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UNIMAGAZIN OPTION ZU BETRÜGEN Weshalb Manager Bilanzen schönen AUSSER ATEM Wie bringt man Spitzensport und Studium zusammen? BLOCKIERTES HERZ Das Geheimnis des Infarkts DIE ZEITSCHRIFT DER UNIVERSITÄT ZÜRICH 13. JAHRGANG NUMMER 1 APRIL 2004 FORSCHEN AM LIMIT

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UNIMAGAZIN

OPTION ZU BETRÜGEN Weshalb Manager Bilanzen schönen

AUSSER ATEM Wie bringt man Spitzensport und Studium zusammen?

BLOCKIERTES HERZ Das Geheimnis des Infarkts

DIE ZEITSCHRIFT DER UNIVERSITÄT ZÜRICH 13. JAHRGANG NUMMER 1 APRIL 2004

FORSCHEN AM LIMIT

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RÄTSEL LÖSENSie simulieren die Evolution, fragen, woraus das Weltall besteht, was die Welt im Innerstenzusammenhält oder ergründen das Geheimnisdes menschlichen Bewusstseins. Forscherinnenund Forscher der Universität Zürich beschäfti-gen sich mit den Rätseln der Natur.

Doch neue Erkenntnisse fallen nichtvom Himmel. Sie sind das Ergebnis harterArbeit am wissenschaftlichen Detail. Sie sindaber auch das Resultat von Einsichten, die sichden Forschenden dank ihres Wissens und ihrer Kreativität erschliessen. Wie schon LouisPasteur, der grosse Bakteriologe, erkannte,lacht das Forscherglück nur jenen, die gutvorbereitet sind.

Wie arbeiten die Frauen und Männer,die an der Universität Zürich auf den verschie-densten Gebieten Spitzenforschung betreiben?Wie denken sie? Was treibt sie an? Das Dossier«Forschen am Limit» gibt Einblick ins Labor vonZürcher Naturwissenschaftlerinnen und -wis-senschaftlern. Und der WissenschaftshistorikerPhilipp Sarasin macht sich Gedanken, wiesprachliche Bilder den Blick der Forschendenbeeinflussen.

In der Rubrik Forschung berichten wirüber aktuelle und brisante Themen wie diehistorische Aufarbeitung der Eugenik in derSchweizer Psychiatrie, die helvetische Ein-bürgerungspolitik, Manager, die betrügen, unddas Geheimnis des Herzinfarktes. Ausserdem indiesem Heft: Der Sozialpädagoge ReinhardFatke analysiert die Hintergründe der 1.-Mai-Krawalle in Zürich, Studierende, die Spitzen-sport betreiben, gehen ans Limit ihrer körper-lichen und geistigen Leistungsfähigkeit, und dieZürcher Publizistikwissenschaftler haben ineinem europaweiten Forschungsprojekt unter-sucht, wie sich die Akzeptanz der Gentech-nologie in der Gesellschaft verändert.

Wissenschaft sei Rätsellösen, bemerkteeinmal der amerikanische Wissenschaftshis-toriker Thomas S. Kuhn. Rätsel geben auch dieIllustrationen von Martin Woodtli auf. DerZürcher Grafikkünstler lädt zu einer visuellenReise durch seine irrwitzige Technikwelt ein.Viel Spass. Ihre unimagazin-Redaktion

EDITORIAL DOSSIER – FORSCHEN AM LIMIT

26 AUF ZU NEUEN GRENZEN! Woraus besteht das Weltall? Was hält dieWelt im Innersten zusammen? Einblicke ins Physiklabor. Von Felix Würsten

30 DARWIN IM REAGENZGLAS Die Molekularbiologie feiert Erfolge – undringt um gesellschaftliche Akzeptanz. Von Carole Enz und Michèle Büttner

34 ERSATZTEILLAGER MENSCH Die Wartelisten für Transplantationensind lang. An Alternativen wird intensiv gearbeitet. Von Paula Lanfranconi

38 MODERNE GRALSSUCHE Mit Rechnern und Robotern auf den Spurendes menschlichen Bewusstseins. Von Michael T. Ganz

42 MACHT DER METAPHERN Wie Bilder die Wissenschaft beeinflussen.Interview mit dem Historiker Philipp Sarasin. Von Roger Nickl

24 TECHNOIDE SPIELEREIEN Eine Reise durch die rätselhafte Technikweltdes Zürcher Grafikkünstlers Martin Woodtli.

TITELBILD Martin Woodtli

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8 LANGER SCHATTENEin Psychiater erforscht die Eugenik

12 OPTION ZU BETRÜGENWeshalb Manager Bilanzen schönen

14 BLOCKIERTES HERZDas Geheimnis des Infarkts liegt im Herzblut

16 EINBÜRGERUNGENWie fremdenfeindlich sind die Entscheide?

18 ZELLULÄRE ZINKFINGERWie Zellen Schwermetalle erkennen

20 SCHRÄGER BLICKSchweizer Filmer lieben die Exzentrik

22 PROFILEin kritisches Geschäft – angewandte Ethik

46 REPORTAGEAusdauer gefragt – Spitzensport und Studium

50 ESSAYHelmut Holzhey – Selber denken!

52 PORTRÄTReinhard Fatke – Der Randale auf der Spur

54 INTERVIEWWie die Europäer die Gentechnologie sehen

6 LEUTE

7 STANDPUNKT

60 BÜCHER

62 GLOSSE

HERAUSGEBERINUniversitätsleitung der Universität Zürich durch unicommunication

LEITUNGDr. Heini Ringger, [email protected]

VERANTWORTLICHE REDAKTIONThomas Gull, [email protected] Nickl, [email protected]

AUTORINNEN UND AUTOREN DIESER AUSGABEMarkus Binder, [email protected] |Brigitte Blöchlinger, [email protected] | Michèle Büttner, [email protected] | Dr. Carole Enz, [email protected] |Michael T. Ganz, [email protected] | Dr. Su-sanne Haller-Brem, [email protected] |Lukas Kistler, [email protected] | PaulaLanfranconi, [email protected] | Babajal-scha Meili, [email protected] | Isabel Morf,[email protected] | Thomas Poppenwimmer, [email protected] | GabrielleSchaad, [email protected] | Antoinet-te Schwab, [email protected] | Nina Mam-bourg (Illustration), [email protected] | ChristineWeder, [email protected] | DavidWerner, [email protected] | SabineWitt, [email protected] | Dr. Felix Würs-ten, [email protected]

FOTOGRAFINNEN UND FOTOGRAFENUrsulaMeisser, [email protected] | Meinrad Scha-de/Lookat, [email protected] | Jos Schmid,[email protected]

GESTALTUNG/DTPHinderSchlatterFeuz, Zü[email protected]

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ABONNENTENDas unimagazin kann kostenlos abonniert werdenunter [email protected]

Alle Reche vorbehalten. Nachdruck von Artikelnmit Genehmigung der Redaktion.

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IMPRESSUM FORSCHUNG RUBRIKEN

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WEBSITE www.unicom.unizh.ch/unimagazin

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FEUER UND FLAMME Mehr als einenSchluck warmen Kaffee kann Hans-Ulrich Doe-rig nicht trinken, denn der Vizepräsident desVerwaltungsrates der Credit Suisse Group redetsich ins Feuer. Wenn Universitätsrat Doerig überseine Vision «Neue Wege zur Hochschulfinan-zierung» redet, lebt er jeden Satz: Er hebt dieArme in die Höhe, spreizt die Finger und sagt inseinem Appenzeller Dialekt: «Wir müssen moti-vierte, disziplinierte Studierende haben, diefrüher abschliessen.» Er schlägt mit der flachenHand mehrere Male auf den Tisch um zu beto-nen: «Druck ist nicht schädlich. Leben bestehtaus Druck.» Oder er rückt seinen Stuhl nahe an

den Tisch und flüstert eindringlich: «Ich machemir Sorgen um den Bildungsplatz Schweiz.»Deshalb habe er diese Studie geschrieben,nicht als «Bänkler», sondern als besorgter Bür-ger. Und deshalb stört ihn der Vorwurf beson-ders, er denke nur in den ökonomischen Kate-gorien von Aufwand und Ertrag. Profitieren wür-den ja vor allem sozial- und geisteswissenschaft-liche Fächer mit schlechtem Betreuungsver-hältnis. Doerigs Kausalkette ist einfach: «Einbesseres Betreuungsverhältnis führt zu besse-ren Abschlüssen und zu höherer Konkurrenz-fähigkeit der Wirtschaft und des Bildungsplat-zes.» Wer die höheren Gebühren nicht bezahlenkann, erhält Stipendien oder Darlehen. «Sozi-alverträglicher geht es nicht mehr.» Am liebstensähe Doerig sein Modell schon morgen umge-setzt. Bevor Deutschland es tut. Tempo Teufelalso. Damit hat Doerig Erfahrung. Schliesslichspringt er seit über 30 Jahren in der CreditSuisse dort ein, wo es brennt. Und schliesslichhat er als Schüler in St. Gallen Post verteilt.Expresspost notabene. Markus Binder

Hans-Ulrich Doerig

HARTNÄCKIG Verleger stellt man sich als breitschultrige, an den Schläfen ange-graute Männer von der Statur eines dreitüri-gen Kleiderschrankes vor, wie einst SiegfriedUnseld. Doch keine Regel ohne Ausnahme:Die beiden Zürcher Publizistikstudenten DinoNodari und Simon Christen sind schlank undgerade mal 24 Jahre alt. Dennoch können sie bereits auf drei Jahre verlegerische Tätig-keit zurückblicken. Seit dem letzten Buch«Palaver», einem Sammelband mit Kurzge-schichten von schweizerischen Jungautoren,wirft ihr N&C-Verlag (www.noch.ch) Gewinneab. Das Konzept von «Palaver» ist Programm.

Der literarische Nachwuchs soll gefördert und, wie es heute üblich ist, «vernetzt» werden.Finanziell wurden Christen und Nodari vonverschiedenen Kulturstiftungen unterstützt, die sich dafür nicht lange bitten liessen. DasProjekt überzeugte. Das Handwerk hat denJungverlegern niemand beigebracht, ihr Im-provisationstalent musste genügen. Zur Ver-lagsgründung kam es, weil die beiden, dieselber Romane schreiben, sich nicht damit zu-frieden gaben, dass die Verlage ihre Manuskripte– oft ungelesen – hartnäckig zurückschickten. Sieerwiesen sich als noch hartnäckiger. Nun ver-legen sie ihre Romane eben selber und freuensich darüber, dass sie in Buchhandlungen vonBrig bis Chur gekauft werden. Das Budget lässtkeine Massenproduktion zu. Und neben demStudium steht nicht unbeschränkt Zeit für dieVerlagsarbeit zur Verfügung. Dennoch ist dernächste Sammelband bereits geplant, und mitLukas Bärfuss konnte bereits ein Aushänge-schild der jungen Schweizer Literatur ver-pflichtet werden. Babajalscha Meili

Dino Nodari, Simon Christen

ZWEI LACHENDE AUGEN «Wer dreioder mehr Frauen heiratet, ist freizusprechen,auf Bigamie aber steht die Todesstrafe.» Dasklingt nach dem faulsten Trick eines schlau-meierischen Märchenhelden. Zu Unrecht, sagtRechtshistoriker und Privatrechtler ClausdieterSchott. Er hat seine Abschiedsvorlesung imFebruar zum Thema «Das Recht und die List»solchen verblüffenden Realfällen der Rechts-geschichte gewidmet. Ein Effekt dieser Ausein-andersetzung ist die Relativierung des Rechts.Darauf ist es Schott in den nahezu 30 Jahren sei-ner Tätigkeit an der Universität Zürich immerangekommen, wenn er den künftigen Juristen

– «diesen Aktualisten» – Sinn für die historischeDimension vermittelte. In seinen Augen ist daskein Luxus. Gegen den Verdacht auf Orchi-deenpflege hat er sich stets gewehrt. Er sei aller-dings froh, die nächste Runde dieses «Kampfes»im Rahmen der Bologna-Reform den jüngerenKollegen überlassen zu können. Auch darüber,den aufwendigen Umzug des Instituts in denneuen Calatrava-Bau an der Rämistrasse 74 justzu verpassen, ist er alles andere als traurig.Überhaupt sitzt er höchst zufrieden vor den gäh-nend leeren Regalen in seinem Büro undgesteht ohne Rücksicht auf wohlabgewogeneEmeritierungsfloskeln, er gehe mit zweilachenden Augen. Einen harten Schlussstrichwill er freilich nicht ziehen. Fortan wird es ein-fach weniger List kosten, sich neben Vorlesun-gen, Prüfungen und Sitzungen Zeit für die For-schung zu stehlen. Zu Hause warten denn auchnicht weniger als 40 Ordner mit Projekten, undSchott rechnet vor, wie alt er zur Realisierungaller Ideen werden müsste: mindestens 150Jahre. Christine Weder

Clausdieter Schott

LEUTE

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Bildung ist nicht gratis zu haben – das wussteschon John F. Kennedy: «Es gibt nur eines, wasauf die Dauer teurer ist als Bildung: keine Bil-dung.» Bestrebungen, das in graue Zellen inves-tierte Geld möglichst effektiv zu nutzen unddementsprechend Missstände im Bildungs-system zu beheben, begrüsse ich darum ganzgrundsätzlich. Nicht nur als Politikerin, sondernauch und insbesondere als Studentin, welche

die katastrophalen Betreuungsverhältnissevorab in den Sozial- und Geisteswissenschaftenhautnah miterlebt.

Dessen will sich der «ArbeitskreisKapital und Wirtschaft» annehmen; denn diePersonal- und Ressourcenprobleme, die fakti-sche Chancenungleichheit sowie drohendeQualitätseinbusse an unseren Hochschulenbereiten auch der Wirtschaftselite Bauch-schmerzen. Lösungsvorschläge? Viel mehrProfessuren. Wer soll das bezahlen? Die Stu-dierenden – dank einer Vervierfachung der Stu-diengebühren, nota bene bei gleichzeitigerMöglichkeit, zur finanziellen ÜberbrückungDarlehen vom Staat zu beziehen.

Dass mich derartige Ideen als direktbetroffene Studentin nicht wirklich zu begeis-tern vermögen, leuchtet ohne grosse Worte ein:Weder fällt es leicht, durch Nebenerwerb jähr-lich 5000 Franken zur Studiumsfinanzierungaufzutreiben, noch wirkt eine frühzeitigeVerschuldung verlockend. Auch aus bildungs-politischer, also weniger subjektiver Sichthalte ich eine Gebührenerhöhung zum jetzigen

Zeitpunkt nicht bloss für untauglich, dieerkannten Probleme zu lösen, sondern darüberhinaus gar für kontraproduktiv in Bezug auf diegeforderte Chancengleichheit.

Tatsächlich stammt momentan einüberwiegender Teil der Studierenden aus fi-nanzstarken Familien; mit einer drastischenGebührenerhöhung lässt sich das jedoch allesandere als ändern. Um den «sozialen Numerus

clausus» auszumerzen, braucht es vielmehr dielängst geforderte Einführung eines einheit-lichen, kostendeckenden Stipendienwesens.Zurzeit erhält eine Studentin in Obwaldenunter absolut identischen Lebensbedingun-gen fünfmal weniger Stipendien als ihre Kom-militonin aus dem Kanton Basel-Stadt. DieseUngerechtigkeit hat viel mit Kantönligeist,aber rein gar nichts mit Chancengleichheit zutun. Sie schreit nach einer Reform des Stipen-diensystems.

Apropos Reform: Ebenso dringlich undpunkto Bildungsqualität gar prioritär ist eineechte Koordination der verschiedenen Hoch-schulen und ihrer Angebote auf Bundesebene.Sie werden so keineswegs in ihrer Handlungs-freiheit beschnitten; im Gegenteil verhilft manihnen und dem Hochschulsystem als Ganzes zuadäquater Autonomie. Damit macht man dietertiäre Bildungslandschaft Schweiz steuerbarund verhindert künftig prekäre Einschnitte, wiesie an der Universität Basel nötig wurden.

Pascale Bruderer ist SP-Nationalrätin und Mitglied der nationalrätlichen Kommission für Wissen-schaft, Bildung und Kultur. Sie studiert Politikwis-senschaft, Volkswirtschaft und Staatsrecht an derUniversität Zürich.

VIERFACHE GEBÜHREN?

STANDPUNKT von Pascale Bruderer

UNIMAGAZIN 1/04 BILD Michael Stahl

«Um den ‹sozialen Numerus clausus›auszumerzen, braucht es die längst ge-forderte Einführung eines einheitlichen,kostendeckenden Stipendienwesens.»

DETEKTIVISCHER SPÜRSINN «VonMikita an Ulianiza. Komm zu mir. Ich will dichund du mich. Und dafür zeugt Ignat.» Ein Text wie dieser kann Nada Boskovska be-geistern. Wenn er nämlich in ein Stück Birken-rinde aus dem 13. Jahrhundert geritzt steht.Dann erwacht die Detektivin in der Osteuropa-Historikerin. In alle Richtungen wendet sie dieSätze hin und her, prüft die Grammatik, ver-gleicht sie mit Bekanntem. Aus mehreren sol-cher historischen «Post-its» setzt sie dann einBild zusammen von einer früheren Lebenswelt.Nada Boskovska, die kürzlich berufene Profes-sorin für Osteuropäische Geschichte, ist neu-

gierig darauf, wie die Menschen früher gelebt,gehandelt und gedacht haben. Dass es dazumitunter detektivischen Spürsinns bedarf, reizt sie besonders. Boskovskas Faible für Ost-europa ist kein Zufall: Als «typisches Fremd-arbeiterkind» kam sie neunjährig mit ihrenEltern in die Schweiz und brachte die makedo-nische Sprache im Gepäck mit. Im letztenWintersemester trat Nada Boskovska nun dasErbe von Carsten Goehrke an, der dreissigJahre lang den Lehrstuhl für OsteuropäischeGeschichte in Zürich geprägt hat. Sie empfindetdas nicht als Bürde, im Gegenteil fühle sie sichfrei, eigene Akzente zu setzen. So wird sieneben der russischen Geschichte als zweitenSchwerpunkt die Geschichte des Balkans aus-bauen. Neben der Arbeit ist der Mutter einessiebenjährigen Sohnes und einer elfjährigenTochter die Familie am wichtigsten. Da bleibtkaum Zeit für sie selbst. Ausser in den Ferien.Dann gibt sich die Historikerin ihrer detektivi-schen Leidenschaft hin und liest Krimis – amliebsten auf russisch. Sabine Witt

Nada Boskovska

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Streng hebt sich das klassizistische Hauptge-bäude der Psychiatrischen UniversitätsklinikBurghölzli vom neblig-grauen Morgenhimmelab. Ein imposanter Gebäudekomplex in einerfast ländlichen Umgebung und doch mitten inZürich. Er beherbergt eine international be-kannte Institution mit einer bewegten Ge-schichte. Hier, im ersten Stock, wohnte vor rund100 Jahren der Psychiater und KlinikdirektorEugen Bleuler (1857 bis 1939). Bleuler prägteden Ausdruck der «Gruppe der Schizophre-nien» und öffnete die Psychiatrie für die Psycho-analyse Sigmund Freuds.

Der lange Flur mit dem Parkettboden imFischgrätmuster und das Badezimmer lassenden Grundriss der Direktorenwohnung nocherahnen. Heute befinden sich hier Büros vonKlinikmitarbeitern. In einem der hellen Räumemit Ausblick auf die umliegende Natur arbeitetBernhard Küchenhoff. Er ist Psychiater undPsychotherapeut am Burghölzli. Und mehr alsdas: Neben seiner Hauptaufgabe als LeitenderArzt von Aufnahme- und offenen Übergangs-stationen erforscht Küchenhoff die Geschichteseines Fachs. Und dabei spielt Eugen Bleulereine nicht unwesentliche Rolle.

Bernhard Küchenhoff ist vielseitiginteressiert: Nach dem Medizinstudium und vorseiner Ausbildung zum Psychiater hat er in Hei-delberg acht Semester Philosophie und Germa-nistik studiert. Er hat sich psychotherapeutischweitergebildet. Und er hat sich schon früh mitder Psychiatriegeschichte auseinander gesetzt.Gerade für Psychiater sei es wichtig, sich mit derHerkunft und der Entwicklung ihres Fachs zubeschäftigen, ist der Mann im dunklen Roll-kragenpullover und den kurzen, grau meliertenHaaren überzeugt. Vor gut drei Jahren wurdedeshalb auch die Gesellschaft für die Geschich-

te der Schweizer Psychiatrie und Psychothera-pie gegründet, zu deren Vorstand BernhardKüchenhoff seit Beginn gehört. Das Interesse anPsychoanalyse und Geschichte war auch derGrund, weshalb sich Küchenhoff mit EugenBleuler und seinem Verhältnis zu SigmundFreud auseinander zu setzen begann. Als er1989 – auch wegen des psychiatriegeschichtlichbedeutsamen Burghölzlis – nach Zürich kam,kontaktierte er deshalb Bleulers Sohn Manfred.Er sprach mit ihm über seinen Vater und überdessen Einstellung zur Behandlung der Schi-zophrenie.

