß der Literaturwissenschaftler die schlüssige Definition, eine zwar nicht allgemein-, aber dennoch gültige Typologie der visu-ellen Poesie zu finden hofft, ist nachvollziehbar und dem Wesen der Wissenschaften eigen. Ulrich Weissteins catalogue raisonné der Relationen von Literatur und bildender Kunst stellt einen solchen Versuch dar. Wer seiner detaillierten Liste folgt, wird auf "(l)iterarische Werke, bei deren Gestaltung bildkünstlerische Verfah-rensweisen zur

Anwendung gelangen"49 stoßen. Unter diesem Punkt sum-miert Ulrich Weisstein neben Collage/Montage die Nachbildung filmischer Technik im Roman. Was für die lange Form definiert wird, läßt sich auch auf Gerzens Foto/Texte übertragen, die ge-wissermaßen als lyrische Standbilder, Momentaufnahmen oder als statischer Film betrachtet werden dürfen.

47 Für die Konkrete Poesie erläutert diese Verwandtschaft Berold van der AUWERA in seinem Aufsatz <Theorie und Praxis Konkreter Poesie>: "Konkrete Gedichte schaffen einen dreidimensionalen Sprachraum, der vielfach verbivoco-visuell genannt wird und der die Vorteile nichtverbaler Mit-teilung ausnutzt. Die Gleichzeitigkeit verbaler und nichtverbaler Mit-teilung hat Konkrete Poesie mit guten Werbeanzeigen und Werbeplakaten ge-meinsam." In: Heinz Ludwig ARNOLD (Hrsg.), Konkrete Poesie II, Text + Kri-tik 30. München 1971. Zitat: S. 37.48 Jochen GERZ; in: Friedemann MALSCH, Überlegungen zum Videotape "Ti amo"; in: Jochen GERZ, Eine Ausstellung. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen. Düs-seldorf 1988. Zitat: S. 145.49 Vgl. Ulrich WEISSTEIN, Literatur und bildende Kunst: Geschichte, Syste-matik, Methoden; in: ders., Literatur und bildende Kunst; a.a.O.; S. 11-31. Zitat: S. 22.

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Damit reichen Gerzens Foto/Texte über Siegfried J. Schmidts 1972 veröffentlichte Texttheorie der visuellen Poesie hinaus. Sieg-fried J. Schmidt unterteilte in grafisch und begrifflich orien-tierte visuelle Poesie. Wobei grafisch orientierte visuelle Poesie Schriftbilder und -grafik neben experimentellen op-tischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsprozessen umfaßte, während begrifflich orientierte visuelle Poesie die begrifflich-optischen, konzeptionellen Prozesse beinhaltete.50 Diese Trennunghebt Jochen Gerz in seinen Arbeiten auf, er führt grafische und begriffliche Komponenten zusammen, uniert Bild- und Wortsinn. Semantik und Optik werden gleichermaßen in das Konzept ein-bezogen. Daß dabei eine auch ´schön` zu nennende Ästhetik von Belang ist, leuchtet dem Betrachter Gerzscher Foto/Texte sinn-fällig ein.51

Untrennbar, schreibt Christina Weiss in ihrer sachkundigen Apo-logie moderner Seh-Texte 52, untrennbar sei die neue Werkeinheit aus Sprache und Bildern der nach-konkreten visuellen Poesie. Ihrer literaturwissenschaftlichen Theorie der visuellen Poesie fühle ich mich maßgeblich verpflichtet. Von den "Möglichkeiten ei-ner offenen Sprachbehandlung"53 ausgehend zeigt Weiss, von mir sehr verkürzt dargestellt, von den patchworks Paul Klees, Guillaume Apollinaires Calligrammes, Kurt Schwitters i-Kunst den Weg zur Konkreten Kunst (Max Bille / De Stijl) und Konkreten Literatur (Carlo Belloli / Öyvind Fahlström / Noigrandes-Gruppe) auf. Von diesem Punkt der langen Genealogie aus kann eine strikte Unter-scheidung zwischen konkreter und visueller Dichtung festgestellt werden:

50 Vgl. Siegfried J. SCHMIDT (Hrsg.), Konkrete Dichtung. München 1972. Und vgl. Siegfried J. SCHMIDT, Konkrete Dichtung; in: Bernhard SPRUTE / Peter WEBER (Hrsg.), Experiment Kunst; a.a.O.; S. 99-102.51 Die glatte Perfektion, Schönheit der Foto/Texte stellt Schmidts Verdikt in Frage: "Es geht bei visueller Poesie nicht darum, graphisch <schöne> Flächenkonstellationen zu finden mit Schriftelementen als Material, sondern es geht um Dichtung, die zusätzliche Bedeutungsdimensionen durch Einbezie-hung der Fläche hinzugewonnen hat; es geht um Sprache im vollen Sinne, zu der vor allem Sinn und Bedeutung gehören, nicht nur die zufällige Notation der Schrift." (In: ders., Konkrete Dichtung; a.a.O.; Zitat: S. 99) Sein Widerstand - fast ikonoklastisch zu nennen - gegen die Analogie von Poesie und Malerei wirkt wie ein Relikt, das nicht in seine an sich einfühlende Analyse paßt.52 Christina WEISS, Seh-Texte, Zur Erweiterung des Textbegriffs in konkre-ten und nach-konkreten visuellen Texten. Zirndorf 1984.53 Ebd.; Zitat: S. 26.

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"Visuelle Poesie definiert sich nicht als konkretistisches Textverfahren, sondern benennt als Terminus nur eine Mischung zweier künstlerischer Medi-en, Text- und Bildelemente treten in einer textuellen Einheit in wechsel-seitige Beziehung zueinander."54

"Visuelle Texte können <konkret> sein oder <konzeptionell>, es sind aber immer Texte “that are neither word nor image alone but somewhere or some-thing between“. (...) Es soll gar nicht fixiert werden, ob der Text-Schwerpunkt Sprache oder Bild ist, sondern es kommt allein darauf an, wie beide medialen Aspekte sich zu einer Einheit fügen, wie sich sprachliche und optische Werte gegenseitig ergänzen, beeinflussen und verändern."55

Christina Weiss betont weiterhin den Collage-Charakter der Mixed-Media-Arbeiten visueller Poeten, die Analogie der - wie sie sie nennt - Seh-Texte zur Pop-Art und zu Gerzens sprachre-flexiven Foto/Arbeiten, deren Polyvalenz und -funktionalität Umberto Ecos offenem Kunstwerk 56 Anschauungsmaterial en masse bieten. Und obwohl sie weiß, daß - angesichts der Menge von Ar-beiten, die Bild und Wort vereinen - "eine Typologie nur noch schwer machbar

ist"57, listet die interdisziplinär denkende Autorin vier Stufen der Genese des Sprach-Bild-Arbeitens beispielhaft auf:"1. Sprache als Aktionsspur einer künstlerischen Handlung als Schrift oder Schreibspur;2. Sprache mit Bildelementen kombiniert: Textmontagen aus sprachlich-diskursiven und visuell-präsentativen Textmomenten - dazu gehört die inter-pretative Visualisierung vorgefundener Sprachtexte, dazu gehören auch alle Collageformen, wie etwa die italienische “poesiva visiva“, die Sprache und Bild als Umweltzitat im Text verarbeitet;3. Sprache als Objekt, als erleb- und ertastbare Materie, als begehbarer Raum, als faktisch gewordener Umwelt- bzw. Umraumteil;4. Sprache als Träger eines künstlerischen Konzepts."58

Gerade das von Weiss definierte Prinzip der Textmontage ist für Gerz' Arbeiten besonders wichtig.

Gerzens Foto/Texte können als konsequente Umsetzung der von Marschall McLuhan ausgerufenen Gutenberg-Galaxis für das durch elektronische Medien geprägte 20. Jahrhundert interpretiert wer-den. Die Koexistenz von Wort und Bild war in seinen frühen Ar-beiten Ende der sechziger Jahre schon angelegt, obwohl er ver-schiedene Möglichkeiten des Schreibens ausprobierte. Jochen Gerz, der keinen reinen Stil hat, wurde der skriptualen Malerei, der Prozeßkunst, der Mail Art, der Fotografie oder der Indivi-duellen Mythologie zugerechnet. Die nicht vollständige Liste zeigt die Unzulänglichkeit der einzelnen Einordnungen. Die offe-ne Definition der visuellen Poesie erlaubt es dagegen besser, weite

54 Ebd.; Zitat: S. 121.55 Ebd.; Zitat: S. 139. Das Zitat in Weiss' Text stammt von Richard KOSTELANETZ, Introduction; in: Imaged words and worded images. New York 1970 (bei: C. WEISS, a.a.O.; S. 281).56 Umberto ECO, Das offene Kunstwerk. Frankfurt/M 1977.57 C. WEISS, Seh-Texte; a.a.O.; Zitat: S. 181.58 Ebd.

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Bereiche seines Schaffens abzudecken. Die Werke heben stets die Isolation von Text und Bild auf. Aber wenn der Künst-ler etwas weiß, dann ist es die Vieldeutigkeit, x-fache Wahrheit der Bilder und Texte. Die Erkenntnisse der Hermeneutik werden als eine Auslegungsmöglichkeit zwar akzeptiert, aber nicht höher bewertet als die eigene Skepsis oder die Sichtweise eines Pas-santen. Alles ist gleich-gültig, beruht auf der selektiven Wahr-nehmung und der möglichen - und nicht unwahrscheinlichen - Manipulation der öffentlichen Bilder und Texte. Ungerichtet, unlesbar, kommen dem Rezipienten viele seiner neueren Arbeiten augenblicklich, augenscheinlich vor. Das hat seinen Grund. Die Foto/Texte, die sich ganz offensichtlich der modernen elektro-nischen Ästhetik nicht entziehen, sondern sich ihrer bedienen, stemmen sich gegen die Bilderflut, lassen das Wasser aus dem uns umgebenden "Bad von Informationen"59. Diese Ambivalenz muß auf den ersten Blick verwirren.

Für Gerz existiert "keine Arbeit, die aus einem Medium besteht, nichts ist monolithisch"60. Text und Foto sind Vehikel, Transportmöglich-keiten für Kunst, die einen Teil des öffentlichen Raums, die Museen, erfahrbar macht. Die kontinuierliche Verbindung von Foto und Sprache im Fernsehen fördert die Isolation des Individuums, das sich in Bewegung wähnt, wenn die Bilder flimmern, und das sich angesprochen fühlt, wenn der ´Kasten` monologisiert. Je mehr Programme es gibt, um so weniger Menschen sehen ein Pro-gramm gleichzeitig. Die Versuchung, über das gemeinsam in der Einsamkeit Gesehene zu sprechen, schwindet. Die verschiedenen Sehgewohnheiten lassen sich nicht mehr synchronisieren. Die Aus-einandersetzung mit Gerzens Foto/Texten im öffentlichen Raum hebt diese Anonymität auf. Seine Arbeiten zwingen, was den Um-gang mit Medien betrifft, zu einer Art von Selbstreflexion, wie sie nur von wenigen Künstlern vermittelt werden kann. Der Rezi-pient lernt sich als Medienkonsument in Gerzens Welt kennen. Diese Welt steht still und gibt Laut für den, der hören will:

"Der normale Gebrauch von Bild und Text in den Medien ist eine sprudelnde Quelle, und auch ein dauernder Grund zur Aufregung. Ich habe es gern, daß außerhalb der Kunst etwas existiert, das jeder kennt und das dem ähnlich ist, was ich mache. Ist es Kunst zum Lesen oder Literatur zum Betrachten? (...) Die Arbeit auch wenn sie fertig ist, bleibt ein Dispositiv. Der Be-sucher besucht sich selbt. Die Arbeit ist ein Weg, nicht das Ziel, ein In-strument, nicht die Musik. Die Musik sind wir. (...) Beides, Text und Bild, kann man nur erkennen, wenn man sich vor der Arbeit bewegt, und auch dann nicht gleichzeitig. Was mich interessiert, ist eigentlich weder das Bild noch der Text, sondern der Raum, der zwischen beiden entstehen kann."61

59 Fred FOREST, Die Ästhetik der Kommunikation, Thematisierung der Raum-Zeit oder der Kommunikation als einer Schönen Kunst; in: F. RÖTZER (Hrsg.), Digitaler Schein; a.a.O.; S. 323-333. Zitat: S. 323.60 Jochen GERZ, Die künstlerische Produktion von Bildern in einer Gesell-schaft des Spektakels; in: F. RÖTZER (Hrsg.), Digitaler Schein; a.a.O.; Zitat: S. 536.61 Ebd.; Zitat: S. 546.

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Im eben zitierten Interview gibt Jochen Gerz zu bedenken, daß, laut einer Umfrage, Museumsbesucher durchschnittlich 6 Sekunden vor der Arbeit eines zeitgenössischen Künstlers verweilen. Wer dagegen anfängt, Gerzens Texte zu lesen, muß mehr Ausdauer be-weisen. Kurze Texte verführen im allgemeinen dazu, das Nieder-geschriebene zu Ende zu lesen. Der Leser erwartet von den apho-ristischen Prosahäppchen eine gedankliche Zuspitzung, einen kon-sequenten Abschluß. Diese Erwartung - ja Hoffnung - verstärkt noch die durch die Überschaubarkeit des Lesestoffes erregte Neu-gier. Doch die Sequenzen bringen wenig auf den Punkt. Die Leser-schaft wird überrascht. Die Legenden62 bleiben vage.

Der Foto/Text "Der Wind" (1986) kann als anschauliches Beispiel dieser eigenartigen Kombination von Literatur und bildender Kunst dienen. Den zwanzig Fotos, die Ausschnitte eines aus der Froschperspektive fotografierten Baumes fragmentarisch wiederge-ben, ist folgender Text als Legende beigefügt:

"<Du siehst, was ich meine." Es war ein Tick von ihm, er sagte es jedesmal nach einem langen, endlosen Satz. Der Rest davon war unverständlich. Er sprach und sprach. Nichts schien leichter als ihn in dem Glauben zu lassen man könnte ihm folgen. Es gab besseren Pflaumenwein auf der Insel, aber keiner trank davon einen Gallon wie Colin, wenn er auf dem Wasser war. Er trug wie viele Leute hier dicke Gläser, die sein Gesicht noch leerer mach-ten. Er konnte lachen. Wenn er sprach, dann für lange Zeit. Oder er sagte nichts und das dauerte noch länger. Er beklagte sich nicht, obwohl er Grund dazu hatte. Um zu klagen, dazu kannte er hier keinen gut genug. Er klagte nicht, er schimpfte. Obwohl sein Gesicht leer war und er nirgends hinsah. Er sah trotzdem genug. (So wie er die Kormorane im Nebel sah, als er die Küste suchte: <Die verfluchten Gänse wissen nicht, wohin sie fliegen.>)

Denn plötzlich hörte er auf und selbst wenn man nichts verstanden hatte, bedauerte man das in dem Moment. Als hätte er zu früh gemerkt, daß man vom Ganzen nichts verstand. <Du siehst, was ich meine.> Den Satz, der keine Frage war, vermißte man. Auch wenn er verletzlich machte. Auch wenn man vom Rest kein Wort verstand. Auf jeden Fall ließ er es sein. Er saß da (im Boot vielleicht, auf dem Wasser) und starrte an etwas vorbei, daß man ebensogut hätte selbst sein können. Er hatte aufgehört zu sprechen, aber irgendwann würde er wieder sprechen.63

62 Ich denke, das mehrdeutige Wort <Legende> charakterisiert, als Einstieg, die Gerzschen Texte anschaulich. Die aus dem mittellateinischen <legenda>, was an sich nur "die zu lesenden Stücke" bedeutet, abgeleiteten Vers- oder Prosaerzählungen wurzeln bereits in apokryphen christlichen Geschichten und verloren nur kurzfristig durch Luthers Kritik am Heiligenkult an Bedeutung für die Gläubigen. Daß auch Zeichenerklärungen auf (Land-)Karten und das Gepräge auf Münzen <Legende> genannt werden, zeigt die andere, die fest-schreibende Seite des Begriffs. Sind Legenden also einerseits eher ominös-hagiografische Geschichten, bezeichnen sie doch andererseits unumstößliche kartografische Anweisungen.63 Jochen GERZ, Eine Ausstellung; a.a.O.; Zitat: S. 35. Abbildung Nr. 5,

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"Du siehst, was ich meine", sagt Colin. Das Gemeinte ´sehen` zu las-sen, einen Denkprozeß zu visualisieren, das ist schwierig, aber wahrscheinlich exakt das, was Jochen Gerz mit seinen Legenden auch erreichen möchte. Beschriebenes schiebt sich in und vor die Fotografien. Colin, von dem Gerz in Der Wind erzählt, spricht und spricht, ohne viel Wert auf eine Zwiesprache zu legen. Ein-Verständnis kann es nicht geben, da Colin anfangs nicht bemerkt, daß die andere Person seinen Gedanken weder akustisch noch in-haltlich folgen kann. Und wenn Colin endlich das Mißverständnis registriert, klärt er es nicht auf, sondern verstummt. Er inter-pretiert sich nicht selbst. Das Verstummen ist in diesem das Fremde beschreibenden Text Teil der künstlerischen Strategie des Autors. Gerz setzt eine Situa-tion in Szene und präsentiert sie gleichzeitig anderen zur Deu-tung. Dabei gibt er dem Leser Typisierungen an die Hand, ohne die damit verbundenen Rollenerwartungen zu erfüllen. Der beob-achtende Mensch ist nicht klüger als sein Objekt, lediglich an-ders. Die Legende Der Wind gleicht einem Circulus vitiosus, dreht und schraubt sich wie ein endlos geflochtenes Band, wie die Bilder M.C. Eschers64 - und endet eigentlich nicht:

"Er hatte aufgehört zu sprechen, aber irgendwann würde er wieder sprechen."

Jochen Gerz widerspricht den Erwartungen nach Aufklärung, Letzt-Endlichkeit. Erich Franz schreibt in seinem Vorwort zu einer Textsammlung von Jochen Gerz:

"So tritt die Kunst von Jochen Gerz als etwas auf, das sich ständig selbst aufhebt und die eigene, festgelegte Existenz vernichtet. Wenn es eine Struktur, eine <Form> seiner Arbeiten gibt, dann diese Bewegung des Ent-ziehens, des Sich-Entwindens und der Ent-Täuschung als radikale Kritik an jeglicher endgültigen Position. Zurück bleibt eine Bewegung, ein Vollzug, der den Betrachter mitnimmt, um ihn wieder bei sich selbst zu entlassen. Seine Sehnsucht nach Kunst, seine Sehnsucht nach Gültigkeit wird nicht erfüllt und damit ihm die Möglichkeit gegeben, sich in der vorgeprägten Rolle des Zuschauers, des stummen und stillgelegten Gegenübers zu erkennen - und dann auch diese Rolle zu verlassen."65

Daß Jochen Gerz viele seiner Texte links herum geschrieben hat, gehört in diesen Zusammenhang des Sich-Entziehens. Doch darauf wird in dieser Arbeit noch eingegangen werden.

S. 32-34, ebd.64 Vgl. Douglas R. HOFSTADTER, Gödel, Escher, Bach. Stuttgart 1989. S. 12-17.65 Erich FRANZ, Vorwort; in: Jochen GERZ, Texte. Bielefeld 1985. Zitat: S. 5.

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Wie aus der Gliederung ersichtlich ist, soll neben den theore-tischen Texten und den bereits mit der Legende Der Wind einge-führten Foto/Texten auch die mit Schrift verbundene Performance als ein für Gerz übliches Stilmittel vorgestellt werden.

Die Texte, Performances und Foto/Texte sind in den jeweiligen Abschnitten chronologisch aneinandergereiht, so daß - ihrer offensichtlichen Heterogenität wegen - die Enstehungszeit als grober roter Faden dienen muß. Bei Jochen Gerz kann nichts für sich allein stehen, die eingesetzten Mittel beziehen sich auf-einander. Und auch die heterogenen Produkte seiner Kunst lassen sich am besten in der Aufeinanderfolge betrachten. Genau hinter dieser Mannigfaltigkeit verbirgt sich ein möglicher Reiz der Ar-beiten.

Ende letzten Jahres konnte ich direkt mit Jochen Gerz sprechen. Die Transkription der Unterhaltung ist im Anhang abgedruckt. Für Teile meiner Untersuchung kann es nützlich sein, das Interview zuerst zu lesen.

Um einen ´authentischen` Eindruck von der Gerzschen Schreibweise (1975) zu geben, befindet sich im Anhang zusätzlich der Text der Performance Das Autoportrait.

Die im Text erwähnten Abbildungen befinden sich am Ende der Un-tersuchung, in der Reihenfolge ihrer Erwähnung.

Vorrangig geht es in dieser Untersuchung um die Synthese von Text und Bild bei einem Künstler des ausgehenden 20. Jahrhun-derts und um die Wurzeln dieser synästhetischen Herangehens-weise an Kunst.

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II. 1. Theoretische Texte

II. Texte und Verwandtes

II. 1. Theoretische Texte: Wider das Gesetz(te). Über die Relation von Wort und Bild in einer Gesellschaft des Scheins.

Bedingungen der visuellen Poesie 1972Die Schwierigkeit des Zentaurs beim vom Pferd steigen 1976Das hat doch nichts mit Performance zu tun 1978Ich bin jemand, der den Fotoapparat benutzt 1980Vortrag über Emphase und Fotografie 1981Wörter und Bilder 1982

Es mag nützlich sein, einleitend die Perspektive meiner Inter-pretationen zu Gerzens Texten zu erwähnen. Sie sollten weder als Rezension noch Kritik oder gar Apologie gelesen werden. Vielmehr sind sie Teil des wissenschaftlichen Diskurses. Wobei nicht im engeren Sinne das diskursive Denken gemeint ist, das sukzessiv von einer bestimmten zu einer anderen bestimmten Vorstellung fortschreitet und damit streng logisch eine kohärente Struktur schafft, sondern im weiteren Sinne ein Gedankenaustausch, ein rein begriffliches Denken, das dennoch im Widerspruch zur nicht auf Reflexion beruhenden Erkenntnis steht.Dem enggefaßten Rationalismus der Wissenschaftstheorie - fast schon Wissenschaftsautorität - entspricht der Diskurs kaum. Vielmehr fühlt sich der wissenschaftliche Diskurs dem offenen Problemdenken der klassischen Philosophie verpflichtet, mit ihren Sprachträumereien und spekulativen Elementen. Vielleicht kann man von einer metaphysischen Dimension des Wissens in dem Sinne sprechen, daß alle Fragen bis ans (essayistische66) Ende durchdacht 66 Wichtig ist in diesem Zusammenhang Theodor W. ADORNOs Aufsatz Der Essay als Form (in: Ders., Philosophie und Gesellschaft. Stuttgart 1984. S. 5-32), aus dem ich knapp zitieren möchte: "Wenn die Wissenschaft das Schwierige und Komplexe einer antagonistischen und monadologisch aufge-spalteten Realität nach ihrer Sitte fälschend auf vereinfachende Modelle bringt und diese dann nachträglich, durch vorgebliches Material, differen-ziert, so schüttelt der Essay die Illusion einer einfachen, im Grunde sel-ber logischen Welt ab (). (...) Unbewußt und theoriefern meldet im Essay als Form das Bedürfnis sich an, die theoretisch überholten Ansprüche der Vollständigkeit und Kontinuität auch in der konkreten

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II. 1. Theoretische Texte

werden, um das Vorhandene als Einheit zu erfassen. Der Kontext des Wissens ist wichtiger als die absolute Exaktheit eines Bausteins. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Michel Foucaults Archäo-logie des Wissens. Das Objekt dieser Archäologie ist der archi-vierte Diskurs, den Menschen mit anderen Menschen geführt haben, der das Wissen in seine Formen gebracht hat.

Allerdings kann man Gerzens Texte nicht als bloß spekulativ-konstruktiv bezeichnen, da er sich in ihnen zumindestens um die Erkenntnis einer Wirklichkeit bemüht: seiner eigenen. Gerz glaubt nicht an Regeln, besser: er traut ihnen nicht. Er widersetzt sich dem Gesetz(ten). Ihn interessiert der Vorgang, das Nicht-Endgültige, was nicht mit dem Ungültigen gleichgesetzt werden sollte. Seine Texte lassen sich verwenden67. Sie sind ein möglicher Schlüssel, aber kein Passepartout zu seinem Werk.

Was fehlt, ist die Erklärung, warum ich, bezogen auf die Texte, in der Überschrift von einer "Gesellschaft des Scheins" spreche. Das wird sich im Laufe der diskursiven Analyse allerdings herauskristallisieren.Ich habe versucht, die Texte einfach zu lesen, in die Texte hi-neinzugehen, ohne Scheu. Um etwas von der Art und Weise, wie Gerz schreibt, zu vermitteln, zitiere ich zum Teil ausführlicher aus den Texten.Gerzens theoretische Texte werden chronologisch vorgestellt. Sie sind in dem Zeitraum von 1972 bis 1982 entstanden. Bis auf den umfangreichen Text Die Schwierigkeit des Zentaurs beim vom Pferd steigen, der als eigenständige Publikation vorliegt, sind die übrigen Jochen Gerz' Buch Texte (Bielefeld 1985) entnommen.

Verfahrungsweise des Geistes zu annulieren. Sträubt er sich ästhetisch gegen die engherzige Methode, die nur ja nichts auslassen will, so gehorcht er einem erkenntnis-kritischen Motiv." Zitate: S. 22 und 23.67 Vgl. dazu Erich FRANZ, Vorwort; in: Jochen GERZ, Texte; a.a.O.; Zitat: S. 5 f.

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II. 1. Theoretische Texte

Bedingungen der visuellen Poesie 1972

"Die Praktizierung einer sich ständig selbst veröffentlichenden Schrift, einer Schrift zugleich, die sich selbst alleiniger Inhalt ist, führte ganz natürlich zur Entdeckung zahlloser Informationselemente außerhalb des al-phabetischen Zeichenbestands - das fotografische Bild, die Gesten weitab vom Papier, jede Situation des gelebten Lebens. Unter der Bedingung, daß alles, was existiert, durch seine ihm eigene materielle Existenz ”spricht”, kann Kommunikation stattfinden. Für die ”visuelle Poesie” bedeutet das, daß sie eine Notwendigkeit außerhalb ihrer selbst gefunden hat und eine ”wirk-liche Reflexion in der Außenwelt” (Dick Higgins)."68

Jochen Gerz: Für eine Sprache des Tuns 1970

Schon 1970 dehnte Jochen Gerz seinen Begriff von Schriftlichkeit auf analphabetische Bereiche aus, wie das obige Zitat zeigt. Für ihn spricht die "materielle Existenz", und so verliert die visuelle Poesie, die es, wie die Anführungszeichen im Zitat vermuten las-sen, niemals als reine Gattung gab, ihren spielerischen, manie-ristischen Emblemcharakter. Sie tritt als Merkmal einer neuen Gesellschaft auf, einer Gesellschaft, deren Individuen "anstatt Träger von

Sprache Sprachobjekt"69 sind:

"”Visuelle Poesie” - der Ausdruck wird übereinstimmend mit der Definition von Emmet Williams für die konkrete Poesie (”konkrete Poesie ist, was kon-krete Poeten machen) verwandt - ist Träger der der Außenwelt innewohnenden Evidenz, ist es in dem Maße, als das Individuum und die Welt Teil derselben Vision des Lebens sind."70

Zwei Jahre später in den Bedingungen der visuellen Poesie (1972) wird der An-Teil, den die visuelle Poesie an der Gesellschaft ausmacht, zum Gegen-Teil, zum radikalen Widerspruch. Gerz ver-liert die Hoffnung, eine Synthese zwischen Kunst und Gesell-schaft oder doch zumindestens eine respektable Schnittmenge bei-der Elemente initiieren zu können. Gerz' Absage mag mit der Er-kenntnis zusammenhängen, daß sich die breite Öffentlichkeit der 70er Jahre der visuellen Poesie gegenüber indifferent verhielt:

"“Visuelle Poesie“, das kann also nur die Interessen, Bedürfnisse und Ob-sessionen Einzelner bezeichnen sowie die Frage nach deren Realisierung."71

Der erweiterte Zeichenbegriff hat sich erst seit dem Ende der 80er Jahre im Lebensgefühl der neuen MTV-CNN-Nintendo Generation etabliert. Die Erkenntnisse der visuellen Poeten wurden von Me-dienkonzernen und Werbeagenturen professionalisiert und bis zur Unkenntlichkeit absorbiert.

68 Jochen GERZ, Für eine Sprache des Tuns; in: ders., Texte; a.a.O.; S. 13-15. Zitat: S. 14.69 Ebd.; S. 15.70 Ebd.; S. 14.71 Jochen GERZ, Bedingungen der visuellen Poesie; in: ders., Texte; a.a.O.; S. 26-27. Zitat: S. 26.

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II. 1. Theoretische Texte

Jochen Gerz erkannte, daß die visuelle Poesie der 70er Jahre allein in elitären Kunstkreisen als Kunstform reüssierte und ihren allgemeinen Utopieanspruch zugunsten eines rein künstle-rischen aufgab. Selbst die reine Kunstutopie implizierte durch-aus Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen, blieb aber, dank der integrierten Außenseiterposition, der Narrenfreiheit des Künstlers, stets mit dem Zusatz "Kunst" versehen. Kunstprotest läuft nicht selten ins Leere, ganz tautologisch:

"“Visuelle“ Texte sind künstlerische Exempel von Kultur- und Gesellschafts-kritik, ebenso wie “konstruktivistische“, “futuristische“, “dadaistische“, “surrealistische“ Arbeiten es waren. Insofern als diese Arbeiten selber zu einem Medium der Kunstgeschichte, der Kultur, d.h. eine “Bewegung“ wurden und werden, sanktionier(t)en sie ihre Integration, die eigene Aufhebung."72

Für ihn ist Utopie "das totale Eingehen alles Existierenden in Kommuni-kation zwischen Menschen"73. Das bleibt 1972 ein Wunsch, der, so pa-radox es klingt, über die Medien, die ja per se auf Kommunika-tion ausgerichtet sind, an den Medien Kritik übt, um eine, so verstehe ich ihn, allgemeine und freie Entfaltung der Individua-lität mittels (oder als) Medium zu erreichen. Er benutzt, was er kritisiert, um es zu demokratisieren. Der Künstler wird zum Avantgardisten, der bereits das, dank seiner anti-bürgerlichen Freiheit, umsetzen kann, was zwar in der Gegenwart angelegt, aber noch nicht allgemein nachvollzogen ist:

"Der Medienkritik in künstlerischer Arbeit entspricht die Weigerung des Künstlers, der fortschreitenden Mediatisierung des täglichen Lebens zu dienen, eine Haltung, die die bürgerliche Kultur im allgemeinen und die darin vollzogene Trennung von Leben und Utopie im besonderen negiert.74

Die Utopie soll vom Künstler "im Widerspruch zur Gesellschaft auf-recht()erhalten und zugleich () in das

tägliche Leben aller Einzelner () übertragen"75 werden. Das empfinde ich als einen schwer zu ertra-genden Zwitter-Zustand, der die Künstler zu Außenseitern werden lassen muß.

Die Bedingungen der visuellen Poesie sind 1972 in den Mitteilun-gen des Instituts für Moderne Kunst (Nr. 4, Nürnberg 1972) ver-öffentlicht und von Jochen Gerz 1974 als Beitrag des Bandes Theoretische Positionen zur Konkreten Poesie erneut publiziert worden.

72 Ebd.; Zitat: S. 26-27.73 Ebd.; Zitat: S. 27.74 Ebd.; Zitat: S. 27.75 Ebd.

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II. 1. Theoretische Texte

Die Schwierigkeit des Zentaurs beim vom Pferd steigen 1976

Gerz' Projekt für die Biennale in Venedig im Sommer 1976 ent-hielt als einen Bestandteil das Manuskript Die Schwierigkeit des Zentaurs beim vom Pferd steigen76, das sich brevierartig aus Textsequenzen, Zeichnungen und Fotos zusammensetzt. Das tran-skribierte Buch wurde im November 1976 für eine Ausstellung im Kunstraum München von Hermann Kern herausgegeben, der den Text "wie eine Aphorismensammlung"77 in 503 Stücke auf 168 Seiten einteil-te. Zum Venedig-Projekt gehörte auch ein riesiger, begehbarer hölzerner Pferdekorpus78. Das Manuskript entstand Nonstop in 51 Tagen, quasi als Schreibperformance:

"51 Tage, 247 Stunden geschrieben."79

Gerz reflektiert die Entfremdung, die via Kunst und Schrift un-ser Leben bestimmt. "Die Kultur

ist eine Sublimation dieser fatalen Tei-lung, der Zentaur ihr Bild"80, meint Günter Metken in seinem Buch Spurensicherung über Gerz' Zentaur aus Wort und Bild.

Aus dem vorgegebenen Konglomerat an Themen des theoretischen Textes Die Schwierigkeit des Zentaurs beim vom Pferd steigen habe ich mir einige Passagen über das Schreiben, insbesondere über die Linksläufigkeit (Spiegelschrift) herausgesucht, um eine für Gerz typische Form der "Absetzung von () Kunst" zu zeigen, die "Merkmale einer idée fixe"81 in sich trägt. Gerz schreibt mit der linken Hand von rechts nach links, so daß die Schrift seitenverkehrt auf dem Blatt Papier steht, sich der ´Rechtsschreibung` und Lesbarkeit zu entziehen scheint:

76 Jochen GERZ, Die Schwierigkeit des Zentaurs beim vom Pferd steigen/The Centauer`s difficulty when dismounting the horse. München 1976.77 Günter METKEN, Kunst: Zentaur aus Wort und Bild; in: Spurensicherung, Kunst als Anthropologie und Selbsterforschung. Köln 1977. S. 123-137. Zitat: S. 134.78 Jochen GERZ, Die Schwierigkeit des Zentaurs beim vom Pferd steigen; a.a.O.: "Das große Pferd und die kleine Schrift zusammen bringen. Der Zen-taur, so kann man es auch sagen, ist kein Ready-Made, das was hier geschrie-ben steht, auch nicht. Sie machen aber zusammen den Ready-Made-Mythos aus. (151)"; Zitat: S. 45.79 Ebd.; Zitat: S. 168.80 Günter METKEN, Spurensicherung; a.a.O.; Zitat: S. 135.81 Jürgen HOHMEYER, Als wenn es gar nicht geschrieben wäre, Zur Spiegel-schrift bei Jochen Gerz; in: Kat. Kestner Gesellschaft. Hannover 1978. S. 13-17. Zitate: S. 15.

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II. 1. Theoretische Texte

"Das, was man aufschreibt, wird nach und nach etwas von der Geilheit der Wörter verlieren, gelesen zu werden. (Denn das Geschriebene kann sich keine Hoffnung machen, so bald gelesen zu werden. In Wirklichkeit ist jedes Wort wohl zuerst darauf aus, gelesen zu werden und dann erst, dem Zusammenhang zu dienen, in dem es steht.)"82

In der Schule wurde Jochen Gerz gezwungen, mit der rechten Hand zu schreiben, was für den Jungen absonderbar gewesen sein mußte. In einem Brief teilt er mit, "daß ich Linkshänder bin und

mir vor Anf-ang der Schule etwas Schreiben beibrachte und dann überrascht war, daß al-les falsch-, eben

linksherum war"83. Das Linksschreiben ist demnach keine pure Strategie, sondern liegt in seiner individuellen Ge-schichte begründet.

Daß das Linksschreiben, wenn auch nicht das gegenläufige, durch-aus dialektisch eingesetzt werden kann, zeigen Carlfriedrich Claus' Sprachblätter 84. Carlfriedrich Claus beschreibt Transpa-rentpapier beidseitig, mit Pinsel oder Feder in Tusche oder Tin-te. Gegen das Licht gehalten, unieren die beiden Seiten zu einer einzigen Durchsicht. Wobei die vordere Seite, mit der rechten Hand geschrieben, die These aufstellt, Verso dagegen, mit der linken Hand verfaßt, die Antithese bildet.85

Bei Jochen Gerz bekommt die Schrift durch die Linksschreibung einen bildhaften und, laut Christina Weiss86, einen sinnlichen Charakter, der zur Enträtselung einläd:

"Die Handschrift spielt bei Gerz eine wichtige Rolle als Träger der Sinn-lichkeitsmomente von Sprache."87

Seit der Mitte des zweiten Bandes der Zeit der Beschreibung, einer vierbändigen Tagebuchreihe, im weitesten Sinne, aus Foto/

82 Jochen GERZ, Die Schwierigkeit des Zentaurs beim vom Pferd steigen; a.a.O.; Zitat: S. 31.83 Jochen GERZ, zitiert nach: Jürgen HOHMEYER, Als wenn es gar nicht ge-schrieben wäre, Zur Spiegelschrift bei Jochen Gerz; a.a.O.; Zitat: S. 15.84 Vgl. Carl VOGEL, Carlfriedrich Claus; in: ART, Zeitvergleich, Malerei und Grafik aus der DDR. Hamburg 1982. S. 54-59.85 Carlfriedrich Claus, Diaphanes Sprachblatt; in: ART, Zeitvergleich, Malerei und Grafik aus der DDR; a.a.O.; Abbildung Nr. 6: S. 63-64.86 Vgl. Christina WEISS, Seh-Texte, Zur Erweiterung des Textbegriffs in konkreten und nach-konkreten visuellen Texten; a.a.O.; Besonders Kapitel IV: Zentauren aus Sprache und Bild; S. 155-163 betreffen Jochen Gerz speziell.87 Ebd. Zitat: S. 160.