SOZIALE PROBLEME, BIOLOGISCHE LÖSUNGEN

Die Amtszeit Eugen Bleulers spielt in der histo-rischen Forschung von Bernhard Küchenhoffnoch eine weitere Rolle: Sie fällt in eine Epoche,in der eugenisches Denken in der Psychiatrieweit verbreitet war. Ziel der Eugenik, der sogenannten Erbgesundheitslehre – der Begriffwurde 1883 vom Briten Francis Galton geprägt– war es, durch die Eindämmung der Fort-pflanzung so genannt Erbkranker das Erbgutnachfolgender Generationen zu verbessern.Dahinter stand die Vorstellung, auf biologi-schem Weg soziale Probleme zu lösen. Der ver-heerendste Ausdruck dieses Denkens warenschliesslich die Euthanasie-Programme, die«Tötung lebensunwerten Lebens», durch dieNationalsozialisten.

Auf das Forschungsthema Eugenik istder aus Deutschland stammende Küchenhoffdenn auch über seine Beschäftigung mit demDritten Reich gestossen. Das Interesse seinerForschung ist es aber gerade, die Tragweiteeugenischen Denkens über den Nationalsozia-lismus hinaus zu untersuchen. Differenziert zuzeigen, auf welchem Hintergrund, in welchem

FORSCHUNG

DIE SCHATTEN DERVERERBUNGSLEHRE

Eugenisches Denken war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert auch in derSchweizer Psychiatrie verbreitet. Bernhard Küchenhoff erforscht die Vergangenheitseines Fachs und schärft damit den Blick für die Gegenwart. Von Roger Nickl

WEBSITE www.dcp.unizh.ch/resareas/fundamentalspsy/philandhist/index.en.html

Auch am Burghölzli war zu Beginn des 20. Jahrhun

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derts eugenisch motiviertes Denken verbreitet. Der Psychiater Bernhard Küchenhoff versucht das Phänomen differenziert zu analysieren.

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November, hat sich der Bundesrat gegen einevom Parlament einstimmig beschlossenegesetzliche Regelung ausgesprochen.

HILFLOSE ÄRZTE

Belege für eine eugenische Praxis fand Bern-hard Küchenhoff auch im Burghölzli. Ineinem Aufsatz, den er im letzten Jahr imSchweizer Archiv für Neurologie und Psy-chiatrie veröffentlichte, beschäftigte sich derForscher mit Emil Oberholzer, einem Assi-stenten Bleulers und Verfasser einer Disser-tation mit dem Titel «Kastration und Sterili-sation von Geisteskranken in der Schweiz».Anhand von 19 von Oberholzer besprochenenFällen zeigt Küchenhoff, «dass auch amBurghölzli im ersten Jahrzehnt des 20. Jahr-hunderts eugenisch motiviertes Denken ver-breitet war und dass davon ausgehend Steri-lisationen und Kastrationen durchgeführtwurden.» Eine systematische Erfassung vonPatientinnen und Patienten mit dem Zieleiner umfassenden Verhütung des als erb-krank angesehenen Nachwuches wie inDeutschland gab es jedoch nicht – in Zürichgenauso wenig wie in Basel.

Eugenisches Denken und Handelnallein als Resultat bedenklicher IdeologienEinzelner zu sehen, wäre arg verkürzt. Bern-hard Küchenhoff ist auch nicht der Typ, dervorschnell Antworten gibt. Er will sich ein dif-ferenziertes Bild der Vergangenheit machen:ohne eilige Vorverurteilungen. «Es gibt dieTendenz, Eugen Bleuler einfach in einen ide-ologischen Topf zu werfen», sagt BernhardKüchenhoff, «Bleuler hatte aber ganz ver-schiedene Seiten.» Zudem stand der ZürcherKlinikdirektor und seine Mitarbeiter ineinem gesellschaftlichen, wissenschaft-lichen und sozialpolitischen Umfeld, das dasDenken der Psychiater mitprägte und ihremBlick eine bestimmte Richtung gab.

«Im 19. Jahrhundert wurden immermehr psychiatrische Kliniken aufgebaut»,erklärt Pyschiatriehistoriker Küchenhoff,«ein ambulantes Betreuungsnetz gab es abernoch nicht.» Das führte dazu, dass die Klini-ken innert kürzester Zeit überfüllt waren. Somussten im Burghölzli um 1900 drei Ärzte400 Patientinnen und Patienten betreuen. Das

Ausmass und mit welchen Zielen auch indemokratischen Ländern aufgrund eugeni-scher Vorstellungen Zwangssterilisationenund -kastrationen durchgeführt wurden.«Die Erforschung der Eugenik war lange vomNationalsozialismus überschattet», sagtBernhard Küchenhoff mit seiner warmenBass-Baritonstimme, «erst in neuerer Zeitwurde aufgezeigt, dass dieses Denken weitverbreiteter war als angenommen.» Auchhabe der Schatten des Nationalsozialismusdazu geführt, dass die Erforschung des The-mas anderswo erst verzögert in Angriffgenommen wurde. Auffällig sei, so der Psy-chiater, dass gerade in Ländern mit einersozialstaatlichen Tradition, in Schwedenetwa oder eben der Schweiz, eugenischesDenken verbreitet war.

VOR ALLEM FRAUEN BETROFFEN

Gemeinsam mit der Basler Geschichtspro-fessorin Regina Wecker, zwei Dissertandin-nen und einem Dissertanden will Küchenhoffin einem eben angelaufenen Projekt nun dieSituation in Basel-Stadt von 1880 bis 1960untersuchen. Aufgrund von psychiatrischenGutachten, wissenschaftlichen Artikeln,Krankengeschichten und Unterlagen vonSozialbehörden soll das Denken, das hinterder Praxis der Zwangssterilisationen stand,durchleuchtet werden.

Die Mehrheit der Sterilisiertenwaren Frauen, die Entscheidungsgrundla-gen der Ärzte, die die Eingriffe anordneten,oft diffus. Küchenhoffs ForschungspartnerinRegina Wecker schreibt dazu: «Die Mass-nahmen wurden mit schwammigen Dia-gnosen, von denen ‹Schwachsinn› die häu-figste war, begründet. Die Grenzziehungzwischen gesellschaftlich unerwünschtemVerhalten und Krankheit mit Zuschrei-bungen wie Trunksucht, Haltlosigkeit, sex-uelle ‹Zügellosigkeit›, ‹Liederlichkeit›, ‹Ver-schwendungssucht›, waren ebenso unscharfwie zwischen sozialer Auffälligkeit undSchwachsinn.» Die Konsequenzen solcherZwangssterilisationen reichen bis in dieGegenwart. In Kürze wird der Nationalratzum zweiten Mal die Entschädigung von Opfern diskutieren – zuvor, im letzten

Bernhard Küchenhoff: «Schwerkranke unter schwierigen

BILDER Jos Schmid

(im Bild: Ehemalige Wohnräume des Psychiaters und

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Pflegepersonal, die «Wärter», wie sie damalshiessen, waren zudem kaum ausgebildet.Diese prekäre Situation prägte die Wahr-nehmung der Mediziner. «Schwerkrankeunter schwierigen Bedingungen: das war dieErfahrungsgrundlage für die Psychiater»,sagt Küchenhoff, «gute und kurze Krank-heitsverläufe haben die Ärzte nicht gesehen,zudem gab es kaum therapeutische Mög-lichkeiten.» Die Erfahrung dieser Hilflosig-keit führte dazu, dass die Degenerations-lehre des französischen Psychiaters BenedictAugustin Morel bei vielen Psychiatern aufoffene Ohren stiess. Wenn nämlich – wie dieDegenerationslehre nahe legte – eine anla-gebedingte Erkrankung sich bei den nach-folgenden Generationen verschlechtert, wares verständlich, dass die psychiatrische The-rapie nichts bewirken konnte. «DieserGedanke war für die Ärzte entlastend», sagtBernhard Küchenhoff.

KONTROVERSE KRANKHEITSBILDER

Die Degenerationslehre war eine problema-tische Grundlage für das Vererbungspara-digma und ein Pfeiler des eugenischen Den-kens. Um 1900 gab es darüber hinaus eineauffällige Bündelung von Faktoren, die densozialhygienischen Blick beeinflussten: «DieMendelschen Vererbungsgesetze wurdenpraktisch wiederentdeckt, ebenso spieltenneue statistische Methoden, wie diejenigevon Wilhelm Weinberg, eine wichtige Rolle:Sie erlaubten, in der Erbforschung mit gros-sem Zahlenmaterial umzugehen», erklärtBernhard Küchenhoff. Zudem wurde mitder Tubenligatur eine Methode zur Sterilisa-tion bei Frauen in die Praxis eingeführt. Ihrfolgte etwas später das Unterbinden derSamenstränge beim Mann.

Alle diese Entwicklungen in den ver-schiedenen Wissenschaften waren für dietheoretische und praktische Herausbildungder Eugenik bedeutsam und wurden von ihrin Dienst genommen. «Die Grundlage füreine wissenschaftlich fundierte Diskussionder Vererbung selbst, die nicht von vorneher-ein mit Eugenik verwechselt werden darf,wären fest definierte Krankheitsbilder gewe-sen», erklärte Bernhard Küchenhoff, «gerade

Bedingungen: das war die Erfahrungsgrundlage für die Psychiater um 1900.» Klinikdirektors Eugen Bleuler im Burghölzli)

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DIE OPTION ZU BETRÜGEN

Das Ideal des aufrichtigen Managers ist passé. Die Zürcher FinanzmarktökonomenRajna Gibson-Asner und Marc Chesney zeigen, welche Anreize es braucht, damitManager ehrlich bleiben. Von Thomas Gull

FORSCHUNG

diese aber wurden in der Scientific Commu-nity sehr kontrovers diskutiert.»

«ERSCHRECKEND AKTUELL»

Die historische Forschung ist für BernhardKüchenhoff nicht einfach ein Steckenpferd,ein Luxus, den er sich neben der klinischenArbeit leistet. Sie spielt gerade im Alltageine wichtige Rolle. Denn der Blick zurückschärft die Wahrnehmung der Gegenwart:«Ich will nicht Richter über die Vergangenheitsein – im Gegenteil – der Blick des Historikersfördert die eigene Bescheidenheit», sagt derPsychiater, «er erlaubt es, einen Schrittzurückzutreten, zu reflektieren, was manhier und jetzt tut, und kann so helfen, dieeigene Tätigkeit nicht zu überschätzen.»Zudem würden eugenische Vorstellungenauch heute wieder erschreckend aktuell –etwa in der humangenetischen Beratungvon Familien mit einer Veranlagung zu einerKrankheit, bei der gegenwärtigen Diskussionüber das Klonen und bei dem höchst proble-matischen Thema der Selektion in der Prä-implantationsdiagnostik.

Der Blick in die Vergangenheit kannsolchen Debatten eine neue, kritischeDimension geben. Weil ihm dieses histori-sche Bewusstsein so wichtig ist, hofft Bern-hard Küchenhoff auch, dass das geschlosse-ne Museum an seiner Klinik wieder eröffnetwerden kann: «Die Geschichte darf am Burg-hölzli nicht ausgelagert werden.» Da ist sichder Psychiater ganz sicher.

KONTAKT Dr.med. Bernhard Küchenhoff, Psych-iatrische Universitätsklinik Zürich, [email protected]

ZUSAMMENARBEIT Prof. Regina Wecker, Histori-sches Seminar der Universität Basel

FINANZIERUNG Das im Text erwähnte For-schungsprojekt wird durch den Schweizer Natio-nalfonds im Rahmen des Projektes 51 «Integrationund Ausschluss» unterstützt.

UNIMAGAZIN 1/04WEBSITES www.isb.unizh.ch,www.nccr-finrisk.unizh.ch

Die Skandale haben Schlagzeilen gemacht:Enron, Vivendi, Parmalat oder Worldcom. Fir-men, deren Management die Geschäftszahlenmanipuliert hat. Die Betrügereien in den gros-sen Firmen haben die Finanzwelt erschüttert.Denn die unseriösen Geschäftspraktiken scha-den nicht nur den betroffenen Firmen selbst, sieuntergraben auch das Vertrauen der Investoren.

Was tun, um die Manager künftig daranzu hindern, die Bilanzen zu fälschen? Völligvermeiden lassen sich Missbräuche nie, kon-statieren Rajna Gibson-Asner und MarcChesney, Professoren am Swiss Banking In-stitute: «Wenn die Manager überhaupt keineMoral haben, nützt alles nichts.» Doch so pes-simistisch sind Gibson-Asner und Chesneynicht. Sie gehen davon aus, dass das Verhaltender Manager gesteuert werden kann. «Wirfragten uns: Gibt es eine Verbindung zwischender Neigung der Manager, sich betrügerisch zu verhalten, und der Art und Weise, wie sieentschädigt werden?» erklärt Rajna Gibson-Asner. Die beiden Zürcher Finanzmarktspe-zialisten haben deshalb ein theoretischesModell entwickelt, das erlaubt, die Wirkungender Anreize verschiedener Entschädigungs-formen zu studieren.

DER REIZ DES BETRUGS

Die erstaunlichen Ergebnisse ihrer Arbeit wer-den im Paper mit dem Titel «Stock Options andManagers’ Incentives to Cheat» publiziert. Fürihre Untersuchung haben Chesney und Gibson-Asner die Options-Theorie adaptiert, die sonstverwendet wird, um den Wert von Optionen ein-zuschätzen. Die Anwendung einer gebräuch-lichen Theorie auf eine neue Fragestellunggehöre zur Originalität ihre Projektes, streichendie beiden Forscher heraus. «Unser Modellgeht davon aus, dass jeder Manager die Wahl hatzwischen rechtschaffenem und betrügeri-

schem Verhalten», erklärt Gibson-Asner, «wirversuchten herauszufinden, wann der unehrli-che Manager von der Legalität in die Illegalitätwechselt und was ihn dazu bewegt.» DasModell von Gibson-Asner und Chesney arbeitetmit verschiedenen Parametern. Dazu gehörenunter anderem wie viele Stock Options einManager erhält. Die Effizienz der Justiz, die Kor-ruptionskosten oder der Verlust des guten Rufesdes Managers. Wie Gibson-Asner und Chesneyzeigen, erhöht die gängige Praxis, Manager mitOptionen – Kaufrechte für Aktien – zu entlöhnen,den Anreiz zu betrügen. Manager werden mitsolchen Kaufrechten auf die Aktien der eigenenFirma entschädigt, um die Ziele der Aktionäreund des Managements in Einklang zu bringen.Denn damit haben beide Parteien letztlich einInteresse an einem steigenden Aktienkurs. Bis-her wurde diese Form der Entschädigung alsidealer Anreiz gepriesen, der die Manager zuHöchstleistungen anspornt.

Grundsätzlich funktioniere diesesModell, konzedieren Chesney und Gibson-Asner. Wie sie jedoch zeigen, kann diese Formder Entlöhnung die Manager auch dazu ver-leiten zu betrügen. Diese Versuchung ist dannbesonders gross, wenn das Unternehmen inSchwierigkeiten ist oder die Wirtschaft nicht gut läuft und die Aktienkurse generell unterDruck sind. «Die unehrlichen Manager mani-pulieren die Bilanzen der Firma und üben dannihre Optionen aus. Dabei profitieren sie vomüberhöhten Kurs der Aktien, der eine Folgeihrer Manipulation ist», erklärt Chesney den Me-chanismus. Wenn der Betrug aufgedeckt wird,stürzen dann in der Regel die Aktienkurse ab.Den Schaden tragen die Aktionäre, während der Manager seinen Profit im Trockenen hat.Die 2003 in den USA von Johnson/Ryan/Tiandurchgeführte empirische Studie «ExecutiveCompensation and Corporate Fraud» hat ge-

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13BILD Jos Schmid

Sinken die Kurse, steigt die Gefahr, dass Manager Bilanzen manipulieren.

zeigt, dass eine positive Relation besteht zwi-schen der Tatsache, dass die Manager mitOptionen und Aktien entschädigt werden, undder Wahrscheinlichkeit, dass bei der Buchhal-tung geschummelt wird.

DIE WAHRSCHEINLICHKEIT, ERWISCHT ZU WERDEN

Bevor er sich jedoch illegal verhält, macht derManager eine Risikoanalyse. Er schätzt ab, wiegross die Wahrscheinlichkeit ist, dass der Betrugaufgedeckt wird, und welches die Kosten sind,wenn dieser Fall eintritt. Bei der Steuerung derAnreize müssen deshalb die Risiken und Kosteneines Betruges möglichst hoch angesetzt wer-den. Ein entscheidender Faktor ist die Effizienzder Justiz. Wenn der Manager damit rechnenmuss, dass sein Vergehen entdeckt und bestraftwird, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass er sichillegal verhält. Deshalb seien die Prozesse in denUSA wichtig, sagt Gibson-Asner, «sie habenabschreckende Wirkung.»

Die Firmen können das Verhalten derManager jedoch auch steuern. Beispielsweiseindem sie sie mit Aktien statt mit Optionen ent-schädigen, auch dies ist ein Ergebnis der Studievon Chesney und Gibson-Asner. Die beiden Pro-fessoren studieren zudem eine «Ehrlichkeits-prämie», die eigentlich ein Bestrafungsinstru-ment für betrügerische Manager ist. Die Mana-ger sollen verpflichtet werden, auf ihren NamenPut-Optionen für die Aktionäre herauszugeben.Diese Optionen erlauben den Aktionären, ihreAktien zu einem festgesetzten Preis zu verkau-fen. Sie würden aktiviert, wenn der Manager be-trügerischer Machenschaften überführt wird.Der Manager müsste die Aktien kaufen und dieDifferenz zwischen dem garantierten Preis unddem Kurswert übernehmen. Die Praktikabilitätdieses Vorschlages müsse jedoch noch überprüftwerden, schränkt Gibson-Asner ein. Der Rat-schlag, Manager in Aktien statt in Optionenzu entschädigen sei jedoch bereits eine «sehrpraktische Botschaft».

KONTAKT: Prof. Marc Chesney, [email protected], Prof. Rajna Gibson-Asner, [email protected], beide Swiss Banking Institute der UniversitätZürich.

FINANZIERUNG: National Centre of Competence inResearch «Financial Valuation and Risk Management»(NCCR FINRISK).

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GEHEIMNIS IM HERZBLUT

Bei einem Herzinfarkt ist der Blutfluss in den Herzkranzgefässen plötzlich blo-ckiert. Wie es dazu kommt, ist noch nicht bis ins Detail geklärt. Kardiologen suchennach den Spuren der Ereignisse im Herzblut von Infarktpatienten. Von Andrea Six

Wie ein Schlag. Wie ein Blitz aus heiterem Him-mel. Der Tod ist plötzlich ganz nah. Der fettlei-bige Mann, der eben noch dem Berggipfel ent-gegenkeuchte, innehielt und den Schweissvon der Stirn wischen wollte, ist mitten auf demWeg zusammengebrochen. Ein beängstigender,massloser Schmerz in der Brust hat ihn jäh zuBoden geworfen. Schuld ist ein kleines Gerinn-sel, verklumpt mit Zellen und fetthaltigemMaterial, das seine Herzkranzgefässe total ver-stopft und den Infarkt ausgelöst hat. Gelangt derMann nicht innerhalb kurzer Zeit in ein Spital,stirbt sein Herzmuskelgewebe ab – ein lebens-

bedrohlicher Prozess. Patienten mit einer der-artigen Vorgeschichte gehören zu den Notfällen,die in den drei Herzkatheterlabors des Univer-sitätsspitals Zürich behandelt werden. Wo frü-her kaum mehr getan werden konnte, als Ruheund Schonung zu verordnen, greifen Ärzteheute – als Alternative zum medikamentösenVersuch, das Gerinnsel aufzulösen – sehrerfolgreich mit «akuter Intervention» ein. Jähr-lich erleiden 30000 Menschen in der Schweizeinen Herzinfarkt. Kommen Sie rechtzeitig zurBehandlung, überleben 90 Prozent der Patien-ten den Infarkt. Damit ist die Chance, einen

Herzinfarkt zu überstehen, fünfmal mal höherals noch vor 50 Jahren.

Der Erfolg liegt an einer Methode,deren weltweiter Siegeszug 1977 im Universi-tätsspital Zürich begann. Die Ballonerweite-rung, im Fachjargon perkutane transluminaleKoronarangioplastie, kurz PTCA, genannt, füh-ren die Kardiologen am Universitätsspitalheute im Jahr etwa 1000-mal durch. Ziel ist, dieverstopfte Stelle im Herzkranzgefäss durch-gängig zu machen. Das Elegante an der Metho-de: Es ist unnötig, den Brustkorb aufzusägenoder das Herz stillzulegen. «Es handelt sich umeinen minimal invasiven Eingriff», erklärt Wil-libald Maier, stellvertretender Leiter der Inva-siven Kardiologie. Der Patient erhält lediglicheine örtliche Betäubung, wenn ihm der Herz-katheter durch einen kleinen Schnitt in der Lei-stengegend eingeführt wird. Die Ärzte schiebenden feinen Kunststoffschlauch durch die Bein-arterie vorsichtig Richtung Herz. Ziel ist das ver-stopfte Herzkranzgefäss.