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II. 1. Theoretische Texte

Text-Mischungen vom 2/3/73 bis 12/5/82, veröffentlichte Jochen Gerz Texte in seiner gegenläufigen Linksschrift, die stets über-setzt wurden. Eva Wolf weist auf die Linearität der Texte hin:

"Er versucht, mit dieser Schrift eine kulturelle Erziehung rückgängig zu machen, bricht den linearen Zeitablauf einerseits reversiv, indem er von rechts nach links schreibt, so daß das Sprachbild spiegelverkehrt er-scheint, andererseits füllt er doch das Papier mit einem fortlaufenden linearen Text."88

Diese Linearität ist für den Betrachter eine rein optische, da er den Text augenblicklich nicht entziffern kann. Die seman-tische Ebene, abgesehen vom Gestus, muß mühsam eruiert werden. Selbst der Autor kann das von ihm Verfaßte nur mit Hilfsmitteln fließend lesen, da auch sein Auge auf die Schrift der Rechtshän-der programmiert ist:

"Man kann mit der linken Hand schreiben, ohne auch gleichzeitig die Spie-gelschrift lesen zu können. Wenn einer links schreibt, aber nicht links liest, kann er noch nicht einmal lesen, was er geschrieben hat. Man könnte auch rechts schreiben, um sich lesen zu können; es ist aber nicht sicher, was einem mehr nützt, sich lesen zu können oder nicht. Wenn man sich nicht lesen kann, muß man sich mehr auf das Gedächnis verlassen."89

Gerz spricht von einem Geheimcode, einer List zwischen dem Schrei-ber, aber nicht Leser, und dem Aufgeschriebenen, aber nicht Ge-lesenen:

"Das, was er vor sich sieht, tritt nicht in Wettstreit mit seiner Erinne-rung und vertreibt sie, sondern hütet die Erinnerung wie unter einem gehei-men Code. Sie, seine Schrift streichelt ihn und man ist ganz namenlos mit ihr. Das ist wirklich eine List, die Verschwiegenheit zwischen beiden."90

Der Künstler wird zum Pfadfinder und Spurensucher, der seine eigene Kunst suchen muß, beim Fährtelegen innehält und selbst die Fährte aufnimmt, um den Weg zurück nicht zu verlieren:

"Von Zeit zu Zeit hält man den Spiegel dagegen, weil man trotz des Schrei-bens nicht sicher ist, ob das, was man macht, wirklich Schrift ist, ob man es lesen kann."91

Im Aphorismus 153 schreibt Gerz, "(d)ie Kunst produziert nur ihre Spur, sonst nichts"92, obgleich er selbst die Transkription der Kunstspur autorisiert. Jürgen Hohmeyer stellt in seinem Aufsatz zur Spiegelschrift des Jochen Gerz Als wenn es gar nicht ge-schrieben wäre deswegen eine interessante Frage:

88 Eva WOLF, Arbeit am Mythos (Diss.). HBK Braunschweig 1992, Berlin 1993. Zitat: S. 83.89 Jochen GERZ, Die Schwierigkeit des Zentaurs beim vom Pferd steigen; a.a.O.; Zitat: S. 30.90 Ebd.; Zitat: S. 31.91 Ebd.; Zitat: S. 98.92 Ebd.; Zitat: S. 45.

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II. 1. Theoretische Texte

"Und hat nicht Gerz, wie zum Beweis, daß es ihm mit der Verschlüsselung nicht ganz so ernst sei, den ganzen “Zentaur“-Text, den er in Venedig als Autograph auslegte, außerdem in normgerechter, unverspiegelter Druckschrift herausgegeben - samt englischer Übersetzung, damit für internationale Ver-mittlung nur ja gesorgt sei?"93

Der linksläufige Satz in Spiegelhandschrift ist also keine lu-penreine "fremde Hieroglyphe"94, wie Gerz schreibt, sondern gleich-zeitig der Stein von Rosette, ein Perpetuum mobile, das sich selbst erneuert, übersetzt, auf sich selbst zurückführt. Doch wer aufmerksam im Zentaur-Text nachliest, wird folgende Sequenz finden, die den - auch kathartischen - Prozeß des Schreibens der Lesbarkeit verpflichtet:

"Entgegen dem, was man annehmen kann und was hier geschrieben wurde über das Schreiben, bestand der Anlaß nicht in einer Folterübung oder einer As-kese. Wie wenig das glaubwürdig erscheinen wird, es soll trotzdem zu lesen sein: es gab während der Zeit des Schreibens kein anderes Ziel, keine be-ständigere Absicht als das Schreiben selbst."95

Er nimmt das von ihm Geschriebene mit einem Satz zurück, relati-viert sich selbst. Und es wird klar, daß der Zentaur ein alo-gischer theoretischer Text ist, theoretisch insofern nur, als daß im automatischen Schreiben, kaum korrigiert oder redigiert, eine Theorie der Unmittelbarkeit steckt. Das objektive Schreiben wird subjektiviert.

Die linke Hand, die, wenn man so will, für Gerz reinere, ur-sprünglichere, scheint für das elementare Bedürfnis nach Mit-teilung besonders geeignet zu sein. Mitteilung bedeutet eigent-lich, daß der Mit-Teiler mit jemandem etwas teilt, einem etwas zukommen läßt, demgemäß eine Relation zwischen Sender und Emp-fänger, sei es mittels Geheimcode, besteht. Im Schreiben liegt das Bedürfnis nach Mitteilung verborgen, denn das Schreiben ist auch eine tradierte Form der Nachrichtenübermittlung, und der Schreiber klinkt sich, bildlich gesprochen, in den Strom des Niedergeschriebenen ein, wird Teil einer Handlungs-Kette:

"Einmal versuchen zu schreiben, sonst nichts. Diese Handlung mit Sympathie und Aufmerksamkeit, ja Hingebung, ausführen. Über keine Zeile hinweggehen. Dazu hat sich die ungeübte linke Hand geeignet."96

Gerade die durch die Transkription aufgehobene Abweisung des rechtslesenden Augenmenschen via Kunstwelsch verdeutlicht die Stärke dieser, hier trifft der Terminus technicus, visuellen Poesie, die, so paradox Gerz die Kunst mittels Kunst auch in Frage stellt, verstanden, entschlüsselt werden will.

93 Jürgen HOHMEYER, Als wenn es gar nicht geschrieben wäre, Zur Spiegel-schrift bei Jochen Gerz; a.a.O.; Zitat: S. 13.94 Jochen GERZ, Die Schwierigkeit des Zentaurs beim vom Pferd steigen; a.a.O.; Zitat: S. 98.95 Ebd.; Zitat: S. 163-164.96 Ebd.; Zitat: S. 164.

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II. 1. Theoretische Texte

Es mag sein, daß das das Resümee dieses außergewöhnlichen theoretischen Textes ist: Die Lesbarkeit der Zeichen im Gestus des ursprünglichen, auf Individualität bedachten Sichverweigerns zu garantieren, um die Medienkritik via (visueller) Poesie nicht ins elitäre Leere laufen zu lassen, transparent zu machen, über den Moment der augenblicklichen Rezeption hinaus Wirkung zu er-zielen. Dieser Ansatz schließt nicht aus, daß sich Gerz im eng-maschigen Netz aus Kritik an der Kunst oder den Medien und der Kunstproduktion verstrickt, in Ironie und Zynismus flüchtet, um die Kompromittierungen aushalten zu können. Es ist eine Gratwan-derung, die entweder mit dem Rückzug aus der Kunst oder der kompromißlosen Anbiederung an ihre Mechanismen enden könnte. Gerz versucht, einen Weg zwischen beiden Extremen zu gehen.

Das Bild des Zentaurs, des trojanischen Pferdes, das nur für die Nicht-Eingeweihten nicht das ist, was es zu sein scheint, böte auch viel Raum für psychoanalytische und kunstkritische Betrach-tungen. Links- oder Rechtsschreibung, das ist hier die Frage:

"Das Pferd von Troja ist selbst eine Linksschreibung innerhalb der Rechts-schreibung von Troja. Doch im Pferd drinnen ist zur Rechtsschreibung des Pferdes die Linksschreibung des Outis und seiner Leute."97

97 Ebd.; Zitat: S. 36.

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II. 1. Theoretische Texte

Das hat doch nichts mit Performance zu tun 1978

Das hat doch nichts mit Performance zu tun 98 ist ein grundlegen-der theoretischer Text für das Verständnis der Arbeiten des Jochen Gerz und hat natürlich auch mit Performance zu tun99. Der Text observiert von der Warte des Lebens die Kunst und von der der Kunst das Leben, ganz reziprok. Der Titel verweist das Text-substrat eigentlich in den nächsten Unterabschnitt (II.2. Per-formance) dieser Arbeit, gehört dort aber höchstens als Exposi-tion hin. Daß der Text auf Gerzens Performances neugierig macht, ist nicht abzustreiten. Ich ordne ihn zu den theoretischen Tex-ten, da er in seiner Schreibart diesen entspricht. Der Tonfall, den Gerz anzuschlagen pflegt, ist ernsthafter Natur, assoziativ und logisch zugleich. Auch wenn die Argumentation sprunghaft Ge-genstand und Zeit wechselt, um die Beispiele integrieren zu kön-nen, hat das Ganze doch System, ist auf ein Ergebnis ausgerich-tet. Die Wege, die eingeschlagen werden, um das Ziel zu errei-chen, die Thesen zu verifizieren, sind dabei eher von sekundärer Bedeutung. Der theoretische Text soll unterhaltsam sein und nachdenklich stimmen , was großes rhetorisches Talent erfordert. Gerz spannt den geistesgeschichtlichen Bogen in diesem Text von den Höhlen der Dordogene100 über die mittelalterliche Liebes-lyrik der Troubardours bis zum Dramatiker Anouilh; eine Tour d`horizon des Bildungskünstlers durch verschiedene Kulturen und Lebensarten. Was ihn bewegt und treibt, ist seine eigene Zeit und deren Bilderfetischismus. Gerz pflegt, sofern das als Mit-glied einer Gesellschaftsform möglich ist, den Blick des Ethno-logen auf die eigene Umwelt. Eine Brille, die ihm gut steht, die ihn anders sehen läßt, seine Perspektive verschiebt, Distanz zur gesellschaftlichen Nähe schafft. Von dieser Sichtweise profi-tiert der Text Das hat doch nichts mit Performance zu tun.

"Man könnte sagen: alles ist eine Performance im Moment wo es entsteht. Man könnte auch sagen: alles ist ein Bild, im Moment, wo es zustande gekommen ist."101

Gerz' These des "Alles-Ist" entsteht aus dem Bedürfnis, Kunst und Leben zu verzahnen, das eigene Kunstverständnis zu vermit-teln.

98 Jochen GERZ, Das hat doch nichts mit Performance zu tun, Vortrag über das Bild und den Tod, freie Rede (Neue Galerie - Sammlung Ludwig, Aachen 1978).99 Nicht umsonst wurde Das hat doch nichts mit Performance zu tun in Jochen Gerz' Mit/ohne Publikum, Performances 1968-80 (Bielefeld 1981) auf den Seiten 18-28 erneut abgedruckt.100 Vgl. Louis-René NOUGIER, Die Kunst der Vorzeit; in: Die Kunst der Vor-geschichte, die Hochkulturen. Lausanne 1979. S. 11-47.101 Jochen GERZ, Das hat doch nichts mit Performance zu tun; in: ders., Texte; a.a.O.; S. 90-98. Zitat: S. 90.

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II. 1. Theoretische Texte

Das Phänomen des Todes ist in vielen Gesellschaften ein ein-leuchtendes Beispiel für die Progression im Stillstand, im Zu-stand der Unzulänglichkeit. Ein Toter ist tot, mithin deakti-viert. Gerz jedoch verweist auf Mythen, die, so nenne ich sie, immaterielle Präsenz von Kunst, des Glaubens:

"Um Mitternacht, oft passiert sowas im Dunkeln, kommen Leute, obwohl sie tot sind und machen quasi eine Performance, machen uns Angst damit."102

Diese Geschichten weichten, laut Gerz, die Nahtstelle zwischen Leben und Tod auf. Der Status quo des Kunstwerks als Objekt kön-ne vom, einmal angenommen, wieder lebendig gewordenen Künstler nicht verändert werden, weil das Kunstwerk selbst sich vom ´to-ten` Künstler im Laufe der Zeit emanzipiere:

"(Der Künstler) wird mit der Zeit höchst unscheinbar und unglaubwürdig ge-genüber seinem Produkt, das man ihm vorzieht. Eine Performance seinerseits wäre unerwünscht, strafbar. Es wäre keine Kunst. Vielleicht würde man da Vinci, der sein Bild zu Ende malen will, als Attentäter verstehen, dessen politische Motive im Dunkeln liegen. Generell kann man aber sagen, daß es keinen Bericht gibt, aus dem hervorgeht, daß jemand einem Objekt zuliebe wieder lebendig wird."103

Schriebe das kein Künstler, erklärte man den Verfasser solcher Obskuritäten wahrscheinlich für verwirrt. Denn gibt es überhaupt eine Gelegenheit, irgendetwas wegen, sei es Subjekt oder Objekt, wieder lebendig zu werden? Nein. Wer solche transzendenten Ideen aufrichtig reflektiert, ist entweder Guru oder Künstler oder als Wissenschaftler mit den Erzeugnissen beider Erstgenannten be-schäftigt. Das Bild gewinne, so Gerz, nach dem Ableben des Malers - oder des Fotografen - und des Portraitierten eine nur der Kunst inne-wohnende Freiheit:

"Das Bild hat die Dauer, die das Leben nicht hat. Es ist deshalb auch nicht ein Bild vom Leben, eher ein Bild von dessen Überwindung."104

Der Mensch mache sich als Teil der Gesamtheit ein Bild der Ge-sellschaft, das nach bestimmten Regeln angeordnet sei, Tabus kenne, in sich homogen und übersichtlich erscheine. Dieses Ide-albild werde für das nicht-lineare Individuum zum Ziel:

"Der Weg liegt hinter ihm. Das Bild ist für die Menschen auf diese Weise auch ein Vorbild, gerade deshalb, weil sie ihm nicht gerecht werden kön-nen."105

Daran könne der einzelne Mensch zerbrechen - was um so wahr-scheinlicher sei, wenn es sich um eine kraftvolle Utopie han-dele:

102 Ebd.103 Ebd.; Zitat: S. 91.104 Ebd.; Zitat: S. 92.105 Ebd.; Zitat: S. 93.

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II. 1. Theoretische Texte

"Je vollständiger ihr Bild (von der gesellschaftlichen Ordnung) ist, je geglückter, desto mehr wird es den Menschen selbst als Häresie, Aus-tritt, Übertritt sichtbar machen und denunzieren."106

Gerz hat die Idee, daß noch die kleinste Einheit der Gesell-schaft in der Relation zur Gesamtheit der Reproduktion des Bil-des, des Utopie-Entwurfes dient. Man stelle sich das ´bildlich` vor, als wenn sich zwei identische Spiegel gegenüberstehen, in sich hineinsehen und im fiktiven Abgrund das gespiegelte Selbst en miniature entdecken. Bild und Abbild entsprechen bis ins kleinste, nicht mehr wahrnehmbare Detail einander; eine unbarm-herzige Utopie. Kommt nun ein Mensch hinzu, wird er sich zwar widerspiegeln, aber niemals dem gedoppelten, reinen Spiegel gleichen können, weil er selbst Materie ist und keine Hohlform:

"So liegt auf allem, was in unserer Gesellschaft vorkommt, eine Anforderung nach Vergleichbarkeit, Konformismus, eine unnachsichtige Forderung nach Ab-straktheit, Fiktivität, Bildhaftigkeit."107

Die Urform muß gestaltet werden, um das Ursprüngliche zu zivili-sieren, zu bändigen. Das Bild ist die gebändigte Form, die damit die Wirklichkeit konditioniert. Der kulturelle Schein ist stär-ker als das Sein:

"Die Geschichte unserer Kultur ist auch die Geschichte der Trennungen und Hierarchisierungen. Die Geschichte (...) der westlichen Musik (ist) auch die des Verstummens des menschlichen Körpers als eines Instrumentes, von anderen Instrumenten zu schweigen. Wer ein Symphonieorchester in Aktion sieht, darf an den Nürnberger Parteitag denken.108

Woody Allen empfindet als Larry Lipton in seinem dreiundzwanzig-sten Film Manhattan Murder Mystery109 beim vorzeitigen Verlassen eines Opernhauses, wo gerade Wagner gegeben wird, ähnlich; der Wortlaut ist etwa folgender: "Wenn ich Wagner höre, fühl` ich mich so, als müßte ich morgen in Polen einmarschieren."

Das durch uns Gestaltete verweise, so Gerz, stets auf einen end-gültigen Fixpunkt:

"(Dieses Ideal) wäre die unüberwindliche Ordnung, das Bild, das seinen Schöpfer in sich aufnimmt. Es gibt ein Wort für diese gesellschaftliche Hoffnung: Tod."110

Die Unzufriedenheit des Menschen liege auch an der unerreich-baren Vorbildlichkeit der von uns geschaffenen Objekte und Bil-der, deren Letztendlichkeit, wie bereits erwähnt,

106 Ebd.; Zitat: S. 94.107 Ebd.; Zitat: S. 95.108 Ebd.109Woody ALLEN (Regie und - mit Marshall Brickman - Buch), Manhattan Murder Mystery. USA 1993, 96 Min.110 Jochen GERZ, Das hat doch nichts mit Performance zu tun, in: J. GERZ, Texte; a.a.O.; Zitat: S. 95.

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II. 1. Theoretische Texte

thanatologisch zu interpretieren sei111. Was hilft, ist der Diskurs, das Spre-chen über das Bild, das Wort und den Tod. So gebe es in unserer Gesellschaft ein existenzielles Bedürfnis, das durch das Leben-digsein evoziert werde, das, einmal geweckt, eine unheimliche Eigendynamik wie eine Lawine entwickele: die Kommunikation112. Jeder Neologismus, das Wort oder die Erfindung sollen das Vakuum aufheben, die Distanz zwischen den Bildern und uns (also auch zwischen uns und unserem Tod) aufheben:

"Man könnte sagen, daß jedes Wort eine Vermißtmeldung ist, daß alles was erfunden wird, deshalb erfunden wird, weil es nicht da ist. Als eine Be-schwörung von etwas, das abwesend ist. Das, was uns immer tiefer beunruhigt und terrorisiert, ist alles, was “nur“ lebt. Wir verhalten uns ihm gegen-über, als wären wir die Statthalter der Bilder, als müßten wir unsere Bil-der verteidigen gegen uns."113

Wer sich seiner ephemerischen Existenz bewußt werde, produziere Kunst. Die Angst vor dem Tod ist die Mutter der Bilder, der Schrift. Künstlerische Spuren überdauern oftmals die eigene Le-bensspanne. Die von uns geschaffenen Objekte verweisen auf die Zukunft, die wir nicht erleben, deren Repräsentant in der Gegen-wart, quasi als Mausoleum, das Museum ist, in dem das Objekt ge-schützt und bewahrt wird. Jedes Buch ist deswegen ein kleines Museum, und um so mehr trifft es uns, wenn sich heutzutage die Buchbestände ganzer Bibliotheken in Staub auflösen. Mit dem (Kultur-)Verfall stirbt der schon tote Schriftsteller ein zwei-tes Mal; weswegen das Autodafé zu Lebzeiten des Autors einer symbolischen Verbrennung seiner selbst entspricht.Gerz glaubt, daß auch die Kunst für die soziale Misere, den "de-solate(n) Zustand unseres täglichen

Lebens, dessen Leblosigkeit"114 ver-antwortlich zu machen ist. Wir bekommen unsere Erfahrungen be-stenfalls aus zweiter Hand. Die Zeit der Initiation wird immer länger. Schul- und Studienzeit prägen viele Menschen ganz ent-scheidend:

"Daß unsere Art von Wissen uns zu Analphabeten machen muß, wie das Sokrates schon gesagt hat. Daß unsere Erziehung uns verängstigt, bis wir nur noch auf Sicherheit aus sind, Ordnung, Struktur, bis wir jede Reziprozität fürchten."115

Wir verstummen, was Jochen Gerz am Ende des Aufsatzes zu einer provokanten Frage veranlaßt, die er sich - und damit uns - selbst beantwortet:

111 Ebd.; Zitat: S. 96: "Wir sind nicht zufrieden mit uns, wir würden gern so wie die Bilder sein, die wir machen, vor allem so dauerhaft wie sie, so endgültig, so vertikal.".112 Ebd.: "Das Wort für das, was wir gern besitzen würden, ist selbst noch relativ neu, das Wort Kommunikation. Es ist, seitdem es existiert, ein Denkmal für das, was wir vermissen. Seither bezweifeln wir das Vorkommen von Kommunikation zwischen uns und unseren Produkten, zwischen uns selbst."113 Ebd.; Zitat: S. 97.114 Ebd.115 Ebd.

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II. 1. Theoretische Texte

"Kann man das Lächeln der Mona Lisa erwidern? Kann man ein Bild zurückge-ben? Ich habe noch keinen gesehen im Louvre, der zurückgelächelt hätte. Man sagt, nur Menschen lächeln, es sei das Lächeln der menschlichste Ausdruck überhaupt. Am wenigsten dauerhaft, am ehesten erwidert. Das berühmteste Lächeln gehört einem Bild. Dem berühmtesten Bild."116

116 Ebd.; Zitat: S. 97-98.

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II. 1. Theoretische Texte

Ich bin jemand, der den Fotoapparat benutzt 1980Vortrag über Emphase und Fotografie 1981

Bevor die beiden angezeigten theoretischen Texte zur Fotografie analysiert werden, möchte ich einige Gedanken zum Medium selbst anfügen.Die Fotografie entsteht maschinell, hat die Psychologie unserer Wahrnehmung, das soziale Miteinander des 20. Jahrhunderts maß-geblich geprägt. Zahllos sind die privaten Fotoalben, die dich-terischen und cineastischen Reflexionen über die erinnerte Zeit, die sich an einem Foto festmacht. Die Fotografie ist allgemein geworden. War die Camera obscura von der Mitte des 16. bis ins 18. Jahrhundert hinein das einzige optische Hilfsmittel der pro-fessionellen Maler, so änderte sich das mit der Erfindung von Camera lucida, Physionotrace und ähnlicher auch dem Laien zu-gänglicher Bildherstellungsverfahren radikal117. Wolfgang Kemp nennt die Epoche "vor der Vervollkommnung der Fotografie () die Manufak-turphase der bildenden

Künste"118. Das menschliche Augenmaß ist für die Bildproduktion mit Nicéphore Niepces 1824 stattgefundenen fotografischen Experimenten nebensächlich geworden. Die Foto-grafie startete danach einen Siegeszug und entwickelte sich zum profanen Medium für alle, die etwas Geld besaßen und von sich und ihren Verwandten ohne eigenes technisches Verständnis Bilder machen wollten. Das spiegelt sich folgerichtig 1888 im Werbeslo-gan der ersten Kodak-Kamera wider: "Sie drücken auf den Knopf, alles andere erledigen wir."119 Diese passive Konsumhaltung be-stimmt auch heutzutage weitgehend den Umgang der Menschen mit Fotografie. Fotografieren kann jedes Kind. Und jedermann meint, mit einem Blick, ein schlechtes von einem guten Foto unterschei-den zu können. Die dabei angeführten Kriterien sind denkbar ein-fach, dichotomisch und betreffen den vermeintlichen Realitäts-gehalt der Fotos: scharf - unscharf, (zu) dunkel - (zu) hell. Manchmal spielen auch Bildinhalte eine Rolle bei der Bewertung. Wird zuviel von einem Körperteil, zum Beispiel dem Kopf, ´abge-schnitten`, gilt das Foto als mißlungen; kleinere Gliedmaße, wie Finger, fallen dabei seltener ins Gewicht. Das mag trivial klingen, zeigt aber etwas von der Unbekümmert-heit um technische Abläufe oder fotoästhetische Belange seitens vieler Konsumenten. Daß der Realismus der Fotografie

117 Siehe Wolfgang KEMP, Foto-Essays, 1. Qualität und Quantität: Formbe-stimmtheit und Format der Fotografie. München 1978. S. 10-17. Und Heinz HABERKORN, Anfänge der Fotografie, Entstehungsbedingungen eines neuen Me-diums. Reinbek bei Hamburg 1981. S. 23-36. Sowie Giesèle FREUND, Fotografie und Gesellschaft. München 1976.118 Wolfgang KEMP, Foto-Essays; a.a.O.; Zitat S. 16.119 Susan SONTAG, Über Fotografie. München 1978. Zitat S. 53.

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II. 1. Theoretische Texte

einäugig und zweidimensional ist, wird selten bemerkt. Schon Andreas Feininger stellt in seiner Neuen Fotolehre fest, daß die Kamera lügt:

"Das vielleicht größte Mißverständnis über die Fotografie kommt in dem Worte “die Kamera lügt nicht“ zum Ausdruck. Genau das Gegenteil ist rich-tig. Die weitaus meisten Fotos sind “Lügen“ in dem Sinne, daß sie nicht vollkommen der Wirklichkeit entsprechen: sie sind zweidimensionale Abbil-dungen dreidimensionaler Objekte, Schwarz-Weiß-Bilder farbiger Wirklich-keit, “starre“ Fotos bewegter Objekte. Jedes Foto, was “nichts geworden ist“, jedes Bild, das für den Fotografen eine Enttäuschung war, weil es nicht das ausdrückte, was er sagen wollte, ist ein Beispiel dafür."120

Wenige Foto-Bilder, oft gestellt, prägen unsere Erinnerung. Wer ein Foto von sich verschenkt, nimmt nicht unbedingt das erste beste, sondern mindestens ein interessantes, ein Foto seiner selbstgewählten Schokoladenseite. Denke ich an meine Kindheit, drängen sich mir ganz bestimmte Fotos auf, die ich von jeher in Alben gesehen und als ´wahr` akzeptiert habe. So ist es also ge-wesen, denke ich, ganz konditioniert, unwillkürlich. Das Portrait ist wohl das beliebteste Foto-Motiv, der Mensch wird Kultobjekt. "Im Kult der

Erinnerung an die fernen oder die abge-storbenen Lieben hat der Kultwert des Bildes die letzte Zuflucht"121, verweist Walter Benjamin auf die rituellen Wurzeln von Kunst schlechthin.122 Daß die Erinnerung an Vergangenes in der westlichen Kultur des Medienzeitalters weniger von den Erzählungen älterer Menschen als vielmehr von den Fotografien und (V8- und Video-)Filmen ge-prägt wird, wage ich zu behaupten.Das - und die Mechanisierung der Fotografie - ist eine notwendi-ge Voraussetzung für den Fotografen Jochen Gerz, dessen Fotos Landschaften oder Menschen, Menschen in der Natur oder in Städ-ten zeigen.Das menschenleere Foto interessiert eher Spezialisten, die pit-toreske Landschaften lieben oder ein Ding, natürlich oder von Menschenhand produziert, professionell abzubilden, ausstellungs-reif abzuliefern haben:

120 Andreas FEININGER, Die Neue Fotolehre. Düsseldorf 1965. Zitat S. 69.121 Walter BENJAMIN, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reprodu-zierbarkeit; in: ders, Illuminationen, Ausgewählte Schriften 1. Frankfurt/M 1977. Zitat: S. 148.122 Ebd.; S. 143: "Die ältesten Kunstwerke sind, wie wir wissen, im Dienst eines Rituals entstanden, zuerst eines magischen, dann eines religiösen." Und vgl. Krzystof POMIANs Aufsatz Zwischen Sichtbaren und Unsichtbaren: die Sammlung; in: ders., Der Ursprung des Museums, Vom Sammeln. Berlin 1993. S. 13-72. Pomian führt den, für mich sehr einleuchtenden Begriff, der ´Semiophoren` ein, d.h. von Gegenständen, die das Unsichtbare repräsentie-ren, die eine rituelle Bedeutung besitzen, deren "Funktion darin besteht, Zeichen zu tragen" (Zitat: S. 92). Fotos Verstorbener können Semiophoren sein.

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II. 1. Theoretische Texte

"Wo aber der Mensch aus der Photografie sich zurückzieht, da tritt erstmals der Ausstellungswert dem Kultwert überlegen entgegen."123

Walter Benjamins Einschätzung stimmt, was die abbildungstreue Fotografie betrifft, zweifelsohne. Ist es aber nicht denkbar, daß das retuschierte Autoren-Foto des 20. Jahrhunderts geradezu nach der Rückgewinnung dieses Kultwertes lechzt, daß es Kontem-plation evozieren will - ja muß, um im schnellebigen Kunstbe-trieb seinem Fotografen zum notwendigen Renommee zu verhelfen? Wobei der Terminus ´Kontemplation` durchaus Erschrecken und Ablehnung neben Gout und Zustimmung beinhaltet; ´Gemütsbewegung` hätte man es früher genannt. Vielschichtiger wird die ganze An-gelegenheit, sobald, wie bei Jochen Gerz, Text zum Foto dazu-kommt.

123 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reprodu-zierbarkeit; a.a.O.; Zitat S. 148.

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II. 1. Theoretische Texte

Ich bin jemand, der den Fotoapparat benutzt 1980

"Ich selbst habe noch keinen Film entwickelt. Ich habe noch keinen Abzug gemacht. Ich habe auch noch keinen Ausschnitt bestimmt."124

Das ist, jedenfalls für Aufnahmen, die Gerz eigenhändig geknipst hat, nur die halbe Wahrheit. Bedeutet die willentliche Reduktion unserer binokularen 3-D-Welt auf eine monokulare, gerahmt-recht-eckige der Kamera wirklich, keinen "Ausschnitt zu bestimmen"? Sicher, Jochen Gerz spricht davon, während des Entwickelns nur einen Teil des Negatives auf dem Fotopapier erscheinen zu las-sen. Aber ich glaube, daß es sich dabei um eine Form der Selbst-täuschung handelt. Das Fotografieren ist per se eine willent-liche Entscheidung, und das Fotografieren bedeutet immer, einen Ausschnitt zu bestimmen. Ob anschließend vom ersten Ausschnitt ein zweiter beim Entwickeln gemacht wird, erscheint mir sekundär zu sein. Wichtig bleibt der erste Schritt, die fragmentarische Aneignung der vorgefundenen, gesehenen Dinge mittels Fotografie. Diese Auswahl hängt selbstverständlich von den technischen Mög-lichkeiten des Apparates ab, ob der Künstler selbst fotografiert oder andere für sich fotografieren läßt125, ob im Atelier oder Plein-air fotografiert wird. Daß sich Jochen Gerz vom schönen Schein, trompe l´œil, der Salonfotografie distanziert, liegt in der Tradition avantgardistischer Fotografen:

"Und was die Arbeiten in der letzten Zeit betrifft: Ich habe vergessen, die Batterie für die Belichtung zu ersetzen. Ich habe in letzter Zeit die Ent-fernung immer seltener eingestellt, ich habe auch manchmal nicht durchs Ob-jektiv geguckt und ich habe auch zum Teil die Aufnahmen nicht mal selbst geknipst."126

Wenn Gerz bewußt auf leicht zugängliche Techniken verzichtet, entspricht diese scheinbare Nachlässigkeit durchaus den Manipu-lationen eines Man Ray127, den Fotoübermalungen Arnulf Rainers oder jedweder anderen mehr oder minder raffinierten Retusche. Das Weglassen oder das Hinzufügen verändern auf jeden Fall den ´normalen` Ist-Zustand des Fotos. Der Fotograf gibt sich als Autor mit einer eigenen fotografischen Handschrift zu

124 Jochen GERZ, Ich bin jemand, der den Fotoapparat benutzt; in: ders., Texte; a.a.O.; Zitat: S. 134.125 Vgl. Andreas FEININGER, Die neue Fotolehre; a.a.O.; S. 287 ff.126 Jochen GERZ, Ich bin jemand, der den Fotoapparat benutzt. Zitat: S. 134.127 Vgl. Man RAY, 1890 - 1976. Berlin 1989. Man Rays "Rayographien" basie-ren auf dem Prinzip des "Fotogramms", bei dem Gegenstände in silhouetten-hafter Wirkung durch Aufbelichten auf lichtempfindlichen Materialien wie-dergegeben werden.

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II. 1. Theoretische Texte

erken-nen.128 Bei Gerz handelt es sich um eine kalkulierte Reduktion, die qualitativ anders zu bewerten ist als ein unbewußter Fehler. Gerz könnte auch anders; die Batterie für die Belichtung ließe sich problemlos besorgen. In diesem Zusammenhang denke ich an einen Bericht aus Nordir-land, etwa aus dem Jahre 1985. Er handelte von einem Bürger-kriegsopfer, einem noch jungen Mann, der, durch eine Bombe blind geworden, Belfasts Straßen mit einem Fotoapparat in der einen, dem Stab in der anderen Hand durchquerte. Er fotografierte wirk-lich willkürlich Plätze und Menschen und guckte niemals durchs Objektiv. Diese kleine Geschichte, die nicht moralisch inter-pretiert werden soll, zeigt dennoch, wie künstlich das ´subjek-tive` Fotografieren des Jochen Gerz ist.Gerz ist jemand, der den Fotoapparat benutzt. Und "benutzen" heißt, sich einer Sache ihrem Zweck entsprechend zu bedienen oder zu einem bestimmten Zweck oder dem eigenen persönlichen Vorteil auszunutzen. Zwei Aspekte kommen zusammen, die maßgeb-lich den künstlerischen Prozeß ausmachen - können: Die vorhan-dene Sache entweder als gewachsen zu akzeptieren und ihre be-reits angelegten künstlerischen Dimensionen herauszustellen oder mit der vorhandenen Sache nach eigenem Gutdünken zu verfahren und sie grundlegend zu interpretieren oder zu verfremden:

"Ich benutze die Fotografien einer Arbeit auch nicht, ohne ihnen einen Text beizugeben, der u.a. die Fotos etwas situationiert, etwas erklärt, etwas desavouiert, etwas mystifiziert, etwas vielleicht ablenkt von ihnen."129

Gerz stellt die Fotografien in einen Kontext, fügt dem Foto als Korrelat Text hinzu. Das "etwas" bedeutet die Freiheit der Rela-tion zwischen Wort und Bild und die Freiheit der Rezipienten, die Foto/Texte selbst zu lesen. Aber ´etwas` ist kein ´etwa`.

128 Klaus HONNEF legt 1979 in seinen Thesen zur Autorenfotografie (abge-druckt in: W. KEMP, Theorie der Fotografie III, 1945-1980. München 1983. S. 204-210) eine Definition des Fotografen als Autors vor, die auch Gerz ge-recht wird: "Das fotografische Bild vergegenwärtigt Wirklichkeit authen-tisch, aber niemals die Wirklichkeit im Insgesamt (...). Aus dieser Ein-schränkung zieht der Autorenfotograf seinen Honig. (...) Denn im ausdrück-lichen Eingeständnis der Schwäche des Bruchstückhaften, das der Fotografie innewohnt, ist ein erster Schritt zur Wahrheit vollzogen. (...) Ob bewußt oder unbewußt - der Autorenfotograf ist zugleich auch immer Fotograf, der mit seinem Ausdrucksmittel insofern kritisch umgeht, als er den Ausschnitt-charakter seines Mediums in das fotografische Kalkül integriert, wenn er es nicht gar eigens exponiert."; Zitat S. 208.129 Jochen GERZ, Ich bin jemand, der den Fotoapparat benutzt. Zitat: S. 134.

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II. 1. Theoretische Texte

So bestärkt sich die in der Einleitung von mir formulierte Idee, eine Legende vor Augen zu haben, eine bebilderte. Dispositiv nennt Gerz diese Form der Addition, eine "strategische

Entschei-dung(), die sich erläutern"130 läßt, deren Anfänge allerdings in der "Lust, de(m) Spaß am Tun,

am relativ unbekannten, unüberschauten Tun, am Fummeln und am Pfuschen"131 liegen. Laut Gerz befinden sich Texte ("sind natürlich auch Bildproduktionen"132) und Fotos im Zustand ihrer Abgeschlossenheit. Weil sie, die mitgeteilten Bilder, diesen Zu-stand erreicht haben, erfüllen sie das grundlegende Bedürfnis der Menschen, sich ein Bild und einen Text zu machen. Das dürfte für Gerz ein wichtiger Beweggrund und die eigentliche, auch am Ende stehende Erkenntnis des theoretischen Textes Ich bin je-mand, der den Fotoapparat benutzt sein. Als Einleitung zum Vortrag über das Bild und den Tod (Das hat doch nichts mit Performance zu tun 1978) wurde der kurze Text als Freie Rede auf dem Symposium über Fotografie II (Forum Stadtpark Graz 1980) gehalten. Der Stegreif-Text dürfte vorbe-reitet gewesen oder doch zumindestens für die Buchausgabe über-arbeitet und durchgesehen worden sein; mithin ein Produkt, das nicht realiter als Extempore bezeichnet werden sollte. Die De-klaration als "Freie Rede" trifft den Charakter des Textes an-nähernd, denn eine Rede wird ausgearbeitet, rhetorisch geschlif-fen vorgetragen, was das Adjektiv "freie" elegant einschränkt. Wer eine Freie Rede hält, darf sich eher Ungereimtheiten, kleine Schnitzer erlauben, wird nicht an der Elle des möglicherweise vorher ausgeteilten Manuskriptes gemessen. Den Charakter des Fakultativen büßt die abgedruckte Freie Rede naturgemäß ein und wird zum Spielball der Kritik, des wissenschaftlichen Diskurses.

Vortrag über Emphase und Fotografie 1981

Der in Hamburg lehrende Kunstgeschichtler Martin Warnke pflegt über Mitglieder seiner Profession zu sagen, sie könnten nur im Dunkeln denken. "Im Dunkeln" bedeutet: angesichts des projizier-ten Bildes (Dia). Das Abbild ersetzt die Wirklichkeit, das Ar-beiten in situ à la Winkelmann in Rom ist die Exkursions-Aus-nahme. Die Kunstgeschichtler sind soweit konditioniert, daß ihnen beim Anblick der fotografierten Laokoongruppe die Augen leuchten. Das Foto bietet einen ´ruhigen` Blick auf eine von fremder Hand ausgewählte Perspektive. Ein gutes Foto entscheidet darüber, ob uns ein Kunstwerk beeindruckt. Daß es dann vor Ort Ernüchterungen oder Überraschungen positiver Natur geben kann, ist ganz klar. Ausdrücklich ausgenommen sei hier die Reproduk-tion von fotografischen Kunstwerken; das Foto sui

130 Ebd.; Zitat: S. 135.131 Ebd.132 Ebd.

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II. 1. Theoretische Texte

generis wirft ganz besondere Fragestellungen auf. Zu konstatieren bleibt die Rolle, die das Foto für den Kunstgeschichtler spielt.