FORSCHUNG

Im Operationsaal entfernen Willibald Meier (rechts) und Lukas Altweg das Blutgerinnsel, das einen Herzinfarkt ausgelöst hat. Die Untersuchung des Blut

WEBSITE www.kardiologie.unizh.ch

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Ob das Ziel erreicht ist, kontrollieren die Kar-diologen mit Hilfe einer gewaltigen Apparatur,die ihren Hals über Ärzte und Patient beugt: DieAngiographie-Anlage. Diese Röntgen-Technikliefert Schwarzweiss-Bilder vom schlagendenHerzen und den Herzkranzgefässen auf einenFernsehbildschirm. Damit sich die Blutgefässevom Hintergrund abheben, wird über denHerzkatheter ein Kontrastmittel verabreicht. Sowerden die verzweigten, gewundenen Bahnensichtbar, gleich Ästen eines Baumes. Nur eineeinzige Stelle an diesem Lebensbaum bleibthell, hier kam das Kontrastmittel nicht vorbei.Den Weg hat der Blutpfropfen versperrt, der denHerzinfarkt auslöste. Um das Blutgerinnsel zuentfernen, wird ein dünner Draht durch die ver-stopfte Stelle geschoben und dahinter ein win-ziger Ballon aufgeblasen. Er soll verhindern,dass Gerinnselmaterial tiefer in das Herzgewe-be hineingespült wird. Der Inhalt des kurzfristigstillgelegten Gefässes wird schnell abgesaugt.Der Erfolg ist auf dem Bildschirm zu sehen: Das

Herzkranzgefäss ist wieder durchgängig, diedunklen Zweige des Baumes wieder vollständig.

Damit das Blut die Stelle auch künftigungehindert durchströmt, muss das Gefässgedehnt werden. Hierzu wird ein Ballon direktin der kritischen Stelle der Arterie aufgeblasen.Anschliessend wird eine winzige Stütze ausEdelstahl, der Stent, eingepflanzt. Das metal-lene Röhrchen kann zudem mit Medikamentenbeschichtet sein, die die Bildung von Narbenverhindern. Nach gut einer Stunde ist der Ein-griff beendet. Übrig geblieben ist das abgesaugteMaterial. Was für den Körper ein lebensbe-drohlicher Blutklumpen war, ist für WillibaldMaier und seinen Teamkollegen Lukas Alt-wegg ein kostbares Gut. Denn in dem Materialverbirgt sich das Geheimnis des Herzinfarkts.

MARODE ADERN

Die Mediziner untersuchen die in den Probenenthaltenen Zellen und chemischen Botenstof-fe in Labortests. Sie versprechen sich von ihren

Tests ein besseres Verständnis der krank-machenden Vorgänge im Herzen, die zur Arte-rienverkalkung und letztlich zum Herzinfarktführen können. Besonders begehrt ist dabei dasC-reaktive Protein, CRP. Es ist bereits bekannt,dass das Eiweiss bei Entzündungsprozessen imBlut auftaucht und die Körperabwehr stimuliert.Bei einem Herzinfarkt scheint das CRP jedochebenfalls eine Rolle zu spielen. Glaubte mannämlich noch bis vor kurzer Zeit, dass im Blutenthaltene Fette, die Cholesterine, die einzigSchuldigen seien, richtet sich der Blick heutezunehmend auf unterschwellige Entzündungs-prozesse in den Herzkranzgefässen.

Zwar gehört der erhöhte Cholesterin-spiegel unverändert zur Liste der bekanntenRisikofaktoren wie Übergewicht, Zucker-krankheit oder negativer Stress. «Die Entzün-dung scheint jedoch von grösserem Einfluss, alsbisher angenommen», so Maier. Demnach wirdzwar Cholesterin in die Gefässwand eingelagert.Im Inneren dieser Plaque kommen aber offen-

pfropfens gibt den Kardiologen wichtige Hinweise über die Ursache des Infarkts.

BILDER Jos Schmid

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bürgerungen ein neues Feld. Bisher beschäf-tigten sich vor allem Juristen mit den Einbür-gerungsverfahren. Helbling analysiert sie nunals Ausdruck politischer Willensbildung, dieRückschlüsse auf den Grad der Fremdenfeind-lichkeit in einzelnen Gemeinden zulässt. «Mitder Untersuchung der Einbürgerungspraxiskönnen wir mehr über die Ausschlussmecha-nismen und das Verhältnis zwischen Schweizernund Ausländern erfahren», erklärt Helbling.

Die Studie wird in zwei Etappen reali-siert: Zuerst wurden in einer quantitativenUmfrage die Einbürgerungsprozesse in rund200 Schweizer Gemeinden analysiert. In einemzweiten Schritt werden in 15 dieser GemeindenFallstudien gemacht. Der erste Teil des Projek-tes ist bereits abgeschlossen – mit interessantenResultaten. Es hat sich beispielsweise gezeigt,dass die Art, wie über Einbürgerungen befundenwird, entscheidenden Einfluss auf die Ableh-nungsquote hat. Befindet das Volk an der Urneüber Einbürgerungen, ist die Ablehnungsquo-te massiv höher. In Gemeinden mit Volksab-stimmungen werden durchschnittlich 23 Pro-zent mehr Gesuche abgelehnt. Für die anderenEinbürgerungsmodi konnten zwar keine sta-tistisch signifikanten Einflüsse ausfindig ge-macht werden. In vielen Gemeinden, in denenan der Gemeindeversammlung oder im Ge-meindeparlament über Einbürgerungsanträgeentschieden wird, werden jedoch ebenfallsrelativ viele Gesuche abgelehnt.

Grossen Einfluss auf die Ablehnungs-quote hat auch die Anzahl der Gesuche. Wennzwischen 1990 und 2002 maximal neun Gesuchevorgelegt wurden, gab es in den untersuchtenGemeinden überhaupt keine ablehnenden Ent-scheide. Bei mehr als neun Gesuchen stieg dieQuote bis auf über 30 Prozent. Eine Erklärung

Am 9. Juli 2003 veröffentlichte das Bundes-gericht einen wegweisenden Entscheid: NachAuffassung des höchsten Gerichts im Lande ver-letzen Volksabstimmungen über Einbürge-rungsgesuche die Verfassung. Das Bundesge-richt begründet sein Verdikt damit, die Einbür-gerung sei ein administrativer Prozess. EineAblehnung müsste deshalb begründet werdenund anfechtbar sein. Beides ist bei einer Volks-abstimmung nicht möglich.

Anlass für den Richterspruch aus Lau-sanne waren zwei Fälle, die beurteilt werdenmussten: Die Initiative «Einbürgerungen vorsVolk» der SVP des Kantons Zürich, die für ver-fassungswidrig erklärt worden war, und dieBeschwerde eines Ausländers, dessen Einbür-gerungsgesuch die Gemeinde Emmen an derUrne abgelehnt hatte. Während die SVP vorBundesgericht abblitzte, erhielt der AusländerRecht, der argumentierte, der Urnenentscheidsei diskriminierend. Seit dem Verdikt desBundesgerichts sind die Urnenabstimmungenüber Einbürgerungsgesuche in der Schweizentweder abgeschafft oder sistiert. Der Ent-scheid der Lausanner Richter hat somit weit-reichende politische Konsequenzen. Ob sich dasGericht jedoch überhaupt so weit aus demFenster lehnen und in politische Prozesse ein-mischen darf, ist nach wie vor umstritten.

EINBÜRGERUNGEN ALS POLITISCHE ENTSCHEIDE

Faktisch sind Einbürgerungen keine admini-strativen, sondern politische Entscheide. An die-sem Punkt hakt der Politologe Marc Helblingein: Für seine Dissertation im Rahmen einesNationalfondsprojekts unter der Leitung vonHanspeter Kriesi untersucht er die Einbürge-rungsprozesse in der Schweiz. Damit eröffnetsich im wissenschaftlichen Diskurs um die Ein-

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bar entzündliche Prozesse hinzu. Abwehr-zellen werden angelockt und dringen in dieArterienwand ein. Das Gefäss verliert seineElastizität, und die innere Auskleidung derAder wird marode. Zudem strapazierenZucker, Nikotin und andere Gifte im Blut-strom das Gefäss und schädigen das dünneHäutchen über der Plaque. Bricht das Häut-chen auf, bildet sich in Sekundenschnelle eintödliches Gerinnsel.

MOMENTAUFNAHME DES INFARKTS

Bisher konnte man das Infarktmaterial nurbei Verstorbenen entnehmen. Dort lag derHerzinfarkt aber bereits Stunden zurück.«Diese nachträglichen Befunde hatten nichtdie gleiche Aussagekraft für die Beurteilungdes Infarktgeschehens wie das frische Mate-rial», sagt Maier. Mit ihrer Methode erhaltendie Zürcher Kardiologen so eine Moment-aufnahme der vielfältigen Prozesse, die zurZeit des Infarktes zwischen Zellen, Boten-stoffen und Gefässwand abgelaufen sind.Werte aus dem Infarktbereich werden dar-aufhin mit Blutwerten aus der Peripherie desKörpers verglichen. Dies gilt auch für ver-schiedene Entzündungsmarker wie das CRP.So hoffen die Mediziner, die Bedeutung derEntzündung für den Herzinfarkt bald bessererklären zu können.

KONTAKT PD Dr. Willibald Maier, Abteilung fürInvasive Kardiologie des Departements für Inne-re Medizin am Universitätsspital Zürich, [email protected], [email protected]

ZUSAMMENARBEIT Prof. Arnold von Eckardstein,Institut für Klinische Chemie, USZ; Prof. SteffenGay, Experimentelle Rheumatologie USZ/WHOCollaboration Center; Prof. Felix Tanner, wissen-schaftliche Forschungsgruppe der Kardiologie,USZ

FINANZIERUNG Universität Zürich

WIE FREMDENFEINDLICHKEITGEMACHT WIRD

Das «Schweizermachen» ist ein politischer Prozess. Ob jemand eingebürgert wird,entscheiden die Gemeinden. Marc Helbling und Hanspeter Kriesi untersuchen, wiestark Fremdenfeindlichkeit diese Entscheide beeinflusst. Von Thomas Gull

FORSCHUNG

WEBSITE www.ipz.unizh.chUNIMAGAZIN 1/04

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für diese Beobachtung haben Helbling undKriesi noch nicht gefunden. Es muss nochuntersucht werden, ob in kleinen GemeindenAusländer einfach besser integriert sind, oder obvielmehr eine antizipierende restriktive Ein-bürgerungspolitik potenzielle Antragstellerabschreckt und somit nur über Gesuche befun-den wird, die eine gute Chance auf Einbürge-rung haben.

MEHR SVP – WENIGER EINBÜRGERUNGEN

Je nachdem, auf welche Weise über Einbürge-rungen entschieden wird, kann die Bevölkerunggegen missliebige Gesuche mehr oder wenigergut mobilisiert werden. Die Umfrage hatgezeigt, dass ein vorherrschendes restriktivesStaatsbürgerverständnis oder der Einfluss derSVP auf die Gemeindepolitik die Ablehnungs-quote erhöhen. Dies bestätigt einerseits Hel-blings und Kriesis Hypothese, dass die Einstel-lung zu Ausländern und die aufgestellten Kri-terien zur Erlangung der Schweizer Staatsbür-gerschaft stark von der eigenen Vorstellung dernationalen Identität abhängen. Andererseits

wird deutlich, dass es sich bei Einbürgerungenum politische Entscheidungen handelt, diebeeinflusst werden können.

In der zweiten Phase seiner Studie wirdHelbling nun diese politischen Prozesse unter-suchen, die hinter den Entscheiden in den ein-zelnen Gemeinden stehen. Denn selbst beiähnlichen prozeduralen Rahmenbedingungengibt es Unterschiede, die erklärt sein wollen. Siesind letztlich das Produkt eines politischen Pro-zesses. In Emmen etwa wurden die Einbürge-rungsentscheide erst dem Volk vorgelegt, nach-dem die Schweizer Demokraten dies mit einerInitiative verlangt hatten. Im Kanton Zürichwurde mit «Einbürgerungen vors Volk» diegleiche Strategie verfolgt. Offenbar ist die SVPzum Schluss gekommen, dass Volksabstim-mungen das erfolgreichste Instrument sind, umEinbürgerungen zu verhindern.

Gute Rahmenbedingungen alleine rei-chen jedoch nicht aus. Entscheidend ist, wie füroder gegen die Einbürgerungen mobilisiertwird. Helbling geht davon aus, dass die unter-schiedlichen Ausprägungen der Fremden-

feindlichkeit, die sich in den Ablehnungsquotenspiegeln, nicht die Folge «natürlicher» Xeno-phobie sind, sondern das Ergebnis eines politi-schen Prozesses, in dem verschiedene Akteureeine Rolle spielen. Fremdenfeindlichkeit istdemnach ein politisches Konstrukt.

Gerade für den lokalen Rahmen sind dieKräfte und Faktoren, die Einbürgerungsent-scheide beeinflussen, nur schwer zu verallge-meinern. Das gilt etwa für die von Forschernformulierte Hypothese, eine hohe Arbeitslosig-keit steigere die Fremdenfeindlichkeit. «Dasstimmt so nicht», stellt Helbling fest. Gemeindenmit tiefer Arbeitslosigkeit können fremden-feindlicher sein als solche mit hoher. «Die wirt-schaftliche Situation wird erst relevant, wenn siepolitisch instrumentalisiert wird.» Wie dies imMeinungsbildungsprozess geschieht, werdendie Fallstudien zu erklären versuchen.

KONTAKT Prof. Hanspeter Kriesi, [email protected], Marc Helbling, [email protected], Institut für Politikwissenschaft der UniversitätZürich

FINANZIERUNG Schweizerischer Nationalfonds

Wann ist ein Schweizer ein Schweizer? Zürcher Politologen untersuchen die Mechanismen der Einbürgerung.

BILDER Jos Schmid

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ZELLULÄRE ZINKFINGER

Nicht alle Schwermetalle sind für Lebewesen gleich toxisch. Molekularbiologenuntersuchen, welche Vorgänge in der Zelle ablaufen, wenn diese etwa mit Zink oderCadmium in Kontakt kommt. Von Susanne Haller-Brem

Die meisten Gegenden der Welt sind erst durchBergbau und Industrialisierung mit toxischenSchwermetallen belastet worden. Vorher warenhohe Konzentrationen lediglich regional einProblem. Beispiele sind der hohe Cadmium-Gehalt einiger vulkanischer Böden oder ste-hendes Wasser aus bleihaltigen Leitungsrohren.Walter Schaffner ist kein Gesundheitsspezialistauf diesem Gebiet, doch der Molekularbiologie-Professor der Universität Zürich untersuchtseit Jahren, was in biologischen Systemen beimKontakt mit Schwermetallen passiert. «UnsereForschungsgruppe interessiert sich in ersterLinie dafür, wie Gene ein- und ausgeschaltetwerden, der Bezug zu den Schwermetallenergab sich erst sekundär», erzählt Schaffner. Umdie Genaktivierung studieren zu können, such-te er nach einem einfachen Modell. Fündigwurde er bei den Metallothioneinen – einer Pro-teinklasse. Diese kleinen, schwefelreichen Pro-teine kommen in allen Körperzellen vor undhaben die Fähigkeit, Schwermetall-Ionen zubinden. Dazu besitzen sie zwei Taschen, in die– salopp gesagt – Schwermetalle eingepacktwerden können. Wenn der Organismus erhöh-ten Schwermetall-Konzentrationen ausgesetztist, produzieren Leber und Niere besondersgrosse Mengen an Metallothioneinen.

VORRATSTÖPFE FÜR ZINK

Während einige Schwermetalle wie Cadmiumund Quecksilber für Lebewesen hochtoxischsind, sind andere wie Zink und Kupfer bei hoherKonzentration zwar ebenfalls giftig, alsBestandteil vieler Proteine jedoch lebensnot-wendig. So kommt es bei starkem Zinkmangelzu Immunschwäche, Wachstums- und Fertili-tätsstörungen. Metallothioneine müssen alsoeinerseits für toxische Schwermetalle Entgif-tungsfunktionen übernehmen und anderer-seits mithelfen, für so genannt essentielle

Schwermetalle eine ausgeklügelte Balance auf-rechtzuerhalten. Zudem agieren Metallothio-neine auch als Radikalfänger und spielen gene-rell bei der Stressabwehr eine wichtige Rolle.

«Unter physiologischen Bedingungensind Metallothioneine vor allem eine Art Vorrats-töpfe für Zink», erklärt Schaffner. Damit könnenÜberschüsse aufgefangen und Mangelver-sorgungen überbrückt werden. Sobald abertoxische Schwermetalle, etwa Cadmium, in dieZellen gelangen, entlässt Metallothionein dasZink, denn Cadmium bindet mit viel höhererAffinität an dieses Protein. Die Molekularbiolo-gen wollten nun herausfinden, wie die Metal-lothionein-Aktivität gesteuert wird. Sie identifi-zierten und charakterisierten ein Protein, das imZellplasma nur darauf wartet, «dass der Zelleetwas Schlimmes zustösst», wie Schaffner es for-muliert. Dieses Protein wird MTF-1 genanntund enthält sechs so genannte Zinkfinger-Regionen. Diese Zinkfinger sind unter anderemfür das «Erfühlen» der Schwermetall-Konzen-tration zuständig. Sobald MTF-1 durch Schwer-metalle oder andere Stressoren aktiviert wird,verschiebt es sich sogleich in den Zellkern, bin-det dort an die Schaltstellen der Metallothionein-Gene und kurbelt damit die Herstellung vonMetallothionein an. MTF-1 ist somit ein Sensor-und Regulatorprotein, das heisst, es führt dieArbeit auch noch gleich selber aus. Versuche mitMäusemutanten zeigten, dass dieses Proteinnicht nur im Schwermetallhaushalt eine wich-tige Rolle spielt, sondern auch für die Leber-entwicklung von zentraler Bedeutung ist.

Schaffner und sein Team studieren denSchwermetallhaushalt in Zellkulturen, Mäusenund der Taufliege Drosophila, einem Lieb-lingstier der Molekulargenetiker. «Die aller-meisten Lebewesen sind schlecht gerüstet fürden Umgang mit toxischen Schwermetallen»,fasst Schaffner zusammen. In unserem Körper

FORSCHUNG

Hochgiftig, manchmal aber auch lebenswichtig: Zü

WEBSITE www.molbio.unizh.ch/groups/schaffner/

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wird das giftige Cadmium zwar durch Metallo-thioneine gebunden, doch von da werden wir eskaum wieder los; es sammelt sich über Jahreund Jahrzehnte an und kann zu einer chroni-schen Belastung werden bis hin zu Nieren- undLeberversagen. Diese gefährliche Abwehrstra-tegie ist aber nicht weiter erstaunlich, denn wiegesagt: das Problem der Schwermetalle ist jün-geren Datums. Für die Natur «lohnte» es sichdaher kaum, ein vernünftiges Ausscheidungs-system für toxische Schwermetalle zu etablie-ren. Anders sieht die Sache hingegen bei denessentiellen Schwermetallen wie Kupfer undZink aus. Hier sind die Lebewesen – vom Bak-terium über Drosophila bis zum Menschen – mitleistungsfähigen und metallspezifischen Pum-pen ausgestattet, die es erlauben, einerseits denOrganismus bei Mangel effizient zu versorgenund andererseits allfällige Überschüsse ausden Zellen zu befördern. «Mit jeder neuenErkenntnis staune ich mehr über die Komple-xität dieser Regulation. Doch für toxischeSchwermetalle müsste sich die Natur nochetwas besseres einfallen lassen», sagt Schaffner.

SCHLAGLICHT AUF ALZHEIMER

Die Arbeiten von Schaffners Team fallen klar indie Kategorie Grundlagenforschung, doch gibtes auch ein Nebenprojekt zum Thema Schwer-metalle und Alzheimer-Erkrankung. Man weissheute, dass das Protein APP (Alzheimer precur-sor protein, welches die berüchtigten «plaques»im Gehirn macht) ein Kupfer und Zink binden-des Membranprotein ist. In Zusammenarbeitmit deutschen und amerikanischen Kollegenwird das menschliche APP-Gen in die Fliegeübertragen. Wenn man nun herausfindet, wiesich APP auf den Schwermetall-Haushalt derexperimentell leicht zugänglichen Fliege aus-wirkt, könnte dies Aufschlüsse über die Ver-hältnisse beim Menschen geben.

KONTAKT: Prof. Walter Schaffner, Institut für Mole-kularbiologie der Universität Zürich, [email protected]

ZUSAMMENARBEIT: Gerd Multhaup, FU Berlin, Den-nis J. Thiele, Duke University, Durham N.C., RenatoParo, Heidelberg, Milan Vasak, Universität Zürich.

FINANZIERUNG: Kanton Zürich, Schweiz. National-fonds, EU-Grant «Geninteg».

rcher Molekularbiologen untersuchen, wie Zellen mit Schwermetallen umgehen.