Diese Art von professioneller Ergriffenheit nennt Jochen Gerz in seinem als Freie Rede auf dem Symposium über Fotografie (Schloß Micheln, Düsseldorf 1981) gehaltenen Vortrag über Emphase und Fotografie "Emphase":

"Mit emphatischer Nüchternheit halten wir in Sachbüchern, Artikeln und Vor-trägen inne vor einzelnen Fotos oder der ganzen Fotografie."133

Wichtig ist ihm, daß allein Spezialisten ("Wissenschaftler, Histori-ker, Kritiker und Künstler"134) die Banalität des Mediums aufheben, während der Kreis der Benutzer stetig größer wird:

"Angesichts eines von Ast zu Ast rutschenden Affen mit Fotoapparat, Flaneur und Nichtstuer wie Duchamp oder im Cherubinischen Wandersmann der liebe Gott, könnte uns Emphase übermannen wie eine Sintflut."135

Gerz sucht nach einer Erklärung für die Emphase angesichts eines Fotos, einer Emphase, die nichts mit der technisch hochspeziali-sierten Kamerakonstruktion zu tun habe. Jeder Hebel, den der In-genieur anbringt, dient einem Zweck. (Foto)Kunst dagegen sei funktionslos und damit für unsere Ergriffenheit ein prädesti-niertes Objekt:

"Wir reagieren mit Emphase auf Dinge, die funktionsloser erscheinen als an-dere und die uns zu weniger Funktion überreden. Auf die wir gar nicht rea-gieren können, weil sie ohne Auftrag und Brauchbarkeit scheinen."136

Trotzdem die Kunst die "Leiden der Brauchbarkeit"137 abgeschüttelt habe, existiere, auf der Ebene des Menschseins, ein Zwang: der zur Reproduktion. Laut Gerz evoziere die Entindividualisierung bei uns ein schon benanntes Gefühl:

"Wir sind nicht allein, wir sind Teile. Und dieser Erkenntnis der neuen Austauschbarkeit und Reproduzierbarkeit, jenseits des Vektors, über die Lust hinaus, können wir nur mit Emphase begegnen."138

133 Jochen GERZ, Vortrag über Emphase und Fotografie; in: ders., Texte; a.a.O.; S. 139-143. Zitat S. 139.134 Ebd.135 (Ebd.) Der Cherubinischen Wandersmann ist ein 1675 von Angelius SILESIUS (eigentl. Johann SCHEFFLER) geschriebenes epigrammatisches Werk voller "geistreicher Sinn- und Schlußreime" mystischer Art, die die Beziehung Gott/Seele/Mensch beleuchten.136 Jochen GERZ, Vortrag über Emphase und Fotografie; a.a.O.; Zitat S. 140.137 Ebd.138 Ebd.; S. 141.

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II. 1. Theoretische Texte

Was zwangsläufig in dieser Kausalkette folgt, ist die wohl be-kannte Analogie "Mensch - Maschine"139:

"Wir stehen vor unseren neuen Produkten und sagen nicht ohne Ergriffenheit, nicht ohne Neid und Verehrung: ich bin wie du. Als hätte die Kamera uns produziert, so dankbar sind wir. (...) Man könnte vom Aufstand der Instru-mente sprechen, von einer geglückten Revolte."140

Die Lust der Bilderherstellung verschwinde beim Fotografieren, und die vermißte Lust rufe das hervor, was jenseits von ihr lie-ge: das Arkanum.

"Jede Wissenschaft führt in unserer Kultur zur Verrätselung. Einstein sag-te: Wer in der Mathematik zu Ende denkt, stößt an die Mystik. Es gibt kei-ne Kunst im zwanzigsten Jahrhundert, die nicht vor allem unverständlich wäre."141

Deswegen seien, so Gerz, die Fotografien von zeitgenössischen Künstlern rätselhaft:

"Je unverständlicher Kunst ist oder das, was man so nennt, desto größer scheint ihr Potential, Emphase auszulösen. Prestige hat wirklich nur das, was der Zeit widersteht: das Rätsel."142

Die Malerei des 20. Jahrhunderts und die Kunstfotografie hätten denselben Impetus, dieselbe Funktion in unserer Gesellschaft:

"(...) man kann die Malerei nicht mehr aus der Dokumentierung erklären, unsere Paßbilder sind nicht gemalt. Ihr sozialer Auftrag scheint erloschen zu sein: deshalb gibt sie Rätsel auf, und das ist ihr neuer sozialer Auf-trag: keinen Auftrag und keine Brauchbarkeit zu haben. Rätsel zu sein und zu bleiben."143

Was der Mensch verloren hat, erkennt er rudimentär im rätselhaf-ten Kunstwerk, im Foto. Die Reproduktion sei eine Spur des Ver-lustes, der verlorenen Lust. Und die professionellen Interpre-ten von Kunst sähen "(a)us der beamteten Distanz der Emphase"144 auf das Rätsel. Sie sind die einzigen, die ihr Leben, fast teleolo-gisch, mit dem Ins-Bild-Stürzen zubringen dürften.Der Ritus ist irrational und deswegen überaus reizvoll für Nicht-Eingeweihte. Traditionen archaischen Denkens haben sich, außer im Bereich der Kunst, auch in anderen wissenschaftlichen Diszi-plinen erhalten. "Sogar spezifische moderne Techniken wie die Psycho-

analyse bewahren noch das Initiations-<pattern>"145, gibt Mircea Eliade zu bedenken. Ethnologen

139 Erinnert sei nur an E.T.A. HOFFMANNs Der Sandmann: "Ihr Spiel, ihr Singen hat den unangenehm richtigen geistlosen Takt der singenden Maschine und ebenso ist ihr Tanz."; Stuttgart 1981. Zitat: S. 34.140 Jochen GERZ, Vortrag über Emphase und Fotografie; a.a.O.; Zitat S. 141.141 Ebd.; S. 142.142 Ebd.143 Ebd.144 Ebd.; S. 143.145 Mircea ELIADE, Das Heilige und das Profane, Vom Wesen des Religiösen. Hamburg 1957. Zitat: S. 123.

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hoffen, ursprüngliche Riten entschlüs-seln, vergleichen und klassifizieren zu können. Und sie überse-hen manchmal dabei, daß sich bestimmte Traditionen nicht rational erklären lassen, sondern als notwendige Verständnisbrücke den Glauben an den Kult benötigen, die Emphase. Ist das religiös-magische Gebäude fest fundamentiert, kann es passieren, daß der Forscher zum Gläubigen konvertiert, in die Gemeinde eintritt und seinen Standpunkt wechselt. Der Adept des Transzendenten entwik-kelt sich zum Homo religiosus. Der Glaube überdeckt das Rätsel, das den Forschungsgeist inspiriert hat. Als Teil des Rätsels muß er es nicht mehr lösen. Und wer an Kunst glaubt, wird selbst zum Künstler; alle anderen versuchen, den Semiophoren ihr Rätsel zu rauben, ohne zu merken, daß ein Kunstwerk ohne Rätsel zum Werk-Zeug geworden ist. Wir können es dann instrumentalisieren: demagogisch, aufklärerisch oder illusionistisch.

Diesen Verlust der rituellen Aura beklagt, so interpretiere ich es, Jochen Gerz in seinem Vortrag. Merkwürdigerweise ist gerade er ein Künstler, der einen nicht unmaßgeblichen Teil seiner Kunst einsetzt, um politisch, aufklärerisch zu agieren. ´Poli-tik` und ´Aufklärung` sind zwei weitgespannte Begriffe, die Gerz nicht gerne hört. Was im Falle des Jochen Gerz damit gemeint sein könnte, mag sein Harburger Mahnmal gegen den Faschismus, Krieg, Gewalt - für Frieden und Menschenrechte erläutern.

Ein quadratischer Pfeiler wurde am 10.10.1986 im Hamburger Vor-ort Harburg aufgestellt, entworfen von Jochen Gerz und Esther Shalev-Gerz, seiner Frau. Sieben Tonnen verzinkter Stahl, von Feinblei ummantelt, zwölf Meter hoch, die Patina unbefleckt. Passanten bot sich die Chance, selbst, mittels Stahlstiften, Na-men oder sonstige Inschriften auf dem Mahnmal zu hinterlassen, um Solidarität zu bekunden. Sobald die erreichbare Fläche voll-geschrieben war, wurde sie in den Boden versenkt, und die näch-ste Leere konnte mit Zeichen versehen werden. Siebenmal wurde es abgesenkt, bevor es am 10.11.1993 ganz im Boden verschwand146. Eine Tafel neben der verschwundenen Skulptur gibt den Besuchern Hinweise:

"Wir laden die Bürger von Harburg und die Besucher der Stadt ein, ihren Namen hier unseren eigenen anzufügen. Es soll uns verpflichten, wachsam zu sein und zu bleiben. Je mehr Unterschriften der zwölf Meter hohe Stab aus Blei trägt, um so mehr von ihm wird in den Boden eingelassen. Solange, bis er nach unbestimmter Zeit restlos versenkt und die Stelle des Harburger Mahnmals gegen den Faschismus leer sein wird. Denn nichts kann auf Dauer an unserer Stelle sich gegen das Unrecht erheben."147

146 Vgl. Petra KIPPHOFF, Das verschwundene Denkmal; in: Die Zeit Nr. 47, 19.11.1993. Hamburg 1993. S. 68.147 Stephan SCHMIDT-WULFFEN, Duell mit der Verdrängung, Ein Gespräch mit Esther und Jochen Gerz; in: Kunstforum Bd. 87. 1987. S. 318-321. Zitat: S. 318.

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II. 1. Theoretische Texte

Es handelt sich bei dem Mahnmal um ein Denkmal im öffentlichen Raum der bürgerlichen Gesellschaft, deren sozialer Strukturwan-del auch politisch-kulturell Schule macht, denn das Recht auf freie Meinugsäußerung ist verbrieft148.Jochen Gerz weiß um die Schwierigkeiten der (politischen) Öf-fentlichkeit im Umgang mit der Erinnerung:

"Wenn die Öffentlichkeit nicht funktioniert, dann kann es als Kunst noch immer funktionieren. Das ist mit der zeitgenössischen Kunst nun mal so."149

Und trotzdem verweist er vehement auf die Indifferenz - ein an-deres Wort für Arkanum, Ritus der Semiophoren - des Mahnmals :

"Man kann nicht sagen, ich bin auf der Seite des Denkmals. Es gibt keine Seite des Denkmals. Es ist total indifferent. (...) Alles muß sublimiert werden. Denn alle Realität ist feindlich."150

Drehte man die Aussage des letzten Satzes um, stünde da: Alle Irrealität, also das Tabu der Kunst, ist freundlich. Im Vortrag über Emphase und Fotografie, dem Ausgangspunkt, schreibt Gerz über das Rätsel, das, wie sich herauskristallisiert hat, das eigentliche Synonym für Kunst ist: "Es hat Abwesenheit und Dauer."151 Und das Mahnmal gegen den Faschismus besitzt genau diese Eigen-schaften, stellt sich, durch sein Verschwinden, gegen die Denkmal-Konventionen, war gerade deswegen umstritten. Ulrich Krempel spricht in den Sieben Anmerkungen zu dieser Arbeit von der "begrenzten Zeitlosigkeit"152 des Denkmals und der

Künstler selbst von einem "Duell mit der Verdrängung"153. Das macht Gerzens Kunst so zwiespältig und spannungsreich: sie erhebt, implizit, den Anspruch des (emphatischen) Rätsels und der (aufklärerischen) Lösung gleichzeitig.

148 Jürgen HABERMAS, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Neuwied und Berlin 1971: "Der gesellschaftlichen Funktion nach, die damals die Verfassungsge-ber im Auge hatten, wirkten freilich die Grundrechte keineswegs nur aus-grenzend; denn auf der Basis, für die diese politische Ordnung konzipiert war, mußten sie als positive Verbürgungen einer chancengleichen Teilnahme am Prozeß der Erzeugung sowohl des gesellschaftlichen Reichtums als auch der öffentlichen Meinung wirksam werden."; Zitat: S. 264.149 Jochen GERZ, in: Stephan SCHMIDT-WULFFEN, Duell mit der Verdrängung; a.a.O.; Zitat: S. 321.150 Ebd.; Zitat: S. 320.151 Jochen GERZ, Vortrag über Emphase und Fotografie; a.a.O.; Zitat S. 142.152 Ulrich KREMPEL, Sieben Anmerkungen; zitiert nach: Petra KIPPHOFF, Das verschwundene Denkmal; a.a.O.; Zitat: S. 68.153 Jochen GERZ, in: Stephan SCHMIDT-WULFFEN, Duell mit der Verdrängung; a.a.O. Zitat: S. 321.

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Wörter und Bilder 1982

Bei dem als Freie Rede auf dem Kongreß der deutschen Gesell-schaft für Photographie (Mainz 1982) gehaltenen Text Wörter und Bilder 154 handelt es sich um eine Dechiffrieranleitung Gerzscher Foto/Texte, vom Fotografen/Texter selbst, quasi als Packungsbei-lage, den Tableaus beigegeben. Eine Einschränkung ist aber vorab notwendig: Gerz verweigert sich als Interpret, er öffnet Fen-ster oder zeigt sie nur, ohne zu sagen, wohin oder worauf man blickt. Und so möchte ich als Einstieg in die Wörter und Bilder mit Gerz' Resümee des Textes beginnen. Diese letzten fünf Sätze spielen das Bildworträtsel weiter, legen die gewollte Geheim-nistuerei der Kunstsprache offen, negieren ihren Charakter als Schlußsätze, als Quintessenz:

"Ich will noch einmal sagen, daß nichts von dem, was ich tue, wahr sein kann. Und deshalb auch nicht falsch. Daß Durchsichtigkeit mich fasziniert als Summe der Rätselhaftigkeit, und daß mir die Hervorhebung der Künstlich-keit des ganzen Unterfangens nur angemessen scheint. Wenn die Arbeit dann noch so natürlich und lakonisch wirkt, wie ein Bäumchen, wäre die List ge-glückt. Auch wenn ich es bin, der sich da überlistet."155

In der Künstlichkeit natürlich zu wirken, dürfte eine schwere Bürde sein. Doch gerade diese Art der Duplizität von Theorie und Praxis vermag die künstlerische Konsequenz, in der Paradoxie, zu verdeutlichen. Es ist offensichtlich, daß eine Absicht hinter der Lakonie steckt. Die theoretischen Texte besitzen also im Werkkontext eine hohe Relevanz. Wie Jochen Gerz künstlerisch arbeitet, schreibt er auch. Der theoretische Text wird zum Teil der Kunst. In der Publikation Texte von Jochen Gerz stehen pro-grammatische Texte, wie Wörter und Bilder, neben Performance-Skizzen oder Tableau/Installations-Texten. Alle Arten von Texten sind, in ihrer Verschiedenheit, im Unisono.

Wörter und Bilder setzt als ursprünglich gesprochener Text be-sondere Akzente, wendet sich an ein sachkundiges Publikum, das mit dem Medium Fotografie vertraut ist. Subtil unterläuft der Redner die Erwartungen des Fachauditoriums, streut Sequenzen ein, die rein philosophischer Natur sind, sich auf sein "work in progress" beziehen und ohne Kenntnis des Werkes als bloßes Lip-penbekenntnisse verwundern müssen, den Eindruck einer künst-lichen Metasprache hervorrufen. Doch Gerz' Beredsamkeit läßt Fragen und Wünsche offen, ist keine pure Schönrederei, sondern Teil des Gerzschen Diskurses ´Kunst`. Der Prozeß des Schreibens wird zur Auseinandersetzung mit der offenen Werk-Struktur. Gerz analysiert sein Objekt, zerstückelt es und arrangiert die Frag-mente zu einer neuen sprachlichen Form, die selbst zum Objekt wird. Notwendige Voraussetzung dieser Neuformatierung bleibt das "Dispositiv", um

154 Jochen GERZ, Wörter und Bilder; in: ders., Texte; a.a.O.; S. 164-167.155 Ebd.; Zitat: S. 167.

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seinen Ausdruck für Struktur zu gebrauchen. Über alles, was vorhanden ist, kann geredet werden, so daß im Gespräch, in der Schrift ein neues Teilchen des Diskurses entsteht, die "Lust am Text" (Roland Barthes) wach bleibt.Der nun vorzustellende theoretische Text Wörter und Bilder ist für den Abschnitt II. 3. Foto/Text dieser Arbeit von Belang.

Gerz erklärt einleitend, warum er, der Künstler, über sein Kunstwerk spricht, es in den Diskurs zurückführt und, je nach Tagesform, verklärt oder erklärt:

"Das Außerstandsetzen des Dispositivs gehört zum ästhetischen Genuß. Das Werk durchschaut zu haben verringert das Werk zwar erheblich, ist aber das kleinere Übel. Alles andere würde bedeuten, daß ich nichts darüber sagen kann. Und damit auch nichts über mich. Nichts sagen können ist das Böse, der nachhaltige Schrecken."156

Etwas sagen oder schreiben zu können, ist also das Gute. Und wa-rum soll man das Gute nicht anderen zugänglich machen? Wer etwas sagen kann, soll sprechen; publizieren soll, wer schreiben kann. Gerz' Texte sind Skizzen, "die auf eine bestimmte Weise ambivalent"157 wirken, die sich zur Fotografie fremd verhalten:

"Der Bestandteil der Arbeit aus Text ist kein Hinzukömmling, der das be-reits bestehende Bildelement vehement verändert oder auf dessen eigenem Terrain beeinflußt, dekoriert oder interpretiert."158

Gerz gibt sich erst dann mit dem Text zufrieden, wenn für ihn die Assoziationen, die beim Lesen normalerweise in der Fantasie auftauchenden Bilder verschwunden sind:

"Wenn ich ihn als perfekt ansehe, heißt das, daß ich nichts mehr mit ihm anfangen kann. Wenn ich ihn in meinem Kopf nicht mehr abbilden kann, und das, obwohl ich ihn lese, ist er in Ordnung."159

Der Text sei, der Kürze wegen, Fragment, bleibe unbenutzbar. Die Originalität der Fotos, die teilweise nicht von ihm gemacht wor-den sind, streitet Gerz kategorisch ab; es seien "Allerweltsfotos", die Indifferenz beim Betrachter hervorriefen:

"Über die Fotos kann man sagen, daß nach meiner Erfahrung dank ihnen nichts Genaues entsteht. Es gibt keine Meinung, kein Gefälle oder Sockel, keine besondere Bewunderung."160

Jochen Gerz modifiziert den bekannten Rose-Satz Gertrude Steins, um seine Fotografien zu charakterisieren:

156 Ebd.; Zitat: S. 164.157 Ebd.158 Ebd.159 Ebd.160 Ebd.; Zitat: S. 165.

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"Sie haben, falls man etwas Besonderes darüber sagen will, einen hohen Grad von Verwechselbarkeit. Eine Fotografie ist eine Fotografie ist eine Foto-grafie."161

Natürlich hegt er, jedenfalls 1982, einen Wunsch, was die Reso-nanz betrifft, die die Bilder als Gebrauchsgegenstände beim Pu-blikum haben sollen:

"Daß sie sich im Gebrauch, beim Anblick, zu verbrauchen scheinen, habe ich gern."162

Doch er erkennt, daß "man () sich nicht kein Bild machen"163 kann. Deswegen versucht Gerz, wenigstens Kunst zu machen, die ihren (Ab)-Grund nicht in ihm allein hat:

"Man kann es auch so sehen: zurückgehen auf etwas Gemeinsames, Vorbildlich-es wie eine Matrize. Etwas, das ich nicht signieren kann. Etwas, für das ich der Grund, gleich ob als Künstler oder als Betrachter, allein nicht sein kann."164

Daß die Fotografie eine per se ästhetische Kunstform ist, die, im Gegensatz zur Malerei, rein dokumentarischen Charakter hat, un-glaubwürdig, im besten Sinne des Wortes, wirkt, wird von Gerz registriert:

"Wir haben Bilder von jedem nur möglichen Gott in Hülle und Fülle. Auch von dem, der sagt, du sollst dir kein Bild machen. Wir haben noch keine einzige Fotografie von einem Gott. Wenns nur die Fotografie als Mittel der Repro-duktion gäbe, keine Malerei, keine Schrift, hätten wir nichts von Gott."165

Die Schrift sei "ein Werkzeug, das zu allem dient," aber "kein Instru-ment"166. Wahrheit wird zur Frage der Erzählperspektive, dehnbar, zum Mittel der Kunst:

"Ich bin tot, kann ich schreiben, aber schreibend nicht sein."167

Gerz zieht für sich selbst einen Schlußstrich unter den fiktiven Charakater der Schrifterzeugnisse - und damit des Scheins in un-serer von Schrift jeglicher Art geprägten Gesellschaft. Sein Ziel ist es, "(d)ie Schrift von ihrer Freiheit (zu) befreien, sie wieder (zu)

tabuisieren"168, um das eigene Ich zu sichern:

"Da, wo ich anfange, hört die Fiktion auf. Fange ich überhaupt noch an oder ist alles Fiktion? Ich habe nichts gegen die Fiktion, ich habe nur etwas dagegen, wenn ich mir fehle."169

161 Ebd.162 Ebd.163 Ebd.164 Ebd.165 Ebd.; Zitat: S. 166.166 Ebd.167 Ebd.168 Ebd.169 Ebd.

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Trotzdem könne man die Schrift auch rein fiktiv gebrauchen, rein schöngeistig. Doch die Fiktion eines Romans erscheint Gerz ab-surd, wie das Produkt einer längst vergangenen Zeit:

"Ich kann mir auch nicht mehr vorstellen, daß ein zeitgenössischer Roman heute geschrieben würde. In ein paar Jahren wird man sagen: Lesen war grau-sam."170

Wie nicht anders zu erwarten, konzentriert sich das Interesse der teletrainierten Betrachter zunächst auf die großformatigen Fotos. Die Texte lenkten, so Gerz, direkt zu den Fotos hin, um erst wenig später selbst in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken:

"Das Vorhandensein der kleingedruckten Texte scheint die Fotos nur verfüh-rerischer zu machen. Erst ihre scheinbare Normalität, Verschwommenheit, Inhaltslosigkeit steuert den irritierten Betrachter zum Text, von dem er nun doppelt die erwartete Funktion der Legende, des Geländers, fordert."171

Gerz benutzt die eine Bedeutung des Wortes "Legende", das ich in der Einleitung für die Gesamtwirkung der Texte vorgeschlagen ha-be, selbst. Wie verhalten sich die Fotos zu dieser ihnen fremden Legende, fragt sich Gerz. "Anders", von weit her, lautet die Ant-wort:

"Sie kommen aus doppelter Ferne: der anekdotischen, die sie abbilden, und der auratischen, die sie erzeugen. Zudem macht sie die Wiederholung undoku-mentarisch, abstrakt. Jednfalls anders. Das Anderssein der Fotos gefällt mir."172

II. 2. Performance: Die Destruktion des Bildes und Das Überleben des Wortes.

Das Aus- und Betreten des Textes: Leben 1974Das sichtbare Schreiben bis zur Unsichtbarkeit:Das Autoportrait 1975

Bevor eine Analyse der beiden oben genannten Performances durch-geführt werden soll, mag eine knappe Erläuterung der Aktions-kunst und einiger ihrer Vorformen Einblick in diese Kunstgattung geben.

Die Kunst als Aktion fußt im Schauspiel. Die Commedia dell`arte kannte bereits den Publikumsbezug, Ironie und Improvisation. Und selbstverständlich finden sich die Wurzeln für Happening und Performance auch im Dadaismus und Surrealismus, also wesentlich-en Bestandteilen der klassischen Moderne, deren Formenkanon Jochen Gerz verpflichtet ist.

170 Ebd.; Zitat: S. 167.171 Ebd.172 Ebd.

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II. 1. Theoretische Texte

Erinnert sei an den Aktionskünst-ler Arthur Cravan, der 1916 in Madrid den Schwergewichtsmeister Jack Johnson herausforderte und sich in der ersten Runde k.o. schlagen ließ.173 Pirandello, Brecht und Artaud veränderten die Sehgewohnheiten der Theaterbesucher in den 20er Jahren so nach-haltig, daß das Publikum fortan dem Neuen gegenüber aufgeschlos-sener reagieren konnte. Antonin Artauds Das Theater und sein Double erschien 1958 erstmalig in englischer Sprache und hat di-rekt auf die amerikanische Happening-Szene Einfluß geübt. Schon 1952 hatte John Cage sein revolutionäres Konzept der indirekten Mitwirkung des Publikums durch unwillkürlich erzeugte Geräusche mit der an sich vollkommen stillen Komposition 4`33 entwickelt. Bald integrierte er als weitere Innovation zweckentfremdete In-strumente in seine Aufführungen, sowie szenische Elemente und neue Medien. Computer und Tonbänder kamen zum Einsatz. Daran orientierte sich Alan Kaprow 1959 in New York mit seinen 18 Happenings in 6 Parts. Anfang der 60er Jahre war das Happening dann weltweit erfolgreich. Die Aktionen wendeten sich gegen den Objektcharakter der Kunst, wollten unmittelbar wirken. Das Hap-pening negierte eine sukzessive, theatralische Aufführungsweise, protestierte "gegen die museale Vorstellung von der

Kunst zum Aus-druck"174, wendete sich gegen das Lob der Individualität. Dem Zu-fall wurde mehr Gewicht beigemessen als der Logik. In seinen ra-dikalsten Ausformungen riß das Happening der 60er Jahre die Mau-er zwischen Kunst und Leben ein. Zuschauer werden als Aktive mit ins Geschehen gezogen. Die Einmaligkeit des Happenings gehörte ebenso zum Programm wie die Unmöglichkeit, das Vorgefallene auf Dauer zu präsentieren oder zu dokumentieren.

Zehn Jahre später löste der Begriff ´Körperkunst` (´body-work`) die Bezeichnung ´Happening` ab. Der menschliche Körper verdräng-te als Thema alle anderen Themen, was wohl am radikalsten im Wiener Aktionismus zu konstatieren sein dürfte. Anfang der 70er Jahre verwandelte sich diese unmittelbare Auseinandersetzung mit dem Körper in eine analytischere. Der Begriff ´Performance`175 bürgerte sich auch wegen des differenzierteren Einsatzes von elektronischen Medien ein. Die Performance-Künstler strukturier-ten stärker, dachten an das Problem der Vermittlung ihrer Kunst. Es wurde ein besseres Verständnis für das Publikum erreicht. Die tendenzielle Unbegrenztheit wich einer zeitlich und räumlich 173 Vgl. zu den Vorläufern der Performance: Jürgen SCHILLING, Aktionskunst. Luzern Frankfurt/M 1978. S. 15-55. Und: Udo KULTERMANN, Leben und Kunst; a.a.O.; S. 33-76.174 Susan SONTAG, Kunst und Antikunst. München 1980; darin: Happenings: Die Kunst des radikalen Nebeneinanders. Zitat S. 262.175 Eine Definition dieses Begriffes bietet das von Manfred BRAUNECK und Gérard SCHNEILIN herausgegebene Theaterlexikon (Reinbek bei Hamburg 1992) auf den Seiten 734 und 735 an.

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II. 1. Theoretische Texte

fester definierten Gestaltung. Die Performance kehrte, zwangs-läufig, ins Museum zurück. Und der Künstler stellte seine Indi-vidualität vehementer in den Vordergrund176. Meist wird nun wie-der, wenn auch aus ganz anderen Gründen, auf die Einbeziehung des Publikums verzichtet. Die Inszenierungen können - dank tech-nischer Reproduktionsmöglichkeiten (Film, Foto, Tape) - kommer-ziell vermarktet werden. Von 1968 an führte Gerz Performances durch. Also zu einer Zeit, als das Happening starb, um als Performance wiedergeboren zu werden. Gerz, der 1968 in Paris wohnte, erlebte die revolutionä-ren Mai/Juni-Ereignisse dort selbst mit. Die französische Ge-sellschaft geriet in Bewegung. Kunst wurde Teil der politischen Straßenaktionen. Diese politische Dimension der Kunst bleibt zu-künftig, wenn auch teilweise stark abgeschwächt, neben der Ver-fremdung wesentlicher Bestandteil des Gerzschen Œuvres. Er stellt, wie viele Avantgardisten vor ihm, die Institution Kunst in Frage177, aber spielt perfekt auf der Klaviatur ihrer Mecha-nismen:

"Von der Kunst kannte ich von Anfang an irgendwie auch den -betrieb. Der ist wohl wie jeder Verkehr mit seinen Regeln und Rollen. Geld fließt in seinen Adern. Dank ihm ´verständigt` man sich eigentlich am besten."178

Wer Kritik üben will oder - weniger zielgerichtet - einfach etwas mit Kunst bewegen will, ist auf ein Publikum angewiesen, das Interesse zeigt, bereit ist, Zeit und Aufmerksamkeit zu in-vestieren. Warum läßt sich das Publikum auf ein oft aberwitzi-ges, schwer verständliches Spiel mit den Mitteln der modernen Kunst ein? Möglicherweise hat diese Attraktivität der Perfor-mance etwas mit ihrem religiösen Charakter zu tun - und wohl auch mit der Sensationslust unser voyeuristischen Gesellschaft. Viele Menschen sind bereit, die Routine des Alltags für außerge-wöhnliche, aber noch abzuschätzende Momente der Gefahr zu durch-brechen.179

176 Verwiesen sei hier auf Lili FISCHERs Küchenlatein, ein Performance-Drehbuch (Köln 1989), in dem die Künstlerin und ihr Sujet eine kaum trenn-bare Liaison eingehen.177 Den Terminus ´Institution Kunst` benutze ich im Sinne Peter Bürgers, der folgendermaßen definiert: "Mit den historischen Avantgardebewegungen tritt das gesellschaftliche Teilsystem Kunst in das Stadium der Selbst-kritik ein. (...) Mit dem Begriff Institution Kunst sollen hier sowohl der kunstproduzierende und -distribuierende Apparat als auch die zu einer gege-benen Epoche herrschenden Vorstellungen über Kunst bezeichnet werden, die die Rezeption von Werken wesentlich bestimmen." Zitat: Peter BÜRGER, Theo-rie der Avantgarde. Frankfurt/M 1974. S. 28-29.178 Jochen Gerz in: Amine HAASE, Gespräche mit Künstlern. Köln 1983. Zitat: S. 53.

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II. 1. Theoretische Texte

Daß die Performance als kultischer Akt interpretierbar ist, ist auch Jochen Gerz wohl bewußt gewesen. Allerdings besitzt sie nicht den gesamtgesellschaftlichen und allgemein akzeptierten Bezugsrahmen wie der kultische Akt bei indigenen Völkern. Herbert Molderings geht in seiner Analyse der Performances von Jochen Gerz soweit, von einer ´Asozialität` dieser Kunstform zu sprechen:

"(...) die Performance (ist) ganz und gar a-sozial, da in der heutigen Ge-sellschaft die Lebensbereiche des Jägers und des Schamanen, der Arbeiter-klasse und der künstlerischen Intelligenz voneinander getrennt sind."180

Menschen fühlen sich zum Rituellen hingezogen, und mit den Mit-teln der Performance läßt sich ein rituelles Band zwischen dem Kunstwerk und seinem Publikum knüpfen. Der ephemere Charakter der Performance bleibt, trotz medialer Aufzeichnung, erhalten und wirkt damit, obwohl es bei Gerz nicht die Freisprechung von einer (gesellschaftlichen) Schuld oder eine Anleitung zum Wie-Auch-Immmer-Sein gibt, als eine Form der Er-Lösung. Das unmit-telbar bevorstehende Ende des Kunstwerks hält die Konfusion der Kunstliebhaber in zeitlich engen Grenzen. Hier kann man sich dem Neuen, dem Chaotischen ohne große Gewissensbisse hingeben, da es als ephemer erkennbar ist. Erkenntnis ergibt sich wie nebenbei. Gewissermaßen kehrt das individuelle Bewußtsein erst nach der Performance zurück, wenn sich der rituelle Bann gelöst hat. Na-türlich ist das eine Art der Kunstvermittlung, wie sie auch im Theater oder im Kino anzutreffen ist. Selbst die Psychoanalyse bedient sich ähnlicher Methoden.

Herbert Molderings weist darauf hin, daß Happening und Aktions-kunst entstanden, als die Bilder in unseren Wohnzimmern das Flimmern lernten. Das Fernsehen habe zu einer "Banalisierung der Bilderwahrnehmung"181 geführt, den Bilderfetischismus der Kunst-historiker kollabieren lassen. Die Performance ist die vorerst letzte Leugnung des Bildes als Objekt und Material.Museumsbesucher flohen vor ihrem Alltag in eine fiktive Kunst-welt, die die bürgerliche Kunst bereitwillig zur Verfügung stellte, ja als eigene Legitimation stellen mußte. Der Bürger konnte sich in der bürgerlichen Kunst geborgen fühlen, er belog sich selbst. An diesem Punkt setzt die Kritik des Jochen Gerz an. Kunst hat für ihn nicht die Funktion, den Menschen ein bes-seres Leben vorzuspielen und damit die Wirklichkeit zu verdrän-gen, zu ersetzen. Die Performance ist per se eine antibürgerliche Kunstform.Beispiele dafür sind die beiden von mir ausgesuchten Performan-ces aus der Mitte der 70er Jahre. Der Umgang mit Text ist dabei besonders symptomatisch für diesen 180 Herbert MOLDERINGS, Das Leben ist keine Performance, Performance bei Jochen Gerz; in: Modernität und Tradition. München 1985. S. 197-209. Zitat: S. 202.181 Herbert MOLDERINGS, ebd.; Zitat: S. 205.

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II. 1. Theoretische Texte

Paradigmenwechsel. Das Bild hat - eigentlich - keine Chance, und das Wort überlebt als interpretationshungrige Hülse.

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II. 2. Performance

Das Aus- und Betreten des Textes: Leben 1974

"LEBENKunstmuseum Bochum, 1974J. G. bedeckt während 7 Stunden den Boden eines 9 x 17 m großen Raumes mit dem Wort leben, das er immer wieder mit weißer Kreide hinschreibt. Danach betreten die Besucher den Raum. Sie sehen in einer dem Eingang gegenüber-liegenden Nische zwei Schrifttafeln, die sie jedoch nur lesen können, wenn sie den Saal längst durchquert haben. Sie treten also auf die Schrift und verwischen sie damit.Der Text an der Wand: <An der Stelle überfiel sie die gleiche Ratlosigkeit noch einmal. Nichts tat sich. Man hätte sie durchaus für einen Zuschauer halten können, wäre da nicht etwas übrig geblieben wie ein inwendiges Zit-tern: das vorweggenommene Echo>."182

Jochen Gerz tritt bei der Performance Leben mit dem Publikum in Kontakt, wenn auch in absentia. Es handelt sich um eine Wechsel-beziehung ohne lauten, direkten Sprechvorgang. Erst nach der Performance werden die Zuschauer eingelassen, betreten den Raum, die Installation als erstes Ergebnis der Performance. Nun wer-den sie selbst aktiv, reagieren allerdings mit ihrem Handeln auf Gerzens Vorgabe. Die Performance wird erst zur Installation, und dann wird die Installation erneut zur Performance. Hier vertrete ich eine etwas andere Meinung als Erich Franz, der über diese Form der Performance in seinem Aufsatz "Mit/Ohne Publikum, zu den Performances von Jochen Gerz" folgendes schreibt:

"Das <Werk>, das es (= das Publikum) sah, wurde zum Indiz der Handlung, die dort stattgefunden hatte und die selbst unwiederbringlich vorbei war. Es erlebte den fixierten Zustand als Abwesenheit der Handlung."183

Der einmal von Gerz ins Rollen gebrachte (Handlungs-)Stein gibt seine ´kinetische` Energie ans Publikum weiter, stößt an, so-bald sich die träge (Menschen-)Masse in Bewegung setzt. Anders gesagt: Wenn die Menschen den Saal des Bochumer Kunstmuseums be-treten, gibt es keinen "fixierten Zustand" mehr noch die "Abwesenheit der Handlung". Einen Satz später deutet das auch Erich Franz an:

"In dem Stück <Leben> wurde die fixierte Schrift, das mit Kreide auf den Boden geschriebene Wort <leben>, zu einem ephemeren Zwischenstadium, das durch das Leben selbst wieder ausgelöscht wurde."184

Sieben Stunden dauert es, bis Gerz den Boden des Raumes mit dem Wort bedeckt hat, das der Performance auch den Titel gibt: le-ben. Ein Verb, das die Sache bezeichnet, die das Sein ausmacht. Ein Wort, das jeder kennt, das selbstverständlich gebraucht wird. Mit der Hand geschrieben ist es ein Symbol für das Dasein des Schreibers. Wer schreibt, lebt, ist ein

182 Zitiert nach: Jochen GERZ, Mit/Ohne Publikum; a.a.O.; Performance Nr. 24, ohne Seitenangaben. Die beigefügten Abbildungen Nr. 7, 8 und 9 sind Jochen GERZ` Eine Ausstellung (a.a.O.) entnommen; S. 28-31.183 Erich FRANZ, Mit/Ohne Publikum, Zu den Performances von Jochen Gerz; in: Jochen GERZ, Mit/Ohne Publikum; a.a.O.; Zitat: S. 12.184 Ebd.