BILD Jos Schmid

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Acht Jahre hat die Kanadierin Marcy Goldbergin der Schweizer Filmbranche gearbeitet. Wassie dabei kennen gelernt hat, erschien ihr nurauf den ersten Blick fremd. Wie in Kanada istauch die Filmszene in der Schweiz überschau-bar und – wegen der unterschiedlichen Sprach-kulturen und Regionen – sehr vielfältig. «Aberdie Motive», erzählt Marcy Goldberg, «die sindhier schon anders.» Im kanadischen Filmschaf-fen gehe es häufig darum, sich vom grossen Bru-der USA zu unterscheiden und die eigene Iden-tität zu schützen. «In Kanada meint man zu wis-sen, wie diese Identität aussieht», bilanziertGoldberg, «in der Schweiz wird sie aber ständigin Frage gestellt.»

Dieses permanente Auseinanderset-zung mit der Identität hat eine lange Traditionin der Schweizer Literatur. Sie prägt auch denFilm. Darüber hinaus, und im Gegensatz zuKanada, wo zu über neunzig Prozent Holly-woodstreifen über die Leinwände flimmern, istman in der Schweiz mit verschiedenen Kino-traditionen vertraut. Neben dem allgegenwär-tigen Hollywoodstil gibt es kulturelle Einflüsseaus den Nachbarländern Deutschland, Frank-reich und Italien. Zudem laufen in den Schwei-zer Kinos auch Filme aus der so genannten Drit-ten Welt.

«EXTREM KOSMOPOLITISCH»

So verwundert es nicht, dass die meisten Film-schaffenden hierzulande nicht versuchen, dengrossen Blockbuster herzustellen, sondernetwas Eigenes, Persönlicheres zu kreieren.«Unter dem Arbeitstitel ‹Die schräge Schweiz›»,so Marcy Goldberg, «versuche ich, diese Vielfaltunter einen Hut zu bringen.» «Schräg» heisst imZusammenhang mit ihrem Dissertationsprojekt,das vom Forschungskredit der UniversitätZürich unterstützt wird, «seltsam» oder «unge-wöhnlich». Im Begriff klingen aber auch komi-

sche oder satirische Aspekte an. Die Filme, dieGoldberg untersucht, bieten einen ungewohn-ten Blick auf das Leben in der Schweiz.

«Schräg» bedeutet jedoch nicht, dass dieFilmschaffenden als weltabgewandte Bastler vorsich hin werkeln. Im Gegenteil: Die meistenkennen sich bestens im internationalen Kino-schaffen aus, verfügen über das neuste techni-sche Know-how für Video und Internet und sindallgemein – wie das Schweizer Kinopublikumauch – «extrem kosmopolitisch», findet Gold-berg. Mit diesem weltläufigen Backgroundgehen sie dann an ihre lokalen Geschichtenheran.

NARRENFREIHEIT UND NISCHENVORTEILE

Ein aktuelles Beispiel dafür ist der Dokumen-tarfilm «Hans im Glück» von Peter Liechti. DerRegisseur inszeniert sich darin als «einer, derauszog, das Rauchen loszuwerden». Liechtiwanderte so lange zigarettenlos zwischen sei-nem Wohnort Zürich und seinem Heimatort St.Gallen hin und her, bis er es geschafft hat. DreiAnläufe brauchte es dazu. Die Bilder, Erkennt-nisse und Erinnerungen, die er auf seinen Mär-schen mitnahm, bilden den Fundus zu dieser«Heim-Suchung eines Rauchers», wie derRegisseur schreibt. «Liechti ist ganz der Künst-ler, der mit seiner Persönlichkeit arbeitet», sagtGoldberg, «und sich auf seiner Wanderung imkonkreten wie übertragenen Sinn zwischenModerne und Tradition bewegt. Und dabeibringt er erst noch einen lustigen, sehr unter-haltsamen Film hervor.»

Als Beispiel für einen schrägen Spielfilmnennt Marcy Goldberg «Utopia Blues» von Ste-fan Haupt, der vor zwei Jahren im Kino lief undmit dem Schweizer Filmpreis ausgezeichnetwurde. Der Film und sein «Held», ein jungerMann mit psychischen Problemen, themati-siert für Goldberg auf schöne Weise das Motiv

des Randständigen, des Exzentrikers, der vonder Gesellschaft abgelehnt wird. «Der Aussen-seiter, der an der Gesellschaft scheitert, ist seitje ein verbreitetes Motiv in Schweizer Film undgehört deshalb unbedingt in meinen Filmfun-dus », erzählt Goldberg. Schon in den Siebziger-jahren widmete etwa Alain Tanner einenGrossteil seiner Filme Aussteigerfiguren, eineTradition, die auch im Dokumentarfilm, bei-spielsweise bei Richard Dindo, erkennbar ist.

Nun könnte man sich fragen, weshalbgerade in der reichen Schweiz eine Kultur desSchrägen und nicht etwa eine Mainstream-Hochburg entstanden ist. Geld wäre ja genugvorhanden. Marcy Goldberg überlegt kurz. «DieSchweiz ist ein reiches Land, aber sie hat nieeine sehr grosszügige Kulturpolitik gehabt.»Auch aus sprachlichen, volkswirtschaftlichenund historischen Gründen blieb die Kinemato-graphie in der Schweiz klein. Länder wie dieUSA, Frankreich, Deutschland und Italien ent-wickelten schon zu Stummfilmzeiten einebeachtliche Filmindustrie. Dafür ist es in derSchweiz fast zu spät, findet Marcy Goldberg.Sinnvoller sei es, den Vergleich mit kleinerenFilmländern wie etwa Belgien, Österreich,Dänemark oder eben Kanada zu ziehen. «DieseLänder haben sich erfolgreich auf den Auto-renfilm konzentriert. Die Schweiz könnte eben-falls ihre Nische etablieren.»

Das Nischendasein weist durchauspositive Aspekte auf, sagt Goldberg. Man hatzum Beispiel die Freiheit, «dem Publikum mitganz eigenen, sehr persönlichen, skurrilen,ortsbezogenen Filmen eine Alternative zuminternationalen Mainstream zu bieten.» EinProblem müsste allerdings noch behoben wer-den: «Man müsste mehr tun, um die Aufmerk-samkeit im Ausland auf Schweizer Filme zu len-ken.» Vielleicht werde ja die neue OrganisationSwiss Films die erhofften Synergien bringen.

SPORT SELLS, DER SCHWEIZER FILM NICHT

Auch bei Privatinvestoren und Mäzenen gäbe esnoch beziehungsweise wieder Promotionsarbeitfür das Schweizer Filmschaffen zu leisten. Injüngster Zeit haben sich Private nämlich vomFilm abgewendet und ihre Unterstützungmehrheitsfähigeren Produkten zukommen las-sen. So hat beispielsweise die UBS ihre Gelder

SKURRILE SCHWEIZ

Die Stärke des Schweizer Films liegt in der Exzentrik; Mainstream-Produktionen sinddie Ausnahme, sagt Marcy Goldberg. In ihrer Dissertation ist sie Dokumenten einer«schrägen» Schweiz auf der Spur. Von Brigitte Blöchlinger

FORSCHUNG

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für die Filmfestivals in Solothurn und Nyongestrichen und ein Mehrfaches dieser Beträgein die Renn-Yacht Alinghi gesteckt. Sport sells,der Schweizer Film nicht. Doch so eineBehauptung will Marcy Goldberg nichtunwidersprochen stehen lassen: «Es stimmtnicht, dass die schrägen Schweizer Filme amPublikum vorbei zielen. Viele haben im Kinoeinen beachtlichen Erfolg erzielt.»

LOKALE GESCHICHTEN, GLOBALE BEDEUTUNG

Das ist auch eines der Ziele von Marcy Gold-bergs Doktorarbeit: den Mythos vom uninte-ressanten Schweizer Film zu bekämpfen. «DassSchweizer Filmemacher Subventionen kassier-ten für Filme, die kein Publikum fänden, hältsich hartnäckig als Gerücht. Das stimmt einfachnicht; im Schweizer Film werden durchaussehr aktuelle, relevante, spannende Themenangesprochen, die auch eine globale Bedeutunghaben», sagt die Filmwissenschaftlerin.

Die Schweiz ist eine Gesellschaft imUmbruch, und ihre Filme spiegeln die grossenHerausforderungen der Globalisierung wider:Themen wie die veränderte Arbeitswelt, dieMigration, die Umwelt. Da haben die SchweizerFilmschaffenden, die sowohl inhaltlich wieauch ästhetisch mit dem Spagat zwischen Tra-dition und Moderne arbeiten, einiges dazu zusagen.

FORSCHUNGSKREDIT Die Universität Zürich unter-stützt mit einem Forschungskredit jährlich wieder-kehrend herausragende Projekte von Nachwuchsfor-scherinnen und -forschern. 2003 wurden 68 Vorhaben,davon 51 Dissertationen, mit einer Gesamtsumme von4 Millionen Franken gefördert. Marcy Goldbergs Dis-sertationsprojekt «Die schräge Schweiz» ist einesdavon. Weitere Informationen zum Forschungskreditder Universität Zürich unter: www.unizh.ch/for-schung/dienste/forschungskredit.html

Exzentrischer Blick auf die Welt: Der Schweizer Film hat zu Unrecht ein schlechtes Image. (Filmstills aus «Gambling, Gods and LSD» von Peter Mettler, 2002)

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PROFIL

WEGWEISER DURCH DIE PRAXIS

Mit dem technologischen Fortschritt rücken auch ethische Fragestellungen ins Blick-feld der Gesellschaft. Der Nachdiplomstudiengang angewandte Ethik bietet Orien-tierung auf der Suche nach dem richtigen Weg. Von Isabel Morf

Ethik hat Hochkonjunktur. Bei Bund, Kantonen,Forschungsinstitutionen, Grossfirmen – allent-halben werden seit einigen Jahren Ethikkom-missionen oder ethische Räte eingesetzt. Ethi-sche Fragen, etwa im Zusammenhang mitOrgantransplantationen, Embryonen- oderStammzellenforschung, werden in der Öffent-lichkeit breit und kontrovers diskutiert. Seit fünfJahren bietet das Ethik-Zentrum der UniversitätZürich einen Nachdiplomstudiengang mitMaster-Abschluss in angewandter Ethik an,der auf grosse Nachfrage stösst.

Warum dieser Ethik-Boom? SusanneBoshammer, Oberassistentin am Ethik-Zen-trum und Leiterin des Nachdiplomstudien-gangs: «Die Gesellschaft ist, vor allem imBereich Reproduktionsmedizin, zunehmendmit dem technologischen Fortschritt konfron-tiert, mit verschiedenen Handlungsoptionen, diesie nicht wirklich einschätzen kann. Man weissgar nicht richtig, welche Wege da beschrittenwerden. Oft gibt es noch keine klaren recht-lichen Regelungen.» Im Unterschied zu früherist heute eine breite Schicht der Bevölkerungüber solche Entwicklungen informiert, und dieneuen Möglichkeiten haben oft einen direktenEinfluss auf das Privatleben der Menschen.«Daraus», so Susanne Boshammer, «resultiertein Orientierungsbedarf: Wie soll ich michdazu einstellen? Darf man so was machen?»

WAS DÜRFEN WIR TUN?

Die Kernfrage der Ethik lautet: Was dürfen wirtun? Und: Was sollen wir tun? Richtschnur ist dieVernunft, sind verallgemeinernde ethischePrinzipien wie: Die richtige Handlung ist jene,von der du wollen kannst, dass jeder Mensch indieser Situation sie wählt. Das klingt arg theo-retisch und abgehoben – aber wer hat nicht alsKind das Sprichwort kennen gelernt: «Was dunicht willst, dass man dir tu, das füg auch kei-

nem anderen zu.» Hier kommt ein ethischesGrundprinzip zum Ausdruck, das, so einfach for-muliert, schon Kindern als Regel beim Spielenauf dem Pausenplatz einleuchtet.

Patricia Infanger, diplomierte Pflege-fachfrau mit einer Ausbildung als Berufsschul-lehrerin im Gesundheitswesen, absolvierte denzweiten Nachdiplomstudiengang in angewand-ter Ethik. In ihrer Arbeit mit angehenden Pfle-gefachpersonen war sie immer wieder mit ethi-schen Fragen konfrontiert, die die Lernendenaus ihrem Arbeitsalltag einbrachten: Was tun,wenn ein Patient die Spitex-Betreuung ablehnt,obwohl er sie bräuchte? Darf man ihn dazuzwingen? Wie reagieren, wenn die Angehörigeneiner Patientin für sie eine andere Pflege wün-schen als die Patientin selbst? Ein anderesThema, das Patricia Infanger beschäftigte, wardie Frage, wie in der Pflege die Ressourcengerecht verteilt werden können, wenn Personalund Finanzen knapp werden – ein heute zuneh-mend brisantes Problem.

Die Absolventinnen und Absolventendes viersemestrigen Nachdiplomstudiengangswerden mit den grundlegenden Methoden undPrinzipien der Ethik, mit dem Instrumentariumdes ethischen Denkens vertraut gemacht. Die-ses lässt sich dann im Rahmen konkreter Fragenaus den verschiedenen Bereichsethiken, zumBeispiel Medizinethik, Wirtschaftsethik, politi-sche Ethik, Umweltethik oder Medienethik zurAnwendung bringen. Im ersten Kurs waren Teil-nehmende aus medizinischen Berufen über-vertreten, aber die Palette ist rasch breitergeworden. Juristinnen, Ingenieure, Journalis-tinnen, Banker und Pädagogen interessierensich für die ethischen Aspekte ihres Berufs.Jeder Jahrgang ist auf fünfzig Teilnehmendebeschränkt, bereits mussten Bewerber abge-wiesen werden. Männer und Frauen sind unge-fähr gleich vertreten; ihr Alter liegt zwischen

Mitte zwanzig und Ende sechzig. Patricia Infan-ger schätzte es, mit so unterschiedlichen Leutenzusammenzukommen. Das habe ihren Blickerweitert, sagt sie. «Ich habe gelernt, die Dingeexakt anzuschauen und die ethischen Fragen inihrer ganzen Breite wahrzunehmen.» Span-nend sei es für sie auch gewesen, wie die Mit-studierenden aus anderen Berufen den Pflege-bereich mit einem neuen, ihr ungewohntenBlick betrachtet hätten.

«EIN KRITISCHES GESCHÄFT»

Das mag alles interessant und ein persönlicherGewinn sein. Was aber ist der Nutzen der Ethikin unserer Gesellschaft? Ist sie mehr als einFeigenblatt für die Forschung, mehr als einZückerchen, mit dem Kritiker des Fortschritts-glaubens beruhigt werden sollen? SusanneBoshammer: «Die Ethik ist ihrem Wesen nachein kritisches Geschäft.» Sie räumt ein, dass dieEthik keine Vorschriften machen, keine Sank-tionen aussprechen kann. Ethik ist daraufangewiesen, dass sich der Einzelne den Argu-menten öffnet und die Bereitschaft hat, ver-nünftig zu handeln. «Aber man darf ihren Ein-fluss auch nicht unterschätzen. Man glaubt garnicht, wie viel man mit guten Argumentenerreichen kann.» Susanne Boshammer siehtauch Vorteile darin, dass die Ethik nicht zu starkinstitutionell eingebunden ist: «Man kann dannwirklich frei über die Dinge nachdenken, istweder Staat noch Kirche oder Politik verpflich-tet.» Die Ethik gibt keine verbindlichen Verhal-tensanweisungen, wie es etwa im Christentumdie zehn Gebote sind, sondern sie überlegt undformuliert, was vernünftiges Handeln ist, undstellt damit ein Angebot zur Verfügung, das dieGesellschaft nutzen kann – oder auch nicht.

Im letzten Semester ihres Nachdiplom-studiums schreiben die Studierenden eineDiplomarbeit, in der sie ein konkretes Themaaus ihrem Fachbereich analysieren und beur-teilen. Patricia Infanger untersuchte das Kon-zept eines Akutspitals, wie in Phasen, in denenzu wenig Personal vorhanden ist, bei der PflegePrioritäten gesetzt werden können. In diesemKonzept werden die Patientinnen und Patientenin Kategorien eingeteilt, je nachdem, wie vielund welche Pflege sie benötigen, und es wirdfestgelegt, wie die Pflege eingeschränkt werden

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kann. Bei Patienten mit höherer Bildung zumBeispiel wird an der Information gespart, oderbei Kranken, die sich gesundheitsschädigendverhalten, werden Zuwendung und Pflege aufein Minimum reduziert.

Infanger überprüfte an diesem Konzept,ob es einem Pflegeverständnis, das Pflege nichtnur «technisch», sondern auch ethisch versteht,noch genügt. Sie kam einerseits auf aus ethi-scher Sicht fragwürdige Punkte: Die Pflegendenkönnen beispielsweise in ein Dilemma geratenzwischen den Vorgaben des Konzepts und derrealen Situation am Krankenbett. Anderseitsstellte sie aber fest, dass das Konzept zum Teilauch hilfreich ist. Denn es verhindert eineunsystematische, willkürliche Verteilung derRessource «Pflege».

Vor überraschenden Ergebnissen ihresNachdenkens sind Ethikerinnen und Ethikernicht gefeit, denn die Ergebnisse von profes-sionellem ethischem Denken decken sich nichtunbedingt mit den persönlichen, gefühlsmässi-gen Überzeugungen. Ein Arzt schrieb seineDiplomarbeit über die Frage, ob es ethischvertretbar wäre, den Organhandel zu kommer-zialisieren. Er selbst war, bevor er die Frageuntersuchte, skeptisch. Er sah sich in seinemBerufsalltag jedoch immer wieder mit Patientenkonfrontiert, die starben, weil für sie nichtrechtzeitig ein Organ gefunden wurde. Er kamdann in seiner Arbeit zum Schluss, dass unterklar definierten, strengen Bedingungen – opti-male medizinische Versorgung, Nachbehand-lung – der Handel mit Organen zulässig seinsollte. Auch Susanne Boshammer, selber Mit-glied einer kantonalen Ethikkommission, hatschon ähnliche Erfahrungen gemacht. «In vie-len Fragen komme ich als Ethikerin zumSchluss: Ich habe nicht das Recht etwas zu ver-bieten – auch wenn ich persönlich es nie tunwürde.»

KONTAKT Dr. Susanne Boshammer, [email protected]

ZUSAMMENARBEIT Center for Bioethics and HealthLaw, Universiteit Utrecht; Department of Philosophy,University of Lancaster; Philosophisches Seminar,Universität Münster; Moraltheologisches Seminar,Universität Münster.

FINANZIERUNG Gebühren der Teilnehmerinnen undTeilnehmer.

Ob in der Krankenpflege, im Schulzimmer oder im Büro: Berufsleute interessieren sich zunehmend für ethische Fragen.

BILD Jos Schmid

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DIE SUCHE NACH DEM LICHTSCHALTER

Wie verhalten sich neue Materialien bei tiefen Temperaturen? Woraus ist das Welt-all aufgebaut? Und was hält die Welt im Innersten zusammen? Drei Physiker berich-ten, welche Grenzen sie bei ihrer Arbeit überschreiten möchten. Von Felix Würsten

Seine Welt sind die tiefen Temperaturen.Andreas Schilling, Professor für Festkörperphy-sik am Physik-Institut der Universität Zürich,beschäftigt sich bei seiner Arbeit unter anderemmit der Erforschung von Supraleitern, mitMaterialien also, welche unterhalb einer soge-nannten Sprungtemperatur elektrischen Stromwiderstandsfrei leiten. «Eigentlich verstehen wirimmer noch nicht recht, warum es die Hoch-temperatur-Supraleitung überhaupt gibt»,meint Schilling. «Wir haben zwar Szenarien,aber keine Theorie, die eine mathematischeVoraussage zulassen würde.»

Dementsprechend gestaltet sich dennauch die Suche nach neuen supraleitendenMaterialen. «Ein präzises Design von neuenVerbindungen ist nicht möglich. Dazu ist derGraben zwischen chemischer Präparation undTheorie zu gross.» Die Experimentalisten fabri-zieren die Materialien anhand von Analogie-schlüssen, mit Intuition und auch einer gewis-

sen Portion Glück; die Theoretiker wiederumversuchen dann zu erklären, warum diese Stof-fe supraleitend sind. Heute verfügt man überMaterialien, die bereits bei einer Temperaturvon minus 140 °C supraleitend sind. Ob man jeVerbindungen finden wird, die bei Zimmer-temperatur diese Eigenschaft besitzen, istheute noch nicht absehbar. «Vielleicht wirdman dieses Ziel schon relativ bald erreichen»,erklärt Schilling. «Vielleicht gibt es aber aucheine unüberwindbare physikalische Grenze,von der wir einfach noch nichts wissen.»

An der Erforschung der Supraleitungfaszinieren ihn die grundlegenden Aspekte.«Natürlich gibt es heute ganz konkrete An-

wendungen der Supraleitung, und ich bin auch froh, dass ich das in wissenschaftlichenProposals schreiben kann», meint Schilling.«Aber mir geht es nicht in erster Linie um die praktische Umsetzung. Mein Ziel ist es,einen Durchbruch zu erreichen, zum Beispielgenau zu verstehen, wie der Stromtransport in Supraleitern funktioniert. Das gibt mirBefriedigung.»