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II. 2. Performance

Mensch. Von Joseph Beuys gibt es eine neun Jahre später entstandene Grafik, die eine ähnliche Wirkung bei mir hervorruft. Beuys hat auf dunklem Grund in seiner etwas krakeligen Schrift nur ein Wort notiert: Mensch.185 Gerz schreibt das Wort leben nicht einmal, sondern wohl tausendfach. Die immer gleiche Wiederholung verstärkt die Emphase, die Suggestion, die von der monotonen Litanei für den Schreiber und den - möglicherweise - sorgsamen Leser ausgeht. Die Repetition geht in Fleisch und Blut über, verdrängt alle an-deren Gedanken, evoziert ganz existenzielle Gedanken: "Noch bin ich - sind wir - da, wie Ihr sehen, lesen könnt!" Denn das Lesen wird bei dieser Form der Kommunikation im wahrsten Sinne des Wortes stillschweigend vorausgesetzt. So hätte zum Beispiel ein Tonband das Wort leben ebenso nachhaltig und für alle ver-ständlich wiederholen können. Aber dann wäre der Fußboden nicht zur Seite geworden, die man lesend begehen kann - nach einer gewissen Zeit der Überwindung. Die Museumsbesucher standen erstaunt vor dieser überdimensiona-len Buchseite. Sie zögerten den ersten Schritt aufs literarische Parkett hinaus. Wer die heiligen Hallen, denn dazu zählt das Museum als Kunsttempel im säkularisierten 20. Jahrhundert, be-tritt, kommt kaum, um den Museumsschatz zu zerstören. Allmählich wird die Scheu dann geschwunden sein, erfahrene Performancebe-sucher mögen bei der Vernissage den Anfang gewagt haben, und schon gingen alle über den Text. Sie betraten den Text, und et-liche mögen etwas betreten gemerkt haben, daß sie ihn austraten. Die Kreide blieb an den Schuhsohlen zurück, jeder nahm etwas vom Leben mit. Sicherlich wirkte außerdem das Geheimnis des in der Nische verborgenen Textes stimulierend. Der dort auf zwei Schrifttafeln verteilte, vom Eingang aus nicht zu entziffernde Text versprach Aufklärung. Dieser von Gerz listig inszenierte Effekt gewährte eine stete Veränderung des Bodentextes, bis zur vollständigen Unlesbarkeit. Der Text verwandelt sich zum monochromen Bild, ähnelt skriptualen Formen der visuellen Poesie.186 Unversehrt dagegen bleibt der Text der Wand-Legende erhalten.

185 Abbildung Nr. 10; Edition Staeck Nr. 15 069, Heidelberg.186 Als Beispiel sei Hansjörg MAYERs typoaktionen 2 angeführt, Abbildung Nr. 11; in: Jeremey ADLER / Ulrich ERNST, Text als Figur; a.a.O.; S. 286-287. Mayer schreibt zu seinen Gedichten: "in diesen typoaktionen sind die elemente aus dem alphabet von 1963 als basiselement so stark ver-kleinert gebraucht dass sie bereits als solches ihre erkennbarkeit verloren haben und zu schwarzen intensitäten reduziert sindhierdurch ist in diesen strukturen keine sichtbare beziehung mehr zwischen sprache und bild vorhandeneine typographische handlung hat direkt zu einem rein visuellen ergebnis geführt auch hier ist dieses ergebnis die folge eines konstruktionsprinzips in dem sowohl regel als auch zufall bestimmend sind"; Zitat: S. 287.

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II. 2. Performance

An der Stelle überfiel sie die gleiche Ratlosigkeit noch einmal. Nichts tat sich. Man hätte sie durchaus für einen Zuschauer hal-ten können, wäre da nicht etwas übrig geblieben wie ein inwendi-ges Zittern: das vorweggenommene Echo.

Beim ersten Durchlesen läßt sich die Aussage des kurzen Textes nicht präzise bestimmen. Jochen Gerz erreicht diese Unbestimmt-heit durch die Erzählperspektive.Er erzählt in drei Sätzen eine Geschichte, die sukzessive ab-rollt, verschiedene Perspektiven beinhaltet. Selbstverständlich sind die Übergänge des point of view fließend, gerade in Anbe-tracht der Länge des Textes. Dennoch lohnt es sich, die benutzte Erzähltechnik in Augenschein zu nehmen. Die Formulierungen sind wohl durchdacht.Von was für einer Person erzählt der Text, wer ist sie? Im ersten Moment fühlt sich der Leser als Teil einer Leserschaft angesprochen, denn er steht selbst (a)n der Stelle, wo man den Text zwar lesen, aber mit der gleiche(n) Ratlosigkeit auch über-lesen kann. Das noch einmal am Ende des ersten Satzes dürfte sich auf den Moment der Unsicherheit angesichts des Beginns der Performance beziehen lassen. Nach dem schnellen, neugierigen Studium und der daraus resultierenden Ratlosigkeit und möglichen Enttäuschung registriert der Leser, daß nicht er angesprochen wird, sondern eine - wohl - fiktive, kleingeschriebene sie als pars pro toto fungiert. Die Fernperspektive des unbeteiligten Beobachters im nachhinein ist nur im Einleitungssatz zu finden.187 Der mittlere Satz ist rein deskriptiv, während im letzten und längsten Satz eine auktoriale Perspektive das Verwirrspiel vervollständigt. Der allwissende, wenn auch unsichtbare Erzähler kommentiert im Kon-junktiv: Man hätte sie durchaus für einen Zuschauer halten kön-nen (...). Und er weiß genau um ihre Gefühle: wäre da nicht et-was übrig geblieben wie ein inwendiges Zittern (...). Wobei es nicht klar wird, ob Autor und Erzähler identisch sind. Gerz verdichtet den Stoff. Der Nischen-Text der Performance gibt den Lesern kein Vademecum an die Hand. Die Klarheit entfernt sich eher, das Echo bleibt aus. Die ungestellte Frage nach Sinn und Zweck ist zweck- und sinnlos. Der Text verweigert die Ant-wort. Nur das Kunstwerk Leben dient als Tertium comperationis zwischen dem Rezipienten und dem Künstler, der sich zwar nicht aus der Ver-Antwortung stiehlt, aber sich ihr auch nicht stellen mag. Die Kohärenz wirkt subtiler. Dem Ratsuchenden wird ein Spiegel vorgehalten, ein Zerrspiegel.

187 Die von mir verwendeten Kategorien der Erzählsituationen beziehen sich auf Franz K. STANZELs Typische Formen des Romans (Göttingen 1981).

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II. 2. Performance

Allein merkwürdig mutet schon die maskuline Endung des Wortes Zuschauer an, wo doch von einer Frau die Rede ist. Da Gerz sich auf das sie fixiert hat, wäre die ´Zuschauerin` konsequenter ge-wesen. Doch das verkehrte Sprachbild hat Methode. Daß Hände zit-tern oder daß wir bei Kälte wie Espenlaub zittern, ist als Sprachbild gängig. Aber was hat sich der Rezipient unter einem inwendige(n) Zittern vorzustellen? Gewiß, ein starkes, anschau-liches Bild, jedoch unlogisch. Da das Zittern inwendig, also mitnichten von außen sichtbar ist, kann es von man gar nicht sinnlich wahrgenommen werden - höchstens, bei einer Seelenver-wandtschaft, erahnt werden, aber davon spricht Gerz nicht. Die Illusion ist wichtigstes Prinzip.

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II. 2. Performance

Das sichtbare Schreiben bis zur Unsichtbarkeit:Das Autoportrait 1975

"DAS AUTOPORTRAITGalerie nächst St. Stephan, Wien 1975Dauer: 4 Stunden (Videoaufzeichnung)Eine Glasplatte, senkrecht auf ein Stehpult montiert, befindet sich zwischen Gerz und einer Video-Kamera, die auf ihn gerichtet ist. Gerz be-schreibt die Glasplatte von oben bis unten. Von der Kamera aus gesehen deckt ihn die Schrift nach und nach - spiegelbildlich - zu."188

Von Andy Warhol gibt es einen Acht-Stunden-Film, Empire (1964) betitelt, der aus einem Bild besteht: dem Blick auf das Empire State Building. Der Zuschauer sieht wie das natürliche Licht changiert, das elektrische an- und ausgeht, Vögel und Flugzeuge durchs Bild fliegen. Zufallskunst, "found art", nannte sich die-se Kunstrichtung, die vom Betrachter schöpferische Teilnahme verlangt.189 Was der Künstler auswählt, besitzt keinen besonderen Wert an sich, vielmehr spielt der Zufall entscheidend mit.

Die Videoaufzeichnung von Gerzens Performance Das Autoportrait ist halb so lang wie Warhols Empire-Studie, arbeitet aber eben-falls mit einer festen Kameraeinstellung. Aleatorische Momente finden sich bei Gerz dagegen nicht, da sich die Hand-Lung auf das zielgerichtete Schreiben beschränkt, unterbrochen von Augen-blicken des Nachdenkens. Die Schrift wird zum Schirm, zum Mittel der Vereinzelung. Das Selbstbildnis, wie sich ´Autoportrait` übersetzen läßt, setzt immer eine besondere Form der Selbstre-flexion voraus, eine Trennung von der Gesellschaft.

188 Jochen GERZ, Mit/Ohne Publikum; a.a.O. Performance Nr. 26. Die beige-fügte Abbildung 12 ist Jochen GERZ' Texte (Bielefeld 1985) entnommen; S. 199.189 Vgl. James MONACO, Film verstehen. Reinbek bei Hamburg 1980. Besonders S. 11-30. Monaco schreibt zur Teilnahme folgendes: "Die größte Herausforde-rung, mit der die Künste in ihrer siebentausendjährigen Geschichte kämpfen mußten, kam durch die Techniken der Massenproduktion auf sie zu, die im Zu-ge der industriellen Revolution entstanden. Während es der Vorteil der Mas-senproduktion ist, Kunst nicht länger einer Elite vorzubehalten, bedeutet dies andererseits, daß die Künstler ständig dafür kämpfen müssen, ihre Ar-beit nicht zu einer reinen Ware werden zu lassen. Nur die aktive Teilnahme des Betrachters am anderen Ende des Prozesses ist dagegen eine Garantie."; Zitat: S. 28-29.

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II. 2. Performance

"(...) letztlich bleibt jede einzelne Performance die Realisierung einer idealen Situation, ist also unausweichlich an die Idee gebunden, deren Merkmale eine mindestens ambivalente, wenn nicht gar antipodische Stellung zum Leben einnehmen. Insofern hat die Performance der 70er Jahre keines-wegs eine Reintegration der Kunst in die Gesellschaft vollzogen."190

Friedemann Malschs in einem Aufsatz zum Verhältnis von Perfor-mance und Videoinstallation geäußerte Vorstellung einer ´Ideali-sierung` der Situation ist für Das Autoportrait konstitutiv, je-denfalls was die äußere Form betrifft. Das einfache, auf das Nützliche ausgerichtete Arrangement besticht, leuchtet unmittel-bar ein. Was passieren wird, muß passieren. Das Ergebnis ist bei dieser Versuchsanordnung glasklar. Die Schriftzeichen schieben sich, auf die unsichtbare Wand geschrieben, zwischen Gerz und sein Publikum. Ein geistiger Prozeß wird geschickt materiali-siert. Auch diese Performance läßt sich der visuellen Poesie zu-ordnen. Daß dabei für die Zuschauer der Eindruck entsteht, sie sähen nicht das eigentliche Schrift-, sondern nur ein Spiegel-bild, ist verwirrend, aber nicht gänzlich ungewöhnlich. Linear ist die moderne, abstrakte Lyrik längst nicht mehr, und die Her-metik des Textes beruht auf einer langen Tradition innerhalb der Gattung.191

Jochen Gerz verändert auch für die Zuschauer die Sichtweise des eingesetzten Mediums. Wobei ich von einer nicht ganz zulässigen Gleichsetzung der Medien Fernsehen und Video ausgehe. Wenn wir normalerweise den Fernseher einschalten, befinden wir uns aller-meistens in der Position des, so möchte ich es nennen, ´guten Überblicks`. Was nicht bedeutet, daß alles, wie beim Panorama-blick, sichtbar sein muß. Aber das, was wir sehen, ist uns au-genblicklich zugänglich. Wenn zum Beispiel in einem Film auf ei-ne Tafel mit Kreide geschrieben wird, läßt uns der Regisseur dem Schreiber über die Schulter sehen, genauso ist es beim Briefe-schreiben. Die Schreiber schreiben für sich und für uns. Das Ge-schriebene darf und soll entziffert werden. Das Wort wird an uns, die Zuschauer, gerichtet. Gerz dagegen ist sein eigener Adressat. Er schreibt nicht primär für uns, unser Verständnis, sondern eigentlich für sich. Er behält den guten Überblick für sich, muß sich, da er Künstler ist, aber trotzdem mitteilen.

190 Friedemann MALSCH, Das Verschwinden des Künstlers? Überlegungen zum Verhältnis von Performance und Videoinstellation; in: Edith DECKER / Wulf HERZOGENRATH, Video-Skulptur, retrospektiv und aktuell 1963 - 1989. Köln 1989. S. 24-34. Zitat: S. 25.191 Vgl. zur Genese der visuellen Poesie Text als Figur von Jeremey ADLER / Ulrich ERNST; a.a.O.; Zitat S. 9: "Wo in der Moderne allenthalben eine ab-strakte Kunst vorherrscht, kann man von der visuellen Poesie nicht erwar-ten, daß sie sich an mimetischen Prinzipien orientiert und die traditionel-le Form des Figurengedichts bloß konserviert.".

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II. 2. Performance

So wird die Schrift zum Abstraktum, für wenige unter großen Mühen entzifferbar. Ob sich dieser für die Form festgestellte Grad der Abstraktion auch im Inhalt wiederfindet, wird zu unter-suchen sein.

Diese Art des Versteckspiels gibt es bei Andy Warhol nicht. Warhol teilt mit dem Zuschauer den guten Überblick auf die Skyline Manhattens; während Gerz, auf den ersten Blick, nur so tut, als gewähre er uns Einblick, während er in Wahrheit unsere Neugier auf das Selbstporträt eines uns fremden Menschen gar nicht befriedigen kann und will. Sein Selbst(schrift)bild ist ein öffentliches Geheimnis. Den Überblick in die eigene Psyche erkämpft sich Gerz vier Stunden lang. Vier lange Stunden, in denen der Text Das Autoportrait entsteht.

Einiges an Gerz' Text erinnernt an die Écriture automatique.Das nicht maßgeblich vom Bewußtsein zensierte automatische Schreiben der französischen Surrealisten verweigert sich dem ästhetischen Verlangen nach offensichtlicher Struktur, wirkt wie das Produkt eines psychologischen Experiments. Gerz umschifft diese Klippe, indem er seinen Text quasi editiert, ihm einen zusätzlichen bildnerischen Wert gibt, der über die Buchweisheit hinausgeht, ohne dabei implizit die avantgardistischen Traditio-nen der klassischen Moderne zu verleugnen. Dieser Tradition und der visuellen Komponente wegen lohnt es sich, den Text etwas näher anzusehen.

Die Diachronie seines Schreibens dürfte eine Antwort auf den zwar grammatisch nicht als Frage formulierten, aber doch fragen-den Schlußsatz sein:

"Während mir auch in Zukunft nichts, unsere, meine, eure Anteilnahme er-klären könnte."192

Von Interesse ist eben nicht, wie bei einem Selbstbildnis ganz plakativ zu erwarten wäre, das sich selbst charakterisierende Individuum, sondern die Art und Weise des Vorgehens, wie das Schreiben als bildnerisches Mittel instrumentalisiert wird. Es entsteht der Eindruck des Besonderen. Das bestätigt der Text nicht unbedingt; mithin wird ein Kontrapunkt zu der außerge-wöhnlichen Entstehungsweise gesetzt.

Der folgende Abschnitt nähert sich dem Zusammenhang zwischen Text und Bild.

In dem aus 37 Sätzen bestehenden Text wird 25 mal ich gesagt, 36 mal tauchen die Reflexiv-, Possessiv- und Personalpronomen mich, mir, meine/s/r/n/m auf. Ein Ich spricht von sich selbst:

192 Jochen GERZ, Das Autoportrait; in: Jochen GERZ, Texte; a.a.O.; S. 33-34. Zitat: S. 34.

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II. 2. Performance

"Je ungestümer ich mich ihnen zu erkennen gab, desto sicherer kann ich sein, sie von mir abzuhalten."193

Da das Schreiben mittels Videokamera dokumentiert, da die Per-formance sichtbar und ihre Unmittelbarkeit nur unmerklich abge-schwächt wird - denn schließlich fängt für die neuen Zuschauer das Video immer wieder bei Null an -, kann der Text nur als ein Stegreif-Produkt gelesen werden. Und sähe man nicht die Bilder, wüßte man nicht, daß es sich bei dem Ich um einen Mann handelt. Immerhin wäre es möglich, einen solchen Text unter einem Pseudo-nym zu veröffentlichen. Auch daß die Bausteine des Textes, die Sätze, nicht, wie zum Beispiel mit dem Computer oder in der Kladde, hin- und hergerückt weden konnten, da sie - einmal niedergeschrieben - ihren Platz auf der unsichtbaren Wand be-halten mußten, weiß nur der Zuschauer mit Sicherheit. Der Leser läßt sich, was die Entstehungszeit einzelner Passagen betrifft, leichtgläubiger in die Irre führen, kann die Genese eines Textes so gut wie nie nachvollziehen. Jochen Gerz baut auf diese Trans-parenz, die die Stärken und Schwächen des Textes erklärt. Das Autoportrait ist ein nicht geschliffener Diamant, eine erste und gleichzeitig endgültige Fassung.

Im ersten Satz gibt der Erzähler für Eingeweihte seine Identität preis: Das Ich ist zum Zeitpunkt der Niederschrift so alt wie der Autor Gerz (*1940):

"35 Jahre nach meiner Geburt bin ich da angekommen, wo ich angefangen habe."194

Es handelt sich um einen autobiografischen Text, in dem die dargestellte Wirklichkeit als gedankliche Reflexion existiert. Der Ich-Erzähler erinnert sich, analysiert Vergangenheit und Ge-genwart, spekuliert über das Künftige:

"Ich will nur sagen, daß ich nicht einsamer gewesen sein kann damals, als ich es heute bin. (...)Meine Bemühungen werden sichtbar werden dank meiner Abwesenheit."195

Franz K. Stanzel analysiert den Anspruch der konventionellen Ich-Erzählung, einen wahren Background zu besitzen, und kommt für moderne, avantgardistische Ich-Romane zu folgender Erkennt-nis:

"Die Ich-Erzählsituation verifiziert hier also nicht die Objekt-Existenz der Welt, von welcher der Ich-Erzähler berichtet, sondern ihre Subjektivi-tät, ihre Realität als Bewußtseinsinhalt der Ich-Gestalt, oder vielmehr als eine letztlich unauflösliche Vermengung von objektiver, dinglicher Außen- und subjektiver, ideeller Innenwelt."196

193 Ebd.; S. 33.194 Ebd.; S. 33.195 Ebd.; S. 33 und S. 34.196 Franz K. STANZEL, Typische Formen des Romans; a.a.O.; Zitat: S. 30.

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II. 2. Performance

Das trifft für Das Autoportrait, trotz der Kürze des Textes, ebenso zu. Goethes bezeichnender Titel Aus meinem Leben. Dich-tung und Wahrheit sagt viel über das Wesen autobiografischer Texte aus. Daß der Verzicht auf die Allwissenheit zugunsten der perönlich gefärbten Perspektive Gerzens Text adäquat ist, hängt mit der schon angesprochenen Medialisierung des Schreibens zu-sammen. Der Schreiber benutzt in diesem Falle kein Archiv, muß nichts recherchieren, ist bis zum Ende der Performance an seinen Platz gefesselt. Und wenn die Performance ein - symbolisches - Ende findet, die Person, beziehungsweise ihr Bild, hinter der Schrift verschwunden ist, hat der Text fertig zu sein, ohne einen Abschluß. Der Text ordnet sich einer bildnerischen Funk-tion unter, assistiert dem Gesamt-Bild. Dabei ist es auffällig, daß nicht das mimetische Figurengedicht, "das in literarhistorischer Kontinuität bis zu G.

Apollinaire dominiert", oder der "weitgehend sprachautonome() ´Sehtext` ohne direkte Objektreferenz"197 Pate standen, sondern eine Spielart der visuellen Dichtung neu geschaffen wird, die zwar eine eigene Bild-Text-Beziehung ermöglicht, aber auch von den beiden genannten Formen profitiert. Das Autopor-trait ist auf einer abstrakten Ebene Figur, da es sich vor einen realistischen Gegenstand schiebt, seinen Platz einnimmt; und es ist im Rahmen der Performance ein weitgehend sprachautonomer Sehtext, der nicht augenblicklich zu entziffern, aber als Schrift-Bild zugänglich sein dürfte. Gerz verzichtet darauf, die Zeilen zur Konstruktion (s)einer Figur zu nutzen, denn er geht von der Figur aus, dem Bild, das man sich von der menschlichen Natur macht:

"Denn Natur gibt es nur in der Künstlichkeit. Daher kommt es vielleicht, daß wir vor der Bildlichkeit manchmal zurückschrecken wie auch vor anderen Mitteln der Illusion."198

Die der Schrift, den Buchstaben per se innewohnende Abstraktion unterstützt die Wirkung des visuellen Textes, mindert die Angst vor den Bildern, ohne sie ganz nehmen zu können.

Wie erklärt sich aber die inhaltliche Unbestimmtheit des Textes, dessen Duktus essayistische Züge trägt? Es mag mit dem Wesen der Autobiografie zusammenhängen. Wer seine vollständige Autobio-grafie schreiben, ein endgültiges Bild von sich geben wollte, müßte nach Beendigung des Manuskriptes den letzten Schritt wagen - und den Abschiedsbrief samt Todesanzeige dem Text beilegen.

197 Ulrich ERNST, Carmen figuratum, Geschichte des Figurengedichts von den antiken Ursprüngen bis zum Ausgang des Mittelalters; a.a.O.; Zitat: S. 5.198 Jochen GERZ, Das Autoportrait; in: Jochen GERZ, Texte; a.a.O.; Zitat: S. 34.

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II. 2. Performance

Das beabsichtigt Gerz selbstverständlich nicht, und so kann sein Text auf Schlüssigkeit verzichten. Ein Geistesblitz, dem kein Donnern folgt. Das Autoportrait hat Fragment zu bleiben. Der Mensch wird hinter dem Text nicht wirklich sichtbar. Und die Unsichtbarkeit des Künstlers verschwindet wieder, wenn er den Hag der Kunst verläßt. Die von Gerz im Text erwähnte Mitteilung, "die sich zwischen uns installiert wie ein Despot"199, gleicht einer Schimäre. So verhält es sich auch mit den Mitteilungen, die zwar real, aber nicht reell sind. Wer sich mitteilt, wartet auf Resonanz. Das Ich in Gerzens Text erfährt allerdings nur das Scheitern der Kommunikation. Die Menschen, die es erreichen will, lassen sich nicht mit Wörtern auf Dauer binden:

"Gerade die Mitteilung trennte uns in dem Maße, als sie zustande kam."200

199 Ebd.200 Ebd.

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II. 3. Foto/Text

II. 3. Foto/Text: Autonome Ge-Schichten einer Abhängigkeit.

Texte von den Fotografien getrennt: Le Grand Amour 1982Texte neben den Fotografien: Die "heiligen Wörter" 1984Texte als Fotografie: Free # 1-6 1990Texte in den Fotografien: WOLLT IHR 1990

Susan Sontag schließt ihren Essay In Platos Höhle mit einer be-merkenswerten Feststellung:

"Der konsequenteste Ästhet des neunzehnten Jahrhunderts, Mallarmé, sagte, alles in der Welt sei dazu da, in einem Buch zu landen. Heute ist alles da-zu da, auf einem Foto zu landen."201

Die Fotografie ist allgegenwärtig - wie die Schrift, und die Er-findung des digitalen Buchdrucks läßt sich durchaus mit der der Fotografie vergleichen. Durch die Verbreitung der computerge-stützten Publikationsmöglichkeiten (DTP) in den letzten 10 Jah-ren kommen immer mehr Druckerzeugnisse in Umlauf, die weder aus einem Verlag noch einer Druckerei stammen. Das private Fotola-bor, der Scanner und der Computer machen den kommunikationswil-ligen Laien zum - vermeintlichen - Medienprofi. My word is my castle könnte das Motto all der Hochzeitszeitun-gen, Club-Postillen oder simplen Einladungskarten heißen. Selbst in diesen Druckerzeugnissen tauchen gescannte, mehr oder minder gut plazierte Bilder auf. Private Lyrik-Sammlungen werden eben-so illustriert wie Jubiläumskarten, wo auf dem gedruckten Foto des Chefs alle Angestellten handschriftlich signieren. Ein Vi-deofilm ist vergänglicher als ein Foto, das "nur einen

säuberlichen Abschnitt und nicht das Dahinfließen der Zeit"202 zeigt. Das Foto ist mithin repräsentativer als sein neuerer Konkurrent, leichter zu-gänglich und mit einem nur ihm eigenen Informationswert ausge-stattet. Die Information, die uns ein Foto vermittelt, ist nur scheinbar realistisch, auch wenn der Fotograf durch das ´Objek-tiv` die Welt einfängt. Was beim Gemälde sofort einleuchtet, nämlich seine Künstlichkeit, muß beim Foto erst reflektiert und verstanden werden. Den Fotos beigefügte oder integrierte, colla-gierte Texte können diese Infragestellung von Wirklichkeit for-cieren. Deswegen ist die visuelle Poesie der Foto/Texte ihrem Charakter nach nicht realistisch, ohne ganz surrealistisch zu werden. Das Foto scheint selbst für den an Fotomontagen gewöhn-ten Betrachter ehrlicher, weniger poetisch als der

201 Susan SONTAG, In Platos Höhle; in: dies., Über Fotografie; a.a.O.; S. 9-30. Zitat: S. 30.202 Ebd.; Zitat: S. 23.

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II. 3. Foto/Text

Text zu sein, bleibt womöglich immer an den eigenen Referenten gebunden, wie Roland Barthes meint:

"Ihrer Natur entsprechend hat die PHOTOGRAPHIE (der Einfachheit halber müs-sen wir uns mit diesem Universalbegriff begnügen, der vorläufig freilich nur wieder auf die unermüdliche Wiederholung der Kontingenz hinausläuft) etwas Tautologisches: eine Pfeife ist hier eine Pfeife unabdingbar. Man könnte meinen, die PHOTOGRAPHIE habe ihren Referenten immer im Gefolge..."203

Auch die Bildlichkeit poetischer Texte, auf den altbewährten Einsatz von Metaphern gestützt, hat sich durch die neue Bilder-sprache stark verändert. Griff der Literat, simpel gesagt, frü-her auf ein Reservoir aus den Bereichen Sprichwort, Volkslied oder Bibel zurück, bedient er sich heute bei der "atavistischen Sprache der Massenmedien", die einer katachrestischen "Primitivbild-

lichkeit"204 huldigen. Der Bilder-Pool hat sich modifiziert und vergrößert. Der unbegründeten Angst vor dem Kulturverfall kann nur entgegengehalten werden, daß das Neue nicht per se das Schlechte sein muß, nur weil es anders als die alte Sprache klingt. Bertrand Russel schrieb 1951: "Fürchte Dich nicht davor, exzentrische Meinungen zu vertreten; jede heute gängige Meinung

war einmal exzentrisch."

Die visuelle Poesie des 20. Jahrhunderts geht weit über das barocke Emblem hinaus. Die Allegorie, welche, laut Goethe, zum Allgemeinen das Besondere sucht, wird allmählich rehabilitiert, auch wenn "die Genese der Moderne () unter antiallegorischen Vorzei-chen"205 steht.

203 Roland BARTHES, Die helle Kammer, Bemerkungen zur Photographie. Frank-furt/M 1985. Zitat: S. 13.204 Jürgen C. THÖMING, Bildlichkeit; in: Heinz Ludwig ARNOLD / Volker SINEMUS (Hrsg.), Literaturwissenschaft. München 1973. S. 187-199. Zitate: S. 190.205 Heinz SCHÜTZ, Das Theater der Embleme; in: Kunstforum, Bd. 102 Juli/August 1989, S. 74-79. Zitat: S. 48. Schütz erklärt das Zusammenspiel von Text und Bild in der Kunst etwas einäugig mit der Renaissance der Allego-rie: "Das Aufscheinen von Worten in der bildenden Kunst hängt eng mit dem allegorisierenden Verfahren zusammen, tendiert der Allegoriker doch dazu, das Wißbare mit dem Sichtbaren zu vereinen." (ebd.). Doch er erkennt dafür sehr richtig, daß es keinen Physiologus mehr gibt, daß die "neuzeitliche Wissenschaft () anstelle des Buchstabierens das Berechnen gesetzt" (S. 49) hat. Mit diesem Modell läßt sich allerdings kaum den auch kunstwissen-schaftlich ambitionierten visuellen Poeten gerecht werden, die teilweise das Un-Wißbare visualisieren.

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II. 3. Foto/Text

Gerade Jochen Gerz schreibt und fotografiert bildreich, begreift seine Zeichensysteme als moderne Sprache, die dem allgemeinen Gesetz der menschlichen Kommunikation unterworfen sind. Zu die-sem nach Art der Sprache strukturierten Signifikantensystem ge-hören auch die vielfältigen Medienerzeugnisse, seien es Töne, Bilder oder Texte. Ästhetische Werturteile treffen hierbei nicht den Kern der Sache, sind aber legitim. Allerdings: Was einem nicht gefällt, muß man nicht rezipieren. Der Kunstkonsument, den es in dieser Verallgemeinerung natürlich nur idealtypisch gibt, zappt, ohne viel auf Ästhetik oder Programm zu geben. Frappiert ist er nur, wenn sich seine Erwartungen nicht erfüllen, er mit dem, was ihn normalerweise täuscht, enttäuscht wird. Die Konsu-menten haben den Schein, die Irrealität der Bilder und Texte längst intuitiv akzeptiert und fühlen sich eher unangenehm berührt und verunsichert, sobald das Mäntelchen der Fiktion vom Werk gezogen wird. Dieser Verunsicherungsstrategie bedient sich Jochen Gerz, der gerade die Authentizität der Fotos hinter-fragt206. Im Rahmen der Performance Der Baum, die Wiedergabe 207 hängt Jochen Gerz 1971 in Paris die Polaroid-Aufnahme eines blattlosen Baumes in eben diesen Baum. Auf einer zweiten Aufnahme nimmt er den nun einblättrigen Baum auf; auch diese Aufnahme hängt der Künstler in den Baum. Das wiederholt er noch dreimal. Die letzte Aufnahme zeigt den Baum mit fünf Fotos, ihn selbst darstellend. Das Foto wird zum Blatt und ist Teil einer Narrationskette, ein Baum-Stabe.

Autonome Ge-Schichten einer Abhängigkeit ist der Abschnitt über die Foto/Texte betitelt, da Fotografien und Texte einerseits als eigenständige Teile der Arbeiten differenziert werden können, und andererseits im Werkkontext der Symbiose verpflichtet sind.

206 Zum Problemkomplex ´Abbild und Wirklichkeit` schreibt Christina Weiss über Jochen Gerz' Foto/Texte: "Besonders die Text-Foto-Serien von Gerz kon-zentrieren sich auf das Problem der Spannung zwischen dem Objekt als Teil der faktischen Wirklichkeit und seiner Abbildbarkeit beziehungsweise seiner Mittelbarkeit durch ein Zeichen. Es ist die Spannung zwischen dem Vor-Bild und dem Bild, zwischen Unsichtbarem und Sichtbarem, zwischen Vor-Text und Text. Gerz trifft das Dilemma der Vermittlung von erlebter “Welt“ durch uns zur Verfügung stehende Zeichen, der Abbildbarkeit von Realität, im Kern. Die Bilder sind nichts “als die Schatten von anderen, abgedeckten“ {Jochen Gerz, Das zweite Buch}, die Fotografie wird mit ihrem Anspruch auf Authentizität in Frage gestellt ..."; in: dies., Seh-Texte; a.a.O.; Zitat: S. 159.207 Vgl.: Jochen GERZ, Mit/Ohne Publikum; a.a.O.; Nr. 9, unpaginiert.

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II. 3. Foto/Text

Die visuelle Poesie des Jochen Gerz steht in einer mit William Henry Talbots The Pencil of Nature (1844) beginnenden Tradi-tionsreihe von Literatur, die sich auf Fotografien ein- und verläßt, mit ihnen arbeitet.

Die wissenschaftliche Forschungsliteratur zu diesem Thema, das den "Comparative Arts" zuzurechnen ist, ist immer noch dünn gesät - verglichen mit anderen literaturwissenschaftlichen For-schungsbereichen.

Die Fotografie ist fast 50 Jahre älter als der Film. Der Film konnte sich aber viel schneller im Konzert der Künste behaupten, da die Literaturverfilmung Geistesverwandtschaft zum Roman be-wies. Die Fotografie dagegen wurde sehr spät als Kunst akzep-tiert. Die etablierten Künsten sahen in der Fotografie primär den technischen Aspekt dominieren:

"Kunst war sie erst in zweiter Linie, in erster Linie aber war sie eine der großen, ja sekulären Erfindungen des industriellen Zeitalters, die auf einer Kombination von Errungenschaften der Chemie, Optik und Mechanik be-ruhte."208

Im 19. Jahrhundert, so schreibt Erwin Koppen in seinem Beitrag Über einige Beziehungen zwischen Photographie und Literatur für Ulrich WEISSTEINs komparatives Handbuch Literatur und bildende Kunst, habe die Literatur eher bei der Debatte über den Kunst-charakter der Fotografie eine anzweifelnde Position eingenommen:

"Es gibt eine ganze Reihe von Autoren, die der neuen Erfindung skeptisch gegenüberstanden und in ihr entweder magisches Teufelswerk oder (wie Balzac) eine direkte Bedrohung der Kunst sahen."209

Erst George Bernard Shaw vertrat um die Jahrhundertwende die An-sicht, daß Fotografie Kunst und die Malerei eine überholte Ange-legenheit sei. Koppen erklärt die Attraktivität der Fotografie für die literarische Avantgarde der Jahre 1910-1930 mit der Mo-dernität des Mediums, einer Modernität, die - einst suspekt - nun als Legitimation für Futur-, Dada- und

Surrealisten diente210. Dieser Nimbus haftet ihr rudimentär noch immer an. Mit der klas-

208 Erwin KOPPEN, Über einige Beziehungen zwischen Photographie und Litera-tur; in: Ulrich WEISSTEIN (Hrsg.), Literatur und bildende Kunst. Berlin 1992. S. 231-245. Zitat: S. 231-232.209 Ebd.; Zitat: S. 233.210 Ebd.: "Die Traditionsferne der Photographie und das Mißtrauen der tradi-tionellen Ästhetik und Kunstkritik ihr gegenüber wurden nun zur eigent-lichen Ursache dafür, daß in diesen Bewegungen die Photographie - und teil-weise auch schon der Film - als gleichberechtigte Kunst neben die Malerei, die Plastik und die Literatur trat, womit der Durchbruch endgültig erfolgt war."; Zitat: S. 234.

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II. 3. Foto/Text

sischen Avantgarde beginnt der Zusammenklang von Text und foto-grafischen Bildern selbstverständlicher zu werden.

Stoff- und motivgeschichtlich ist die Fotografie früh von der Literatur entdeckt worden und wird, besonders im 20. Jahrhun-dert, als Träger von Magie, Erotik, Ironie und Erhabenheit in die Handlung integriert211.

Selten finden sich Schriftsteller, die ´gut` fotografieren, oder Fotografen, die ´gut` schreiben, wobei Doppelbegabung und bloße Doppelbetätigung nahe beieinanderliegen können212. Neben Lewis Caroll und Emile Zola im 19. Jahrhundert seien im 20. Jahrhun-dert die fotografierenden Autoren Breton (Nadja 1928) und Rolf Dieter Brinkmann (Rom, Blicke 1975, posthum) genannt, auf die Koppen näher eingeht. Ich möchte auf zwei Schriftsteller der deutschen Nachkriegs-literatur verweisen, die mit Fotografie gearbeitet haben.

Peter Handke hat seiner Chronik der laufenden Ereignisse, dem Nicht-Drehbuch213 zu seinem gleichnamigen Fernsehfilm, der im Ok-tober/November 1970 unter Handkes Regie gedreht wurde, einzelne Filmbilder beigefügt214, um, wie er im Nachwort schreibt, die "viel zu viele(n)

Bilder und Bilderfolgen", die ihn "ängstigten und er-schreckten", zu isolieren und sie sich schreibend "gegenläufig"215 zu machen. Daß dabei die Kamera-Bilder von Bernd Fiedler stam-men, ist für Handkes eigentliche Urheberschaft nicht so wichtig, denn erdacht und für sein Buch ausgewählt hat Handke die starren Filmfotos selbst.

211 Vgl.: Erwin KOPPEN, Literatur und Photographie, Über Geschichte und Thematik einer Medienentdeckung. Stuttgart 1987; speziell: S. 127-195. Und Wolfgang KEMP, Bilder des Verfalls. Die Fotografie in der Tradition des Pittoresken; in: ders., Foto-Essays; a.a.O.; S. 102-143.212 Weiteres zum Thema der Doppelbegabung findet sich in Henry I. SCHVEYs Aufsatz Doppelbegabte Künstler als Seher: Oskar Kokoschka, D.H. Lawrence und William Blake (in: Ulrich WEISSTEIN {Hrsg.}, Literatur und bildende Kunst; a.a.O.; S. 73-85).213 Peter HANDKE, Chronik der laufenden Ereignisse. Frankfurt/M 1971. "() es ist auch nicht als Drehbuch geschrieben, sondern als Erzählung von einem schon vorhandenen Film."; Zitat: S. 6.214 Abbildung Nr. 13; in: ebd.; Bild: S. 11.215 Ebd.; Zitate: S. 128.

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II. 3. Foto/Text

In Herbert Achternbuschs Filmbuch Servus Bayern kann der Autor nicht selbst hinter der Kamera stehen, da er als Schauspieler in seinem eigenen Film mitwirkt216. Die abgedruckten Filmbilder sind von zwei Kameramännern aufgenommen worden, und die Bilder vom Drehort hat ein zusätzlicher Fotograf gemacht217.Doch Achternbusch setzt auch eigene Fotografien ein. In seinem Buch Das Haus am Nil veröffentlicht er private Fotos218 und schreibt über sie. Eine besondere Komponente enthalten die im letzten Abschnitt des Buches, Windstille, abgedruckten Foto-grafien aus Achternbuschs Kindheit, die rein biografischen Charakter haben, deren Auswahl dem Autor viel bedeutet haben muß. Er schreibt mit Herzensblut über die Vergangenheit:

"Das ist das Foto, daß ich immer meine, wenn ich weine, wenn meiner Mutter Schmerzen in mir widerkrachen. Das ist zum Lachen wie ich ihr gleiche! Und immer hintenrumschleiche und ausweiche, weil ich ihr so gleiche. Daß, wer sie noch gekannt, mich fast entmannt. Annamirl, aber indem ich es sage, ist es vorbei."219

Wer seine private Fotosammlung literarisch ausbeutet, wird zum Voyeur der eigenen, sich selbst zurechtgebogenen Erinnerung. Achternbusch gibt jeden Abstand den Fotografien gegenüber auf, will ihnen, ganz im Gegensatz zu Gerz, ihre Geheimnisse voll-ständig entreißen.

Es gibt ihn also durchaus, den Einsatz von Fotografien in der Gegenwartsliteratur, auch wenn er die Ausnahme bleibt. Selbst wenn es um die reine Illustration geht, verschmähen Verlage und Autoren Fotografien - es sei denn, der Roman wurde jüngst ver-filmt. Erst dann prangt auf dem Titel das Filmplakat, was, wenn es sich nicht eh um ein Buch zum Film handelt, den Umsatz stei-gern kann. Bilder verführen, bleiben in der Erinnerung, können wohl auch stärker als Worte sein. So erkläre ich mir die Angst, einen Roman nicht mit Stichen sondern mit Fotografien auszustat-ten:

216 Herbert ACHTERNBUSCH, Servus Bayern. Frankfurt/M 1983. Die Abbildung Nr. 14 zeigt Achternbusch in einer Filmsequenz (untertitelt: "Vor Herbert blutbe-flechteter Stein"); unpaginiert.217 Ebd.; Abbildung Nr. 15 (untertitelt: "BARBARA Jetzt läßt du dir schon wieder einen Knopf abreißen, den Kopf würde ich dir viel lieber annähen!"); unpaginiert. Fotograf: Gunter Freyse.218 Herbert ACHTERNBUSCH, Das Haus am Nil. Frankfurt/M 1987. Abbildung Nr. 16. Unter dem unscharfen ´Amateur`-Foto stehen folgende Sätze: "Und dieses Foto im Regen. Und dieser Regen auf diesem Foto. Kein rotes Haar. Aber noch steht sie da. Und ich sehe sie wie ein Tier, ein Ichtier, ohne Verstand empfinde ich den Abschied für immer. Die Sätze entgleiten mir, die mich trugen wie das Wasser den Frosch."; Bild und Zitat: S. 162.219 Ebd.; Zitat und Abbildung Nr. 17 : S. 457.

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II. 3. Foto/Text

"Auch das 20. Jahrhundert, illustrierter ernsthafter Literatur ohnehin ab-geneigter als das 19., kann sich eigentlich nur eine gezeichnete, geschnit-tene oder gestochene Bebilderung von Literatur vorstellen, verschmäht je-doch weitgehend die Photographie. Der Grund hierfür dürfte in der Tatsache liegen, daß letztere ihrem Wesen nach nicht fiktional ist."220

Wiederum ein Zitat von Erwin Koppen, dessen schon erwähnter Auf-satz in Ulrich Weissteins Handbuch Literatur und Bildende Kunst übrigens auch ohne Fotografien auskommen muß, obwohl es sich bei diesem komparatistischen Thema geradezu angeboten hätte, foto-grafische Beispiele in den Text zu integrieren. Allerdings trifft es nicht nur Koppens Fotografie/Literatur-Aufsatz: Das ganze Buch kommt auf 319 reinen Textseiten mit 16 Schwarzweiß-Tafeln aus, die allesamt Ölgemälde, Lithografien, Radierungen oder bestenfalls Skulpturen zeigen. Daß Wissenschaftlichkeit auch mit Fotografien zu erreichen ist, zeigt Koppen selbst in seinem fünf Jahre alten Buch Literatur und Photographie.

Viele Schriftsteller tun sich mit der großen Form, dem Foto-Text-Roman, eher schwer, währenddessen die kleine, avantgardis-tische Form der Foto-Text-Geschichten, zum Beispiel in der Story-Art221, auf die Traditionen der dadaistischen Textcollagen zurückgreifen kann.

Überaus interessant kann die Analyse von Foto-Text-Geschichten werden, wenn ihnen ein theoretisches Programm zugrunde liegt, ein Programm, das die Zusammenhänge von Bild- und Schriftelemen-ten samt deren Funktionen erhellt. Gerade der ikonologische Aspekt ermöglicht einen anderen Einblick als die rein deskripti-ve Erfassung und Klassifikation benutzter Motive und Themen, die natürlich zwangsläufig in die Analyse visueller Poesie mit ein-fließen müssen. Daß sich der Stellenwert visueller Poesie deut-lich verändern wird, hängt mit der allgemeinen Medialisierung zusammen, die den Zusammenklang von Bild und Text zur Selbstver-ständlichkeit werden läßt. Vielleicht könnte die visuelle Poesie der Literatur Popularität im Zeitalter der bewegten Bilder sichern und Leser zurückgewinnen helfen. Daß auch Comics einen literarischen Anspruch erheben dürfen, hat 1989 Art Spiegelman mit seinen Holocaust-Bildergeschichten Maus I & II bewiesen.Im Kinderbuch zählen von jeher Illustrationen oder Fotos mindes-tens soviel wie der Text. Die Heranwachsenden aber wurden zur Abstraktion angehalten und vergaßen die Bilder, verinnerlichten das Primat der Schriftsprache als Kennzeichen höherer ´Bildung` (sic!). Doch dieses Ideal greift nicht mehr, und die neue Gene-ration von Lesern favorisiert

220 Erwin KOPPEN, Über einige Beziehungen zwischen Photographie und Litera-tur; a.a.O.; Zitat: S. 240.221 Vgl.: Kunstforum international, Text-Foto-Geschichten. Story Art/ Narrative Art; Band 33. Mainz 1979.

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II. 3. Foto/Text

Reisebildbände und Kochbücher, kraß gesagt. Günter Kunert spricht in einem Aufsatz in der Zeit von der "Abschaffung der Kultur durch die Zivilisation":

"(Das Fernsehen) liefert dem Zuschauer, in einer unglaublichen Überein-stimmung mit ihm, das, was er bedarf, wozu er abgerichtet und dressiert worden ist: Geschwindigkeit, Ablenkung, totale Adaption des Gesichts- und Hörsinns, und das mit einem der Literatur entwendeten Mittel: dem Erzäh-len."222

Das ist natürlich nur die halbe Wahrheit, wie Walter Kempowskis Verkaufserfolg Echolot 223

beweist. Kempowski montiert Briefe und Fotografien aus dem Januar und Februar 1943 zu einem kollekti-ven Tagebuch, und gerade diese Aufeinanderfolge von Bildern und Texten erklärt teilweise die Resonanz der Sammlung im Deutsch-land der 90er Jahre. Sich ein Bild machen zu können, ist zu einem Muß für den gut informierten Bildungsbürger geworden.

Daß im Vergleich mit solch populären Werken Gerzens Foto/Texte noch rätselhafter wirken, nimmt nicht wunder und unterstreicht nur, daß der Künstler, wie sich in den theoretischen Texten herauskristallisiert hat, sein Programm konsequent umsetzt. Doch auch das Außerordentliche seiner Arbeiten wird in Zukunft viel-leicht Teil einer vielschichtigeren Ordnung, in der es keine Re-gelverstöße im herkömmlichen Sinn mehr gibt, noch mehr Trends als bisher gleichwertig nebeneinander existieren.

222 Günter KUNERT, Die Abschaffung der Kultur durch die Zivilisation. Über den Bedeutngsverlust des Lesens und Schreibens: Die Literatur hat ausge-spielt, der leidenschaftliche Leser ist ausgestorben; in: Die Zeit, Nr. 6, 4.2.1994, S. 53-54. Zitat: S. 53.223 Walter KEMPOWSKI, Echolot, Ein kollektives Tagebuch Januar und Februar 1943. München 1993.

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II. 3. Foto/Text

Texte von den Fotografien getrennt: Le Grand Amour 1982

Teil 1

"Wie auf Fotografien" heißt es in der deutschen Übersetzung des englischen Textes, der im ersten Teil, Le Grand Amour/1, des et-wa 50 Seiten starken Buches von Jochen Gerz eine zentrale Rolle spielt. Der Text ist im Interviewteil dieser Arbeit abgedruckt (S. 114), da ich mich über Le Grand Amour mit Jochen Gerz unter-halten habe; was auch für andere der noch vorzustellenden Foto/Texte zutrifft, weswegen ich, wie bereits in der Einleitung an-gedeutet, empfehlen möchte, das Interview zuerst zu lesen.

Das englische Original ist offensichtlich Teil der Fotografie224 - und auch wiederum nicht. Denn der Text verletzt die Integrität der Fotos nicht, eckt nicht an, überdeckt nichts, bleibt, was das Layout betrifft, notwendiger Fremdkörper. Der Text ist also von den Fotografien getrennt. Gerz plaziert die 17 Sätze im ´leeren` Fotoraum, im unscharfen Bereich, so daß das Foto als Abbildungsträger nicht zum Schreib-Blatt wird, sondern autonom zu bleiben scheint. Die Fotografien erdulden den Text, halten ihn formal und inhaltlich auf Distanz. Und so bleibt es jedes Mal eine Überraschung, daß derselbe Text in allen 12 Fotogra-fien des ersten Teiles auftaucht, ohne einen wirklichen Bezug zu den Fotos der abgebildeten Frauen zu haben.

Auf einem der Fotos steht eine Frau mit dem Rücken zum Betrach-ter, liest offensichtlich den für den Betrachter nicht entzif-ferbaren Text eines Gerzschen Foto-Tableaus225. Der Rezipient erwartet intuitiv den Text, den die Frau studiert, auf dem Foto abgedruckt zu finden. Aber auch auf dem vierten Foto der Zwöl-ferreihe steht der schon bekannte englische Text. Gerz benutzt den, wie er ihn charakterisiert, "durchaus traditio-nell(en) und auf seine Art präzise(n)" Text, um das Bild, das wir uns von der Frau aus der im Text erzählten Geschichte machen, mit verschiedenen Schablonen in Frage zu stellen. Wenn es jede der Frauen sein könnte, muß es keine sein, zumal "wir", ganz offen-sichtlich, nicht "im Vorkrieg in Paris" sind, wie die beiden Figu-ren der Geschichte.

224 Jochen GERZ: Abbildung Nr. 18; in: ders., Le Grand Amour (Fictions). Dudweiler 1982; unpaginiert.225 Jochen Gerz: Abbildung Nr. 19; in: ebd.

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II. 3. Foto/Text

Im ersten Teil von Le Grand Amour sind die Fotos sowohl räumlich als auch inhaltlich vom Text getrennt, bilden eine Schicht der gemeinsamen Patina des Foto/Textes. Der Text erzählt eine, das jeweilige Foto eine andere Geschichte. Doch beide sind durch die Klammer des Miteinander-Gedrucktwerdens ihrer Autonomie beraubt - egal, wie seltsam Foto und Text als Paar auch wirken. Um eine Mesalliance handelt es sich dennoch nicht, eher um eine Gemein-schaft mit räumlicher Trennung, wo beide Partner aufeinander fixiert bleiben, ohne daß es ein wirkliches Miteinander geben könnte. Die Geschiedenen leben in einem Haushalt, sehen sich täglich, aber unterhalten sich nicht. Die scheinbare Autonomie ist in Wahrheit schon in diesem frühen Foto/Text von 1982 fragil, die mediale Einheit von Text und Bild gegeben.

Teil 2

Der Tod ist ein heikles Thema, vielleicht das einzige heikle Thema für das Individuum in der westlichen Zivilisation des 20. Jahrhunderts. Der Tod ist intim. Der Tod ist kein Gespräch-stoff226. "De mortuis nihil nisi bene" gebietet ein (un)geschrie-benes Gesetz, und wir gehorchen ihm, da wir beim Tod der Anderen an unseren eigenen denken müssen. Problematisch wird es, wenn wir den Gestorbenen sehr gut gekannt haben, wenn unsere nächsten Familienangehörigen sterben, um deren Stärken und Schwächen wir ganz genau wissen.

Ludwig Fels nimmt in dem Buch Der Himmel war eine große Gegen-wart 227 öffentlich Abschied von seiner Mutter. Dabei verstößt er bewußt gegen zwei Tabus, die er miteinander verknüpft. Das auf die viktorianische Epoche zurückgehende Tabu der Sexualität, von dem heutzutage fast nur das Inzestverbot Bestand hat, verbindet er mit dem Tabu, über eine Tote ehrlich, also auch ´schlecht` zu reden. Schlecht heißt bei Fels, drastisch, ohne Scham und ohne die stille Ehrfurcht des Sohnes vor dem Schoß, der ihn gebar. Er verschweigt die

226 Vgl.: Werner FUCHS, Todesbilder in der modernen Gesellschaft. Frank-furt/M 1973. "Primärerfahrung aus alltäglicher Kommunikation erlaubt die Feststellung, daß der Tod als Gesprächsthema nicht gelitten ist. Vom Tode reden ist Fehlverhalten und durchbricht die Konvention. Die Sanktionen da-gegen sind ähnliche, wie wenn man am Tische von Exkrementen spricht. In-dignation, Themawechsel oder Beendigung des Gesprächs, zwanghafter Humor."; Zitat: S. 105.227 Ludwig FELS, Der Himmel war eine große Gegenwart, Ein Abschied. München 1990.

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II. 3. Foto/Text

Sexualität seiner Mutter nicht228 und schreibt deswegen auch über einen eigenartigen Traum, den er kurz vor ihrem Ableben hat:

"Vergebt mir! Ich ficke meine Mutter. Meine Mutter ist krank, und ich ficke sie aus Liebe. Es ist, wie alles, ein Traum. Es ist wie alles ein Traum. Ein Traum wie jede Mutter, wie jede Liebe. Es tut weh, das ältere Herz zu haben. Es ist, weil es der Abschied ist von ihr, weil die Dauer ihres Lei-bes gestundet ist."229

Einen wirklichen Kuß gibt er erst der toten Mutter, bevor der Sarg geschlossen wird. Nach der Beerdigung, in ihrer leeren Woh-nung, führt Fels einen imaginären Dialog mit der Toten, wo er zu-gibt, nicht eigentlich sie, sondern ihr Abbild geküßt zu haben:

"Weißt du, da warst du wie eine Fotografie."230

Der Tod kann wie eine Fotografie sein: still, unbeweglich, scheinbar zeitlos.

Phillipe Ariès charakterisiert den Tod als ikonophil:

"Der Tod ist bilderfreundlich. Das gilt für lange Zeitabschnitte vor dem Aufkommen der Schrift und bleibt auch weiterhin gültig. Trotz des Diskurses über den Tod, der überhandnimmt, seit es eine Schrift und damit eine (an-fangs geistliche) Literatur gibt, bleibt das Bild das dichteste und direk-teste Ausdrucksmittel des Menschen angesichts des Mysteriums des Hingangs. Es bewahrt sich manche der verdrängten, dunklen Bedeutungsschichten, die die Schrift weggefiltert hat. Und deshalb bewegt es uns so nachhaltig."231

Das trifft für Gemälde wie für Fotografien232 zu. Es ist anzunehmen, daß sich die Bedeutung eines Fotos stark ver-ändert, sobald der oder die Abgebildete tot ist - jedenfalls für den Betrachter, der direkten Kontakt zu den fotografierten Men-schen hatte.

228 Ebd.: Dies war die "Stunde, der Welt, oder was sie dafür hielt, zu be-weisen, daß man, dem Alter zum Trotz, noch nicht vertrocknet war, die lang-ersehnte, oft erhoffte Stunde, in der man genüßlich die erfahrene, durch-triebene Frau spielen konnte, fidele Greisin, geile Närrin - der Wein er-laubte alles."; Zitat: S. 33-34.229 Ebd.; Zitat: S. 46.230 Ebd.; Zitat: S. 82.231 Philippe ARIÈS, Bilder zur Geschichte des Todes. München Wien 1984. Zitat: S. 7.232 Besonders beeindruckt haben mich Todesfotografien des Ostberliner Künst-lers Rudolf SCHÄFER, der 1981 dreizehn Tote in der Klinik Charité aufnahm. Die Redaktion des Zeitmagazins hat den Fotos Zitate als Bildunterschriften beigefügt; offensichtlich braucht der Tod eine Erklärung. Abbildung Nr. 20; in: Marie HÜLLENKREMER, Tod, der Not stillt. Zeitmagazin Nr. 47, 17. Novem-ber 1989. Abbildung: S. 57.

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II. 3. Foto/Text

So verbringt Roland Barthes nach dem Tode seiner Mutter viel Zeit mit ihrer Fotosammlung, um sich ein Bild, ein Foto von ihr zu machen:

"Die Photographie nötigte mich auf diese Weise zu einer schmerzlichen Ar-beit; bemüht, dem Wesen ihrer Identität (der der Mutter) näherzukommen, plagte ich mich ab inmitten von teilweise wahren und daher ganz und gar falschen Bildern. Beim Anblick eines bestimmten Photos zu sagen: “Das ist sie beinahe!“, war für mich qualvoller, als bei einem anderen Photo zu sa-gen: “Das ist sie überhaupt nicht“."233

Er suchte die "Wahrheit des Gesichts"234, aber fand lange Zeit kein Foto, das seinen Ansprüchen genügte:

"Diese Photos, welche die Phänomenologie “Gegenstände überhaupt“ nennen würde, waren nur analog, riefen nur ihre Identität, nicht ihre Wahrheit hervor;"235

Keine fotografische Lüge entdeckte Barthes erst in einem Kinder-foto seiner Mutter, das sie, fünfjährig, mit ihrem Bruder zeig-te:

"(D)ie PHOTOGRAPHIE aus dem Wintergarten aber war tatsächlich wesentlich, sie verwirklichte für mich, auf utopische Weise, die unmögliche Wissen-schaft vom einzigartigen Wesen."236

Und obwohl Roland Barthes Die helle Kammer mit Fotografien als Anschauungsmaterial spickt, veröffentlicht er dieses wesent-liche, ihm wichtige Foto nicht:

"(Ich kann das PHOTO aus dem Wintergarten nicht zeigen. Es existiert aus-schließlich für mich. Für Sie wäre es nichts anderes als ein belangloses Photo, eine der tausend Manifestationen des absolut beliebigen “Gegenstan-des überhaupt“; es kann auf keine Weise das sichtbare Objekt einer Wissen-schaft darstellen; es kann keine Objektivität im positiven Sinn des Be-griffs begründen; bestenfalls würde es für Ihr studium von Interesse sein: Epoche, Kleidung, Photogenität; doch verletzen würde es Sie nicht im min-desten.)"237

Es würde uns tatsächlich nicht verletzen, wie Barthes richtig erkennt, weil es sich nicht um ein Jugendbild unserer nun toten Angehörigen handelte, sondern einfach um ein junges Mädchen kurz vor der Jahrhundertwende. Hätte er seine sterbenskranke Mutter fotografiert und das Foto publiziert, hätte uns das Betrachten durchaus verletzen können, denn im Besonderen klingt das Allge-meine an. Ihr Facies hippocratia wäre in unserer Vorstellung unser eigenes Todesgesicht geworden oder das eines Angehörigen.

Die einleitenden Beispiele sollten zeigen, wie verbreitet das Motiv des durch den Sohn analysierten Todes der Mutter anhand von Sprach-Bildern (Fels) oder beschriebenen

233 Roland BARTHES, Die helle Kammer; a.a.O.; Zitat: S. 75-76.234 Ebd.; Zitat: S. 77.235 Ebd.; Zitat: S. 80-81.236 Ebd.; Zitat: S. 81.237 Ebd.; Zitat: S. 83.

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II. 3. Foto/Text

Fotografien (Barthes) ist. Beim zweiten Teil von Jochen Gerz' Le Grand Amour wird dieses Motiv aufgenommen.

Die im zweiten Teil von Gerz veröffentlichten Fotos sind gänz-lich von den vorangegangenen verschieden. Auf allen 12 Fotos ist ein- und dasselbe Motiv abgebildet: Eine alte Frau liegt schla-fend, mit geschlossenem oder offenem Mund in einem Bett. Von der Frau sehen wir nur den Kopf und den Hals, vom Interieur so gut wie nichts, nur einmal ein Glas. Der Kopf liegt immer auf einem Kopfkissen. Durch die starke Körnung der Fotos bekommt das Ant-litz einen schemenhaften Charakter. Die dunklen Haare zeichnen sich kraß vom Weiß des Kissens ab, verbinden sich auf einigen der Fotos mit dem Schatten. Vom wohl zahnlosen Mund ist nur die dunkle Höhle zu erkennen238. Daß es sich um ein Totenbett han-delt, ist offensichtlich239.

Der zum Foto gehörende Textteil steht immer links neben dem Bild. Um die formale Distanz des Textes zum Foto zu verstärken, befindet er sich auf einem rechteckigen Feld, das farblich grun-diert ist und sich damit deutlich vom Weiß der Seite und dem rahmenlosen und großflächigeren Foto abhebt240.

Wichtig ist Jochen Gerz, über 10 Jahre nach der Entstehung, neben der Konstruktion vor allem die Authentizität der Arbeit:

"Das Ganze ist nicht eine Summe von ästhetischen, von sonstigen Richtigkei-ten, sondern die Arbeit begleitet auch ein Leben."241

Das Sterben der eigenen Mutter fotografisch festzuhalten, dürfte viel Kraft gekostet haben. Jochen Gerz findet diese Kraft, indem er die Foto-Geschichte des Sterbens mit einer Text-Geschichte des Kennenlernens verknüpft. Beide Geschichten finden erst im letzten Foto/Text inhaltlich zusammen. Davor kontrastieren die Texte und die Fotografien eher. Zwar gibt Gerz implizit Inter-pretationshinweise, gerade im ersten, quasi expositorischen Foto/Text, aber verwebt selbst diese ´Einleitung` so sehr, daß nichts wirklich sicher zu sein scheint, das

238 Jochen GERZ: Abbildung Nr. 21; in: ders., Le Grand Amour (Fictions); a.a.O.; unpaginiert.239 Vgl. Philippe ARIÈS` Typologie der death bed scene (in: ders., Bilder zur Geschichte des Todes; a.a.O.; Kapitel: Vom Totenbett zum Grabe; beson-ders die Seiten 100-118).240 Jochen GERZ: Abbildung Nr. 22; in: ders., Le Grand Amour (Fictions); a.a.O.; unpaginiert.241 Das sagte Jochen Gerz im abgedruckten Interview (S. 118).

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II. 3. Foto/Text

Gefühl der Unfaßbar-keit vorherrscht242. Sicherlich ein Gefühl, das dem Tod nicht un-angemessen ist.Die Texte enden alle mit dem unterstrichenen, abgesetzten Satz:

"Wenn sie aufwachte, würde er sie fragen, ob sie etwas trinken wollte"

Dieser Satz bezieht sich explizit auf das jeweilige, dem Text zugeordnete Foto. Einmal respondiert das Foto auf den mit ver-schiedenen Initialen versehenen Text, indem im Fotovordergrund - wohl, wie erwähnt - ein Trinkglas zu erkennen ist.243

Der in dem Satz ausgedrückte Wunsch, der Mutter etwas zu trinken geben zu können, also fast das letzte, was an Laienhilfe möglich ist, holt den Leser auf den Boden der fotografisch gesicherten Realität zurück. Es bleibt, angesichts des Sterbens der Mutter, wenig Zeit für die Romanze des Erzählers, in die er sich vor dem kaum Faßbaren zurückziehen will. Das Foto spricht Bände, ist stärker als der Text. Während die meisten Texte der Serie als Ablenkungsmanöver von banalen Dingen erzählen, sprechen die Bil-der eine andere Sprache. Sie sind "Nekrografien", und erst der zwölfte, der letzte Text ist eine Art Nekrolog:

"Du weisst das. Du hast dir das gleich gedacht. Wir gingen schwimmen, am liebsten ging sie schwimmen. Sie hatte den Tee aus Calmus am liebsten. Am liebsten ging sie hinter dem Krankenhaus spazieren. Wir trafen uns morgens früh. Sie war nicht alt, sie wusste was los war. Aber sie weiss nicht was du von ihr willst. Natürlich sprachen wir von dir, natürlich kamst du in unseren Gesprächen vor. Diese verfluchte Scheisse. Sie sagte, es sei gut, dass ich hier sei. Es wäre am besten, wenn ich bliebe. Manchmal ging ich gleich von ihr zu dir. Als würde ich eine Reise machen. Zuhause. Eine Sache von Minuten. Wir haben noch viel zu besprechen. Ob ich weiss wie das ist? Glücklich sein, ob ich weiss wie das ist?

Wenn sie aufwachte, würde er sie fragen, ob sie etwas trinken wollte (I.K.)"244

242 "Weisst du noch, als du rauskamst? 19 Monate sind zuviel, weniger ist viel besser, sagtest du. Jeder sollte das mal gemacht haben. Sterben? Ich dachte, ihr macht das viel leiser, bei Euch tut das nicht so weh. Ich dachte, auch ihr zuliebe. Mit etwas ´Gefühl und Verstand`. Du weisst doch, wir wollen dich nicht belügen. Ich dachte, ihr seid zwar die einzigen, aber so kann es gehen. L`Age d`Or, der Güldene Ring Homers, egal, wo es stand, so kann es gehen. Warum kann sie den Rückenschmerz nicht vertragen? Guck die die Blumen an, die Blumen machen mich am meisten fertig. Um diese Uhrzeit stehen sie zuhause mit den Hunden auf der Strasse. Es tut mir leid, hatte sie gesagt. Warum kann sie den Sekt nicht vertragen? In dem Buch stand, sie seien ans Meer gefahren und hätten Champagner getrunken. Warum kann sie das alles nicht vertragen? Ihr seid zwar die einzigen gewesen, aber ich dachte, so kann es gehen. Ich dachte, das bist nicht du der hier stirbt, aber trotzdem.

Wenn sie aufwachte, würde er sie fragen, ob sie etwas trinken wollte (G.S.)";

in: Jochen GERZ, Le Grand Amour (Fictions); a.a.O.; unpaginiert.243 Jochen GERZ: Abbildung Nr. 23; in: ders., Le Grand Amour (Fictions); a.a.O.; unpaginiert.244 Ebd.

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II. 3. Foto/Text

"Am liebsten" machte sie dies oder das, nahm auch Kenntnis von der anderen Frau, von der ihr ihr Sohn erzählte, gab, indem sie die Fremde nicht ablehnte, quasi ihren letzten Segen.

Hier beginnt das Glatteis der Interpretation, und ich möchte mich deswegen an Wittgensteins berühmtesten Satz halten:

"Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen."245

Es bleibt festzuhalten, daß auch im zweiten Teil von Le Grand Amour die Texte räumlich von den Fotografien getrennt sind, sich aber inhaltlich deutlicher auf sie beziehen lassen, als das im ersten Teil der Fall war. Das Todestabu unterstützt diese immer noch vorhandene Distanz. Allein, Jochen Gerz läßt den Tod seiner Mutter nicht stumm über sich ergehen, wie es oft in unserer Gesellschaft Usus geworden ist246 (abgesehen von den standartisierten Todesanzeigen und Kon-dolenzkarten), sondern läßt uns an seiner ´Reise` teilnehmen.

245 Ludwig WITTGENSTEIN, Tractatus logico-philosophicus, Philosophische Untersuchungen. Leipzig 1990. Zitat: S. 89.246 Das führt Phillipe Ariès im fünften Teil, betitelt Der ins Gegenteil verkehrte Tod (S. 713-771), seiner monumentalen Geschichte des Todes (Mün-chen 1982) detailliert aus. In der nachfolgenden Konklusion fragt er, wie man heute auf den Tod reagiert. Ariès gibt selbst zwei Antworten, die ihre Gültigkeit behalten haben: "Die erste ist ein massives Eingeständnis der Ohnmacht: nur ja nicht die Existenz eines Skandals zugeben, den man nicht hat verhindern können, lieber so tun, als gäbe es ihn gar nicht, und folg-lich die Umgebung der Sterbenden und der Toten mitleidlos zum Verstummen bringen. So hat sich ein dumpfes Schweigen über den Tod gebreitet. Wenn es gebrochen wird, wie heute gelegentlich in Nordamerika, so lediglich, um den Tod auf die Bedeutungslosigkeit eines beliebigen Ereignisses zu reduzieren, von dem man gleichgültig und unbeteiligt zu sprechen vorgibt. Das Resultat ist in beiden Fällen das gleiche: weder das Individuum noch die Gemein-schaft sind stark und stabil genug, den Tod anzuerkennen." (Zitat: S. 788). Wahrscheinlich haben nur Künstler die Chance, ihre Trauer in die größere Öffentlichkeit zu tragen, ohne für pietätslos gehalten zu werden. Gerz' Foto/Text wirkt in diesem Kontext eher gespalten, als hätte er selbst ge-merkt, an eine Grenze zu stoßen, die mit Sprache nur schwer zu überwinden ist. Den Tod auf Bildern dagegen verstehen und erkennen wir sofort. Unsere Anteilnahme ist spontan, distanzloser als das durch das Lesen eines Textes evozierte Mitleid.

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II. 3. Foto/Text

Texte neben den Fotografien: Die "heiligen" Wörter

Das Tableau Die "heiligen" Wörter (1984) besteht, laut Katalog-angabe, aus 17 S/W-

Fotografien à 40x50 cm, die zusammengefügt eine Größe von 167x260 cm ergeben247. Es befindet sich im Fonds National d`Art Contemporain, Paris.Der - im ´Original` - französische Text wird von den Ausstel-lungsmachern zu den 16 Fotografien dazugezählt. Eigentlich handelt es sich um eine reine Texttafel , die außer der iden-tischen Größe wenig mit den 16 Fotografien gemein hat. Vielmehr wirkt sie optisch wie ein Fremdkörper im Tableau und drängt eine Fototafel aus dem Rechteck heraus. Der Text unterbricht wie eine Zäsur die Sukzession der Fotos. Zusätzlich zur englischen ist auch die deutsche Version im Katalogbuch der "Heiligen" Wörter abgedruckt:

"Wer sich aber der “heiligen“ Wörter versichern wollte oder sonstwie Bei-stand suchte, der durfte sie nicht gebrauchen. Denn das, was die “Leiden der Brauchbarkeit“ kennt, kann nicht von Nutzen sein. Wegen ihrer Heimlich-keit und Eifersucht tat er es mit Hilfe von manchem Trick, Mißverständnis, Paradox. Auch Bilder konnten von Nuzten sein. “Mit Hilfe von einem anderen, das ähnlich war.“

Oder auch so: ein Schatten, Seufzer - kaum war es da und als sei es nur er-zählt oder erfunden, schon ist es weg. Wie eine derbe Bewegung mit der Hand oder wie eine Arbeit bringt die Zeit es zum Verschwinden. Denn sie ist ja von allem die Brauchbarkeit und das Verschwinden. Von dem Engel, dem beau, heißt es, er habe die “heiligen“ Wörter erfunden. “Laß mich los“, hat er sie flüstern gehört.

Nur das letzte Wort wird nichts verdrängen, erinnern oder vergessen. Nur dem letzten war nichts zuzuschreiben. Nur das letzte ist frei.

“Ein Platz am Meer, der dich nicht kennt, ist keine Pilgerstätte. Da hörst du uns sehr freundlich sprechen. Nimm doch die Zeit, das frierende Schwe-sterlein, gleich mit.“"248

Demosthènes Davvetas hält Die "heiligen" Wörter für das beste Beispiel dafür, daß Gerzens Wörter "wie Dinge in ihrem natürlichen Urzustand sind, daß sie Töne sind, die entgegen ihrer Unbezwecktheit

zu jeglicher Lehre in ihrer Infinalität strahlen" und "nicht dort stehen, um diverse Szenen aus der

Alltagswirklichkeit zu beschreiben"249.

Alltäglich ist der Text wirklich nicht, eher pastoral. Als ge-sellschaftliche Setzung seien die Die "heiligen" Wörter aus der "Gebrauchszirkulation"250 entfernt, meint Jochen Gerz selbst. Sie sind vorhanden, werden aber tabuisiert:

"(...) es gibt eine Ebene der Benutzung, die aus der Nicht-Benutzung be-steht."251

247 Jochen GERZ, Die "heiligen" Wörter; in: ders., Eine Ausstellung; a.a.O.; Abbildungen Nr. 24 und 25, S. 73-75. Die Katalogangabe steht auf S. 123, ebd.248 Ebd.; Zitat: S. 72.249 Demosthènes DAVVETAS, Im Anfang war die Tat; in: J. GERZ, Eine Ausstel-lung; a.a.O.; S. 128-130. Zitate: S. 129.250 Das sagte Jochen Gerz im abgedruckten Interview (S. 113).251 Ebd.

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II. 3. Foto/Text

Als unvorbereiteter Rezipient stünde man dem Text sprachlos ge-genüber, würde spontan seine Hermetik bewundern und, wenn man nicht schon längst weiter durch die Ausstellung flaniert wäre, vielleicht registrieren, daß es sich um einen eher nach allen Seiten offenen Text handelt. Eine Legende, ein Mythos zeichnet sich durch Vieldeutigkeit, eine hohe Varianz aus. Daß der Mythos in verschiedenen Situationen von ganz unterschiedlichen Menschen jeweils anders interpretiert wird, sichert seinen Erhalt. Etwas von dieser eigenartigen Magie enthält auch Gerzens Text.

Aus literaturwissenschaftlicher Sicht ist die Sprache von Inter-esse, die polyphon genannt werden kann. Gerz setzt ein Konglome-rat an Stilen ein, spielt mit der direkten ("“Ein Platz am

Meer, der dich nicht kennt, ist keine Pilgerstätte.“") und der indirekten Rede ("Von dem Engel, dem beau,

heißt es, er habe die “heiligen“ Wörter erfun-den."). Das Erzählte verwischt mit dem Akt des Erzählens, Ge-schichte und Diskurs sind einerlei - wie der Schatten, den Gerz als Paradigma benutzt: "Oder auch so: ein Schatten, Seufzer - kaum war es da und als sei es nur erzählt oder erfunden, schon

ist es weg."

Der Rezipient findet so gut wie keinen Weg in die Geschichte, wenn es sich überhaupt um eine handelt. Er kann sich höchstens an der Esoterik berauschen, das ganze als Hierophanie252 akzep-tieren. Die Fotografien erleichtern den Zugang zum Text keineswegs, auch wenn sie ein Gefühl von Erhabenheit evozieren wollen, wie viele Landschaftsfotografien. Herbert Molderings merkt zur Koexistenz der beiden Teile in seinem Aufsatz Foto/Texte von Jochen Gerz an:

"In den Texten von Gerz geht es nicht darum, Deutungen dessen zu geben, was mit den Bildern “gesagt“ werden soll, ebensowenig, wie diese dazu dienen, das zu illustrieren, was die Wörter weniger anschaulich zu beschreiben su-chen. Fotos und Texte wenden sich in gegenseitiger Verschränkung zugleich an das “äußere“ und das “innere Auge“ des Betrachters und Lesers."253

Alles läuft also auf die an das Sprach- und Bildmaterial gebun-dene Feiheit des Interpreten hinaus, der die Metaphern als Teil des soteriologischen Rätselratens für sich selbst ins Reine bringen kann. Günter Metken nennt Gerz' multimediale Arbeiten "Poesie", "visuelle" möchte ich hinzufügen:

252 In dem Buch Texte (a.a.O.) hat Jochen Gerz 3 Hierophanien, Bei den Yoopies betitelt, veröffentlicht. Dort wird auch auf die Etymologie des Wortes eingegangen: "Hieros (griech.) heilig, phainomenai (griech.) sicht-bar machen, zeigen, manifestieren. Manifestationen von Heiligem (Hiero-phanien)."; Zitat: S. 145.253 Herbert MOLDERINGS, Foto/Texte von Jochen Gerz; in: Kat. Kestner Gesell-schaft. Hannover 1978. S.18-21. Zitat: S. 21.

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II. 3. Foto/Text

"Nichts meint sich selbst, alles ist, wie auch seine sich mehrenden Ak-tionen, metaphorisch aufzufassen. Der gemeinsame Nenner könnte Poesie heis-sen, wie sie seine bevorzugten Dichter betreiben: Ezra Pound, W.B. Yeats, Cummings, Joyce. Poesie als unabhängiges, versprachliches Objekt. Zitate, Namen, Orte deuten auf den Kern, ohne diesen beschreiben oder gar erläutern zu müssen.254

Das Wort ist für Gerz Teil einer Kette, die wie eine Gebetsmühle beliebig mit neuen Bedeutungen aufgeladen werden kann. Erst wenn der Kreislauf unterbrochen ist, der Kettenfaden gerissen, gibt es ein Ende. Er fomuliert es so: "Nur das letzte Wort wird nichts

verdrängen, erinnern oder vergessen. Nur dem letzten war nichts zuzuschrei-ben. Nur das letzte ist frei."

Das Adjektiv "heilig" setzt Jochen Gerz sowohl im Titel des Tableaus als auch im Text in Anführungsstriche, um es, in welche Richtung auch immer, zu relativieren oder hervorzuheben.

In der am Textende stehenden direkten Rede gibt es einen expli-ziten Hinweis auf die Fotografien: "“Ein Platz am Meer, der dich nicht kennt, ist keine Pilgerstätte.“"

Das Bild der zerklüfteten Steilküste, von Gischt umspült und von Wolkenformationen überflogen, wird auf den 16 Fotografien, aus diversen Blickwinkeln, vervielfacht und besitzt doch einen durchgehenden Tenor: den der menschenleeren Landschaft. So oder ähnlich würden viele Rezipienten das Tableau ad hoc beschreiben, den Text einmal vernachlässigt. Die Fotografien scheinen für sich genommen weniger rätselhaft als der Text zu sein.