Supraleitung gilt heute nicht mehr alseigentliches Trendgebiet, und die Förderung ist denn auch etwas am Abklingen. Schillingstützt deshalb seine Aktivitäten viel breiter ab. So will er zum Beispiel die Thermometrie,die man bei der Erforschung der Supralei-tung braucht, als Methode weiterentwickeln und anderen Forschungsfeldern zugänglichmachen. Dabei schwebt ihm eine kontakt-lose Temperaturmessung von sehr kaltenObjekten vor. «Heute setzt man für solcheMessungen meist elektronische Thermome-

ter ein. Diese sind jedoch im Vergleich zu den kleinen Proben relativ massive Objekte»,bringt Schilling das Problem auf den Punkt. Er verfolgt nun die Idee, Temperaturen mitInfrarot-Sensoren sehr präzis zu vermessen. Beitiefen Temperaturen strahlen die Objekteallerdings nur noch wenige Photonen ab, und deshalb sind solche Messungen sehr heikel. Schilling lässt sich dabei durch dieArbeit von Astrophysikern inspirieren, welchemit ähnlichen Geräten schwache Infrarot-Sig-nale von Sternen messen.

Schilling würde gerne einen Sensorverwenden, mit dem er im Mikrometerbe-reich alle paar Augenblicke die Temperatur

messen kann. «So könnte man beispielsweisedie Wärmeleitung in filmartigen Proben unter-suchen», meint er. «Oder man könnte zuschau-en, wie ein Supraleiter unter Strombelastungnormalleitend wird.»

DUNKLES WELTALL

Sozusagen im Dunkeln bewegt sich PhilippeJetzer, Professor am Institut für TheoretischePhysik der Universität Zürich, bei seiner Arbeit.Der Astrophysiker sucht nach der dunklen Ma-terie, die zusammen mit der dunklen Energieden weitaus grössten Teil unseres Universumsausmacht. Nur gerade etwa ein Prozent des Uni-versums sind für uns sichtbar. Aus was der gros-se Rest besteht – immerhin 99 Prozent des Welt-alls –, darüber wird in Fachkreisen nach wie vorgerätselt. Dabei ist eigentlich schon langebekannt, dass es dunkle Materie geben muss.Bereits in den Dreissigerjahren des letzten Jahr-hunderts entdeckten der Schweizer AstronomFritz Zwicky, dass sich die Galaxiehaufen nichtso drehen, wie man das aufgrund ihrer sichtba-ren Masse eigentlich erwarten würde, und dasssie deshalb viel mehr Masse besitzen müssen.

Die Suche nach verborgener Materie seieigentlich ein uraltes Problem, meint Jetzer. Alsdie Astronomen im 18. Jahrhundert den neu ent-deckten Planeten Uranus beobachteten, stelltensie merkwürdige Unregelmässigkeiten derBahnbewegung fest. Das führte schliesslichzur Entdeckung eines neuen Planeten, Neptun.Etwas Ähnliches spielte sich beim Merkur ab.Dort stimmten die Bahnbewegungen ebenfallslange nicht mit den theoretischen Voraussagenüberein. In diesem Fall konnten die Differenzenaber auf eine Unvollständigkeit in der Theoriezurückgeführt werden. Mit der allgemeinenRelativitätstheorie gelang es schliesslich, Beob-achtung und Voraussage in Übereinstimmungzu bringen.

Könnte es nicht sein, dass die heutigenUnstimmigkeiten ebenfalls auf unvollständigenKenntnissen der Naturgesetze beruhen? «Esgibt tatsächlich ein paar Kosmologen, die das

DOSSIER – FORSCHEN AM LIMIT

«Zeigt sich, dass die Milchstrasse nicht von einem Halo aus Braunen Zwergenumgeben ist, wäre das auch ein Fortschritt.» Philippe Jetzer, Astrophysiker

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behaupten», bestätigt Jetzer. «Aber sie sind in derMinderheit. Wenn man die Naturgesetze abän-dert, dann gerät man in noch grössere Schwie-rigkeiten. Deshalb bin ich überzeugt, dass es diedunkle Materie tatsächlich gibt.» Vermutlichbesteht ein Teil davon aus Teilchen, die nicht zur herkömmlichen Materie gehören. «Wasimmer das für Teilchen sind, sie müssenextrem schwach wechselwirken – sonst hättenwir sie nämlich schon längstens entdeckt»,erklärt Jetzer. Zusammen mit den Teilchen-physikern versuchen die Astrophysiker nunherauszufinden, um welche Teilchen es sichdabei handeln könnte.

Ein Teil der dunklen Materie dürfte hin-gegen aus konventioneller Materie bestehen. Soist zum Beispiel unsere Milchstrasse möglicher-weise von einem Halo aus kalten Wasserstoff-wolken und Braunen Zwergen umgeben. Beiletzteren handelt es sich um Objekte, die nur etwaein Zehntel so gross sind wie die Sonne. Wegender zu geringen Temperatur kommt in ihremInneren keine Fusionsreaktion in Gang. Sieleuchten deshalb nicht und sind mit herkömm-lichen Beobachtungsmethoden kaum nachzu-weisen. Die Existenz von Braunen Zwergen lässtsich jedoch indirekt nachweisen, erklärt Jetzer.Befindet sich ein Brauner Zwerg auf der Licht-linie eines weiter entfernten Sterns, dann wirddessen Licht vom Braunen Zwerg gebündelt.

Der Stern erscheint dem Beobachter auf derErde dann plötzlich heller. Solche zufälligenHelligkeitsveränderungen zu entdecken erfor-dert jedoch einen massiven technischen undzeitlichen Aufwand. Sechs Jahre lang wertetenmehrere Forschergruppen riesige Mengen anDaten aus und konnten so in der MagellanschenWolke zwanzig solche Ereignisse nachweisen.Wie diese Resultate zu interpretieren sind, dar-über wird nun heftig gestritten.

«Auch wenn sich herausstellen sollte,dass die Milchstrasse nicht von einem Halo ausBraunen Zwergen umgeben ist, wäre das einFortschritt», meint Jetzer. «Bei unserer Arbeitgeht es häufig nicht darum, etwas direkt nach-

zuweisen, sondern die Grenzen des Möglichenenger zu setzen. Es ist, als wenn man im Dun-keln einen Lichtschalter suchen würde.» Jetzerist überzeugt, dass die Suche nach dem Schalternicht aussichtslos ist. «Irgendwann finden wirheraus, wie die dunkle Materie aufgebaut ist.»

WIDERSPRÜCHE IM WELTBILD

«Unterhalb der bekannten Strukturen – Proto-nen, Neutronen und Elektronen – muss esetwas geben, das einen fundamentalen Cha-rakter hat», meint Daniel Wyler, Professor fürTeilchenphysik am Institut für TheoretischePhysik. «Und das möchte ich verstehen.» Als erMitte der siebziger Jahre als Doktorand in dieTeilchenphysik einstieg, war diese Disziplingerade in eine neue Phase getreten. Die quali-tative Beschreibung wurde durch eine quanti-tative, mathematisch fassbare Theorie, die sogenannte Quantenfeldtheorie abgelöst, die auftheoretischen Vorarbeiten der fünfziger Jahrebasierte. Damit gelang es, die Materiebausteinewie Elektronen und Quarks einerseits und die«Austauschteilchen», die die Wechselwirkungenzwischen diesen Bausteinen vermitteln, ande-rerseits zusammenzubringen.

«Ziel der theoretischen Physik ist es, dieNatur mit der Sprache der Mathematik zubeschreiben», sagt Wyler. «Mit ihrer Hilfe ver-suche ich herauszufinden, wo es Lücken und

Widersprüche im Weltbild gibt, welche neueTeilchen existieren könnten und wie sich diesemanifestieren.» Basierend auf solchen theore-tischen Arbeiten werden dann die komplexenExperimente durchgeführt, die wiederum denInput für neue theoretische Arbeiten liefern.

Erst wenn in der Wissenschaftsge-meinschaft ein gewisser Konsens besteht, wer-den die teuren und sehr langfristigen Experi-mente in Angriff genommen. Eigentlich versu-chen die Teilchenphysiker, ein möglichst ein-faches und klares Weltbild zu erarbeiten. Ist dadie Entdeckung von neuen Teilchen nicht eherlästig? «Neue Teilchen bedeuten nicht unbe-dingt, dass die Sache komplizierter wird», rela-

tiviert Wyler. «Manchmal vereinfachen sie einProblem.» So war beispielsweise die Einführungeines vierten Quarks ein grosser Fortschritt. DieResultate der Experimente konnten damit bes-ser erklärt werden, und zugleich wurden auchdie mathematischen Grundlagen der Theorieeleganter, weil die Symmetrie nun wieder her-gestellt war.

Ein Teilchen, das die Physiker unbe-dingt finden möchten, ist das Higgs-Teilchen,dessen Existenz bereits vor mehr als 30 Jahrenvorausgesagt wurde. Es ist das letzte Teilchen imStandardmodell, das bis jetzt noch nicht nach-gewiesen wurde. Mit dem neuen Beschleuni-gerring am CERN in Genf soll diese Lücke nunendlich geschlossen werden. Das Higgs-Teil-chen ist elektrisch neutral, kann nur mit sehrviel Energie hergestellt werden, und es besitzteine minimale Kopplung an andere Teilchen.Obwohl das Experiment in Genf noch gar nichtgestartet wurde, ist Wyler fest überzeugt, dassman das Teilchen finden wird. «Es ist ein gutesBeispiel, wie man mit Hilfe der MathematikTeilchen theoretisch voraussagen kann.»

Die Erfolge der Theorie haben klargezeigt, dass die Naturgesetze für Materie wiefür Antimaterie grundsätzlich gleich sind. In derTat war die Antimaterie, also Teilchen mitgleicher Masse aber entgegengesetzter elektri-scher Ladung, die erste glanzvolle Vorhersageder Feldtheorie. Dennoch findet sich kaumAntimaterie im Universum, obwohl eigentlichbeim Urknall genau gleich viel Antimaterie wieMaterie hätte entstehen müssen. Die Antimate-rie muss also in Laufe der Zeit verschwundensein. «Wir suchen beispielsweise nach Teilchen,bei deren Zerfall mehr Materie als Antimaterieentsteht», erklärt Wyler. Die Erforschung derNeutrinos, die in den letzten 10 Jahren stark anBedeutung gewonnen hat, könnte dabei einewichtige Rolle spielen. «Heute vertreten vielePhysiker die Auffassung, dass gerade dieseextrem schwach wechselwirkenden Teilchenviel zur gesuchten Symmetrieverletzung bei-tragen und uns neue Einblicke in das Stan-dardmodell verschaffen könnten.»

KONTAKTProf. Andreas Schilling, [email protected]. Philippe Jetzer, [email protected]. Daniel Wyler, [email protected]

«Unterhalb der bekannten Strukturen muss es etwas geben, das einenfundamentalen Charakter hat.» Daniel Wyler, Teilchenphysiker

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Der Vater des Klonschafs Dolly behauptete, dieGentechnik unterliege heute nur noch denGrenzen der Phantasie, der Physik und derMoral. Haben wir es hier mit einer beinahe un-begrenzten Forschung zu tun? Die beiden Uni-versitäts-Professoren Ernst Hafen und AndreasPlückthun sind zwei renommierte Fachleute, dietagtäglich an vorderster Front dieser Forschungwirken und Erfolge verbuchen, von denenselbst die Pharmaindustrie nicht überzeugtwar, dass sie möglich sind.

Ernst Hafen untersucht Gene der Tau-fliege Drosophila, die für das Grössenwachstumvon Zellen verantwortlich sind. Um solche Ge-ne zu finden, provoziert er durch das Verfütternvon Chemikalien Gendefekte oder Mutationen.Geschehen letztere in Genen, die das Grös-senwachstum der Fliege kontrollieren, entste-hen zu kleine oder zu grosse Fliegen. Hafen ent-deckte vor zwei Jahren ein erstes Wachstums-gen. Inzwischen hat er von den 15 000 Genenweitere sechzig Gene gefunden, die für dasGrössenwachstum der Taufliege verantwortlichsind. «Das sind keine Einzelspieler, sondernTeamplayer. Bei der Drosophila dürften es etwafünf Teams sein, die das Wachstum kontrollie-

ren.» Am Ende seiner Forschung ist er nochlange nicht angelangt. «Wir kennen die Spielerauf dem Feld. Aber wir sind noch nicht in derLage vorauszusagen, was in der Entwicklung zuwelchem Zeitpunkt geschieht. Warum etwa istein Elefant grösser als eine Maus, obwohl ihrErbgut fast identisch ist?», fragt sich Hafen. DasPotenzial dieser Forschung ist enorm: Mit demEingriff ins Zellwachstum könnten Krebszellenam Wuchern gehindert werden.

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DARWIN IM REAGENZGLAS

Molekularbiologen können Fliegen schrumpfen oder die Evolution simulieren. Kaumeine andere Wissenschaft verbucht derzeit so viele Erfolge. Doch die Forschung ringtum gesellschaftliche Akzeptanz. Von Carole Enz und Michèle Büttner

DOSSIER – FORSCHEN AM LIMIT

Zur Tumorbekämpfung könnten dereinst auchdie Forschungsergebnisse des StrukturbiologenAndreas Plückthun beitragen. Er entwickeltmit seinem Team völlig neue Proteinklassen, diedie Funktion von natürlichen Proteinen über-nehmen. Laut Plückthun übertreffen die syn-thetischen Proteine die natürlichen in SachenHerstellbarkeit, Stabilität und Anwendungs-möglichkeiten bei weitem. Die Technologie, mitder er arbeitet, nennt er Evolutionsmethode.Diese ist Neuland, basiert aber letztlich aufErkenntnissen des neunzehnten Jahrhunderts– auf Darwins Evolutionstheorie. WährendDarwin die Natur lediglich beobachten konnte,ist es heute möglich, die Evolution auf ein Zielhin gerichtet ablaufen zu lassen. Was Plückthungemacht hat, ist, dieses Prinzip auf ein absolu-tes Minimum zu reduzieren: auf ein Reagenz-glas ohne Organismen. «Unsere Evolution fin-det mit einem Stück genetischem Material statt.Hinzu kommt ein Ribosom, das aus dem Gen-code ein Protein zusammenbaut. Der Trickbesteht darin, diesen Prozess am Ende anzu-halten, sodass das entstandene Protein mit demzugehörigen Genstück zusammenbleibt», er-klärt Plückthun. Dadurch weiss er stets, welches

Genstück zu welchem Protein gehört. Er kanndiese Proteine – woran immer noch der jewei-lige Gencode hängt – an Zielmoleküle bindenlassen und diejenigen mit den besten Bin-dungseigenschaften herausselektionieren. DenGencode dieser Proteine unterwirft er im Rea-genzglas durch Zugabe von Chemikalien einerkünstlichen Mutation. Über die mutierten Genelässt Plückthun erneut ein Ribosom laufen.Viele der derart neu entstandenen Proteine

sind unbrauchbar, doch einige davon sind bes-ser als das Ursprungsprotein – sie sind also evo-lutiv «verbessert» worden. Die Proteine derzweiten Generation werden wieder auf dasgewünschte Zielmolekül losgelassen. Erwiederholt diesen Prozess so oft, bis ein Proteinhergestellt ist, das die gewünschten Eigen-schaften besitzt. Plückthun kann diese synthe-tischen Proteine dazu benutzen, um Zellprotei-ne ganz oder teilweise zu blockieren. Auf dieseWeise kann er untersuchen, welche Aufgabe dasblockierte Zellprotein erfüllt. Da Plückthuns In-vitro-Proteine letztlich eine ähnliche Funktionwie Antikörper haben, könnten sie dereinst dazuverwendet werden, toxische Substanzen anTumore zu bringen, um diese abzutöten.

ANFÄNGLICH BELÄCHELT

Wer wie Hafen das Grössenwachstum vonKrebszellen stoppen oder wie Plückthun direkttoxische Substanzen an Tumore verfütternkönnte, eröffnet der Medizin neue Wege. Umdiese Resultate dürften sich die Pharmafirmenprügeln. «Bis vor ein paar Jahren sind wir mitder Fliegenforschung noch belächelt worden»,meint Hafen. «Man hat dem Zellwachstum vielzu wenig Bedeutung geschenkt. Denn Krebs-zellen teilen sich nicht nur unaufhörlich, siemüssen auch nach jeder neuen Teilung zuerstwieder wachsen.» Und genau an diesem Punktkönnen die Erkenntnisse von Hafen einsetzen.

Die Bedeutung der Blockierung desZellwachstums in der Krebstherapie zeigt sicham Beispiel des Medikaments Rapamycin. Die-ses wurde bisher bei Organtransplantationeneingesetzt, um das Immunsystem daran zu hin-dern, den Fremdkörper abzustossen. Man hatentdeckt, dass Rapamycin auch die Zellen amWachstum hindert. Das Prinzip: Bei einigen Zel-len fehlt ein bestimmtes Suppressor-Gen, eineArt Bremse, die eine Zelle am unaufhörlichenWachstum hindert. Wenn diese Gene durchzufällige Mutationen verloren gehen, wächsteine Zelle mit durchgedrücktem Gaspedal wei-ter. Verabreicht man nun Rapamycin, stellen

«Wir kennen alle Gene. Da tut sich eine Tür auf. Die gesellschaftlichrelevanten Fragen werden jetzt aufgeworfen.» Ernst Hafen, Zoologe

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Zellen ihr Wachstum ein, die das Suppressor-Gen verloren haben. Novartis und eine ameri-kanische Pharmafirma führen nun klinischeStudien durch, damit dieses Medikament auchgegen Krebs eingesetzt werden darf. Hafenhofft, dass weitere von seiner Gruppe identifi-zierte Wachstumsgene als Wirkorte für die Ent-wicklung neuer Medikamente dienen können.

RISIKOSCHEUE PHARMAFIRMEN

Bis vor kurzem floss dank Investoren noch vielRisikokapital in verheissungsvolle Spinoff-Fir-men und in die Forschung. Das wirtschaftlicheKlima ist inzwischen rauer geworden. Hafen,der selber 1998 die Spinoff-Firma The GeneticsCompany gegründet hat, erinnert sich an dieZusammenarbeit mit der Industrie: «Damalskonnten wir der Industrie Forschungsresultateverkaufen. In unserem Fall bedeutete das: Wirlieferten die Proteine, die eine Schlüsselrollespielen bei Krebs. Aus denen kann die Industriedann ein Medikament entwickeln. Das ist heutenicht mehr beziehungsweise nur noch be-schränkt möglich. Heute muss man quasi dieMedikamentenvorstufe verkaufen.» Plückthun,der seinerseits 1992 die Firma Morphosys ge-gründet hat, die künstliche Antikörper entwi-ckelt, bestätigt Hafens Unbehagen und gehtsogar noch einen Schritt weiter: «Die Pharma-firmen sind zu risikoscheuem Verhalten undkurzfristigen Produktzyklen übergegangen.Wenn etwas nicht auf Anhieb funktioniert, wirddas jeweilige Projekt sofort fallen gelassen. Dashat nicht nur Konsequenzen auf die Beziehun-gen zur Biotech-Industrie, sondern auch auf die

traditionelle Förderung der Hochschulen durchPharmafirmen – sie trocknet immer mehr aus.»

Ein Graben tut sich auf: Die Industriebeansprucht sozusagen den Goldesel Grundla-genforschung beziehungsweise dessen Ergeb-nisse für sich, will aber nichts zu seiner Ernäh-rung beitragen und delegiert diesen Bereich andie Universitäten. Eine fatale Entwicklung.Hafen sieht es nicht ganz so arg, aber er bemerktauch, dass die Lücke zwischen der Grundlagen-

forschung und der erfolgreichen Lancierungvon Spinoff-Firmen immer grösser werde. Ge-nau hier ortet er auch Handlungsbedarf. Denndas eine kann ohne das andere nicht sein.

Aber auch in der Finanzierung derGrundlagenforschung selber sieht PlückthunHandlungsbedarf: «Der langfristigen For-schung stehen nicht mehr die nötigen Gelderzur Verfügung. Pharmafirmen und öffentlicheHand ziehen sich vornehm aus der Verantwor-tung zurück.» Dass die Realfinanzierung derGrundlagenforschung in den letzten zehn Jah-ren abgenommen habe, bestätigt auch Hafen.Neue Finanzierungsmöglichkeiten müsstenerschlossen werden. Denkbar sei etwa, dass dieKommission für Technologie und InnovationKTI des Bundesamtes für Berufsbildung undTechnologie eine Überbrückungsfinanzierungleisten könnte. Damit nicht genug. Hafen ist Teileiner Gruppe von Forschern der Universität undder ETH Zürich, die plant, ein Life-Sciences-Kompetenzzentrum für Stoffwechselkrankhei-ten aufzubauen. Die Universität und die ETHZürich wollen dabei eine Art gemeinsame Platt-form schaffen, wo Mediziner, Biologen undChemiker zusammen neue Betätigungsfelderim Hinblick auf die Entwicklung zukünftigerMedikamente ausloten.