Wenn der Fotografie Gemeinverständlichkeit attestiert werden soll, sie also zur Lingua franca des 20. Jahrhunderts geadelt wird, schimmert die Hoffnung durch, ein Medium gefunden zu ha-ben, das, anders als die Schriftsprache, nationale Unterschiede nicht kennt, keiner Übersetzung bedarf. Als universelle Sujets bieten sich Portraits und Landschaftsbilder an. Wolfgang Kemp will die Selbstverständlichkeit dieses Ansatzes, Fotografie als "Sprache der

Einen Welt", hinterfragen:

"In das uniforme Medium schmiegt sich die auf dem Nenner von Natur unifor-mierende Ideologie - man hat nicht den Eindruck, daß man von dieser Theorie Bemühungen um den Sprachcharakter der Fotografie erwarten darf. Sie setzt eher voraus, was der kritischen Analyse bedarf."255

254 Günter METKEN, "Läßt sich gar nichts aus der Welt schaffen?", Bücher gegen Bücher; in: Kat. Kestner Gesellschaft; a.a.O.; S. 8-12. Zitat: S. 12.255 Wolfgang KEMP, Theorie der Fotografie 1954-1980; a.a.O.; Zitat:S. 24.

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II. 3. Foto/Text

Die semiotische Analyse erläutert die Bedeutung der Fotografie als Mitteilungssystem, um sie "in das Gesamt medialer und sozialer Wechselwirkungen"256 zu stellen. Das bedeutet, daß die Fotografie als Teil eines Textganzen verstanden wird. Schrift und Bild ge-hören seit Talbot zusammen. Die Fotografie orientiert sich an bereits bestehenden Zeichensystemen. Und der Fotograf integriert die ´vorgefundene` Natur in ein ihm genehmes konservatives, ak-tuelles oder avantgardistisches Zeichensystem. Heutzutage gibt es keine bestimmenden Trends mehr. Die digitale Technik ermög-licht es, Altes neu und Neues alt erscheinen zu lassen. Spezielle Computerprogramme rekonstruieren die Farbwerte ver-gilbter Fotografien, so daß sie wie jüngst aufgenommen aussehen.

Gerz' Tableau läßt keine eindeutige Klassifizierung zu, da die von Menschenhand unberührte Natur sowohl für die Vergangeheit als auch für die Gegenwart ein beliebtes Motiv darstellt. Was die Zukunft anbelangt, kann die Fotoserie durchaus dokumenta-rischen Charakter gewinnen, wenn die Umweltzerstörung, sei es durch eine Tankerkatastrophe, gerade den abgebildeten Küstenab-schnitt vollständig und für immer ausradiert.Davvetas will die Küste gar an einem "extraterrestischen Ort auf einem fremden Planeten"257 lokalisieren. Diese Ortsbestimmung ver-deutlicht, wie unverbindlich auf den ersten Blick die Fotogra-fien wirken können. Wenn der Betrachter nicht selbst zufällig an der abgebildeten Küste gewesen ist oder als Geologe spezielle Kenntnisse hat, kann er, ohne weitere Informationen, die Anony-mität des Ortes nicht verletzen. Und das unterstützt der Text, der außer der schon zitierten sehr allgemeinen Lokalisation kei-nen konkreten Hinweis gibt. Dennoch ist die fotografierte Land-schaft als Abbild einer Realität direkt denotierbar: diese Fel-sen, dieses Wasser, diese Wolken hat es zur Zeit der Aufnahme gegeben. Was jenseits dieser Analogie konnotierbar ist, liegt allein am Rezipienten. Wer jemals mit einem Schiff vor einer Felsenküste auf Grund gelaufen ist, dürfte anders auf Gerz' Fo-tografien reagieren als ein Bergbewohner, der noch nie in seinem Leben an einer Küste gewesen ist.

Dabei darf vorausgesetzt werden, daß die Fotos die Gegenstände nicht allein repräsentieren, sondern vielmehr auch präsentieren. Die ästhetische Qualität der Fotos bleibt dennoch ein sekundärer Faktor, sie sollen eher einfach der Kommunikation dienen. Die 16 Fotografien und die Texttafel stellen das Werkzeug der Übermittlung dar. Sie übermitteln die Botschaft des Fotografen, hier: Jochen Gerz, und/oder die der Realität, hier: Küstenland-schaft und Hierophanie, an die Rezipienten.

256 Ebd.; Zitat: S. 26.257 Demosthènes DAVVETAS, Im Anfang war die Tat; a.a.O.; Zitat: S. 129.

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II. 3. Foto/Text

Fotos und Text sind Teil des Tableaus Die "heiligen" Wörter. Der Text steht neben den Fotografien, wird von ihnen optisch verein-nahmt, zur Korrespondenz verpflichtet. Sprache wird mit Bildele-menten kombiniert, um auf Christina Weiss' anfangs eingeführte Typologie der visuellen Poesie zurückzukommen.

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II. 3. Foto/Text

Texte als Fotografie: Free # 1-6 1990

"Du sitzt vorm Fernseher und siehst Coca-Cola, und du weißt, der Präsident trinkt Coke, Liz Taylor trinkt Coke, und - stell dir vor! - auch du kannst Coke trinken. Ein Coke ist ein Coke, und kein Geld dieser Welt kann dir ein Coke verschaffen, das besser ist als das, was der Penner an der nächsten Ecke trinkt. Alle Cokes sind gleich, und alle Cokes sind gut. Liz Taylor weiß es, der Präsident weiß es, der Penner weiß es, und du weißt es."258

Andy Warhol

Andy Warhol war - wie Coca-Cola - selbst ein Produkt der auf Kommunikation beruhenden Warengesellschaft. Als sein Leibfoto-graf Christopher Makos 1987 erfuhr, daß Warhol gestorben war, ging er ins Hotel, schaltete den Fernseher ein, wo gerade Ar-chivbilder des Verstorbenen ausgestrahlt wurden. Diese Fernseh-bilder fotografierte Makos und schrieb allen Ernstes folgenden Satz dazu: "Diese Bilder zeigen das letzte Mal, als ich Andy sah."259 Daß Andy Warhol längst tot war, interessierte Makos kaum. Alle Fern-sehbilder sind gleich, und alle Bilder sind gut. Weil Warhol auf den Archivbildern putzmunter war, mußte er, für Makos, noch le-bendig sein. Erst die statischen Fotografien, bedeutungsvoll im schwarzen Fernsehtrauerrahmen260 abgedruckt, signalisieren War-hols Tod.

Was man abbildet, kann man verarbeiten, kann man bezwingen.

Auf dieser, vermeintlichen, Erkenntnis beruht auch Klaus Staecks Motivation, mit seinen Fotomontagen, die unvergleichlich erfolg-reicher als seine Essays sind, politische Aufklärung zu betrei-ben. Er würde, kraß gesagt, Coke nachweisen, daß der braune Saft fast nur aus Zucker besteht, also gesundheitsschädigend ist. Wie ein Firmenlogo wirkungsvoll in Frage gestellt wird, zeigt Staecks Plakat Alaska Öl-Sardinen261 (1989), auf dem die Firma Esso als deutsche Tochter des Ölmulti Exxon enttarnt wird. Ex-xons Supertanker Valdez lief 1989 vor Alaska auf ein Riff. Dabei flossen 42 Millionen Liter Rohöl ins Meer. Staeck vermutet, daß ein Boykott des Ölmultis in der Bundesrepublik durch die Nicht-Nennung der deutschen Tochtergesellschaft in den Medien verhin-dert worden sei.

258 Andy WARHOL; in: Jean-Louis FERRIER (Hrsg.), Chronik der Kunst im 20. Jahrhundert; a.a.O.; Zitat: S. 659.259 Christopher MAKOS, Warhol, ein persönliches Photo-Album. Wien 1989. Zitat: S. 124.260 Christopher MAKOS, Abbildung Nr. 26; ebd.; S. 125.261 Klaus STAECK, Unser täglich Gift, Anschläge auf die Gleichgültigkeit. Göttingen 1989. Abbildung Nr. 27; S. 45.

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II. 3. Foto/Text

Die Hoffnung, der Künstler könne die Welt verbessern, hat Jochen Gerz längst verloren. Selbst die bescheidene Möglichkeit der Kunst, Finger in Wunden zu legen, wird vom Kunstpublikum als völlig normal registriert und sofort vergessen. Thomas Deecke schreibt in einem Aufsatz über Gerz' Free-Serie:

"Die Werke der Künstler von heute finden fast überall Anerkennung durch eine gelangweilte, auf Unterhaltung spekulierende Gesellschaft und sind dadurch selber Gegenstand der Korrumpierung;"262

Free # 1-6 besteht aus einem Satz von 6 Arbeiten, den, wie Gerz meint, "Ikonen der

Glaubwürdigkeit"263. Die Texte sind denkbar einfach und damit einprägsam: FREE ADAM SMITH; FREE MICHAEL BAKUNIN; FREE EZRA POUND; FREE ROSA LUXEMBURG; FREE COCA COLA; FREE FLORENCE NIGHTINGALE. Alle Tafeln sind 50 cm breit und schwanken in der Höhe, je nach Textlänge, zwischen 160 cm und 280 cm. Vom schwarzen Hintergrund hebt sich die rote Schrift deutlich ab. Um den Text der Tafeln zu lesen, muß der Rezipient den Kopf nach rechts wenden, da die auseinandergezogenen Buch-staben nicht in Leserichtung angebracht sind. Man muß die Buch-staben als solche erkennen, was aus der Entfernung leichter als aus der unmittelbaren Nähe ist. Es bereitet etwas Mühe, die sperrige, an Runen erinnernde Druckschrift zusammenzufügen. Wer eine Schrifttafel erfolgreich entziffert hat, dürfte die anderen erheblich schneller lesen können. Alle basieren auf dem Prinzip der Zäsur. Das heißt, daß die Buchstaben jeweils in der Mitte durchgetrennt sind und daß der, vom Betrachter aus gesehen, rechte Abschnitt nach oben hin versetzt ist.Es handelt sich um fotografische Abbildungen verzerrter Schrift, die keine Schönschreibschrift sein will, sondern den Bruch li-near versinnbildlicht.Die Linearität der Free-Schrift ist innerhalb der Werkgruppe von "Mixed media Fotografien"264 gewahrt, auch wenn die Parolen um 90° C gedreht sind und sich der Geradlinigkeit - und damit unmittel-baren Lesbarkeit - entziehen. Gerz arbeitet mit einer ungewöhn-lichen Typografie, die dem Leser, wenn er sich auf sie einläßt, mehr Konzentration und Lesemuße abverlangt. Die scheinbare Be-langlosigkeit des Textes desavouiert diesen Effekt. Layout und Bedeutung kollidieren. Obgleich das in unserer Zeit inflationär gebrauchte Free 265 durchaus eine Neubewertung im tradierten Sin-ne der politischen wie der geistigen Freiheit nötig hätte.262 Thomas DEECKE, Free; in: Jochen GERZ, Life after Humanism, Photo/Texte 1988-1992; a.a.O.; S. 102-103. Zitat: S. 102. Abbildungen Nr. 28 und 29.263 Das sagte Jochen Gerz im abgedruckten Interview (S. 123).264 Im Katalog-Verzeichnis der abgebildeten Arbeiten wird Free #1-6 mit "Mixed media Fotografie/photograph" betitelt. In: Jochen GERZ, Life after Humanism, Photo/Texte 1988-1992; a.a.O.; Zitat: S. 168.

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II. 3. Foto/Text

Jochen Gerz läßt widersprüchlichste Ideologien in der Werkgruppe aufeinanderprallen. Bakunin war Anarchist, Luxemburg Revolutio-närin, Nightingale war philanthropisch gesinnt, Pound ein Ästhet und Smith Nationalökonom - Coca Cola steht für die auf die Ware fixierte Gesellschaft. Die Ware erlangt ebenso den Grad der sub-jetiven Wahrheit wie der für eine Ideologie stellvertretend ge-nannte Mensch. In der Gruppe wirken die Aussagen entschärft, ab-solut gleichwertig. Was sie verbindet, ist Gerzens Free.

Daß wir uns Leitbilder suchen, ist rein menschlich. Man instru-mentalisiert die ´Freiheit` dieser Leitbilder, ganz den eigenen Zwecken gemäß, und schafft sich im Laufe der Zeit eine Privat-ideologie, die zwar nominell unter dem Dach der Gruppe beheima-tet ist, aber durchaus nicht orthodox, linientreu sein muß. Gerz selbst verehrt Ezra Pound, dessen Begeisterung für den italienischen Faschismus er aber sicherlich nicht teilt266.Es ist wohl einfacher, sich mittels Vorbildern in der Welt zu-rechtzufinden - und sei es als Colatrinker wie Andy Warhol.

Natürlich steckt hinter jeder Parole eine geniale Verkürzung, die einen komplexen Sachverhalt auf den Punkt bringen kann. Das hat die Parole mit dem Werbeslogan gemein. Neue Werte haben es in unserer Informationsgesellschaft nur auf den ersten Blick leicht, auf Dauer Fuß zu fassen. Sie kommen gegen die Werte-Klassiker letztendlich kaum an und verschwinden deswegen ebenso schnell von der Bildfläche, wie sie aufgetaucht sind. Gerz ver-läßt sich bei seiner Serie nur auf ´Klassiker`, die längst zum etablierten Kanon unserer Zeit gehören und generell bekannt sind. Es steht jedem Rezipienten frei, eigene Assoziationen beim Entziffern zu haben, die Parolen exakt einzuordnen oder mit ei-ner bloßen Ahnung zu füllen. Man muß nicht Cola brauen können, um zu wissen, wie Cola schmeckt, und man kann in einen Erfah-rungsaustausch mit anderen Colatrinkern, die möglicherweise Pepsi bevorzugen, treten.

265 Mit dem hehren Anspruch, Nelson Mandelas Freilassung zu erreichen, schrieb die Reggae-Gruppe Special Aka 1985 ihren Song (Free) Nelson Man-dela. 1993 wurde in den USA von Simon Wincer ein Film namens Free Willy (´deutscher` Verleihtitel: Free Willy) gedreht; eine gefühlvolle Story rund um einen Killerwal. Der Anglizismus Free dürfte also allgemein bekannt sein.266 Vgl. Willi WINKLERs Aufsatz Dante im Hundezwinger (Die Zeit, 17.4.1992, S. 70). Pound verunglimpfte von Italien aus in 150 Radiosendungen (1941 - 1943) Churchill und Roosevelt und, als Rundumschlag, die Juden, ganz seinem ´Duce` ergeben.

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II. 3. Foto/Text

Indem sich Gerz dieser formelhaften Wendungen bedient, die einen Hintersinn verkörpern, lädt er zur Interpretation und damit, aus seiner Sicht, sicherlich auch zum Mißverständnis der Free-Serie ein. Es ist eben nicht ganz so, wie Thomas Deecke schreibt, "daß jenseits dieser plakativen und damit austauschbaren Parolen, hinter den Bildern und den Wörtern doch

noch ein Sinn, ein Hintersinn sich ergeben möge, den auszusprechen und damit dem Mißbrauch auszusetzen der

Künstler nicht wagen will"267. Wer etwas schreibt und veröffentlicht, muß damit rechnen, daß es gelesen und automatisch gedeutet wird.

Wenn Gerz bei seinen Mixed media Fotografien bewußt auf Bilder verzichtet und ganz der polyvalenten Schrift als Basis der künstlerischen Aussage vertraut, kann er nicht mehr auf die Do-minanz des Bildes, jedenfalls in der Erinnerung des Rezipienten, bauen und kann nicht hoffen, daß das eine Medium die Aussage des anderen Mediums einschränkt - wie es Susan Sontag für den unter der Fotografie plazierten Titel annimmt:

"In der Tat sind Worte lauter als Bilder. Bildunterschriften haben die Ten-denz, sich hinwegzusetzen über das, was unsere Augen sehen; aber keine Bildunterschrift kann auf längere Sicht die Aussage eines Bildes einschrän- ken oder absichern."268

267 Thomas DEECKE, Free; a.a.O.; Zitat: S. 103.268 Susan SONTAG, Der Heroismus des Sehens; in: dies., Über Fotografie; a.a.O.; S. 84-110. Zitat: 106.

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II. 3. Foto/Text

Texte in den Fotografien: WOLLT IHR 1990

Bei der Mixed media Fotografie WOLLT IHR 269 handelt es sich um ein 250 x 260 cm großes Tableau. Es besteht aus zwölf Foto- und Schreibtafeln, wobei vier dieser Tafeln das eben behandelte Free-Layout zitieren. Wiederum ist die Schrift rot, der Unter-grund schwarz, und die Buchstaben sind um 90° C gedreht. Nur die diesmal waagerechten Zäsuren befinden sich jeweils am Ende einer Tafel. Die restlichen acht Tafeln weisen eine wesentlich kom-plexere Strukturierung auf. Weitere sechs Untertypen lassen sich kategorisieren:

1. Die weiße Tafel (Nr. 9)270 mit dem um 180° C gedrehten weißen Schriftzug auf schwarzem Grund: "CULT.".2. Die zum Teil weiße Tafel (Nr. 7) mit dem um 180° C gedrehten weißen Schriftzug auf schwarzem Grund, "OR", und Fotosegmenten, die wiederum durch einen schwarzen Gitterstrich getrennt sind.3. Die teilweise weißen Tafeln (Nr. 5 und Nr. 12) mit schräg an-geschnittenen Fotosegmenten, von schwarzen Gitterstrichen durch-trennt.4. Die reine Fototafel (Nr. 6), die von sich kreuzenden Linien schräg durchzogen ist.5. Die Fototafel (Nr. 11) mit vier um 90° C gedrehten Schrift-einsätzen: "PROTEST

PROGRESS", "PEOPLE LEGIS", "LEFT RIGHT" und "68 89". Die obere weiße Schriftreihe ist, im gedrehten Sinne, links- und die untere schwarze Schriftreihe rechtsbündig. Diese Tafel wird von einer senk- und zwei waagerechten Linien durchtrennt.6. Die beiden letzten Tafeln (Nr. 8 und Nr. 10) mit den Schrift-zügen "PEACE" und "OR" und Fotosegmenten, wobei die Fotostruktur Hellig- und Deutlichkeit der Schrift bestimmt. Die schwarzen Gitterstriche durchziehen hier sowohl die Fotosegmente als auch die aus der kastenförmigen Schablone geschnittenen Buchstaben.

Das Tableau ist zweisprachig. Der großformatige Leitspruch ist in deutscher, die kleinformatigen Schlagwörter dagegen sind in englischer Sprache verfaßt.

WOLLT IHR ist Teil des Foto-Collagen-Zyklus KEYS FOR A BUILD (1990)271. Nur zwei Arbeiten272 dieses zweiundzwanzigteiligen Zyklus greifen auf Gerz' Muttersprache, das 269 Jochen GERZ, WOLLT IHR; in: ders., Life After Humanism, a.a.O.; Abbil-dung Nr. 30, S. 85.270 Der Einfachheit halber sind die Tafeln numeriert: Abbildung Nr. 31.271 Der Zyklus KEYS FOR A BUILD ist im Katalog Life After Humanism auf den Seiten 71-93 abgedruckt.272 Neben WOLLT IHR handelt es sich dabei um das Tableau GEISTESWAFFEN; Ab-bildung Nr. 32, in: Jochen GERZ, Life After

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II. 3. Foto/Text

Deutsche, zurück. Und wie bei den vier Arbeiten des Zyklus, bei denen er das Fran-zösische benutzt, kombiniert er die deutsche Sprache - oder eben die französische - mit englischen Wörtern. Dagegen kommen die weiteren sechzehn Arbeiten allein mit dem Englischen aus. "Mit der deutschen Sprache ist man bei Aachen-Süd am Ende"273, erklärt Jochen Gerz selbst die Vielsprachigkeit von KEYS FOR A BUILD.

Dies mag zu folgender seltsamer Anekdote beigetragen haben.Als Jochen Gerz zum ersten Mal Arbeiten aus dem Zyklus in Deutsch-land zeigte, kam jemand auf ihn zu und sagte: "Sie haben da einen Fehler gemacht, Herr Gerz, Tot schreibt man doch mit ´d`, na ja,

das pas-siert, wenn man so lange im Ausland lebt."274.Der ´Inländer` ignorierte also erstens den Bildschnitt des Roll-balkens und zweites vergaß oder verdrängte er vollkommen die von Joseph Goebbels 1943 im Berliner Sportpalast gestellte suggesti-ve Frage: "Wollt Ihr den totalen Krieg?".

Beim Tableau WOLLT IHR handelt es sich um eine Collage.Collage wird eine literarische Technik genannt, die einen Text mit "Anspielungen, Zitaten anderer

Autoren und vorgeprägten Wendungen auch in fremden Sprachen versetzt, um dadurch dem Thema weitere

Horizonte abzu-gewinnen"275. In der Bildenden Kunst hat die handwerkliche Bedeu-tung des Wortes Collage (frz.: Klebearbeit) überlebt; hier geht es darum, verschiedene Materialien auf einer zwei- oder dreidi-mensionalen Fläche neu zu kombinieren.Längst verschmelzen beide Collage-Definitionen - sowohl in der Literatur als auch in der Bildenden Kunst.276 Multi-mediale Kunstwerke sind ein Ausdruck dieser wechselseitigen Durchdrin-gung. Die Collage beweist dabei explizit durch die Offenlegung der verwendeten künstlerischen Mittel ihren Charakter als tech-nisch produziertes Werk, das fortführbar ist.

Die Collage darf als d a s Grundprinzip der verschiedenen Gat-tungen der klassischen Moderne betrachtet werden.

Humanism, a.a.O.; S. 83.273 Das sagte Jochen Gerz im abgedruckten Interview (S. 111).274 Doris von DRATELN, Im Zweifel schwebend / Jochen Gerz - ein Konzept-Künstler gegen den Strom der Saisonkunst; in: Die Zeit, Nr. 45, 2. Novem-ber, S. 63. Hamburg 1990. Zitat: ebd.275 Gero von WILPERT, Sachwörterbuch der Literatur; a.a.O.; Zitat: S. 144.276 Vgl. Wolfgang Max FAUSTs Studie Bilder werden Worte (a.a.O.), insbeson-dere S. 7-34.

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II. 3. Foto/Text

Bilder wurden Worte, Worte wurden Bilder. Das collagierte Zusam-menspiel beider Medien prägt maßgeblich den Alltag. Die Collage entspricht in ihrem heterogenen Erscheinungsbild277 dem Lebens-gefühl der kritikfreudigen und immer komplexer werdenden Medien-gesellschaft.In der Collage wird alles mit- und gegeneinander montiert, auf Hermetik verzichtet und damit auch auf Eindeutigkeit. Genau das macht den Reiz der visuellen Poesie des Jochen Gerz aus. Text und Fotos werden von ihm quasi importiert. Gerz spricht in die-sem Zusammenhang gern davon, daß er selbst die Dunkelkammer sei.

Die meisten Menschen sind in der Zwischenzeit derart visuell ge-schult, daß ihnen die Medien-Mixtur als solche kaum bis gar nicht mehr auffällt. Selbst hinter dem Disharmonischen vermuten sie - oft zurecht - irgendeine Werbekampagne. Der Begriff der Wirklichkeit verliert an Bedeutung.

Gerz spricht in diesem Zusammenhang von einer Realität, die "noch nie so ungewiß war"278 wie heute.Indem er seine Fotografien refotografiert, überblendet, mit Textausschnitten und Zitaten bepflastert oder - wie in dem KEYS FOR A BUILD-Zyklus - mit negativen Fotofragmenten arbeitet, mo-difiziert Gerz das tradierte Collagensystem der klassischen Mo-derne nur insofern geringfügig, als daß er beide Traditonslini-en, die literarische und die bildnerische, zusammenführt und als gleichwertig ansieht.

Was ihn interessiert, ist die Bedeutung von Kunst in einer Zeit der kriegerischen Auseinandersetzungen, in einer Zeit, in der der Krieg nicht nur eine Flugstunde von Mitteleuropa entfernt liegt, sondern via Bildschirm live zu uns kommt. CNN macht es möglich:

"PEACE = WAR ON TV" (1)"WHEN THE SCENT HAS LEFT THE HOUSE - NO MORE FIGHTS: UTOPIA IS SOME ISLAND IN THE PAST -" (2)"THIS MAY BE THE TIME TO BUILD A HOUSE" (3)279

277 Volker KLOTZ stellt in seinem informativen Aufsatz Zitat und Montage in neuerer Literatur und Kunst (in: Ulrich WEISSTEIN, Literatur und Bildende Kunst; a.a.O.; S. 180-195) dem organisierten das montierte Kunstwerk, dem er die "Tendenz zum Heterogenen" (S. 189) tabellarisch nachweist, gegenüber.278 Jochen GERZ, in: Doris von DRATELN, Im Zweifel schwebend; a.a.O.; Zitat: S. 63.279 Jochen GERZ, KEYS FOR A BUILD; a.a.O.; Zitate: (1) S. 73, (2) S. 76, (3) S. 90.

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II. 3. Foto/Text

Gewidmet ist der Zyklus seinen kanadischen Freunden, mit denen Gerz eigenhändig ein Haus gebaut hat. Trotz oder gerade wegen der jetzt besonders ungewissen Zukunft wollten sie ein Zeichen wider die Resignation setzen und einen symbolischen Schritt tun.

Entfernt erinnert WOLLT IHR an ein Emblem. "WOLLT IHR DEN TOT" ent-spräche der, diesmal vertikalen, Überschrift (Motto). Das Epi-gramm (Subscripio) könnten die wenigen Wörter auf der Nr. 11 ge-nannten Tafel sein, die die fotografischen Bilder erklärten. Doch der erste Anschein trügt. Weder sind die Fotografien nur sinnbildlich gemeint noch ist das Lemma, welches im barocken Emblem sowohl über als auch im Bild angebracht sein durfte, al-lein Titel. Und die auf dem Foto plazierten Texte erläutern nicht, wie es sein müßte, explizit den Sinn des Tableaus.

Die kryptografischen Kürzel sind derart mehrdeutig, daß man nicht von einem generellen Verständnis sprechen kann. Wer wagt schon eine gültige Definition der Begriffe "LEFT" oder "RIGHT"? Alles wird zu einer Frage des Standpunktes. Selbst die beiden (Jahres?)Zahlen "68" und "89" lassen sich als auf den Kopf ge-stelltes Anagramm austauschen. Wohl versteckt sich hinter der "68" die 68er Studentenbewegung, die für Gerz' Biografie einige Bedeutung hat, und die "89" könnte als Datum für den Baubeginn des Hauses oder als Zeitpunkt der Tableau-Konzeption stehen. Könnte.Die Textsplitter "PEACE OR" und "CULT(URE) OR" fordern wie der ab-gebrochene Textbalken "WOLLT IHR DEN TOT" eine Ergänzung. "Oder" ist eine disjunktive Konjunktion, die zwei Wörter miteinander verbindet, die sich gegenseitig ausschließen. Es kann aber auch als Fragewort eingesetzt werden. Wenn wir dem "OR" eine aus-schließende Funktion zuschreiben, wäre als Ergänzung zu "PEACE" der Begriff "war" denkbar. Und Krieg ist zweifelsohne ein Zu-stand, in dem Friedfertigkeit - und somit alle Arten von Kultur - keine Lobby hat.

Die großflächige Wandarbeit WOLLT IHR verliert durch die Repro-duktion im Katalog wenig an Ausdruckskraft, wirkt auch als ver-kleinerte Collage lange nach.

Teile des Zyklus KEYS FOR A BUILD werden weltweit in Museen ge-zeigt und damit einem internationalen Publikum zugänglich. Die Distribution per Katalog-Buch erreicht langfristig jedoch mehr Leser. Außerdem kehrt so die großformatige visuelle Poesie des Jochen Gerz en miniature in die Bibliothek zurück und fügt sich damit nahtlos in die lange Traditionsreihe visueller Literatur ein.

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III. Schlußgedanken

III. Schlußgedanken

Wie in der Einleitung als These formuliert und im Interpreta-tionsteil ausgeführt wurde, heben die Arbeiten des Jochen Gerz die Isolation von Text und Bild auf. Sowohl in den theoretischen als auch den Foto/Texten und den Performances wird Gerz' Posi-tion als Grenzgänger zwischen den sich im 20. Jahrhundert immer mehr nähernden ästhetischen Positionen von Literatur und bilden-der Kunst deutlich: Er sucht hinter dem oder für den Text ein (passendes?) Bild. Dabei zeigt sich, daß immer ein Rest von Un-klarheit bleiben muß, da es nicht um die Identität des Gegen-standes geht, sondern um das unvollständige Bild, das sich der Betrachter von ihm macht.

Auch deswegen sind die hier angebotenen Interpretationen zu den vorgestellten Arbeiten als Versuche zu werten, die keinen An-spruch auf vollständige Richtigkeit erheben. Aber aus der Summe der Einzelkommentare kristallisiert sich als Ergebnis, daß Jochen Gerz ein moderner Vertreter der visuellen Poesie ist, ohne dabei den Gattungsbegriff überzustrapazieren. Was an tra-dierten Formen der visuellen Poesie vorhanden ist, entwickelt und verändert sich mit den neu benutzten Medien.

Unsere mediale Umwelt ist sehr komplex geworden. Und das Ver-trauen in Texte und Bilder schwindet mehr und mehr. Wer, wie Gerz, mit Fotos und Texten künstlerisch arbeitet, muß diesen Vertrauensverlust einkalkulieren.

Jochen Gerz steckt dabei in einem Dilemma: Er muß das benutzen, was er kritisiert, um sich überhaupt (un)verständlich machen zu können. Er beschreibt Dinge - zum Beispiel in der Performance Das Autoportrait sich selbst -, bis diese unkenntlich werden, Was ihm bleibt, ist die Skepsis, aber auch der Glaube an die Collage, also seine Foto/Texte, als adäquates Stilmittel der Moderne. Seine visuelle Poesie ist nicht mehr reines Handwerk, sondern ein digitales Produkt.Thomas Wagner beklagte kürzlich, daß "der Charme des Vorläufigen, Un-fertigen, Gelebten"280 der frühen Arbeiten des Jochen Gerz verloren-gegangen sei. Zwangsläufig verändert eine höhere technische Kom-plexität die Wirkung der Arbeiten. Für Gerz ist die Zeit nicht stehengeblieben. Er operiert selbstverständlich mit digitalen Chiffren, die ad hoc weniger ´greifbar` sind, deren Patina

280 Thomas WAGNER, Das Bild kam nicht zustande, Vorsichtiger Rückblick: Jochen Gerz in der Ancienne Douane in Straßburg. FAZ, 21.4.1994; o.S.

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III. Schlußgedanken

- im Gegensatz zu den frühen Collagearbeiten der Surrealisten - glatt ist, keine Verbrauchspuren trägt. Eben diesen Windows, dieser Kombination von Text und Bild, begegnet man allerorten - also auch in der Literatur. Die mediale Realität281 ist so viel-schichtig, daß ein Künstler, der sich mit ihr auseinandersetzt, mindestens ebenso differenziert seine Mittel einsetzen muß, um sie zu dechiffrieren und - im besten Falle - mit ihr zu korres-pondieren. Wer auf das System einwirken will, sollte das System so gut verstanden haben, daß er sich in ihm bewegen kann, ohne als Eindringling aufzufallen. Die spätere Botschaft, wenn es denn eine gibt, wird selten systemkonform sein. Gerade die mediale Realität bietet genug Ansatzpunkte, um ihr kritisch zu begegnen.

Gerz fragt mit den Mitteln der visuellen Poesie nach der Stel-lung des Menschen in dieser medialen Realität. Die Conditio humana ist das eigentliche Arbeitsfeld des Jochen Gerz.

281 Mediale Realität ist nur scheinbar ein Oxymoron, da die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit immer mehr schrumpft. So schnellte zum Beispiel auf der Beliebheitskala für männliche Vornamen "Kevin" nach dem Kinohit Kevin allein zu Haus in Deutschland unter die Top Ten. Jeder Neugeborene gleichen Namens verdankt sein Glück Hollywood. Der mediale Namenspatron hat den christlichen früherer Zeiten ersetzt. Andere Dimensionen dürfte die mediale Realität im Cyberspace-Kontext vor sich haben.

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IV. Anhang

IV. Anhang

1. Interview mit Jochen Gerz am 18.11.1993 in Potsdam

2. Texte:Das Autoportrait 1975

1. Interview mit Jochen Gerz am 18. 11. 1993 in Potsdam, Altes Rathaus

Ich habe lange überlegt, ob ich den vorhandenen Text glätten, un-vollständige oder abgebrochene Gedankengänge retuschieren soll. Manchmal sprechen wir aneinander vorbei. Doch mein Entschluß, auch die Wiederholungen und Irrationalitäten des Freisprechens getreu zu transkriebieren, erklärt etwas das Abgehackte und Unruhige dieser Unterredung. Im nachhinein, kommt es mir bei an-deren Passagen so vor, als wenn zwei Monologe gehalten worden wären.

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Ihre Foto/Texte sehen aus, als würden sie am Computer herge-stellt, mit digitalen Chiffren.

Jochen Gerz: Es ist eigentlich ähnlich, als wäre es mit dem Com-puter gemacht, aber es ist nicht mit dem Computer gemacht. Das gibt es jetzt, Fotoprogramme, bei Macintosh, die so etwas wahr-scheinlich machen könnten. Es gibt einen kleinen Unterschied: Daß die Fotos selbst wesentlich flacher, grafischer werden, wenn sie durch den Computer hergestellt werden, und obwohl ich durch das Benutzen des entspiegelten Glases auch eine relative Fläche herstelle - und das auch will -, ist trotzdem die Räumlichkeit der Fotografie im Verhältnis zum Schriftband größer. Der colla-gierte Charakter, das Zusammenspiel des Drei- und Zweidimen-sionalen ist klarer so, als wär es alles über den Computer ge-macht. Die Schriftelemente, die Schriftsequenzen sind PVC.

Die spiegeln auch mehr.

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Ja, aber die sind auch ganz unabhängig von der Fotografie, die sind raufgeklebt. Die Schrift ist vom Computer. Der ganze Vorgang, die ganze Ästhetik der Arbeiten wär ohne den Computer nicht denkbar. Obwohl ich eigentlich schon sehr lange so arbeite und sich die beiden Dinge parallel aufeinander zu be-wegt haben, bleibt der Charakter von Windows, von Fenstern, er-halten.

Diese Zäsuren zwischen Wort und Bild...

Genau, ich habe eigentlich nie mit einem Rahmen und auch nie mit nur einem Foto gearbeitet.

Manchmal tauchen in Ihren Arbeiten Leerstellen auf, monochrome Flächen.

Das ist in den neueren Arbeiten so, seit vier, fünf Jahren. Quasi als Referenz an das, was noch nicht ausgedrückt werden kann, was noch nicht gewußt ist. Oder als käme über die Zeitlichkeit eine Dimension rein, der man auf diese Art der Leerlassung gerecht werden kann. Das man einfach Dinge nicht voll macht.

Was auch die Zeitgebundenheit der Produktion impliziert. Aber das beinhaltet nicht, daß Sie sich offenhalten, später wieder an die Arbeiten zu gehen?

Nein, das ist eher eine mentale Dimension. Es ist nicht in dem klassischen Sinne etwas offenhalten, ewas leerhalten. Eher auch als Vorbereitung an den Gedanken, daß man produzieren muß und produzieren kann im umgekehrten Sinne. Das heißt, daß man nicht etwas macht, sondern auch etwas Ent-Tun, quasi etwas

Leeren

Lee-ren kann. Das ist eine Produktionsform genauso ist wie das Zu-Machen oder das Verdecken. Die neuen Arbeiten arbeiten auch mit halbtransparenten Stellen, die dann eben das Minimum des Bildes nicht mehr aufrechterhalten, nämlich das irgendein Stück Wand be-deckt ist.

Aber die Schrift ist in dem Moment klarer. Der Leser soll dann doch, wenn er die Polarität zwischen Schrift und Bild erkennt, sich mehr mit der Schrift befassen können?

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Das ist nur scheinbar so, denn auch die Schrift ´verschwindet`, wird in den Prozeß der Gelierung einbezogen. (GERZ DEUTET AUF SEINE FOTO/TEXT-ARBEIT "I HAD A DREAM # 2" {1992}) Und das sind Fotos, die so unter Wasser sind, Unterwasseraufnahmen. Wie ein Maßstab, den man ans Foto legt, gibt es nur noch diesen weißen, präzisen Stift, der die Distanz zur Schärfe, zur Lesbarkeit noch zeigt.

Gerade dieser Zyklus evoziert den Gedanken an das Fragment; zum Beispiel bleibt hier, zusätzlich zu den Leerstellen im Bild, außerhalb der denkbaren ´Rechteckigkeit` einiges offen.

Das ist immer so. Das ist sehr selten, daß da viereckige Formen rauskommen. Das ist eben der Windows-Charakter des Computers, so funktioniert die Unterteilung, Fragmentierung, Collagierung.

Also ist die Lesbarkeit der Realität, der Welt oder der Kunst hier eine digitale? Denn mit Windows zu arbeiten, bedeutet ja, daß man am Computer oder wie einer arbeitet.

Ja, gut, selbstverständlich. Ich hab ja kein Ölbild bei mir im Paß. Ich glaube, es ist normal. daß die Kunst mehr noch als die Literatur permanent in der Herstellung ihrer eigenen Mittel, Werkzeuge involviert ist. Es geht ja nicht nur um eine mentale Produktion, sondern für mich ist Schrift auch ein Material. Da be-teht eine Materialität. Es gibt da keine Grenze zwischen dem, was im tradierten Sinn Material und was keins ist. Die Ästhetik der existierenden Massenproduktionen ist eben etwas, dem ich mich in keinster Weise entziehen kann. Genausowenig wie sich Manet, Grünewald der Produktionsweise ihrer Zeit entziehen konn-ten. Es gibt ja keinen Grad der Verständlichkeit, keine hundert Prozent einer Verständlichkeit. Es gibt ja nicht ein Bild, von dem man nach Rückfragen bei allen, die es angucken könnten, sa-gen könnte, das ist die hundertprozentige Verständlichkeit.

Das sind selbst schon Legende gewordene Erkenntnisse der Herme-neutik: Daß die Erkenntnis immer zeitbezogen und personenbezogen bleibt.

Klar. Diese scheinbar bekannten Bilder, Reduntanten, vorgebrach-ten Referenzen sind eigentlich nur Konventionen.

(GERZ WIRD IN EIN ANDERES ZIMMER GERUFEN, UM EIN TELEFONAT ANZU-NEHMEN.)

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Mich hat bei der Lektüre von Eva Wolfs "Arbeit am Mythos" 282 sehr interessiert, wie sie Ihre Nähe zum Strukturalismus heraus-arbeitet. Was halten Sie von der These, daß tatsächlich das, was für Lévi-Strauss, Foucault oder Barthes typisch ist, nämlich das kulturhistorische Schreiben mit der Sprach- und Bildanalyse zu vermengen, für Sie maßgeblich sei, die historisch verzögerte An-näherung von Wissenschaft und Kunst auf kultureller Ebene statt-finde? Ihre Kunst eine Art archivierter Diskurs über die Struk-tur und das Wissen vom Wesen der Kunst als Teil des menschlichen Lebens sei?

Okay, was nicht abzuleugnen ist, daß es ungefähr in der gleichen Zeit und daß es in der geografischen Nähe stattfindet. Nur, mei-ner Meinung nach, glaube ich, daß die Strukturalisten einfach in-terpretierende Leute sind. Es gibt andere Bewegungen in Frank-reich, die ein bißchen weniger interpretierend und mehr praxis-bezogen sind, und da liegen für mich die wesentlicheren Zeitge-nossen und auch die interessanteren Vorgaben.

Wer wäre das?

Das sind die Situationisten. Die Theorie kommt oft zu Schlüssen, die sich die Praxis nicht leisten kann. Was mir an den Strukturalisten nicht gefällt, ist ihr ausschließlicher Lesewurmcharakter. Ich bin einfach ein Praktiker, und ich kann mir gewisse Dinge, die sich auf dem Papier vertreten lassen, in der Wirklichkeit nicht leisten. Selbst wenn diese Wirklichkeit nur daraus besteht, Fiktionen zu bilden.

Sie haben mal in einem Interview gesagt, man solle die Wirklich-keit in Frieden lassen. Auf der anderen Seite haben Sie eben festgestellt, daß man sich auch an der Realität orientieren muß. Jetzt komme ich da in eine Bredouille.

Also gut. "Die Wirklichkeit in Frieden lassen" bezog sich auf einen selbstausbeuterischen Ansatz, der der eigenen Arbeit immer dann eine Entschuldigung unterschiebt, wenn man sich eben auf die Wirklichkeit bezieht. Man sollte nicht für seine ganzen Fürze die Wirklichkeit in Anspruch nehmen. Die eigene Arbeit ist eine Situation, die sich nicht immer nur entschuldigen läßt, weil es die Wirklichkeit gibt, sondern ein Teil der eigenen Ar-beit ist auch rein neurotisch, obsessionell, wie auch immer. Und wird als solches kritisierbar. Man sollte sich nicht immer hin-282 Eva WOLF, Jochen Gerz: Arbeit am Mythos; a.a.O.

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ter einem Pflaumenbäumchen verstecken. Das heißt, die Leute se-hen sich stets sehr gerne in dienenden und sehr ehrwürdigen Funk-tionen. In diesem Kontext steht das Zitat.

Ihre Arbeiten sind per se nicht fürs Museum geschaffen. Ich könn-te mir vorstellen, die Foto/Texte auf einer Plakatwand zu sehen, und daß das der Weg für Sie wäre, um mit Ihrer Kunst ins Zen-trum der Gesellschaft zurückzufinden. Einst sind Sie mit Ihren Arbeiten von der Straße ins Museum gegangen. Eine Rückkehr auf die Straße würde die "Marginalität", mit der Sie auch koket-tieren, wenn nicht aufheben, so doch verringern. Viele Leute aus der Kulturszene sind an dem Provokativen Ihrer Arbeiten nicht mehr interessiert, sind saturiert und ausgelutscht. Nach der Vernissage bleiben Ihre ´musealen` Arbeiten meist unbeachtet, kaum ein Besucher verirrt sich in die Ausstellung - jedenfalls wenn ich den Informationen Ihrer Angestellten Glauben schenke.

Das ist so, wie es ist. Das läßt mich auch inzwischen relativ kalt. Dieses Milieu ist ein Vorwand, ich kann meine Kunst schließlich nicht in der Bäckerei verkaufen. Insofern fühle ich mich in dieser Kunstwelt moderat daheim. Wenn die Arbeiten ihre Weiterverwendbarkeit vermitteln, wenn die Arbeiten dem Leser das Gefühl vermitteln, daß sie nicht nur ein Buch sein können oder dem Museumsbesucher das Gefühl geben, als könnten sie auch ein Buch sein, oder denjenigen, der in der Galerie steht, sich fra- gen läßt, wie das auf einer Plakatsäule aussähe, dann ist das genau das Nomadentum, das ich immer angestrebt habe. Die Identifizierung mit einer Kooperation, mit einem Milieu war eigentlich immer nur, nur

Mittel zum Zweck?

Mittel zum Zweck, um eine andere Sache - nämlich das, was ich unter dem Mantel trug, also die Marginalität - zu ermöglichen, zu schärfen.

Ich fühl mich da bestätigt, denn mich überkam oft das Gefühl, wenn ich vor Arbeiten stand, die Sie gemacht haben oder Arbeiten von der Daboven, daß ich mir das immer auch als Buch hätte vor-stellen können. Quasi auch mitnehmen könnte. Also Buch in dem Sinne, daß man das mitnehmen kann, blättern kann, und wenn man dann noch mal kommt, wieder gucken kann. Daß man eine Duplizität hat - in dieser Vermittlung von Kunst.

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Auch diese Mehrverwendbarkeit, diese Doppelidentitäten sind ei-gentlich das, was die Natur uns lehrt, während diese abstrusen Ideen von Einheit und von Eindeutigkeit wirklich auf unserem Mist, auf dem Mist unserer Psyche und auf dem Mist unserer Ver-ängstigung gewachsen ist. Das ist eben das, was den meisten Leu-ten, vor allen Dingen auch hier in diesen Breiten, sehr schwer eingeht, daß die Collage einfach die mimetischste Form im Ver-hältnis zur Natur ist.

Die Collage sei das ´Brandmal der Moderne`, haben Sie mal be- hauptet. Wobei das Wort ´Moderne` zu einem Schlüsselbegriff, wenn auch als Negation, in der gegenwärtigen Ästhetikdiskussion geworden ist. In einem Ihrer Foto/Texte, der auch hier in Pots- dam zu sehen ist, steht die Sentenz: "FOR THE 2ND TIME A CALL FOR MODERNITY" 283. Bezieht sich das auf die Klassische Moderne oder auf die so schwer zu definierende Postmoderne? Und warum haben Sie den Text auf den Kopf gedreht?

Postmodern? Ich weiß es nicht. Vor diesen Fliegenfängern kann man sich auch nicht ganz wehren. Das ist ein bißchen wie Struktu-ralismus. Also ich persönlich bin sicher kilometermäßig sehr nah an der Erfindung dieses Wortes gewesen. Was ich damit sagen will, daß man in einer bestimmten Zeit lebt, mit einer Vergangenheit lebt. Und daß eben die Evozierung einer Tradition - und selbst wenn es die Tradition des Bruches ist - einfach zur Orientierung wichtig ist. Und daß ich einfach gesagt habe, es ist Zeit für ei-ne neue Brechung, im Verhältnis zu diesem Allerlei, everything goes oder appropriation time. Das ist das, was in den 80er Jah- ren einfach die Arbeit Kunst heruntergefahren hat.

Sind Sie vor diesem ´Allerlei` ins Privatime, in die Natur Kana-das geflohen?Nein, das ist einfach eine begleitende Maßnahme zum Leben in der Stadt. Nichts ist zu kapieren aus Einem. Es ist absolut Affenfut-ter, zu meinen, das Land sei das und die Bäume seien das. Es gibt nichts alleine, es gibt überhaupt nichts alleine. Intelli-genz fängt an, wenn man die Dinge im Zusammenhang sehen kann. Diese Sehnsucht nach der Ausschließlichkeit ist einfach ein Hun-defutter, das ist furchtbar. Da ich sehr gerne in einer großen Stadt lebe, mit allem, was das bedeutet, lebe ich auch sehr ger- ne im extremen, naturbestimmten Environment.

Die Mehrsprachigkeit Ihrer Arbeiten hängt selbstverständlich mit Ihrer ´fremdsprachigen` Umgebung zusammen. Aber gibt es neben dieser banalen Erklärung nicht eine tiefere? Daß Sie eine allge-meinere, internationalere Vermittelbarkeit suchen?

283 Jochen GERZ, FOR THE 2ND TIME (1990); in: ders., Life After Humanism; a.a.O.; S. 89. Abbildung Nr. 33.

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Deutschland, Deutschland, Deutschland; sagen wir mal, was ist Deutschland? Ich lebe in Deutschland seit 1959 nicht mehr. Sagen wir mal, ich hab nichts gegen Deutschland. Das ist nur so, mit der deutschen Sprache ist man bei Aachen-Süd am Ende. (GERZ DEU-TET AUF EINE ARBEIT AUS DEM KATALOG.) Diese Arbeit ist zur Zeit in Sydney. Und so geht das weiter. Das heißt, ich kann mit der deutschen Sprache einfach nicht soviel machen, in dem Kontext. Die englische Sprache ist das kleinste Übel, wenn man schon eine andere ...Außerdem zeig ich den Leuten sehr gern eine andere Sprache. Grundsätzlich. Ich find das homöopathisch. Es ist ange-nehm, wenn man auf diesem Niveau mit Sprache operiert, daß es nicht die eigene ist.

Diese andere Sprache klingt aber auch in Ihren deutschen Texten durch. Eine sehr individuell geformte Sprache, der man sich erst anvertrauen muß, was Zeit kosten kann. In einem Ihrer kurzen Texte, den "Heiligen Wörtern", schreiben Sie: "Wer sich aber der Heiligen Wörter versichern wollte oder sonstwie Beistand suchte, der durfte sie nicht gebrauchen." Heilige Wörter - um was han- delt es sich dabei? Das klingt arg soteriologisch.

Sacred, sacred, not wholy sacred. Sacred is an relativ ...sakral. So ungefähr als würd man sagen, das Modell am Auto hat vier Schrauben am Reifen und das Modell hat fünf Schrauben am Reifen. Nur eine technische Beschreibung. Sakral heißt nicht profan und wird in der Ethnologie in der Art benutzt, bei Eliade, sakraler Raum. Das ist eine Setzung, eine willkürliche Gruppensetzung. Das heißt, daß quasi Wörter, die als sakral bezeichnet werden, eine Setzung erfahren, im Verhältnis zu anderen Wörtern. Und das würde heißen, da ja da in dem Text die Beschreibung kommt, von dem, was sakral ist, daß man sie nicht benutzen sollte. Grundsätzlich heißt das, es gibt eine Ebene der Benutzung, die aus der Nicht-Benutzung besteht. Also das Tabu hat einen Sinn.

Aber die Heiligen Wörter sind doch präsent. Wenn man sie denkt, sind sie doch präsent.

Richtig, das ist natürlich ein Widersinn alles. Aber es geht ja auch nicht darum, daß man in diesem Sinne alles können muß oder benutzen kann. Es gibt eben eine andere Ebene, die man nicht beschreiben kann. Das ist eine Ebene, die in die Richtung von Rätsel geht. Es gibt einfach Dinge, die da sind, auch erkennbar sind, als solche, und nur deshalb, weil sie kein Löffel sind. Weil sie also nicht zum Gebrauch einladen, zum Kauf einladen, zum Vergleich einladen, zur Benennung einladen. Innerhalb einer Gesellschaft gibt es meistens Beispiele von solchen Setzungen, die einfach dann entfernt werden aus der Gebrauchszirkulation. Also irgendwo eine Metapher für Kunst.

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Ich lese gerade ein Buch zum Ursprung des Museums, in dem der Autor, Krysztof Pomian 284, sich mit Grabbeigaben beschäftigt. Er entwickelt dabei ein Stufenmodell. Die ersten Grabbeigaben waren Dinge des Alltags, noch zu gebrauchen; die nächsten wurden aus sehr seltenen Materialien hergestellt; und die letzten schließ-lich verloren jede ´wirkliche` Funktionalität, es handelte sich nur noch um Modelle, die teurer herzustellen waren als die Originale und nicht mehr gebraucht werden durften. Zum Beispiel die berühmten Terrakottakrieger des ersten chinesischen Kai- sers 285. Das - einfachere - Menschenopfer kam aus der Mode. Der Ursprung des Museums hängt also eng mit dem Kult zusammen, dem Grabkult. Ich denke, daß das Heilige bei Ihren ´Wörtern` deswe- gen ins Museale gehört, nicht zum Gebrauch bestimmt ist.

Das ist sicher eine gute Idee. Aber das moderne Museum hat für mich nichts mit dem Sakralen zu tun. Ich würde überhaupt nichts als sakral bezeichnen, was so abgesichert, so fest in seiner Existenz wäre wie so etwas - ob das Kirchen, ob das Museen, ob das Fußball ist. Ich würde das als das Gegenteil einer Institu-tionalisierung bezeichnen, sondern eben als eine persönliche oder Gruppensetzung, die aber dann wesentlich weit unter dieser Ablesbarkeit, unter diesem objektiven Konsensus liegt. Eine zeit-weilige, auch ephemere Setzung. Na ja.

Ich würde dem Ganzen, der Setzung, auch ein Schlupfloch für das Kommende offenlassen, wie Sie es mit den Freiflächen in Ihren Tableaus tun. Das Geschaffene, auch das Tabu, reicht über das Eben und das Jetzt hinaus. Das ist wie mit dem ´Einst`, von dem Thomas Mann immer sprach. Das Einst bedeute einerseits die Ver-gangenheit und andererseits die Zukunft.

(GERZ WIRD EIN WEITERES MAL WEGGERUFEN, UM DIE HÄNGUNG EINES BILDES ZU BEGUTACHTEN.)

Gehen wir etwas über ein Jahrzehnt zurück, zu einer umfangreich-eren Arbeit namens "Le Grand Amour (Fictions)" 286. Sicherlich ein wichtiger Vorläufer Ihrer heutigen Foto/Texte. Ein Buch, das zweigeteilt ist: Das Junge, Lebendige im ersten, das Moribunde im zweiten Teil. Sie beschäftigen sich in "Le Grand Amour/2" mit dem Tode Ihrer Mutter; ein Memento mori,

284 Krystof POMIAN, Der Ursprung des Museums - Vom Sammeln; a.a.O.285 Kaiser Chin Shi Huang (259-210 v.u.Z.). Vgl. Pomian, a.a.O.; S. 7-22.286 Jochen GERZ, Le Grand Amour (Fictions). Kunstverein Freiburg 1982. Dudweiler 1982.

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für das Sie auf die deutsche Sprache zurückgreifen. Während der erste Teil mit einem englischen Text 287 beginnt, der in die Bilder integriert ist und der zwölfmal - völlig identisch - wiederkehrt. Außerdem befindet sich Verso die deutsche Version des Textes 288. Warum wird die eine Sprache ins Bild, Rekto, die andere aber als Appendix auf der Rückseite nachgeliefert?

Einfach damit die Übersetzung irgendwo ist.

Welches ist jetzt die Übersetzung?

Das Deutsche.

Haben Sie das selbst übersetzt?

Das weiß ich nicht. Ich übersetze eigentlich nichts selbst, aber ich bin immer dabei. 287 Jochen GERZ: "It had been thursday, ever since she came. The evening at Circe`s kept going on. It was the first night, half past eleven, before they went to bed. She would take a shower. She would come back out in his bathrobe, her hair up, read something (News Line, Groddeck, Monsieur Chabanne`s Duchamp.. pre-war Paris, remember). She would not say much, neither of them would talk a lot. Nobody would be calling now. Outside, the city and the woods.. this and that. It was ok, her being there. Close to her, it would smell of cream, they would go to bed, they would sleep to-gether again. That is the way it was, that is how the time had gone by. Like in photographs. Le grand amour. Perhaps this was ´true love`. The day would come. Perhaps you could call it that."; in: Le Grand Amour; a.a.O.; unpaginiert.288 Jochen GERZ: "Es war Donnerstag seit sie hier war. Der Abend bei Circe ging einfach weiter. Es war die erste Nacht, halb zwölf Uhr, ehe sie ins Bett gingen. Sie würde sich duschen. Sie würde in seinem Bademantel wieder-kommen, die Haare hochgebunden, etwas lesen (News Line, Groddeck, Monsieur Chabannes Duchamps ... wir sind im Vorkrieg in Paris). Sie würde wenig sagen, sie würden beide wenig sprechen. Anrufen würde jetzt keiner mehr. Draußen die Stadt, die Wälder ... dieses und jenes. Es war ok, daß sie hier war. Es würde in ihrer Nähe etwas nach Creme riechen. Sie würden ins Bett gehen, sie würden wieder schlafen miteinander. So war es, so war die Zeit vergangen. Wie auf Fotografien. Le grand amour. Vielleicht war es die ´große Liebe`. Die Zeit würde kommen. Vielleicht hätte man es so nennen können."; in: Le Grand Amour; a.a.O.; unpaginiert.

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In welcher Relation steht denn dieser eine Text zu den zwölf verschiedenen Fotos, wenn wir vom ersten Teil ausgehen?

Wieso? Was soll ich jetzt sagen? Warum im ersten Teil das immer der gleiche Text sei?

Ja.

Sagen Sie das doch. Also ich weiß es nicht. Vielleicht haben Sie irgendwie einen Verdacht? Ich weiß es nicht. Das ist ein bißchen ... also das hat mit der Arbeit zu tun ...

Mich überkam das Gefühl der Unbestimmtheit, als ich den Text das erste Mal überflogen hatte, des rapiden Vergessens des soeben Gelesenen. Beim nächsten Foto, in dem wieder ein Text stand, kam mir das Gelesene schon seltsam bekannt vor. Dann beim dritten Foto, nach der erneuten Lektüre, hab ich zurückgeschla-gen, um zu sehen, ob es sich um den identischen Text handelt. Dann hab ich mir alle Texte des ersten Teils angesehen und ent-deckt: Es ist ein Text. Und dann immer noch mal geguckt, ob da eine Abweichung ist, man sucht ja immer das Deviante. Ich konnte mir das dann nur erklären, daß durch die Wiederholung der Text sich einprägt. Vielleicht ist das zu simpel gedacht.

Nein, ich glaub nicht. Die Arbeit heißt "Le Grand Amour". Und ich denke einfach, daß man aus den Verhältnissen von Schrift und Text et-was sehen müßte. Haben Sie sich die Bilder angeguckt? Das sind zwölf verschiedene Personen ...

Die sehen so aus, als hätten sie das Leben vor sich, stehen mittendrin. Es sind alles Frauen.

Das sind zwölf Frauen, die im gleichen Raum sind, denn auch die-ser Raum taucht immer auf. Und der Text ist durchaus traditio-nell und auf seine Art präzise. Ich kann Ihnen einfach nicht mehr dazu sagen, weil ich grundsätzlich immer sehr daran inter-essiert bin, daß so eine Arbeit intakt bleibt. Und sie kann nur intakt bleiben, wenn Sie sie selbst lesen. Man kann von einer Arbeit nichts selbst haben, was man ihr nicht bringt. Das ist total aussichtslos, wenn ich Ihnen irgendwelche Anekdötchen er-zählen würde. Das ist, wie gesagt, der erste Teil. Es gibt einen zweiten Teil. Es existiert ein Untertitel, der heißt "Fictions". Es geht in meiner Arbeit hauptsächlich um Schrift und Bilder. Es ist einmal die gleiche Person, die im zweiten Teil immer wieder auftritt, genauso wie im ersten Teil immer der gleiche Text auf-tritt. Beim einen liegt der metastatische Teil bei den Bildern, beim anderen ist es eine Vervielfältigung

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IV. Anhang

der Situation, also der Veränderung der Texte. Das ist gewichtet auf eine Art, die sich nur erschließt über das eigene Erleben, nicht über Kunst. Das Ganze ist nicht eine Summe von ästhetischen, von sonstigen Richtigkeiten, sondern die Arbeit begleitet auch ein Leben. In-sofern ist sie potentiell auch realisierbar durch den Betrach-ter.

Gerade für den zweiten Teil mag das stimmen, auf den man sehr unvermittelt stößt. Daß man die grobe Körnung der Todesbil-der, wie ich sie verstehe, als Schock empfindet. Der Vanitas-Gedanke des Mittelalters, der Leitsatz "media vita in morte sumus" drängt sich geradezu auf. Die Theorie, die Thanatologie eines Ariès oder Ebeling, mildert das eigene Erstaunen über den Tod kaum. Ich arbeite, nebenher, seit acht Jahren in einem Altenheim, wo der Tod oft gesehener Gast ist, wo das Noch-Leben als Bald-Sterben verstanden wird.

Ist das eine Situation, die mit dem Militärdienst zu tun hat?

Nein, nein, ich hab verweigert. Es handelt sich auch nicht um Zivildienst. Das ist ganz privat. Das Leben dort ähnelt gar nicht mehr unserem Lebendigsein. Deswegen vielleicht die Affi-nität zu den Bildern, zu dem Text. Daß man sich das sucht, was man selbst will.

Es geht aber auch um sehr materielle Gewichtungen. Es geht nicht um Sinn oder Wesentlichkeiten. Der Umgang mit alten Menschen oder der Umgang mit jungen Menschen oder der Umgang mit Tieren oder der Umgang mit Schnürsenkeln ist zuerst vergleichbar. Es geht mehr um Oberflächen, um Verhältnisse, um Gewichtungen, um Proportionen. Es ist durchaus befriedigend mit den Mitteln der Ästhetik an Sachen so ranzugehen. Vor allen Dingen deshalb, weil die Herstellung, das Rohprodukt der Schrifterstellung ja Mittel sind, die nicht in einem Reservat der Kunst wachsen, sondern die von vielen, vielen, vielen Leuten geteilt und benutzt werden. Insofern ist es durchaus denkbar und vertretbar, sich bei der Beschreibung von solchen Dingen im Feld des ästhetischen Dis-kurses zu bewegen.

(GERZ WIRD IN DEN AUSSTELLUNGSRAUM GERUFEN.)

Kehren wir zu "Le Grand Amour/2" zurück. Hinter dem letzten Satz, der bei allen zwölf ansonsten sehr unterschiedlichen Tex-ten identisch lautet, stehen Initialen. Welche Funktion erüllt eine derartig änigmatische Schlußformel?

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IV. Anhang

Im Werk sind verschiedene Gegebenheiten wie ein Puzzle gesetzt. Zu diesen Setzungen gehört auch dieser Satz.

"Wenn sie aufwachte, würde er sie fragen, ob sie etwas trinken wollte".

Einerseits ge-hört das in den Kontext, scheinbar. Da sieht man zum Beispiel ein Glas (GERZ DEUTET AUF EIN FOTO, DEM DER TEXT MIT DEN IN-ITIALEN "E.G." BEIGEGEBEN IST.289). Das könnte in den Kontext ge-hören, gehört aber nicht in den Kontext wie der darüber stehende Text. Es wirkt also wie eine Einblendung, O-Ton oder wie eine Rahmung. Dann kommen bei diesen zwölf Texten Initialen, und die können sich auf zwölf verschiedene Personen beziehen. Das ist wirklich wie bei Agatha Christie. Es ist aber auch eine vollkom-men logische Lösung dafür möglich. Ein Teil der Sache könnte heißen, daß es unmöglich ist, etwas anderes als immer das glei-che zu erleben; daß es unmöglich ist, eine Beziehung zu erleben, weil diese Beziehung permanent durch die Erinnerung überblendet und stereotypisiert wird. Es könnte heißen, daß die namenlosen Leute als Initialen auftauchen im falschen Teil, daß vielleicht sowieso Texte im falschen Teil auftauchen. Das heißt, daß Ele-mente aus Eins in Zwei, welche aus Zwei in Eins sind.

Bei der Intiale "E.P." könnte man dann zum Beispiel an Ezra Pound denken.

Ja. Man könnte auch denken, daß es eine der Frauen davorne wär.

Daß der Rezipient sich sogar selbst angesprochen fühlte, wenn er die Initiale hätte.

Fotografiert werden ja nur grundsätzlich Dinge, die existieren. Ich kann ja nicht den lieben Gott fotografieren. Insofern gibt es solche Leute, die sind ja nicht gemalt. Sie leben - oder ha-ben zur Zeit der Fotografie gelebt. Deswegen ist eine unabweis-bare Durchbrechung von der fiktiven Welt gegeben, daher der Ti-tel "Fictions". Das ist eine unumgängliche Dimension der Foto-grafie. Im Text kann ich immer sagen: Heute morgen bin ich dreimal gestorben. In der Fotografie kann ich das nicht sagen. Es gibt da Grenzen. Die Fotografie kommt einer Denunziation und Ausstellung gleich. Und die verschiedenen Ebenen des Bild-Seins und Bild-Machens werden eben auch zu einer verantwortlichen, schuldigen Dimension, weil

289 Abbildung Nr. 23; in: Jochen GERZ, Le Grand Amour; a.a.O.; unpaginiert.

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einfach das Bild-Machen kein unschul-diger Akt ist. Bild-Sein ist oft ein Akt, der in die Richtung von Opfer-Sein, von Ausgebeutet-Sein, von Verwendung geht.

Deswegen bezahlt der Professionelle oder der Tourist auch, wenn er in ein Elendsviertel geht, um das Leid zu fotografieren. So entsteht dann ein mögliches Inventar der Fotografie, wird, um einen Ihrer Begriffe zu verwenden, als Dispositiv bereitgestellt.

Dispositiv hat, da haben Sie Recht, den Charakter der Abrufbar-keit, der Reserve.

Da kommt mir wieder der Gedanke an die Spuren-sicherung, den Metken 290 geäußert hat. Er hat neben Boltanski auch Sie in diese Gruppe der ´Spurensicherer` eingeordnet. Füh-len Sie sich richtig gedeutet?

Ich gehöre da eigentlich bedingt nur dazu, weil mich die Spuren-sicherung kaum interessiert. Ich denke, daß wir an der Zahl un-serer Spuren demnächst eingehen werden. Mich interessieren Spu-ren nur als kulturelles Phänomen. Ich bin kein neurotischer Spu-rensicherer, sondern ich frage mich, warum Menschen nur noch in-vestieren können in diesen Spur-Bereich, nur noch in das, was objektivierbar ist; und dadurch weniger Intensität demgegenüber empfinden, was Leben ist, was die Spur im Leben ist. Das gilt für die Arbeiten, weil sie eben mit den Mitteln der Kommunika-tion arbeiten und sonst eigentlich mit wenig. So brauchen sie einen gewissen Grad von Widerstandsfähigkeit gegenüber der Lek-türe. Das ist ja absurd, mit den Mitteln der Information Infor-mation herstellen zu wollen. Obwohl sich der Künstler, wenn er sich eines Mediums bedient - der Fotografie meinetwegen, die ja auch schon als Medium archa-isch ist, wenn man bedenkt, was für Möglichkeiten die digitalen Arbeitstechniken bieten -, wenn er sich dieses Mittels bedient, um die Medialisierung zu kritisieren, sich selbst an der Nase herumführt. Ist das nicht ein Trugschluß? Ist das breite Publi-kum, das wir als Fiktion einfach mal annehmen wollen, nicht längst solchen Spitzfindigkeiten gegenüber abgestumpft? Gibt es nicht längst eine allgemeine Akzeptanz, den Tanz um das goldene Medienkalb?

Es geht nicht so sehr um Kritik. Es gibt eine aus der Aufklärung kommende zu starke Fixierung auf das Heil via Kritik. Man muß es nur kritisieren, und dann kann man es überwinden.

Eher verstehen.

290 Günther METKEN, Spurensicherung - Kunst als Anthropologie und Selbster-forschung; a.a.O.; zu Gerz: S. 123 ff.

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Gut, aber verstehen ist ja eine Art von Schachmattsetzen. Etwas, was ich verstehe, kann ich auch vergessen. Es geht eher um die Revitalisierung von Bereichen, um die Animierung und Sakrali-sierung von Bereichen. Das heißt, daß ich Dingen wieder das Selbst zurückgebe. Daß ich sie restituiere. Daß ich letztlich Dinge so einsetze, daß sie dem Verstehen- und Wissenwollen ein-fach gewachsen sind. Sie wollen nicht den Eindruck der Nur-Lesbarkeit erwecken.

Und damit wird der Eindruck verstärkt, daß das Werk sich selbst implizit überwindet. Daß man sich die Möglichkeit des Ganz-Anders-Seins offenhält. Aber in welchem Zusammenhang steht dann die denotierbare Schrift? Wenn ich mir das Plakat der Ausstel-lung ansehe, das aus der Serie "FREE # 1-6" die Schrifttafel "FREE COCA COLA 1990" zeigt, kann ich die Schrift mühelos de-chiffrieren, trotz der senkrechten Zäsur. Ein Symbol unserer Warenwelt, ohne Foto, aber Schrift als Foto, denn es handelt sich ja um ´fotografierte` Schrift.

Das ist eine von fünf oder sechs Arbeiten. Viele Arbeiten ent-stehen in einer Familie von Arbeiten und sind dann nur ein mög-licher Träger der Bedeutung - die ganze Arbeit wäre der komplet-te Satz. Und der Satz von Arbeiten zeigt in diesem Fall die Iko-nen der Glaubwürdigkeit: Die linke Ikone, die rechte Ikone, die Wirtschafts-, die Kapitalismusikone. Die Ware plötzlich dazwi-schen, als seien die Menschen besser definierbar über das Label.

Und nicht nur die Menschen, die Rezipienten, werden definiert, sondern gleichzeitig wird auch das Bild, die Cola-Flasche, in uns materialisiert.

Das stimmt, aber die anderen Arbeiten heißen eben "FREE ADAM SMITH" or "FREE MICHAEL BAKUNIN" or "FREE ROSA LUXEMBURG" or "FREE EZRA POUND", "FREE FLORENCE NIGHTINGALE". Daß auf der Schriftrolle eigentlich nur die verschiedenen Identifikations-angebote durchrasen.

Jeder kann sich bedienen im Supermarkt der Ideologien.

Jeder kann sich bedienen. Es kostet den gleichen Preis. Man muß eben heute gelebt haben, und man muß grundsätz-lich gelebt haben, um solche Sachen zu verstehen. Das haben die-se Sachen vielleicht mit der nature morte gemeinsam, daß sie sich konstituieren aus der Empirie des Betrachters. Das Sujet dieser Arbeit, ihr Wesen liegt im ingenieurhaftes Interesse für das Funktionieren unserer Gesellschaft. Mein Modell ist die Kul-tur, ich male die Kultur. Alles, was mit Ethik zu tun hat, be-trifft mich überhaupt nicht. Dieser ganze Schmus, was

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IV. Anhang

Kunst sol-le oder wolle, wo es alles für stehe, was es uns alles vom Leibe halten solle, ist für mich nach dem 20. Jahrhundert geradezu un-erträglich.

Deswegen der Leittitel "Life After Humanism"?

Richtig. Einfach als Gedanke, ob der Mensch sich nur aus seinen Bücherge-stellen definieren läßt oder ob der Mensch vorstellbar ist als Mensch.

(GERZ WIRD AUS DEM ZIMMER GERUFEN.)

Ihre künstlerischen Mittel sind, für sich gesehen, einfach und durchschaubar, im Zusammenspiel allerdings eher das Gegenteil, also komplex.

Entscheidend ist, daß das, was die Leute gut dran finden, daß mit den Mitteln der Banalität eben wieder eine ge-wisse Aufladung geschieht ... nicht in die Richtung, daß ich durch Kunst oder Literatur noch mal mehr Meinungsmache, Banali-tät, Säkularität erzeuge, was ja auch im 20. Jahrhundert zum Teil eine wichtige Sache war, das zu tun; also einfach diesen Kunstschmus ein bißchen abzuspecken. Was mich interessiert, sind im Gegenteil die Tendenzen der metastasischen Säkularisierungen, der totalen leeren Versprechen, denn es geht ja immer drum, daß man irgendwen einfängt. Du legst irgendwo eine Latte hin; und derjenige, der dich konsumiert, denkt immer ans Springen, und derjenige, der produziert, läuft immer drunter her. Die säkula-risierte Welt zu kennen, zu begreifen, mit ihr zu arbeiten - nicht nur zynisch, sondern liebevoll -, und diese säkularisier-te Welt wieder zu einer poetischen Dimension zurückzuführen, ist entscheidend.

Läßt sich diese Haltung mit dem Begriff ´Ehrlichkeit` umreißen?

Ehrlichkeit, Ehrlichkeit, jeder ist ehrlich, aber das Interesse an Spannung, an Energie bleibt. Das hat wirklich was mit Poesie zu tun. Mich befriedigt eine gewisse Akzentuierung, Proportiona-lisierung von Dingen. Das beschäftigt mich mehr als andere Sachen. Wobei ich nicht irgendwelche Dinge aufgebe. Es bleiben immer Potentialfelder, die bestellt werden können.

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Die natürlich auch andere schon bestellt haben. Und da wären wir bei meiner abschließenden Frage nach Ihren literarischen Vorbildern.

Literatur ist für mich am Ende. Literatur gibt es als zeitge-nössisches Phänomen nicht. Und außerdem ist die Kunstgeschichte der letzten dreißig Jahre voll mit Schrift. Man kann kaum noch ein Ölbild sehen, wo nicht drin geschrieben wird. Dieser Ein-bruch der Schrift im Dadaismus, Konstruktivismus, Surrealismus Anfang dieses Jahrhunderts via Freud, via neue Medien hat die Kunst aufgebrochen. Und in diesem Aufbrechen hat sie mehr emp-fangen, als sie verloren hätte. Sie hat die ganzen Überläufer aus der Literatur empfangen. In den letzten dreißig Jahren sind in die Kunst viele Leute reingekommen, die gedacht haben, sie seien Schriftsteller.

Und wohl auch sind. Literaturwissenschaft, Medienwissenschaft öffnet sich jetzt diesen Literaten, den Bil-dern. Bilder in Texten - das ist etwas, was zu der modernen Literaturwissenschaft dazugehört. Und dann ist die Literatur, was ihre Innovationskraft betrifft, nicht tot. Dann sind Sie auch ein Teil dieser Literatur.

Ja natürlich. Ich mach das ja ganz bewußt, daß ich in diesem engeren deutschen Kontext diese Sache aufrechterhalte. Diesen Bereich der neuen Poesie nicht aufgebe. Eine zwar relativ erfolglose Arbeit, aber ich mach das, um diese Ambivalenz aufrechtzuerhalten. Denn ich bin ja nicht in die Kunst gegangen aus Überzeugung, sondern nur weil sich das so ergeben hat, weil man mit dem Zuziehen des Kulturbegriffs nach 1968 aus den Kollektionen rausgeflogen ist.

Nicht mehr verlegt worden ist, obwohl renommierte Fürsprecher - wie bei Ihnen Heißenbüttel - sich für die ´neue` Literatur einsetzten.

Ja, da ging eine ganze Serie bei Luchterhand flöten.

Brinkmanns "Rom, Blicke" ist ein Paradebeispiel dieser Litera-tur.

Literatur ist für mich mit dem zweiten Weltkrieg gegessen. Brecht nach dem zweiten Weltkrieg kannste vergessen, Benn nach dem zweiten Weltkrieg kannste total vergessen. Dann gibt`s noch ganz peinliche Fälle wie Piontek. Seither gibt es eine private Befindlichkeit, die so oder so übers Papier kommt, die aber nichts damit zu tun hat, daß sich darin eine

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zivilisatorische Dimension ausdrückt. Der Rest ist einfach: Was krieg ich zum Herbstprogramm, was krieg ich in die Kommerzialisierung rein. Und wenn man der Kunst vorwirft, daß sie vom Geld abhängt, was sicher stimmt, dann müßte man das mal bei dieser armen Literatur angucken mit ihren paar Verlegern. Die machen nun wirklich das gute und das schlechte Wetter - und werden dazu noch gelobt. In der Kunst können relativ viele Leute am Markt vorbei existieren. Und zwar sehr gut. Sie können auch bekannt sein und können damit auch Widersprüchlichkeit in den Betrieb hereinbringen und erhal-ten, die dem Betrieb gut tun. In der Literatur hat sich seit dem zweiten Weltkrieg kein Mensch mehr um die Werkzeuge gekümmert. Die wissen gar nicht mehr, mit was sie schreiben. Wenn man denen die Schreibmaschine wegnimmt und stellt denen einen Computer hin, dann arbeiten die am Computer weiter. Gut, da gab es die visuelle Poesie, die Konkrete Poesie, die eher Endmoränen von einer früheren Aktion waren. Eher Spuren von einer früheren Avantgarde waren - mehr als etwa selbst ein Weg. Und damit waren sie eine Garageneinfahrt, sind im Formalismus geendet. Denn die Wörter sind leider so gemacht, daß sie etwas bedeuten.

Ja, aber Visuelle Poesie definiert sich komplexer. Erst mal von der Tradtion her. Das carmen figuratum aus der karolinischen Epoche des Hrabanus Maurus zum Beispiel.

Ja, ja. Nein, das ist eine tolle Sache.

Da gibt es sehr, sehr gute Dinge und

Natür-lich.

Den Begriff der visuellen Poesie faß ich weiter, sehr viel weiter. Den faß ich so weit, daß ich bildende Wort-Kunst und Literatur zusammenfasse zum Oberbegriff ´visuelle Poesie`. Ein Terminus technicus scheint mir notwendig zu sein, um etwas Ordnung vermitteln zu können - ohne das Denken in Schubladen zu sperren.