Denn eines ist klar: wenn sich univer-sitäre Forschung und Industrie zu weit vonein-ander entfernen, ist der TechnologiestandortSchweiz gefährdet. Beide Professoren sehen dieForschung als langfristige Investition in dieZukunft. «Denn», erklärt Hafen, «es ist die lang-fristige Forschung, die in zehn Jahren unter

anderem neue Medikamente hervorbringt. Fürdiese Forschung braucht es aber Kontinuität undUnabhängigkeit. Dafür müssen wir kämpfen.»

Kämpfen müssen beide auch um Ver-ständnis in der Bevölkerung, denn laut Hafensei der wissenschaftliche Fortschritt zurzeitenorm: «Wir befinden uns in der postgenomi-schen Phase, wir kennen alle Gene. Jetzt tut sicheine Tür auf. Da kommt noch sehr viel auf uns zu – der gläserne Mensch etwa. Die gesell-

schaftlich relevanten Fragen werden jetztaufgeworfen.» Doch kann die Gesellschaftdieser rasanten Entwicklung überhaupt fol-gen? «Kaum, und die Verringerung der Stun-denzahl der naturwissenschaftlichen Fächeran den Mittelschulen erschwert die Verbreitungder Information zusätzlich», meint Hafen. DieKommunikation zwischen Wissenschaft undBevölkerung müsse in jedem Fall verbessertwerden. Dies sei durchaus möglich, denn dieBevölkerung wäre grundsätzlich interessiert.Die deutsche Wochenzeitschrift Fokus erzieltemit Schwerpunkten wie Krebs, Ernährung undUnsterblichkeit hinter dem Titelthema Mobil-telefone in den vergangenen Jahren die höchs-ten Auflagen. Die meisten Leute wissen zwar,dass Proteine Bestandteil der Muskeln sindoder Fett dick macht, aber leider nicht, was dieDNS und somit die Gene bewirken. Wichtig sei,das «Frankenstein-Image» der Genforschung inder Öffentlichkeit loszuwerden.

Aber auch der politische Prozess birgtHindernisse. Wegen der rapiden Entwicklungder letzten zwanzig Jahre sind laut Hafen alle Gesetzesvorlagen, die während zweiJahren im Parlament und den vorbereiten-den Kommissionen diskutiert wurden, bereitsüberholt, wenn sie vors Volk kommen. AndreasPlückthun äussert sich noch pointierter: «DiePolitiker, die über unser Geld befinden, sindsich in keiner Weise bewusst, wie wichtig undwie dringend Grundlagenforschung ist – nichtnur zum Zweck des Erkenntnisgewinns, son-dern in Bezug auf die Möglichkeiten für Medi-zin und Technik. Wenn ihnen bewusst wäre,was Ihnen bewusst sein sollte, dann würdeneinige Debatten über Budgetkürzungen ganzanders verlaufen. Ich bin absolut davon über-zeugt, dass dies ein Mangel an Wissen ist unddass diesen Damen und Herren gar nicht klarist, welch zentrale Rolle die Grundlagenfor-schung innehat. Ein Land kann den Prozess vonder Erkenntnis bis zur Umsetzung nur durch-führen, wenn die Grundlagenforschung starkist und entsprechend gefördert wird. Denn sieist es, die neue Problemlösungsstrategien ent-wickelt.»

KONTAKT Prof. Ernst Hafen, [email protected],Prof. Andreas Plückthun, [email protected]

«Für langfristige Forschung fehlt das Geld: Pharmafirmen und öffentlicheHand ziehen sich aus der Verantwortung zurück.» Andreas Plückthun, Biochemiker

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ERSATZTEILLAGER MENSCH

Die Wartelisten für Organtransplantationen werden immer länger. Die medizinischeForschung arbeitet intensiv daran, Alternativen zu Spenderorganen zu finden. Dochdie Hürden sind hoch. Von Paula Lanfranconi

Professor Walter Weder steht vor einemschwierigen Gespräch. Eigentlich hatte er die35-jährige Frau mit der pulmonalen Hypertonieauf die Transplantationsliste setzen wollen. IhrHerz arbeitete immer schwächer, weil derHochdruck in ihrer Lunge das Blut in der rech-ten Herzkammer staut. Ohne Lungentrans-plantation hatte die Frau nur noch eine be-schränkte Lebenserwartung.

Doch jetzt, in der entscheidendenAbklärungsrunde, stellte sich heraus, dass diePatientin ein Aorten-Aneurysma hat, dass alsoihre Hauptschlagader krankhaft erweitert ist.

Zusammen mit weiteren Befunden deutet das indiesem jungen Alter auf eine angeborene Bin-degewebeschwäche hin – eine Transplantationwürde Kaskaden von Folgeproblemen auslösen.Morgen wird Professor Weder der jungen Frausagen müssen: Es tut uns leid, die Transplanta-tion ist keine Option, die Ihnen das erwarteteResultat bringt. Ein Todesurteil also.

«Der Entscheid, eine Transplantationnicht durchzuführen», sagt Weder, «ist oft min-destens so schwierig, wie sie zu machen.» Sol-che Entscheide beschäftigen ihn manchmalauch nachts. Walter Weder ist in der Schweiz dererste Chirurg, welcher Lungentransplantatio-nen durchzuführen begann. Eine heikle Aufga-be, denn die Lunge hat direkten Kontakt zurAussenwelt. Das macht sie anfällig für Infekte.

70 PROZENT ÜBERLEBENSCHANCE

Manchmal steht der Professor nachts im Ope-rationssaal. Sieht, dass das zu transplantieren-de Organ nicht ideal funktioniert. Aber er istgezwungen, ans Limit zu gehen: «Wenn wir nur

perfekte Organe nähmen, könnten wir blosshalb so viele Transplantationen machen.»Weder hat zwei grosse Wünsche: Erstens, dasses mehr Spenderorgane gäbe, und zweitens, dassder Körper dazu gebracht werden könnte, dasSpenderorgan zu tolerieren. Denn die heikelstePhase kommt erst nach der Transplantation.Weil die Lunge speziell anfällig ist, muss dieImmunsuppression so ausbalanciert sein, dassder Empfänger Infekten nicht schutzlos ausge-liefert ist, das Organ aber auch langfristig nichtabstösst. Das braucht grosse Erfahrung; heutekann das Lungentransplantationsteam des Uni-

versitätsspitals Zürich eine 5 Jahres-Überle-bensrate von 70 Prozent verzeichnen.

Plakativ ausgedrückt, ist die Trans-plantationsmedizin Opfer ihres eigenen Erfol-ges: Sie kann immer mehr, doch die Organ-spenden stagnieren. Mit einer Leichenspender-rate von rund 13 pro Million Einwohner belegtdie Schweiz in Europa einen der hinterstenRänge. Auf dem ersten Platz steht Spanien mit39 Spendern pro Million Einwohner, gefolgt vonÖsterreich und Belgien. Die Spenderrate inder Schweiz ist aber auch deshalb tiefer, weil eshierzulande weniger schwerstverletzte Un-fallopfer gibt und Hirnschlagrisiken gut unterKontrolle sind. Anfang 2003 standen insgesamt1209 Patienten auf der Warteliste, nur 473erhielten ein Organ. 55 Patienten starben wäh-rend der Wartezeit.

Weil die Nachfrage nach Organen stän-dig steigt, werden auch Lebendspenden immerwichtiger. In Zürich stammten letztes Jahr 34von 89 Nierentransplantaten von lebendenSpendern. Auch bei der Leber waren im Jahr

2002 gesamtschweizerisch bereits 10 von 83Lebendspenden. Letztes Jahr sank diese Ratejedoch wieder drastisch, weil die Kostenüber-nahme unklar ist. Das anspruchsvolle Verfahrender Leber-Lebendspende wird am Univer-sitätsspital Zürich vom Team um ProfessorPierre-Alain Clavien angeboten.

VOREILIGE HEILSVERSPRECHEN

Noch in den 90er-Jahren prophezeiten Forscher,der Engpass in der Transplantationsmedizin seibis zum Jahr 2000 behoben, weil man dannOrgane des Schweines in Menschen verpflanzenkönne. Doch wo steht die Xenotransplantationheute – in Zeiten von Zoonosen wie Sars undVogelgrippe? «Das waren voreilige Heilsver-sprechen», relativiert Jörg D. Seebach, Leiter desLabors für Transplantationsimmunologie amUniversitätsspital Zürich.

Die Idee, Tierorgane auf Menschen zuübertragen, ist nicht neu. Schon Mitte des 17.Jahrhunderts gab es in England und FrankreichVersuche mit xenogenen Bluttransfusionen. Siewurden aber auf Druck der Kirche verboten. Im20. Jahrhundert zeigte sich, dass der menschli-che Körper Affenorgane wahrscheinlich amehesten tolerieren würde. Doch viele Affenartensind vom Aussterben bedroht. Zudem ist dieGefahr gross, dass Krankheitserreger übertra-gen werden könnten. Heute konzentriert sichdie Forschung deshalb aufs Schwein. SeineOrgane sind von der Grösse her jenen desMenschen ähnlich. Und es gibt weniger ethischeBedenken, weil das Borstentier kein naher Ver-wandter des Menschen ist und als Fleischliefe-rant gezüchtet wird. Das Hauptproblem indesist, wie bei der Übertragung von Organen vonMensch zu Mensch, die Abstossungsreaktion.Sie ist beim Schwein sogar noch vehementer:Auf Schweinezellen kommt das beim Men-schen nicht vorhandene Zuckermolekülalpha1,3 Galaktose (_Gal) vor, eine Art Blut-gruppe C. Dieses Molekül führt dazu, dass dasTransplantat trotz Immunsuppression innerhalbvon Minuten oder Stunden abgestossen wird.

DOSSIER – FORSCHEN AM LIMIT

«Wenn wir nur perfekte Organe nähmen, könnten wir bloss halb so vieleTransplantationen machen.» Walter Weder, Chirurg

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Diese hyperakute Abstossung sah lange nacheiner unüberwindlichen Hürde aus. Doch in derXenotransplantation gibt es einen Vorteil: Tierekönnen genetisch verändert werden, um sieunserem Immunsystem weniger fremd zumachen. Transgenen Schweinen hat man zumBeispiel menschliche Gene eingeführt, welchedie hyperakute Abstossung weitgehend ver-hindern können. Allerdings überlebten Nierenund Herzen von transgenen Schweinen in Affentrotzdem bloss einen Monat. Neutralisierte manzusätzlich das Zuckermolekül _Gal, funktio-nierten die Organe maximal fünf Monate.

Hoffnung weckte auch «Goldie», ein2002 geborenes Knock-out-Schwein, das keine_Gal-Moleküle mehr auf seinen Zellen trägt. InPavianen überlebten Nieren und Herzen vonsolchen Knock-out-Schweinen bis zu dreiMonate. Auch hier brauchte es immer nochstark immunsuppressive Medikamente. Ineiner zweiten Phase kommt es zu Störungen derBlutgerinnung und zur vaskulären Abstossung

durch Zellen des Immunsystems. An der Uni-versität Zürich werden solche Mechanismenuntersucht (www.dim.unizh.ch/lti).

«Am aussichtsreichsten», sagt Jörg See-bach, «ist langfristig das Konzept der immuno-logischen Toleranz.» Dazu überträgt man zumBeispiel vor der Transplantation Spenderkno-chenmark auf den Empfänger. Durch den soentstehenden hämotopoietischen Chimärismuswerden Spendermoleküle in der Thymusdrüsepräsentiert: Es entwickelt sich eine zentraleToleranz gegenüber dem Spender. Im Idealfallkäme man sogar ohne Immunsuppression aus.Dieses Verfahren hat aber den Nachteil, dass diePatienten vor der Verabreichung des Spender-knochenmarks eine belastende Chemotherapiedurchmachen müssten. Interessante Hinweisebezüglich Toleranzentwicklung kommen ausder menschlichen Lebertransplantation: Mitder Leber werden als «blinde Passagiere»immer auch Immunzellen verpflanzt. VieleLebertransplantierte haben deshalb eingemischtes Immunsystem. In den USA unter-

sucht man intensiv, ob dieser Mikrochimä-rismus die Ursache oder das Ergebnis vonToleranz ist.

Infektiologische Probleme stellen sichbei allen immunsupprimierten Transplantat-empfängern. Seitdem man jedoch in Kulturenentdeckt hat, dass sich Schweineviren, so ge-nannte PERV (Porzine endogene Retroviren) inmenschlichen Zellen vermehren können, be-fürchtet man, dass durch Xenotransplantationenneue, gefährliche Viren entstehen könnten.«Bisher», sagt Jörg Seebach, «hat man keine Hin-weise gefunden, dass Menschen infiziert werdenkönnten. Ganz ausschliessen kann man dasInfektionsrisiko aber nie.»

Bis also das erste Schweineherz ineinen Menschen verpflanzt werden kann, sindnoch viele Probleme zu lösen. Das neue Trans-plantationsgesetz sieht denn auch eine strikteBewilligungspflicht vor. Jörg Seebach ist trotz-dem optimistisch: Würden die immunologi-schen und infektiologischen Probleme gelöst, sei

die Xenotransplantation eine phantastischeOption. «Man hätte dann die ethischen Fragender Lebendspende oder der Organentnahme beiHirntoten nicht mehr. Und endlich stündenrechtzeitig genug Organe zur Verfügung.»

SO SELBSTVERSTÄNDLICH WIE BLUTSPENDE

Grosse Hoffnungen weckt die Forschung mitStammzellen. An der Universität Zürich stehtman kurz davor, im Brutschrank gezüchteteArterien und Herzklappen in Menschen einzu-pflanzen. Dass es aber schon bald aus mensch-lichen Stammzellen entwickelte Organe gibt,halten Forschungsprofis wie Nobelpreisträgerund Immunologe Rolf Zinkernagel noch für uto-pisch: «Einfache Ersatzzellen ja. Aber ganzeOrgansysteme aus Gefässen, Nerven, lympha-tischem Gewebe, Zu- und Abflüssen – das istunwahrscheinlich.» Wie will man aber mit dersteigenden Nachfrage nach Organen umge-hen? Viele Transplanteure und Forscher plä-dieren dafür, dass Personen, die zur Organ-spende bereit sind, ihrerseits Anrecht auf ein

Organ haben sollten. Rolf Zinkernagel hofft,dass in Zukunft das Spenden von Organen undKnochenmark so selbstverständlich werde wiedas Blutspenden.

Damit weckt der NobelpreisträgerWiderspruch. «Bei der Organspende», sagt dieEthikerin Ruth Baumann-Hölzle, Leiterin desEthik-Konsiliums zum Transplantationsprozessam Universitätsspital Zürich, «muss immer dieFreiwilligkeit im Zentrum stehen. Denn wenndie Spende zur Selbstverständlichkeit wird,geraten Menschen, die nicht spenden möchten,sofort unter Druck.» Als besonders heikelerweise sich die Situation bei der Lebendspen-de, wo sich ja die potenziellen Spender undEmpfänger emotional nahe stehen. Hier ent-stehe ein grosser Druck, sein Organ für denAngehörigen zu spenden. Umgekehrt würdenaber auch Kranke dazu genötigt, doch einOrgan anzunehmen. «Sechs Monate nach derOrganspende», stellt Ruth Baumann-Hölzle fest,«können Beziehungsprobleme zwischen Spen-der und Empfänger auftreten. Emotionalbesonders schwierig wird es, wenn das Organvom Empfänger abgestossen wird.»

Ganz wichtig findet die Ethikerin denUmgang mit Patienten, die man wegen Kontra-indikationen nicht transplantieren kann, die alsofaktisch ein Todesurteil erhalten. Auch hierwäre viel mehr psychologische Begleitungnötig. Doch dafür, moniert Baumann-Hölzle,fehle immer häufiger das Geld. Aus ethischerSicht stelle sich auch die Frage: Welches Zei-chen setzen wir, wenn wir den Körper zur«Sache» machen, dessen Organe beliebig aus-gewechselt werden können? Die Möglichkeitender Überlebenshilfe, so Baumann-Hölzle, dür-fen nicht zum Verlust des Respektes vor der Per-son führen. Und: «Trotz aller Hoffnungen, dankeiner Transplantation überleben oder eine bes-sere Lebensqualität haben zu können, sind diePatienten bei risikoreichen Eingriffen behutsamzur Auseinandersetzung mit Abschied und Todhinzuführen», verlangt die Ethikerin.

KONTAKT Prof. Walter Weder, [email protected],Dr. Jörg Seebach, [email protected], Dr. RuthBaumann-Hölzle, [email protected]

«Emotional besonders schwierig wird es, wenn das Organ vom Empfängerabgestossen wird.» Ruth Baumann-Hölzle, Ethikerin

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MODERNE GRALSSUCHE

Das Geheimnis des menschlichen Bewusstseins beschäftigt die Wissenschaft seit Jahr-hunderten. Im Informatikzeitalter packen Forscherinnen und Forscher verschiedenerDisziplinen die Sache neu an – mit Rechnern und Robotern. Von Michael T. Ganz

DOSSIER – FORSCHEN AM LIMIT

Am Anfang ist eine Kugel. Aus ihr wachsen wei-tere Kugeln, zehn, zwanzig, dreissig. Sie hüpfen,tänzeln, formieren sich zu einem Wurm. Erkriecht auf einen Würfel zu, beginnt ihn mit derNase zu schubsen, ungeschickt und erfolglos.Schnitt. Dasselbe nochmals von vorn. Diesmalwerden es vierzig, fünfzig Kugeln, und diesmalscharen sie sich zu einem viel dickeren Wurm-körper, bilden auch noch ein Hinterbein, daskräftig stösst und schiebt – bis der Wurm denWürfel tatsächlich zum Wanken bringt.

Ende der Computersimulation. DerWurm verschwindet vom Bildschirm. Vorgeführthat er uns seinen allerersten und seinen aller-letzten von zahlreichen Versuchen, den Würfelaus dem Weg zu schaffen. Dazwischen hat derWurm viel gelernt: sich selbst so zu bauen näm-lich, dass er schwer genug und stark genug ist,um das Hindernis zu beseitigen. Diesen Lern-prozess hat er allein gemacht. Niemand hat ihm

befohlen, wie viele Kugeln er zu welcher Formgruppieren soll. Der Rechner, welcher Geburtund Taten des Bildschirmwurms steuert, ist soprogrammiert, dass beide, Rechner und Wurm,aus Erfahrung klüger werden. Der Rechner istdas Hirn, der Wurm dessen Körper – ein vir-tueller Roboter, der die Evolution eines Lebe-wesens in seiner Umgebung simuliert.

Was aber hat Evolution mit Bewusstseinzu tun? Intelligenz und Lernfähigkeit sind vor-erst zum Überleben da, sagen die Intelligenz-forscher heute. Mensch und Tier brauchen ihrHirn, um in ihrer Umgebung Aufgaben zu lösen,die ihnen das Überleben sichern. Der Menschfördert mit modernen Maschinen Öl, um sich imWinter warm zu halten, der Skorpion verbringt

den Tag im Schatten eines Steins, um seine Kraftnicht in der Hitze zu vergeuden. Hirn, Körper,Umgebung und Evolution gehören untrennbarzusammen; der Dualismus von Seele und Kör-perwelt, den Descartes vor dreihundertfünfzigJahren vertrat, hat ausgedient.

ROBOTER ALS VERSUCHSKANINCHEN

So jedenfalls sehen es die Wissenschafterinnenund Wissenschafter, die am Artificial Intelli-gence Laboratory der Universität Zürich nachdem Wesen von Intelligenz suchen. Das AILabgehört zum Institut für Informatik; sein Gründerund Leiter ist Rolf Pfeifer, Professor für Compu-terwissenschaften, eine Koryphäe auf dem Ge-biet der künstlichen Intelligenz.

In Pfeifers Labor entstand der Kugel-wurm, und hier treiben sich noch andere selt-same Wesen herum – nicht nur auf dem Bild-schirm. Zum Beispiel Samurai, ein Roboter

zum Anfassen, der den Orientierungssinn vonWüstenameisen simuliert. Oder Melissa, die flie-gende Roboterdame, die das Navigationsvermö-gen von Insekten mimt. Oder Puppy, der klap-prige Vierbeiner, der mit wenig Aufwand denGang eines Hundes imitiert. Oder A-Mouse, diemit ihren Schnurrbarthaaren den tierischenTastsinn nachahmt. Keine Roboter mit blecher-ner Brust und blinkenden Augen, sondern klei-ne funktionale Versuchsanordnungen auf Rä-dern oder Beinen, gebastelt mit einfachen Hilfs-mitteln wie Sperrholz, Legoklötzchen oder Pla-stikgabeln aus der nächsten Uni-Cafeteria.

Bewusstseinsforschung mit Plastikga-beln? Die Geschichte kann es erklären. Vor gutfünfzig Jahren entstanden die ersten Computer;

man nannte sie Elektronengehirne, denn, soschien es, sie konnten denken und waren intel-ligent. Mit dem Computer begann auch die fie-berhafte Suche nach künstlicher Intelligenz, undWissenschafter prophezeiten bald den Ersatzdes Menschen durch die Maschine. Es war dieZeit von Filmen wie «Space Odyssee 2001». Inrechnerischen Dingen hatte der Computer denMenschen tatsächlich bald überholt, an der Nor-malität des Lebens scheiterte er indessen kläg-lich. Sämtliche Versuche, Computer mit Armen,Beinen, Augen, Ohren auszustatten und dendenkenden, handelnden Menschen als Roboternachzubauen, schlugen fehl. Jeder natürlicheBewegungsablauf, jede gewöhnliche Sinnes-wahrnehmung bedurfte einer gigantischenRechnerleistung. Das Hirn solcher Roboter ge-riet viel zu gross, der Aufwand stand in keinemVerhältnis zum Ertrag. Man hatte ganz offen-sichtlich den falschen Ansatz gewählt.