Das kann man sicherlich machen. Obwohl man den Begriff nicht wie Kaugummi über den Berg ziehen kann, das ist histo-risch. Das gab`s historisch, und irgendwann ist alles, was es mal gab, auch zu Ende. Das ist entsorgt. Wenn das leichter wär, da was zu machen, würd ich auch sicherlich ... Das Gebiet ist ab. Das geht ja um viel mehr. Das geht um das Buch, das geht um den ganzen infrastrukturellen Bereich. Selbst das, was auf den Bäu-men wächst, wächst irgendwann nicht mehr weiter. Warum soll

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nicht eine Phase des Ausdrucks zu Ende gehen. Da wird der Inhalt des LKW halt auf einen anderen LKW geladen und fährt weiter, im Staffellauf. Das gehört zu der Identität einer Kultur, daß sie solche Verladungen vornehmen kann. Was mich interessiert, ist das Funktionieren. Mich interessiert Poesie als etwas, was eher kalt ist, nicht als eine kooperative Befindlichkeit. Wenn das Ding keinen Namen hätte, müßte man es trotzdem machen. Inklusive Kunst. Kunst könnte auch keinen Namen haben, und trotzdem würde es von ein paar Leuten gemacht werden.

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2. Texte

Jochen Gerz: Das Autoportrait

35 Jahre nach meiner Geburt bin ich da angekommen, wo ich ange-fangen habe. Ich will nur sagen, daß ich nicht einsamer gewesen sein kann damals, als ich es heute bin. Alle meine Bemühungen, denn darum handelt es sich, um die Leute zu mir her zu ziehen, scheinen sie zu vertreiben und von mir fernzuhalten. Je ungestü-mer ich mich ihnen zu erkennen gab, desto sicherer kann ich sein, sie von mir abzuhalten. Schon seit einiger Zeit habe ich damit begonnen, diese Bemühungen um die Leute, die mich tagtäglich um-geben, oder auch um die Menschen, die ich zum ersten Mal sehe, vor ihnen zu verbergen. Je mehr mir das gelingt, um so mehr und länger kann ich in meinen Bemühungen fortfahren, ohne dabei von denen verletzt zu werden, denen sie gelten. Die Leute, die erst nur das Ziel und der Anlaß meines Verhaltens waren, waren ja auch der Grund für seine Unmöglichkeit. So kam es, daß ich zu- erst ganz unbewußt begann, mein unmögliches Verhalten und meine Bemühungen um die Leute gern zu haben. Es war, als könnte ich mich nur mit diesen Versuchen solidarisieren. Natürlich konnte die langsame Gewöhnung an diesen Zustand nicht unbemerkt bleiben. Das, was zuerst einer immer subtileren Werbung um Menschen glich, Vereinzelte, deren eigene Erinnerung eine wenn auch unsichere Lektüre dessen zu erlauben schien, was ich selbst verbergen woll-te, mußte immer mehr wie eine Ausschließung von anderen empfun- den werden. Man konnte durchaus auch den Eindruck haben, als wollte ich die Leute warnen vor etwas, was sie doch nicht verste-hen würden, was aber unabhängig von ihrem Verständnis sie errei-chen konnte. In Wirklichkeit aber waren meine Bemühungen da am weitesten mir selbst verfolgbar, wo sie am wenigsten spürbar wa-ren, weder als eine Umwerbung noch als eine Ausschließung. Wo sie einfach so unbetroffen von ihrer Herkunft waren wie ein na-türliches Phänomen. Dazu muß ich sagen, daß von dem Augenblick an, wo ich begann, mein Vorhaben gern zu haben, und zugleich mich zu desinteressieren von den Leuten, denen alle diese Bemü-hungen galten, ich mir der Künstlichkeit dessen, was ich tat, immer mehr bewußt wurde. Das, was ich tat, schien heimlich das zu bestätigen, was ich nicht tat. Diese und andere heimliche Übereinstimmungen, die sich zwischen mir und dem, was ich tat, einstellten, schienen sich dennoch mitzuteilen, aber eben fast trotz der Person, der sie sich mitteilten. Es handelte sich wie gesagt um etwas, das künstlicher kaum hätte sein können, das aber so selbstverständlich schien wie ein Baum. Von der Natur hatte dieser Vorgang nur dieses Lakonische geerbt, vielleicht war es auch nur so, daß der Vorgang ein eigenes Verhalten nun seinerseits zeigte, das ähnlich zur Sichtbarkeit kam wie das, was man gemeinhin als Natur bezeichnet und das wohl seinerseits nur einen Wunsch beschreibt. Denn Natur gibt es nur in der Künst-lichkeit. Daher kommt es vielleicht, daß wir vor der Bildlich- keit manchmal zurückschrecken wie auch vor anderen Mitteln der Illusion.

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Danach bezieht sich die Illusion nicht auf das Zeigba-re, sondern das Sichtbare an sich. Das Unsichtbare ist sich ganz gewidmet und kann auch nicht sich selbst entwendet werden unter gleich welchem Vorwand, und sei es dem der Kommunikation. Es ist ja in meinem Fall erwiesen, daß nichts so sehr meinen Bemühungen und andere Menschen Abbruch zu tun scheint als die Mitteilung, die sich zwischen uns installiert wie ein Despot. Gerade die Mit-teilung zwischen uns trennte uns in dem Maße, als sie zustande kam. Und so, wie sie fehlte, konnte die eigentliche Bemühung vorangetrieben werden, unbehelligt von jedermann. Wäre nicht die Nähe gewesen zwischen mir und meiner mir selbst unkenntlichen Be-mühung, hätte man auf jeden Hinweis verzichten können. Wäre man dann nicht dem nahegekommen, was selbst konservative Leute als "Natur" bezeichnen? Die Zeit, die ich selbst jedoch dabei ver-brachte, diese einzige Zeit, ließ den Hinweis auf mich wohl noch eine Zeitlang zu, solange ich selbst nämlich noch diesen Bemühun-gen nachging. Wenn ich sie aufgebe, werden sie so sichtbar wer- den für andere wie für mich, seit sie mich umstehen wie geistes-abwesend. Meine Bemühungen werden sichbar werden dank meiner Ab-wesenheit. Doch sie werden dann nicht mehr existieren. Jetzt, wo meine Bemühungen von Tag zu Tag mich mehr ausfüllen und ich selbst immer totaler in meinen Bemühungen bin, schienen sie für den letzten Menschen, dem ich nahe bin, von Tag zu Tag unausweichlicher, so daß bald nur noch mir ganz Unbekannte mich aushalten können, vor denen es mir gelingt, meine Bemühung zu verstecken. Es gibt jetzt nur die Möglichkeit, eine Möglichkeit, eine kleine Möglichkeit zu einem Mißverständnis einzulassen, ei- ne Sichtbarkeit, und sei es nur etwas, das zudeckt und kaschiert. Denn da, wo etwas verborgen wird, da sind wir nur um eine Sicht-barkeit gebracht wie um eine hochverdiente Sache. Während mir auch in Zukunft nichts unsere, meine, eure Anteilnahme erklären könnte.

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Zitiert nach: Jochen GERZ, Texte. Bielefeld 1985. S. 35-36

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V. Literatur

IV. Literatur

1. Bücher von Jochen Gerz und Bibliografie - Texte über Jochen Gerz2. Allgemeine Literatur

1. Bücher von Jochen Gerz

Die Beschreibung des Papiers, Darmstadt/Neuwied 1973

Die Zeit der Beschreibung, Lichtenberg 1974

EXIT/Materialien zum Dachau-Projekt 1972, Hamburg 1974

Die Schwierigkeit des Zentaurs beim vom Pferd steigen/The Centauer`s difficulty when dismounting the horse, München 1976

Das zweite Buch (Die Zeit der Beschreibung), Spenge 1976

EXIT/Das Dachau Projekt, Frankfurt 1978

Das dritte Buch (Die Zeit der Beschreibung), Spenge 1980

The Fuji-Yama-Series, Dudweiler 1981

Mit/ohne Publikum, Performances 1968-80, Bielefeld 1981

Le grand amour, Dudweiler 1982

Das vierte Buch (Die Zeit der Beschreibung), Spenge 1983

Texte, Bielefeld 1985

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V. Literatur

Eine Ausstellung, Köln 1988

Life after Humanism, Stuttgart 1992

Bibliografie - Texte über Jochen Gerz

Demosthenes DAVVETAS, Im Anfang war die Tat; in: Jochen GERZ, Eine Ausstellung, Köln 1988. S. 128-130

Thomas DEECKE, Free; in: Jochen GERZ, Life after Humanism, Photo/Texte 1988-1992. Stuttgart 1992. S. 102-103

Doris von DRATELN, Im Zweifel schwebend / Jochen Gerz - ein Kon-zept-Künstler gegen den Strom der Saisonkunst; in: Die Zeit, Nr. 45, 2. November. Hamburg 1990- Vom Realismus der Poesis; in: Jochen GERZ, Life after Human-ism, Photo/Text 1988-1992. Stuttgart 1992. S. 126-135

Wolfgang Max FAUST, Bilder werden Worte - Zum Verhältnis von bildender Kunst und Literatur im 20. Jahrhundert oder Vom An-fang der Kunst im Ende der Künste. München 1977. S. 207

Erich FRANZ, Mit/ohne Publikum, Zu den Performances von Jochen Gerz; in: Jochen GERZ, 1968-80. Bielefeld 1981. S. 6-16- Vorwort; in: Jochen GERZ, Texte. Bielefeld 1985. S. 5-6

Peter FRIESE, Chauffer la terre / Noch ein Versuch über Natur; in: Jochen GERZ, Kunstverein Ruhr. Essen 1991- Jochen Gerz: Ausstellung in Altenburg und Potsdamm - Ein Bremer Ausstellungsprojekt geht in die neuen Bundesländer. Pressemitteilung 19.7.1993. Bremen 1993

C.-A. HAENLEIN, Macht und Ohnmacht der Erinnerung; in: Kat. Kestner Gesellschaft. Hannover 1978. S. 7

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V. Literatur

Amine HAASE, Gespräche mit Künstlern. Köln 1983. S. 52-57

Helmut HEIßENBÜTTEL, Nachwort; in: Jochen GERZ, Die Zeit der Be-schreibung. Lichtenberg 1974. S. 92-95- Nachwort; in: Jochen GERZ, Das zweite Buch (Die Zeit der Be-schreibung). Lichtenberg 1976. S. 150-154- Nachwort; in: Jochen GERZ, Das dritte Buch (Die Zeit der Be-schreibung). Spenge 1980. S. 208-211- Nachwort; in: Jochen Gerz, Das vierte Buch (Die Zeit der Be-schreibung). Spenge 1983. S. 92-95. Wiederabgedruckt in: Buch-stäblich. Katalog Von der Heydt-Museum. Wuppertal 1991. S. 54-55

Werner HOFMANN (Hrsg.), Luther und die Folgen für die Kunst. 490: Pictures at an exhibition. München 1983

Jürgen HOHMEYER, Als wenn es gar nicht geschrieben wäre, Zur Spiegelschrift bei Jochen Gerz; in: Kat. Kestner Gesellschaft. Hannover 1978. S. 13-17

Rosi HUHN, Jochen Gerz, <Strategien der Verweigerung>; in: Kunstforum Bd. 86. 1986

Patric JAVAULT, Jochen Gerz, "Blau oder das wirkliche Leben!"; in: Kat. Documenta 8 Bd. 2. Kassel 1987. S. 76-77

Kunsthaus Hamburg, Arbeit in Geschichte, Geschichte in Arbeit. Hamburg 1988. Jochen Gerz: EXIT; S. 146-147

Petra KIPPHOFF, Das verschwundene Denkmal; in: Die Zeit Nr. 47, 19.11.1993. Hamburg 1993. S. 68

Ulrich KREMPEL, Die zeitlose Zeit; in: Jochen GERZ, Eine Aus-stellung. Köln 1988. S. 134-137

Friedemann MALSCH, Überlegungen zum Videotape "Ti amo"; in: Jochen GERZ, Eine Ausstellung. Köln 1988. S. 141-145

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V. Literatur

Matias MARTINEZ-SEEKAMP, Jochen Gerz; in: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, 30 Nlg., Oktober. München 1988

Günter METKEN, Der Transsibirien-Prospekt; in: Kat. Documenta 6. Kassel 1977. S. 262-263- Kunst: Zentaur aus Wort und Bild; in: Spurensicherung, Kunst als Anthropologie und Selbsterforschung. Köln 1977. S. 123-137- "Läßt sich gar nichts aus der Welt schaffen?", Bücher gegen Bücher; in: Kat. Kestner Gesellschaft 1978. S. 8-12

Herbert MOLDERINGS, Das Leben ist keine Performance; in: Moder-nität und Tradition. München 1985. S. 197-209- Foto/Texte von Jochen Gerz; in: Kat. Kestner Gesellschaft. Hannover 1978. S.18-21

Stephan SCHMIDT-WULFFEN, Duell mit der Verdrängung, Ein Gespräch mit Esther und Jochen Gerz; in: Kunstforum Bd. 87. 1987. S. 318-321

Bernd SCHULZ, Einleitung; in: Die Erfindung der Welt, Stadtgale-rie Saarbrücken. Saarbrücken 1985

Stephen SNODDY, 25. Mai 1991...; in: Jochen GERZ, Life after Humanism, Photo/Texte 1988-1992. Stuttgart 1992. S. 95-96

Raimund STECKER, Jochen Gerz; in: Kunstforum Bd. 96. 1988. S. 300-302

Birgit STÖCKMANN, Eine kurze Einführung zur Ausstellung "Life after Humanism". Pressemitteilung 4.11.1993. Potsdam 1993

Marie Luise SYRING, Spiegelbilder, Kunst und moderne Psychoanalyse; in: Kunstforum Bd. 43. 1981 S. 56-59- Tendenzbericht Paris; in: Kunstforum Bd. 69/1. 1984. S. 167-69

Karin THOMAS, Zweimal deutsche Kunst nach 1945: 40 Jahre Nähe und Ferne. Köln 1985. S. 216-217

Andreas VOWINCKEL, Die Abwesenheit der Anwesenheit, Zum Produk-

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V. Literatur

tionsbegriff im Werk von Jochen Gerz; in: Jochen GERZ, Life after Humanism. Stuttgart 1992. S. 20-26

Rolf WEDEWER, Blau oder das wirkliche Leben, Ausstellungskata-log. Leverkusen 1990

Eva WOLF, Arbeit am Mythos (Diss.). HBK Braunschweig 1992, Berlin 1993

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V. Literatur

2. Allgemeine Literatur

Jeremey ADLER / Ulrich ERNST, Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne, Weinheim 1990

Theodor W. ADORNO, Philosophie und Gesellschaft. Stuttgart 1984- Ohne Leitbild, Parva Aesthetica. Frankfurt/M 1967

Götz ADRIANI, Winfried KONNERTZ, Karin THOMAS, Joseph Beuys Leben und Werk. Köln 1973 und erweiterte Neuauflage 1981

Philippe ARIÈS, Bilder zur Geschichte des Todes. München Wien 1984- Geschichte des Todes. München 1987

Heinz Ludwig ARNOLD, Die andere Sprache, Neue DDR-Literatur der 80er Jahre. München 1990- (Hrsg.) Konkrete Poesie I. Text + Kritik Bd. 25. München 1971- (Hrsg.) Konkrete Poesie II. Text + Kritik Bd. 30. München 1971

Ars Electronica, Philosophien der neuen Technologie, Berlin 1989

Hugo BALL, Der Künstler und die Zeitkrankheit. Frankfurt/M 1988

Roland BARTHES, Die helle Kammer, Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt/M 1985- Die Lust am Text. Frankfurt/M 1974- Elemente der Semiologie. Frankfurt/M 1979- Mythen des Alltags. Frankfurt/M 1964

Jean BAUDRILLARD, Videowelt und fraktales Subjekt; in: Ars Electronica, S. 113-131

Ulrich BECK, Die Erfindung des Politischen. Frankfurt/M 1993-Risikogesellschaft, Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M 1986Walter BENJAMIN, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit; in: Gesammelte Schriften I.2. Frankfurt/M 1974- Illuminationen, Ausgewählte Schriften 1. Frankfurt/M 1977

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V. Literatur

Joseph BEUYS, Multiples, Werkverzeichnis Multiples und Druck-graphik 1965-1985. (Hrsg.) Bernd KLÜSER und Jörg SCHELLMANN. München New York 1985- (u.a.), Zeichen und Mythen, Orte der Entfaltung. Köln 1982

Antje BIRTHÄLMER, Mehr als schöne Worte, Betrachtungen zum Ver-hältnis zwischen Kunst, Sprache und Schrift; in: Buchstäblich. Katalog Von der Heydt-Museum. Wuppertal 1991. S. 15-22

Christian BOLTANSKI, Christian Boltanski. Staatliche Kunsthalle Baden-Baden. Baden-Baden 1984- Inventar. Hamburger Kunsthalle 1991- Leçon des Ténèbres. Kunstverein München. München 1986- Réserves, La fête de Pourim. Museum für Gegenwartskunst Basel. Balsel 1989- Sammlung lustiger Einakter, 12`74 Westfälischer Kunstverein. Münster 1974

BOURDIEU (u.a.), Eine illegitime Kunst, Die sozialen Gebrauchs-weisen der Photographie. Frankfurt/M 1981

Horst BREDEKAMP, Antikensehnsucht und Maschinenglauben, Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte. Berlin 1993- Der simulierte Benjamin, Mittelalterliche Bemerkungen zu seiner Aktualität; in: Andreas BERNDT (Hrsg.), Frankfurter Schule und Kunstgeschichte. Berlin 1992. S. 117-140

Hans BRÖG (u.a.), Kunst nach 1945, Arbeitsbuch Kunstunterricht. Düsseldorf 1985

Peter BÜRGER (Hrsg.), Surrealismus. Darmstadt 1982- Theorie der Avantgarde. Frankfurt/M 1974

Jürgen CLAUS, Elektronisches Gestalten in Kunst und Design. Reinbek 1991- Malerei als Aktion, Selbstzeugnisse der Kunst von Duchamp bis Tàpies. Frankfurt/M Berlin 1986

concept art minimal art arte povera land art, Sammlung Marzona und Kunsthalle Bielefeld. Bielefeld 1990

Hanne DARBOVEN, Bismarckzeit. Ausstellungskatalog des Rhei-nischen Landesmuseums Bonn. Bonn 1979

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V. Literatur

- Die geflügelte Erde / Requiem, Ausstellungskatalog der Deich-torhallen Hamburg. Stuttgart 1991

Guillermo DEISLER / Jörg KOWALSKI, wortBILD, Visuelle Poesie in der DDR. Halle Leipzig 1991

Reinhard DÖHL, Poesie zum Ansehen, Bilder zum Lesen?: Notwendi-ger Vorbericht und Hinweise zum Problem der Mischform im 20. Jahrhundert; in: Ulrich WEISSTEIN (Hrsg.), Literatur und bilden-de Kunst. Berlin 1992. S. 158-172

Rolf DUROY / Günter KERNER, Kunst als Zeichen: Die semiotisch-sigmatische Methode; in: Hans BELTING, Kunstgeschichte. Berlin 1988

Hans EBELING (Hrsg.), Der Tod in der Moderne. Frankfurt/M 1984

Umberto ECO, Apokalyptiker und Integrierte, Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Frankfurt/M 1986- Auf dem Wege zu einem Neuen Mittelalter. München 1989- Über Spiegel. München Wien 1988

Mircea ELIADE, Das Heilige und das Profane, Vom Wesen des Religiösen. Hamburg 1957- Ewige Bilder und Sinnbilder, Über die magisch-religiöse Symbolik. Frankfurt/M 1986- Kosmos und Geschichte, Der Mythos der ewigen Wiederkehr. Frankfurt/M 1986- Mythos und Wirklichkeit. Frankfurt/M 1988

Ulrich ERNST, Carmen Figuratum, Geschichte des Figurengedichts von den antiken Ursprüngen bis zum Ausgang des Mittelalters. Köln Weimar Wien 1991- Die Entwicklung der optischen Poesie in Antike, Mittelalter und Neuzeit; in: Ulrich WEISSTEIN (Hrsg.), Literatur und bildende Kunst. Berlin 1992. S. 138-152- Die neuzeitliche Rezeption des mittelalterlichen Figuren-gedichts in Kreuzform; in: Peter WAPNEWSKI (Hrsg.), Mittel-alterrezeption. Stuttgart 1986, S. 177-232- Optische Dichtung aus der Sicht der Gattungs- und Medientheorie; in: U. ERNST / Bernhard SOWINSKI, Architectura Poetica. Köln 1990, S. 400-435

Werner FAULSTICH, Einführung in die Filmanalyse. Tübingen 1980

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V. Literatur

Wolfgang Max FAUST, Bilder werden Worte, zum Verhältnis von bildender Kunst und Literatur im 20. Jahrhundert. München Wien 1977- Wenn Wörter sich zu Bildern fügen; in: art, November 1990. S. 81-95

Sabine FEHLEMANN, Bildwelten aus Buchstaben; in: Buchstäblich. Katalog Von der Heydt-Museum. Wuppertal 1991. S. 7-14

Jean-Louis FERRIER (Hrsg.), Chronik der Kunst im 20. Jahr-hundert. Köln 1990

Heinz-Werner FEUCHTINGER (Hrsg.), Fotografie und Kunst. Hannover 1980

Ion Hamilton FINLAY, Ideologische Äußerungen, Frankfurter Kunst-verein April / Mai 1991, (Hrsg.) Peter WEIERMAIER. Frankfurt/M 1991- Katalog zur Ausstellung im Frankfurter Kunstverein vom 21.4.bis 2.6.1991, (Hrsg.) Thomas KELLEIN. Stuttgart Basel 1990- 1789 1794, Hamburger Kunsthalle 1989 22.12.1989 bis 28.1.1990. Hamburg 1989

Vilém FLUSSER, Gedächtnisse; in: Ars Electronica, S. 41-55

Hugo FRIEDRICH, Die Struktur der modernen Lyrik. Hamburg 1979

Michel FOUCAULT, Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt/M 1991- Dies ist keine Pfeife, mit zwei Briefen und vier Zeichnungen von René Magritte. Frankfurt/M Berlin Wien 1983

Ernst H. GOMBRICH, Meditationen über ein Steckenpferd - Von den Wurzeln und Grenzen der Kunst. Frankfurt/M 1978

Eugen GOMRINGER (Hrsg), konkrete poesie. Stuttgart 1976- konstellationen ideogramme stundenbuch. Stuttgart 1983

Peter GORSEN, Kunst und Krankheit, Metamorphosen der ästhetischen Einbildungskraft. Frankfurt/M 1980- Transformierte Alltäglichkeit oder Transzendenz der Kunst. Frankfurt/M 1981

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V. Literatur

Bettina GRUBER / Maria VEDDER, Kunst und Video, Internationale Entwicklung und Künstler. Köln 1983

Heinz HABERKORN, Anfänge der Fotografie, Entstehungsbedingungen eines neuen Mediums. Reinbek 1981

Jürgen HABERMAS, Politik, Kunst, Religion. Stuttgart 1978

Paul HADERMANN, Synästhesie: Stand der Forschung und Begriffsbe-stimmung; in: Ulrich WEISSTEIN (Hrsg.), Literatur und bildende Kunst. Berlin 1992. S. 54-72

John HEARTFIELD, Katalog zu einer Ausstellung der Akademie der Künste zu Berlin. Köln 1991

Wolfgang HENNINGSEN, Figurentexte: Vorstudie zu einer Typologie, Magisterarbeit. Hamburg 1986

Klaus HERDING, Die Moderne: Begriff und Problem; in: Monika WAGNER (Hrsg.), Moderne Kunst 1. Reinbek bei Hamburg 1991. S. 175-196

Wulf HERZOGENRATH / Edith DECKER (Hrsg.), Video-Skulptur, retrospektiv und aktuell 1963-1989. Köln 1989

Werner HOFMANN, Die Grundlagen der modernen Kunst. Stuttgart 1987- Luther und die Folgen für die Kunst; in: Rainer BECK (Hrsg. u.a.), Die Kunst und die Kirchen: der Streit um die Bilder heute. München 1984, S. 67-82

Klaus HONNEF, Concept Art. Köln 1971

Andreas HUYSSEN / Klaus R. SCHERPE (Hrsg.), Postmoderne, Zeichen eines kulturellen Wandels. Reinbek

Urs JAEGGI, Literatursoziologie; in: Heinz Ludwig ARNOLD / Volker SINEMUS (Hrsg.), Literaturwissenschaft. München 1973

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V. Literatur

Ernst JANDL, Sprechblasen. Stuttgart 1991

Andrea JUNO, Moderne Primitive; in: Gottfried HATTINGER (Hrsg. u.a.), Ars Electronica 1990, Band 2, Virtuelle Welten. Linz 1990, S. 234-239

Klaus KANZOG, Der Film als philologische Aufgabe; in: Ulrich WEISSTEIN (Hrsg.), Literatur und bildende Kunst. Berlin 1992. S. 221-230

Eva KARCHNER, Ursache und Wirkung des Bildverständnisses des Konzils von Trient; in: R. BECK (Hrsg.), Die Kunst und die Kirchen. München 1984, S. 82-93

Wolfgang KEMP (Hrsg.), Der Text des Bildes: Möglichkeiten und Mittel eigenständiger Bilderzählung. München 1989- Foto-Essays, zur Geschichte und Theorie der Fotografie. München 1978- (Hrsg.) Theorie der Fotografie, 3 Bände. München 1978-1983

Friedrich KITTLER, Fiktion und Simulation; in: Ars Electronica

Volker KLOTZ, Zitat und Montage in neuerer Literatur und Kunst; in: Ulrich WEISSTEIN (Hrsg.), Literatur und bildende Kunst. Berlin 1992. S. 180-196

Jirí KOLAR, Monografie mit einem Lexikon der Techniken, heraus-gegeben vom Institut für moderne Kunst Nürnberg. Zirndorf 1977

Erwin KOPPEN, Literatur und Photographie, Über Geschichte und Thematik einer Medienentdeckung. Stuttgart 1987- Über einige Beziehungen zwischen Photografie und Literatur; in: Ulrich WEISSTEIN (Hrsg.), Literatur und bildende Kunst. Berlin 1992. S. 231-245

Walter KOSCHATZKY, Die Kunst der Photographie; hrsg. vom Museum für Moderne Kunst Wien. Wien 1993

Rudolf KRÄMER-BADONI, Über Grund und Wesen der Kunst. Frank-furt/M 1960

Ferdinand KRIWET, COM.MIX, Die Welt der Schrift- und Zeichen-sprache. Köln 1972- leserattenfaenge, Sehtextkommentare. Köln 1965

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V. Literatur

Winfried KUDSZUS, Literatur und Schizophrenie. Tübingen 1977

Udo KULTERMANN, Leben und Kunst, Zur Funktion der Intermedia. Tübingen 1970

Michel LEIRIS, Die eigene und die fremde Kultur. Frankfurt/M 1977

Roy LICHTENSTEIN, Pop-Paintings 1961-1969. München 1989

Thomas LUCKMANN, Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft. Freiburg 1963

Paul Michael LÜTZELER (Hrsg.), Spätmoderne und Postmoderne, Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Frankfurt/M 1991

Jean-François LYOTARD, Das postmoderne Wissen, Ein Bericht. Graz Wien 1986

Stéphane MALLARMÉ, Sämtliche Gedichte. Heidelberg 1974

Ekkehard MARTENS (Hrsg.), Texte der Philosophie des Pragmatismus. Stuttgart 1975

Klaus MICHAEL / Thomas WOHLFAHRT (Hrsg.), Vogel oder Käfig sein, Kunst und Literatur aus unabhängigen Zeitschriften in der DDR 1979-1989. Berlin 1991

Franz MON, zur poesie der fläche. In: E. GOMRINGER (Hrsg.), konkrete poesie, S. 167-174

James MONACO, Film vestehen. Reinbek bei Hamburg 1980Christian MORGENSTERN, Galgenlieder, Palmström, Palma Kunkel, Der Gingganz. Stuttgart 1988Willi OELMÜLLER (Hrsg.), Metaphysik heute?. Paderborn 1987Joachim PAECH, Bilder von Bewegung - bewegte Bilder, Film, Fotografie und Malerei; in: Monika WAGNER (Hrsg.), Moderne Kunst 1. Reinbek bei Hamburg 1991. S. 237-264

Erwin PANOFSKY, Sinn und Deutung in der bildenden Kunst. Köln 1970- Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst; in: Ulrich WEISSTEIN (Hrsg.), Literatur und bildende Kunst. Berlin 1992. S. 210-220

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V. Literatur

Cristina PERINCIOLI / Cillie RENTMEISTER, Computer und Kreativi-tät, Ein Kompendium für Computer-Grafik, -Animation, -Musik und Video. Köln 1990

Krzystof POMIAN, Der Ursprung des Museums, Vom Sammeln. Berlin 1993

Dieter PROKOP (Hrsg.), Medienforschung (3 Bände). Frankfurt/M 1985/6

FRITZ J. RADDATZ, Die Ästhetik des Verschwindens, nach dem High-Tech-Krieg am Golf: Geschwindigkeit ist doch Hexerei, Paul Virilios Aktualität; Die Zeit, Nr. 11, 8. März. Hamburg 1991

Karl RIHA, Bilderbogen, Bildergeschichte, Bilderroman, Zu unter-schiedlichen Formen des ´Erzählens` in Bildern; in: Wolfgang HAUBRICHS (Hrsg.), Erzählforschung 3. Göttingen 1978. S. 176-192- (Hrsg.) Dada Berlin, Texte Manifeste Aktionen. Stuttgart 1988- (Hrsg.) 113 DaDa Gedichte. Berlin 1987

Florian RÖTZER (Hrsg.), Digitaler Schein, Ästhetik der elek-tronischen Medien. Frankfurt/M 1991Dieter ROTH, Originale 1946 - 74, Kunstverein Hamburg 1.6. bis 14.7.1974, (Hrsg.) Uwe M. SCHNEEDE. Hamburg 1974- Zeichnungen, Hamburger Kunsthalle 5.12.1987 bis 17.1.1988. Hamburg 1987Jürgen SCHILLING, Aktionskunst, Identität von Kunst und Leben? Luzern Frankfurt/M 1978

Stephan SCHMIDT-WULFFEN, Spielregeln, Tendenzen der Gegenwarts-kunst. Köln 1987

Wieland SCHMIED, Spiritualität in der Kunst des 20 Jahrhunderts; in: R. BECK (Hrsg. u.a.), Die Kunst und die Kirchen. München 1984, S. 112-136

Norbert SCHNEIDER, Kunst und Gesellschaft: Der sozialgeschicht-liche Ansatz; in: Hans BELTING (Hrsg. u.a.), Kunstgeschichte. Berlin 1988

Christoph SCHREIBER, René Margritte Sprachbilder 1927-1930. Hildesheim Zürich New York 1985

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V. Literatur

Schrift und Bild, Katalogbuch, hrsg. v. d. Staatlichen Kunsthal-le Baden-Baden, Redaktion Dietrich MAHLOW. Frankfurt/M 1963

Raoul SCHROTT, Dada 21/22. Innsbruck 1988

Heinz SCHÜTZ (Hrsg.), Das Theater der Embleme; in: Kunstforum, Bd. 102 Juli/August 1989, S. 74-79

Kurt SCHWITTERS, Eile ist des Witzes Weile. Stuttgart 1987

Michel SERVIÈRE, Livres Délivrés - Entbundene Bücher. Rouen 1989

Susan SONTAG, Kunst und Antikunst. München Wien 1980

Johannes STAHL, Worte über Bilder mit Worten; in: Das Kunstwerk, März 1990, S. 5-39

Laurence STERN, Tristram Shandy. Zürich 1989Marie Luise SYRING (Hrsg.), Um 1968: konkrete Utopien in Kunst und Gesellschaft. Städtische Kunsthalle Düsseldorf 27.5. - 8.7.1990. Köln 1990

Peter TAUSK, Die Geschichte der Fotografie im 20. Jahrhundert, Von der Kunstfotografie bis zum Bildjournalismus. Köln 1977

Paul TILLICH, Zur Theologie der bildenden Kunst und der Archi-tektur; in: R. BECK (Hrsg. u.a.), Die Kunst und die Kirchen. München 1984, S. 206-213

Ernst TOPITSCH, Heil und Zeit, ein Kapitel zur Weltanschau-ungsanalyse. Tübingen 1990

Klaus URBONS, Copy Art, Kunst und Design mit dem Fotokopierer. Köln 1991

Andreas VERSTAPPEN, Waechters Erzählungen, Bildergeschichten vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Köln 1990

Melchior VISCHER, Sekunde durch Hirn, Der Hase. Frankfurt/M 1988

Wolf VOSTELL, Happening & Leben. Neuwied und Berlin 1970

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V. Literatur

Kurt WAIS, Symbiose der Künste: Forschungsgrundlagen zur Wechselberührung zwischen Dichtung, Bild- und Tonkunst; in: Ulrich WEISSTEIN (Hrsg.), Literatur und bildende Kunst. Berlin 1992. S. 34-53

Rainer WARNING / Winfried WEHLE, Lyrik und Malerei der Avantgarde. München 1982

Peter WEIBEL, Territorium und Technik; in: Ars Electronica, S. 81-111

Christina WEISS, Seh-Texte, Zur Erweiterung des Textbegriffs in konkreten und nach-konkreten visuellen Texten. Zirndorf 1984Ulrich WEISSTEIN (Hrsg.), Literatur und bildende Kunst, Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenz-gebietes. Berlin 1992

Joseph WEIZENBAUM, Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Frankfurt/M 1977- Kurs auf den Eisberg, Die Verantwortung des Einzelnen und die Diktatur der Technik. München 1987

Michael WETZEL, Die Enden des Buches oder die Wiederkehr der Schrift: von den literarischen zu den technischen Medien. Wein-heim 1991

Alfred North WHITEHEAD, Wie entsteht Religion? Frankfurt/M 1990

Wilhelm WORRINGER, Abstraktion und Einfühlung. München 1976

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VI. Abbildungen

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Abbildung 1 (vergleiche Fußnote 15, S. 8):MAX 1/94 Seite 126

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Abbildung 2 (vergleiche Fußnote 22, S. 10): Eadweard Muybridge Bewegungsstudien in Reihenbildern undEtienne-Jules Marey Phasenbilder eines fliegenden Schwanes

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Abbildung 3 (vergleiche Fußnote 40, S.13):Hanne Darboven Postkarte 7.9.1991

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Abbildung 4 (vergleiche Fußnote 42, S.13):Gilbert & George Schriftsteller

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Abbildung 5 (vergleiche Fußnote 63, S.21):Jochen Gerz Der Wind

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Abbildung 6 (vergleiche Fußnote 85, S.29):Carlfriedrich Claus Diaphanes Sprachblatt

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Abbildung 7 (vergleiche Fußnote 182, S.59):Jochen Gerz Leben

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Abbildung 8 (vergleiche Fußnote 182, S.59):Jochen Gerz Leben

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Abbildung 9 (vergleiche Fußnote 182, S.59):Jochen Gerz Leben

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Abbildung 10 (vergleiche Fußnote 185, S.60):Joseph Beuys Mensch

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Abbildung 11 (vergleiche Fußnote 186, S.61):Hansjörg Mayer typoaktionen

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Abbildung 12 (vergleiche Fußnote 188, S.63):Jochen Gerz Das Autoportrait

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Abbildung 13 (vergleiche Fußnote 214, S.76):Peter Handke Wie soll man leben?

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Abbildung 14 (vergleiche Fußnote 216, S. 76):Herbert Achternbusch Vor Herbert blutbeflechteter Stein

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Abbildung 15 (vergleiche Fußnote 217, S. 76):Gunter Freyse Barbera

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Abbildung 16 (vergleiche Fußnote 218, S. 76):Herbert Achternbusch Und dieses Foto im Regen

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Abbildung 17 (vergleiche Fußnote 219, S. 77):Herbert Achternbusch Das ist das Foto, daß ich immer meine

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Abbildung 18 (vergleiche Fußnote 224, S. 80):Jochen Gerz Le Grand Amour/1 4

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Abbildung 20 (vergleiche Fußnote 232, S. 83):Rudolf Schäfer Der Tod ist nichts Schreckliches

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Abbildung 21 (vergleiche Fußnote 238, S. 85):Jochen Gerz Le Grand Amour/2 6

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Abbildung 22 (vergleiche Fußnote 240, S. 85):Jochen Gerz Le Grand Amour/2 4

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Abbildung 23 (vergleiche Fußnote 243, S. 86):Jochen Gerz Le Grand Amour/2 2

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Abbildung 24 (vergleiche Fußnote 246, S. 88):Jochen Gerz Die "Heiligen" Wörter (Ausschnitt)

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Abbildung 25 (vergleiche Fußnote 246, S. 88):Jochen Gerz Die "Heiligen" Wörter

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Abbildung 26 (vergleiche Fußnote 258, S. 94):Christopher Makos Warhol

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Abbildung 27 (vergleiche Fußnote 260, S. 94):Klaus Staeck Alaska Öl-Sardinen

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Abbildung 28 (vergleiche Fußnote 261, S. 95):Jochen Gerz Free #1-3

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Abbildung 29 (vergleiche Fußnote 261, S. 95):Jochen Gerz Free #4-6

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Abbildung 30 (vergleiche Fußnote 268, S. 99):Jochen Gerz Wollt Ihr

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Abbildung 31 (vergleiche Fußnote 269, S. 99):Skizze Wollt Ihr

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Abbildung 32 (vergleiche Fußnote 271, S. 100):Jochen Gerz Geisteswaffen

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Abbildung 33 (vergleiche Fußnote 280, S. 110):Jochen Gerz For The 2nd Time A Call For Modernity

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Ich versichere an Eides Statt durch meine eigene Unterschrift, daß ich die vorstehende Arbeit selbständig und ohne fremde Hilfe angefertigt und alle Stellen, die wörtlich oder annähernd wört-lich aus Veröffentlichungen entnommen sind, als solche kenntlich gemacht und mich auch keiner anderen als der angegebenen Litera-tur bedient habe. Diese Versicherung bezieht sich auch auf die in der Arbeit gelieferten Zeichnungen, Skizzen, bildlichen Dar-stellungen und desgleichen. Mit der späteren Einsichtnahme in meine schriftliche Hausarbeit erkläre ich mich einverstanden.

22.5.1994

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