Deshalb stellte Rodney Brooks, Roboti-ker am Massachusetts Institute of Technology(MIT), die Intelligenzforschung Mitte der Acht-zigerjahre kurzerhand auf den Kopf. «Elefan-ten spielen nicht Schach», betitelte er einen Auf-satz, in welchem er postulierte, Intelligenzbrauche einen Körper. Denn intelligent sei nur,wer mit seiner realen Umwelt unmittelbarinteragieren könne – genau zu diesem Zweckhabe die Evolution Hirn und Körper so gebaut,wie sie eben seien. Fazit: Ein Computer, der imSchach gewinnt, ist weit weniger intelligent alsein Elefant, der im Dschungel zu überlebenweiss. Von da an hiess das Motto «embodie-ment». Wer das Geheimnis der menschlichenIntelligenz lüften will, muss nicht nur die Funk-tion des Hirns, sondern auch seine Interaktionmit dem Körper verstehen. Womit erklärt ist,warum im Zürcher AILab Würmer kriechen,Hunde laufen und Plastikgabeln zu Knochenwerden. Statt einen Computer mit Programm-befehlen zu füttern, bis er komplexe Gehbewe-gungen in allen Lebenslagen steuern kann, pro-bieren Rolf Pfeifers Mitarbeiterinnen und Mit-arbeiter an Robotern aus, wie viel Beinbewe-

Ein Computer, der im Schach gewinnt, ist weit weniger intelligent als einElefant, der im Dschungel zu überleben weiss.

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gung von selbst geschieht – durch Muskelzugoder Schwerkraft. Sie versuchen zu verstehen,wie Intelligenz im Zusammenspiel von Hirn undKörper entsteht und ziehen dann Rückschlüsseauf die Hirnfunktion. Sie gehen das Thema Intel-ligenz sozusagen durch die Hintertür an.

EIN FISCHHIRN LERNT VOM COMPUTER

Und wo bleibt bei alledem das Bewusstsein?Weil artificial intelligence als Wissenschafts-zweig mit dem (damals noch intelligent ge-glaubten) Computer entstand, hat sich der Be-griff Intelligenzforschung durchgesetzt. Aberimmer ging es auch um Kognition und Be-wusstsein. «Bewusstsein gehört zur Intelli-genz», sagt Pascal Kaufmann, Biologe undHirnforscher am AILab. «Es ist die Fähigkeit,sich ein Ich zu denken, als Ich mit der Umweltzu interagieren, zu planen, Voraussagen zumachen.» Man rechnet dem Menschen – wie-derum aufgrund der Evolution – einen grösse-ren Bewusstseinsgrad zu als Tieren. Im Zwei-kampf mit dem Löwen wäre ein Jäger unterle-gen; er kann jedoch voraussehen, wie sich derLöwe verhalten wird, und ihn überlisten.

Das Bewusstsein basiert auf Wahrneh-mungen, die wir mit Hilfe unserer Sinnesorga-ne registrieren, im Hirn speichern und zu all-fälligen Reaktionsbefehlen an unseren Körper

verarbeiten. Genau daran arbeitet Pascal Kauf-mann. In den USA war er an einem Experimentbeteiligt, das darauf abzielt, lebende Gehirne mitkünstlichen Körpern zu verbinden und Er-kenntnisse über die Funktion neuronaler Netzezu gewinnen. Die Forscher trennten ein Fisch-hirn vom Fischkörper und erhielten es in einerNährlösung künstlich am Leben. Ins visuelleZentrum des Fischhirns steckten sie Elektrodenund schlossen diese an einen mit Lichtsensorenbestückten Roboter an; ein neuronales Inter-face übersetzte die Signale zwischen Hirn undMaschine. Sah der Roboter eine Lichtquelle,löste dies im Fischhirn die von der Evolutionvorgeschriebene Reaktion aus: Das lebendeHirn befahl dem Roboter, auf die Lichtquelle

zuzusteuern, was er auch tat. Aufgrund ihrerBeobachtungen modellierten die Wissenschaf-ter das neuronale Netz des Fischhirns am Com-puter und ersetzten die Lichtsensorik des Robo-ters durch Programmbefehle. «Wir wollten,dass der Fischroboter Kreise dreht», erzähltPascal Kaufmann, «also schrieben wir ein Pro-tokoll, das eine entsprechende Folge von Licht-wahrnehmungen simuliert, und speisten esüber Nacht ins Fischhirn ein. Die Neuronen rea-gierten, das Fischhirn speicherte und lernte. Amnächsten Morgen schlossen wir den Roboter ansFischhirn an, und er drehte tatsächlich Kreise.»Was beweist, dass es möglich ist, neuronalesGewebe künstlich mit Information zu fütternund damit Bewusstsein zu beeinflussen.

Nicht nur am AILab ist man dem Be-wusstsein mit Simulationen auf der Spur. ImInstitut für Neuroinformatik der Universitätund der ETH Zürich brütet Daniel Kiper,Psychologe und Neurowissenschaftler, überähnlichen Dingen. Wie Pascal Kaufmann hatauch er den Weg der visuellen Wahrnehmunggewählt, um sich dem Phänomen Bewusstseinzu nähern. «In Sachen Visualisierung haben wirvon den AI-Forschern sehr viel gelernt», sagtDaniel Kiper. «Nur ist artificial intelligencenoch weit vom subjektiven Element desBewusstseins entfernt.» Und genau das ist

Kipers Thema: Subjektivität. Warum zum Bei-spiel erkennen wir eine gelbe Hauswand alsgelb, ob nun grelle Sonne darauf scheint odergraue Wolken sie verdunkeln? Farbmessgeräteerrechnen in beiden Fällen ganz unterschiedli-che Farbqualitäten, das menschliche Auge aberleistet mit Hilfe des Hirns eine Anpassung.«Qualia» nennt die Forschung solch subjektiveElemente der Wahrnehmung. Eine Methode,um Qualia zu erforschen, gibt es noch nicht.

Daniel Kiper versucht es dennoch. Erbeschäftigt sich zurzeit mit dem Phänomen derbinokularen Rivalität. Tests mit Vexierbildernam Computer zeigen, dass unsere Augen ab-wechselnd dominieren: einmal sieht das eine,dann das andere besser, dies in einem regel-

mässigen Rhythmus von wenigen Sekunden.Was geschieht da im Hirn? Kiper hofft, mit Hilfesolch sonderbarer Phänomene wie der binoku-laren Rivalität herauszufinden, wie und wo imneuronalen Netz Wahrnehmung entsteht. Be-reits kann er Teile des Wahrnehmungsprozes-ses in einem Computermodell des visuellenHirnzentrums lokalisieren, kann gewissermas-sen Teile des Bewusstseins verorten.

KNACKNUSS SUBJEKTIVITÄT

«Das Problem ist nur», sagt Kiper, «dass wir mitsolchen Tests nie eindeutige Antworten erhal-ten. Vergleichbare Experimente haben andereLokalisierungen ergeben. Die Kontroverse aufdem Gebiet der Bewusstseinsforschung ist rie-sig. Deshalb kommen wir nur sehr langsamvoran.» Jährlich treffen sich die Bewusst-seinsforscher zu einem Fachkongress. Siehaben auch eine eigene Fachzeitschrift, das«Journal of Consciousness Studies». Forscheraller Disziplinen legen darin ihre Erkenntnissedar: Psychologen, Physiker, Biologen, Mediziner,Ingenieure, Informatiker – eine bunte interdis-ziplinäre Schar, wie sie übrigens auch amAILab und in der Zürcher Neuroinformatikanzutreffen ist.

Forschung an der Grenze des Erforsch-baren? «Ja, und an der Grenze heisst ebenimmer auch am Anfang», sagt Daniel Kiper. «Wirentwickeln völlig neue Methoden, die Theorieist noch ganz schwach. Dazu kommen ethischeProbleme: Soll man Bewusstsein simulieren?Darf man Maschinen mit Bewusstsein bauen?Die Fragen sind ähnlich wie jene, die man sichheute bei der Gentechnologie stellt.» PascalKaufmann ist pragmatischer: «Wir forschen ander hohen Kante, gewiss. Aber ich bin opti-mistisch. Irgendwann werden wir das Hirndurchleuchtet haben. Sicher wirft ein Experi-ment wie jenes mit dem Fischhirn ethische Fra-gen auf. Aber verwerflich ist Forschung nicht,solange man sie nicht missbraucht.» Vom Fisch-hirn bis zum Cyborg-Monster, das im Film«The Terminator» sein Unwesen treibt, ist derWeg ohnehin noch sehr, sehr weit.

KONTAKT Pascal Kaufmann, [email protected];Dr. Daniel Ch. Kiper, [email protected]

«Ich bin optimistisch. Irgendwann werden wir das Hirn durch-leuchtet haben.» Pascal Kaufmann, Biologe und Hirnforscher

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«DAS BEGEHREN, PERFEKT ZU WERDEN»

Mit welchen Bildern arbeiten Wissenschaftler? Und wie verändert die Technik unse-ren Körper? Der Historiker Philipp Sarasin beschäftigt sich auf vielfältige Weise mitdem wissenschaftlichen Fortschritt. Interview von Roger Nickl

DOSSIER – FORSCHEN AM LIMIT

Herr Sarasin, inwiefern interessieren Sie sichals Historiker für bahnbrechende Erkennt-nisse in den Naturwissenschaften, für dasErschliessen neuer Erkenntnisperspektiven inder Medizin?PHILIPP SARASIN: Mich interessiert im Augen-blick vor allem die Diskussion über die sogenannten Posthumans, die vor allem in denUSA geführt wird. Es geht um die Frage, wie sichunser Körper im Zusammenhang mit denInformationstechnologien weiterentwickelnwird. Die Debatte interessiert mich nicht in dentechnischen Details, sondern in Bezug auf dieKörpergeschichte. Wie muss man den Körperkonzeptionalisieren? Waren wir schon immerCyborgs, Menschenmaschinen also? Oder wer-den wir das erst in Zukunft? Und wie muss manden Körper denken, wenn er durch technischeMittel veränderbar ist? – das sind spannendeFragen. In dieser Hinsicht regt mich die moder-ne naturwissenschaftliche und technische Spit-zenforschung zum Denken an. Ich muss mirüberlegen, was diese Entwicklungen für michals Historiker bedeuten.

Auf das Thema «Körper» möchte ich späterzurückkommen. In einem Aufsatz haben Siesich mit der Frage auseinander gesetzt, wie das Neue in die Welt kommt. Was sinddenn Ihrer Meinung nach die Bedingungenfür das Entstehen neuer wissenschaftlicherErkenntnis? SARASIN: Eine sehr traditionelle Vorstellungsieht die Naturwissenschaftler als Menschen, diedas Neue «entdecken». Sie forschen an derGrenze ihres Wissens – und wenn sie die Augenweit aufmachen, gut genug hinschauen, zeigenihnen die Instrumente in ihren Labors dasNeue. Gegen solche Vorstellungen wenden sichseit den Siebzigerjahren Wissenschaftshistori-ker und Wissenschaftssoziologen. Sie sehen

den Erkenntnisprozess als Resultat komplexer,technischer, diskursiver, sozialer und perso-neller Netzwerke, innerhalb derer der wis-senschaftliche Gegenstand konstruiert wird.Das Neue gibt es, so gesehen, nicht einfachdraussen in der Natur. Es wartet nicht darauf, bis jemand Licht auf es wirft, sondern es wirddurch die Scientific Community konstruiert.Hansjörg Rheinberger, auf den ich mich imerwähnten Aufsatz beziehe, geht der Fragenach, wie das Neue im Licht dieses Konstrukti-vismus zu denken ist. Er untersucht die Arbeitim Labor, genauer gesagt Experimentalsys-teme. Diese sind so gebaut, dass unter angeb-baren Bedingungen Neues erscheinen kann, das heisst etwas, was nicht einfach als einResultat der Ausgangsbedingungen verstandenwerden kann – ohne dass man damit aberbehaupten muss, die Natur «zeige» sich ebendem Forscherblick…

Sie selbst verfolgen einen etwas anderenAnsatz, Sie untersuchen die Rolle, dieMetaphern, sprachliche Bilder also, beimwissenschaftlichen Erkenntnisprozess spielen. SARASIN: Metaphorische Prozesse in der Pro-duktion von Wissen zu beobachten, ist sehrspannend. Gerade im Versuch, das Neuesprachlich zu fassen, spielen Metaphern einegrosse Rolle – etwa wenn Robert Koch im19. Jahrhundert in seinem Labor in Wollsteinversucht, den Milzbrand-Erreger zu beschrei-ben und zu fotografieren. Für mich ist dieSchnittstelle zwischen dem Gebrauch diesersprachlichen Bilder und dem, was Forscher imLabor tun, entscheidend. Denn über denGebrauch von Metaphern fliessen auch politi-sche und kulturelle Aspekte in den wissen-schaftlichen Erkenntnisprozess mit ein – alsHistoriker interessiert mich das natürlich.

Können Sie dafür ein Beispiel geben? SARASIN: Ein berühmtes Beispiel ist Rudolf Vir-chow. Er hat mit seiner Vorstellung der Zelle1858 die Medizin revolutioniert und auf einesolide Grundlage gestellt. Virchows Vorstel-lung von der Zelle war aber von Beginn wegauch metaphorisch konzipiert. Er verglich dasLeben der Zelle im Körper mit dem des einzel-nen Bürgers im liberalen Staat. Das bedeutet,dass die naturwissenschaftliche Begrifflichkeit– die «Zelle» im biologischen Sinne – bei Virchowvon Anfang an auch von einem Verständnis von«Einheit», «Autonomie» und «Zusammenspiel»von Zellen im Körper geprägt war, das zumin-dest einen Teil seiner Evidenz aus dem Bereichder politischen Sprache bezieht. Damit gerietenzum Beispiel die «humoralen», die nicht auf dieeinzelnen Körperzellen beziehbaren Prozessedes Körpers für lange Zeit aus dem Blick.

Metaphern gelten als etwas Vorwissenschaft-liches; die Wissenschaft dagegen strebt nach klar definierten Begriffen – wie sehenSie denn das Verhältnis von Begriff undMetapher?SARASIN: In der Wissenschaftstheorie gibt es dietraditionelle Unterscheidung von Begriff undMetapher. Viele Naturwissenschaftler und Theo-retiker gehen davon aus, dass zu Beginn einesForschungsprozesses noch mit sprachlichenBildern gearbeitet wird. Irgendwann wird dannaber die metaphorische Leiter weggestossen,und man befindet sich auf der Höhe der Begrif-fe. Ich glaube, dass diese Vorstellung falsch ist.Es ist nicht möglich, die sprachlichen Implika-tionen eines Erkenntnisprozesses vollständig zudurchschauen, die «Leiter» wegzustossen unddann nur noch in «gereinigten» Begriffen dieSache selbst abzubilden. Zentrale Konzepte, mitdenen wir Natur begreifen, sind zutiefst meta-phorisch. Das bedeutet ja nicht unbedingt, dasssie deshalb weniger wahr sind.

Welches sind solche zentralen metaphorischenKonzepte, mit denen wir Natur begreifen?

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SARASIN: Ganz berühmt ist das Beispiel derGenetik: das «Buch des Lebens», die Gene als«Text», und so weiter. Das ist ein metaphorischesKonzept, das unglaublich produktiv ist. Gleich-zeitig leitet es das Verständnis, wie Gene funk-tionieren, in eine ganz bestimmte Richtung: DieVorstellung der Codierung impliziert beispiels-weise einen eindeutigen, gerichteten Prozess.Nun merkt man aber zunehmend, dass dieProzesse zwischen Code und codiertem Materialviel komplexer sind. Diese Komplexität aber istnicht mehr in der Metapher des Lesens undSchreibens enthalten.

Die metaphorischen Konzepte geben alsoauch die Grenzen vor, in denen der wissen-schaftliche Gegenstand wahrgenommenwird. Gibt es Beispiele, wo ein bestimmtesmetaphorisches Konzept den Erkenntnis-fortschritt auch behindert hat?SARASIN: Man kann gut zeigen, dass Bakterio-logen Ende des 19. Jahrhunderts stark mit Bil-dern der Invasion, der Migration und des Krie-ges gearbeitet haben. Diese Metaphern warenfür das Verständnis etwa der Cholera sehrwichtig und haben das Handeln angeleitet. Sowurde es möglich, mit sehr viel spezifischerenhygienischen und sanitarischen Massnahmenals zuvor Epidemien einzudämmen. DieseLeit-Metaphern waren aber eine Zeit lang sopräsent, dass sie die weitere Forschung in derBakteriologie tatsächlich auch behinderthaben. Robert Koch hatte dem Invasionskonzeptgemäss die Vorstellung, dass ein Bakterium inden Körper eindringt und dort die Krankheitauslöst. Gegen Ende des Jahrhunderts beginntman zunehmend zu verstehen, dass das sonicht stimmt. Letztlich waren diese speziellenMetaphern für die Bakteriologie als Ganzes alsoeher einschränkend. Metaphern konzeptuali-sieren einen Gegenstand in einer gewissenWeise: Sie werfen auf bestimmte Aspekte einLicht – und blenden gleichzeitig und mit Not-wendigkeit andere aus.

Metaphern in der Wissenschaft sind auch das Thema eines Schulbuchprojekts, an demSie beteiligt waren: Um was geht es?SARASIN: Das Buch von Hugo Caviola («In Bil-dern sprechen: wie Metaphern unser Denken

leiten», Bern 2003) ist als wissenschaftstheore-tische Propädeutik für Schülerinnen und Schü-ler der letzten beiden Gymnasialklassengedacht: Wir wollen zeigen, wie Wissenschaft-ler Natur in einer gewissen Weise konzipieren:Was hat es zur Folge, wenn wir vom Gehirn alseinem «Computer» sprechen? Oder wenn wirsagen, die Gene sind ein «Text» oder die Natur-geschichte als «Stammbaum» beschreiben? DasBuch gibt den Schülerinnen und Schülern dieMöglichkeit, über solche Metaphern und ihreKonsequenzen nachzudenken.

Wie reagieren Naturwissenschaftler auf Ihren Forschungsansatz? Gibt es da Berüh-rungspunkte?SARASIN: Eher wenig, es ist bekanntlichschwierig, die methodologischen Gräben zuüberspringen. Letztlich sind es wahrscheinlichdie Kulturwissenschaftler, die versuchen müs-sen, Brücken zu schlagen. Aber es ist auch klar:Ein Naturwissenschaftler braucht uns garnicht. Er kann seine Arbeit auch nicht aufgrundsätzlichen Reflexionen aufbauen wie derHistoriker, der einen grösseren Zeitraum über-blickt. Zudem kann man sich natürlich auchfragen, inwieweit solche metaphorischenProzesse die Forschung beispielsweise in derPhysik beeinflussen. Physiker würden sagen, wirversuchen die Natur zu formalisieren, daspielen metaphorische Konzepte längst keineRolle mehr. Diese Vorstellung, glaube ich, greiftzu kurz.

Entgegen der Vorstellung eines linearenwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts hatder amerikanische WissenschaftshistorikerThomas S. Kuhn in seinem berühmten Buch«Die Struktur wissenschaftlicher Revolu-tionen» in den Sechzigerjahren den Begriffdes Paradigmenwechsels geprägt. Kuhn ge-mäss vollzieht sich der Fortschritt in derWissenschaft durch revolutionäre Prozesse, indenen bisher geltende Erklärungsmodelleverworfen und durch andere ersetzt werden.Wie wichtig ist diese These für die Wissen-schaftshistoriker von heute noch?SARASIN: Kuhn zeigte, dass die Wissenschaftgewissen für eine bestimmte Zeit verbind-lichen Denkbildern, Paradigmen folgt. Diese

Erkenntnis war wichtig. Heute ist er in der Wis-senschaftsgeschichte aber nicht mehr so zentral,weil sein Paradigmakonzept wohl zu statisch ist.Zudem hat Kuhn das Problem von Sprache undSymbolisierung noch nicht mitgedacht – diesesspielt heute in der Wissenschaftstheorie einewichtige Rolle.

Kommen wir auf den Beginn unseres Gesprächszurück. Auch in der von Ihnen erwähntenCyborg-Debatte geht es um Grenzen. Die Frage ist, wie weit kann und soll man den menschlichen Körper mit technischenMitteln verändern? SARASIN: Man muss in diesem Zusammenhangimmer fragen: Qui bono? Wem nützen dieseIngenieurphantasien? Und wer zahlt den Preisdafür? Wir müssen bei naturwissenschaftlichenErkenntnisprozessen zu verstehen versuchen,

«Zentrale Konzepte, mit denenwir Natur verstehen, sindzutiefst metaphorisch. Sie sinddeshalb aber nicht wenigerwahr.» Philipp Sarasin

BILDER Meinrad Schade, Lookat

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aus welcher Perspektive und mit welchemHintergrund sie gemacht werden. Die ameri-kanische Theoretikerin Donna Haraway plädiertdeshalb für das, was sie «situiertes Wissen»nennt: für ein Wissen, das um seine Begrenzt-heit weiss – ein Wissen, das weiss, dass es nichteinfach die Realität beschreibt und das es trotz-dem erlaubt, mit den Dingen umzugehen,Krankheiten zu bekämpfen und das Leben zuerleichtern.

Das Thema Cyborgs verbindet man in derRegel mit einer fernen Zukunft: Tatsächlichexistiert die Vorstellung des technisch ver-änderten Körpers schon länger. SARASIN: Ja, es ist ein aufklärerisches Projekt.Bereits die Hygieniker im 19. Jahrhunderthaben den Körper als Maschine beschrieben, die

äusseren Einflüssen ausgesetzt ist. Subjekt zusein bedeutet, diese Maschine zu steuern. Einsolches Konzept ist für jede Cyborg-Erweiterungoffen. Da gibt es keinen prinzipiellen Bruch. Esist im Augenblick sehr spannend zu sehen, wiesich die Vorstellung, was der Körper ist und waser kann, verändert.

Wo lassen sich diese Veränderungen ablesen?SARASIN: In einer Vorlesung habe ich kürzlichFrauenzeitschriften analysiert: das ThemaSchönheitsoperationen ist dort omnipräsent.Der Körper wird als Material dargestellt, das fürVeränderungen zur Verfügung steht. Von dieseraktuellen Tendenz her ist es interessant, ge-schichtstheoretisch zu fragen: Was ist ein Sub-jekt, was ist der Körper? Was heisst Handeln?Was sind Diskurse und was Maschinen? Und wostecken die Ursprünge dieses Denkens?

Der Körper wird also nicht mehr alsunantastbar wahrgenommen?SARASIN: Für Jugendliche oder für Bodybuilderist er längst nicht mehr unantastbar. Und dieSchönheitschirurgie und das Bodystyling vonheute zeigen: der Körper ist veränderbar. Einanderes Beispiel ist die Ausweitung unsererSinne durch elektronische Hilfsmittel. Soldatenbeispielsweise können mit elektronischen Mit-teln rückwärts sehen und verfügen über Nacht-sichtgeräte: Das sind alles Cyborg-Elemente.Auch das Handy und der Computer gehörendazu – wir haben einen grossen Teil unseresGedächtnisses auf externe Festplatten ausgela-gert. Heute wird, übrigens auch in Zürich, antragbaren Computern gearbeitet, mit denenjederzeit und an jedem Ort situative Speicher-abfragen möglich sind. Der Mensch kann mitsolchen Hilfsmitteln mehr und andere Sachentun – er wird also auch in körperlicher Hinsichtein anderer. Was heute geschieht, ist aber nichteinfach ein Eingriff in die Schöpfung: Die Ver-änderung des Körpers gehört zur Conditiohumana. Es gibt keinen ursprünglichen Zu-stand, kein Wesen des Menschen an sich, vorjeder Geschichte.

Genährt werden solche Cyborg-Phantasienauch vom Traum des perfekten Körpers.SARASIN: Absolut. Frauenzeitschriften bei-

spielsweise leben davon: Für 6 Franken 90kann man sich regelmässig vorführen lassen,wie defizient man ist. Da werden mit demComputer geschönte Bilder von Idealkörperngezeigt. Das sind Konstruktionen – semiotischgesprochen sind es Bilder ohne Referenten. Sieverweisen auf nichts ausserhalb ihrer selbst. Essind imaginäre Spiegelungen: Sie nähren denWunsch, auch so perfekt zu sein, was natürlichunmöglich ist. Dieses permanente Gefühl desUngenügens ist ein unglaublicher Motor. Es hältdas Begehren wach, perfekt und «ganz» zuwerden.

Welche Konsequenzen hat diese EntwicklungIhrer Meinung nach für unser Bild vomMenschen?SARASIN: Für mich als Historiker ist das diespannende Frage. Ein 18-Jähriger, der Online-Games spielt, sich in virtuellen Räumen bewegtund den Joystick bedient, als wäre er ein Kör-perteil, hat ein anderes Gehirn als ein Gleich-altriger in einem mittelalterlichen französi-schen Dorf. Er hat einen anderen Körper.

ZUR PERSON

Philipp Sarasin (47) ist Extraordinarius fürAllgemeine und Schweizer Geschichte derNeuzeit an der Universität Zürich. Er publi-zierte 1998 zusammen mit Jakob Tanner denSammelband «Physiologie und industrielleGesellschaft», 2001 «Reizbare Maschinen.Eine Geschichte des Körpers 1765–1914»und 2003 «Diskursanalyse und Geschichts-wissenschaft» (alle drei Titel sind bei Suhr-kamp erschienen). Im April 2004 erscheint«‹Anthrax›. Bioterror als Phantasma» in deredition Suhrkamp. Zudem publizierte erzusammen mit Regula Bochsler und PatrickKury im Februar dieses Jahres den Band«Wertes Fräulein, was kosten Sie? Prostitutionin Zürich 1875–1925» als Begleitpublikation zur gleichnamigen Ausstellung im ZürcherMuseum Bärengasse.

«Ein 18-Jähriger, der Online-Games spielt und den Joystickbedient, als wäre er ein Körperteil, hat ein anderesGehirn als ein 18-Jähriger im Mittelalter.» Philipp Sarasin

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Im nächsten August beginnen die OlympischenSommerspiele in Athen. Wer dabei sein will,muss bereits jetzt hart trainieren. Das gilt auchfür den Beachvolleyballer Patrick Heuscher.Zusammen mit Stefan Kobel bildet er ein Duo,das auf Weltklasse-Niveau spielt. Die Qualifi-kation für die Olympischen Spiele haben Heu-scher und Kobel so gut wie in der Tasche.Momentan ist der Sport Heuschers Leben. Daswar nicht immer so: Vor sechs Jahren hat er miteinem Psychologiestudium an der UniversitätZürich begonnen. Momentan hat er die aka-demische Ausbildung auf Eis gelegt. Lassen sichSpitzensport und Studium heute nicht mehrvereinbaren?

Patrick Heuscher ist ein 27-jährigerHüne. Er holt mich mit dem Auto vom Bahnhofab. Sein Wagen ist von einem Autoimporteurgesponsert. Mit den Sponsoren gebe es jeweilsim Frühling am meisten zu tun, sagt Heuscherspäter beim Espresso am langen Holztisch inseiner Klotener Wohnung: Am Vormittag hat erbei O’Neill die Sportbekleidung für den Herbstausgesucht. Und erst kürzlich habe er bei Siggdie Gestaltung neuer Getränkeflaschen fest-gelegt. Heuscher ist nicht Mitglied eines Clubs,der ihm die Sponsorensuche oder die Organi-sation von Trainingslagern abnähme. Trai-ningslager und Flüge an Wettkämpfe zahle derVerband, ansonsten seien sie finanziell aufSponsoren und Preisgelder angewiesen. Neun-zigtausend Dollar haben Heuscher und Kobelletztes Jahr verdient. «Man kann davon leben,aber der Aufwand ist gross, weil wir auch insAusland reisen müssen, um zu trainieren.» ImWinter trainiert das Duo zuweilen in Winterthurund im Sommer auf einem der Beachvolley-ballfelder des Akademischen SportverbandsZürich (ASVZ) auf der Sportanlage Fluntern.Auch den dortigen Kraftraum frequentierendie beiden regelmässig.

«Ich hatte nie die Idee, Spitzensportler zu wer-den. Ich habe mir aber gesagt, solange ich bes-ser werde, höre ich nicht auf», sagt Heuscher.Das Grundstudium absolvierte er mit minima-lem Aufwand und vertiefte danach ein Jahr inAngewandter Psychologie. Während des Som-mers, als er sich auf die Prüfungen vorbereite-te, spielte er mit seinem Partner an sechs bis sie-ben Turnieren im Ausland. «Ich lernte im Zug,im Flugzeug und im Hotel. Es war eine extremstrenge Zeit.» Dass er sich kurz vor der zweitenPrüfung am Meniskus verletzte, hält er dennauch nicht für Zufall. Vor drei Jahren hat er seinStudium vorläufig unterbrochen. Wird er es der-einst wieder aufnehmen? «Das hängt davon ab,ob ich nach Athen meine Profikarriere fortset-zen werde», sagt Patrick Heuscher.

SCHNELL ALS VERSAGER ABGESTEMPELT

Matthias Zurbuchen ist verantwortlich für Kar-riereplanung, Leistungssport und Schule beiSwiss Olympic, dem Dachverband der olympi-schen und nichtolympischen Sportverbände. «Inden meisten Sportarten sind die Anforderungenim Vergleich zu früher stark angestiegen», sagter. «Die Gesellschaft erwartet den raschenErfolg. Den Athleten wird wenig Zeit einge-räumt, und sehr schnell werden sie als Versagerabgestempelt.» Um erfolgreich zu sein, solltenAthletinnen und Athleten Sport, Ausbildungund soziales Leben möglichst gut in Einklangbringen. Zwischen diesen Bereichen zu koor-dinieren sei früher einfacher gewesen, weileben die Anforderungen geringer waren. Zur-buchen bemängelt, dass heutzutage zum Bei-spiel die Anfahrtswege zum Training oder zurUniversität häufig zu lang seien. Eine eleganteLösung habe die Snowboarderin FabienneReutler gewählt, die Wirtschaft an einer Fern-universität studiert und damit zeitlich und ört-lich unabhängig ist. Allerdings ist Zurbuchen

auch davon überzeugt, dass gewisse Studien-gänge sich nicht mit allen Disziplinen kombi-nieren lassen.

Das Gespräch mit Patrick Heuscherfindet eine Woche vor seiner Abreise nachBrasilien statt, wo er fünf Wochen am Strandtrainieren und einen Wettkampf bestreitenwird. Ein Beachvolleyballspiel dauert zwischendrei Viertel und einer ganzen Stunde. Gespieltwird im Freien an der Sonne, mitunter bei 35Grad im Schatten. «Der Einfluss von Sonne undWind macht alles ein bisschen interessanter.»Das feuchte und warme Klima in Brasilien tuedem Körper gut. Ein einheimischer Coachbetreut die Sportler, und dessen «Staff» stellt dasNetz auf, sammelt und wirft die Bälle. «In Euro-pa könnte man dies nicht finanzieren. Für unsist es Luxus, und die Brasilianer haben Arbeit»,sagt Patrick.

VORLESUNGEN STATT ERHOLUNG

War es früher tatsächlich einfacher, Spitzensportund Wissenschaft unter einen Hut zu bringen?Dies wollte ich von Hans Schmid wissen.Schmid fegte von 1977 bis 1986 als Stürmer fürden Zürcher Schlittschuhclub (ZSC) übers Eis.Er empfängt mich am Eingang des ZürcherZoos, ein breites Lächeln im Gesicht. DerBündner ist von überraschend kleiner Statur.«Ich war immer der Kleinste auf dem Eis», sagter später. «Hansi» nennen ihn denn auch jene,die ihn etwas näher kennen. Der Zoo ist heuteSchmids Arbeitsort. Seit fünf Jahren ist er Chefder Tierpflege und führt als solcher sechzigAngestellte. 1977 kam Hans Schmid 22-jährigvon Arosa nach Zürich und studierte an der ETHAgronomie. Nach dem Abschluss des Studiumsbegann er an der Universität Zürich ein Zweit-studium in Zoologie.

Anfangs trainierte Schmid während derSaison mindestens dreimal und bestritt zweiMatches pro Woche. Nach einem Spiel konnte erjeweils nicht vor zwei Uhr morgens einschlafen.«Um sieben hätte ich aufstehen sollen, damit iches um acht in die Vorlesung schaffe. Zu demZeitpunkt war ich aber noch mitten in der Er-holungsphase.» Auch habe es «grausam Biss»gebraucht, wenn seine Mitspieler nach demTraining an eine Party gingen und er selber nachHause, um zu lernen. «Ohne eiserne Disziplin

«ES BRAUCHT GRAUSAM BISS»

Spitzensport und Studium sind nur schwer unter einen Hut zu bringen, wie dieBeispiele des Ex-ZSC-Eishockeyaners Hansi Schmid, der Schwimmerin DeniseSchrader und des Beachvolleyballers Patrick Heuscher zeigen. Von Lukas Kistler

REPORTAGE

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hast du keine Chance», sagt der Hockeyvete-ran überzeugt, «man erträgt aber mehr, als man meint.» Dass die Anforderungen an Spit-zensportlerinnen und -sportler gestiegen sind,kann Hans Schmid bestätigen, nahm doch derTrainingsaufwand über die Jahre kontinuier-lich zu. In seiner letzten Saison 1986 absolvierteer vier Trainings und mindestens zwei Matcheswöchentlich. Auch im Sommer stieg das Pen-sum von anfänglich drei auf fünf Trainings. Mit seinem Profi-Vertrag konnte er immerhinden Lebensunterhalt selbst bestreiten. SeinGehalt stieg von anfänglich dreissigtausendauf fünfzig- bis achtzigtausend Franken jährlich.«Eishockey lässt sich eben vermarkten. Zweimalwöchentlich brachten wir achttausend Leute insHallenstadion, obwohl wir nicht besonderserfolgreich waren.»

Beim ZSC spielten noch weitere Stu-denten. «Die ETH-Studenten hatten es mit Ab-stand am härtesten», findet Schmid. Einer vonihnen pausierte während eines Semesters, weiler sich auf Prüfungen vorbereiten musste.Schmid selbst hat den Eishockeystock nie in die Ecke gestellt, aber an Prüfungen sei er häu-fig überfordert gewesen. «Die Uni-Studentenwaren nicht so stark unter Druck, sie verlän-gerten einfach das Studium.» Wie sein BruderLorenzo, der Jura studierte und ebenfalls beimZSC unter Vertrag war. Hans Schmid setzte diePrioritäten anders, dem Studium räumte erden Vorrang ein, zum Beispiel als er in die Na-tionalmannschaft aufgeboten wurde und gera-de Prüfungen ablegen sollte: «Ich sagte ab, was mir aber grausam weh tat.» Als seine Disserta-tion über die artgerechte Haltung von Mutter-schweinen und deren Ferkeln nicht vom Fleckkam, entschied sich der damals Dreissigjährige,seine Karriere zu beenden. Heute spielen seineSöhne Eishockey. «Hoffentlich werden sie nichtzu gut», sagt Schmid trocken.

Im fünfzig-Meter-Becken des Wallisel-ler Hallenbads rackern sich gerade die Junio-rinnen und Junioren des Schwimmclubs Usterab, in eineinhalb Stunden ist dann die Elite an der Reihe. Die 25-jährige Spitzenschwim-merin und Betriebswirtschaftsstudentin DeniseSchrader wartet noch im Foyer der Schwimm-halle. In der Regel trainiert sie zweimal täglichund legt dabei jeweils fünf Kilometer im Wasser

«Man erträgt mehr, als man meint.» Hansi Schmid, Zoologe/ehemaliger ZSC-Spieler

BILDER Ursula Meisser

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«Ich hatte nie die Idee, Spitzensportler zu werden.» Patr«Manchmal komme ich an meine Grenzen.» Denise Schrader, Ökonomie-Studentin/Schwimmerin

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bis dreissig Konkurrentinnen. «Da ist immeretwas los. Häufig versetzen Gegnerinnen ei-nem Schläge, sei es mit Absicht oder unab-sichtlich.» Denise Schrader ist auch schon malverwundet aus dem Wasser gestiegen. «Man darfsich aber über die Rempeleien nicht aufregen,damit man nicht zu viel Kraft verbraucht»,meint sie abgeklärt.

Die Spitzensportlerin hat stets ver-sucht, so viele Anrechnungspunkte wie möglichzu schaffen und dennoch das Trainieren nicht zuvernachlässigen. «Manchmal komme ich schonan meine Grenzen», sagt sie. «Man muss sich gutorganisieren und diszipliniert sein, erst recht,wenn man nicht zu lange studieren möchte.»Was bei ihr der Fall ist, denn sie stört sich daran,von den Eltern finanziell abhängig zu sein. MitSchwimmen lässt sich nämlich kein Geld ver-dienen. Der Verband übernimmt immerhin dieSpesen an internationalen Wettkämpfen. Eineder Ausnahmen ist ihr Clubkollege RemoLütolf, der von der Migros aufgrund seiner Leis-tungen an der letzten Olympiade in Sydneygesponsert wird.

Soviel steht fest: Hochschulstudiumund Spitzensport zu verbinden ist anspruchs-voll. Es braucht Disziplin und Koordination, dievor allem bei wenig flexiblen Studiengän-gen gefragt ist. Und zuweilen reicht auch sie nicht: In manchen Fällen müssen sich studie-rende Athletinnen und Athleten für die Aus-bildung oder den Sport entscheiden. Denn die Ansprüche an sportliche Leistungen sindgewachsen; entsprechend grösser geworden ist der Aufwand. Es gibt auch strukturelle De-fizite: «Eine Laufbahnberatung für Spitzen-sportler in Ausbildung ist noch nicht im ge-wünschten Mass ausgebaut», sagt MatthiasZurbuchen. Er will ein Netz mit Berufs- und Stu-dienberaterinnen und -beratern sowie mit Ko-ordinatoren bei den Sportverbänden knüpfen.Von Seiten der Hochschulen wirken bislangunterstützend die Sportdirektoren mit, inZürich etwa ASVZ-Chef Kaspar Egger. Es gebefür Leistungssportlerinnen und -sportler inAusbildung aber keine gesamtschweizerischenRegelungen, die diesen auf sie zugeschnitte-ne Studiengänge zusichern würden. AllfälligeErleichterungen müssten zurzeit noch indivi-duell ausgehandelt werden.

zurück. So kommt sie auf rund fünfzig Kilome-ter pro Woche. Morgens dauert das Training vonacht bis halb zehn, «sodass ich die Vorlesungenan der Uni noch gut schaffe». Abends ist sie meis-tens nochmals für zwei Stunden im Beckenanzutreffen. Delfin ist im Pool ihre wichtigsteLage. In dieser Disziplin ist sie auch SchweizerMeisterin über zweihundert Meter und hatschon Europameisterschaften bestritten. Aller-dings schwimmt Denise Schrader mit Vorliebeausserhalb des Beckens und auf längere Dis-tanzen: Über fünf Kilometer – auch hier hat sieden Schweizer Meistertitel – und zehn Kilome-ter, sei es im Meer, im See oder im Fluss.

«ARME UND BEINE SPÜRST DU KAUM NOCH»

In Denise Schraders Verein, dem SchwimmclubUster, gibt es noch andere Athletinnen undAthleten, die studieren – Politologie etwa, Um-weltnaturwissenschaften oder Medizin. EinStudium lasse sich gut mit Schwimmen verein-baren, vorausgesetzt die Studiengänge sind fle-xibel, sagt die angehende Betriebsökonomin.Zurzeit ist sie im neunten Semester, im Herbstmöchte sie ihr Studium abschliessen. Dieersten drei Semester mit ihren zahlreichenVorlesungen verlangten allerdings eine hohePräsenzzeit und liessen nicht viel Spielraum.Das Hauptstudium hingegen sei flexibler, manentscheide selber, wie viel Anrechnungspunk-te man erwerben wolle. Die Prüfungen amSemesterende kommen ihr indes nicht gelegen,hat sie doch wegen des Schwimmens nichtimmer die Zeit, à jour zu sein. Das Schwie-rigste seien aber die Müdigkeit und das Bedürf-nis nach Erholung. Mitunter kämpfe sie dage-gen, in der Vorlesung einzuschlafen, sagt dieSchwimmerin.

Letztes Jahr nahm sie an den Lang-streckenweltmeisterschaften in Barcelona teil,die im Hafenbecken ausgetragen wurden. Überzehn Kilometer etwa sind die Schwimmerinnenrund zwei Stunden unterwegs. «Es ist kaummöglich, etwas zu trinken, weil sich sonst dieGegnerinnen absetzen.» Das grössere Problemsei aber die Kälte: «Ich schwamm schon mal in England bei vierzehn Grad Wassertempera-tur. Nach einer Weile spürst du Arme undBeine kaum noch.» Während der Wettkämpfeschwimme man in einer Gruppe von zwanzig

ick Heuscher, Psychologiestudent/Beachvolleyballer

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Immanuel Kant starb am 12. Februar 1804,knapp 80-jährig. Stadt und Universität Königs-berg bereiteten ihm ein ehrenvolles Begräbnis.Dazu bestand auch aller Anlass. Der Verstorbenehatte seine Heimatstadt, in der er 1724 in einerHandwerkerfamilie zur Welt gekommen war,mit Ausnahme seiner Hauslehrerzeit, die er inder näheren Umgebung verbrachte, nie verlas-sen. Er befand sich hier offensichtlich wohl undwusste sich hinreichend informiert, ja er ver-klärte «Königsberg am Pregelflusse» mit seinerUniversität und seiner günstigen «Lage zumSeehandel» als eine Stadt, die «schon für einenschicklichen Platz zu Erweiterung sowohl derMenschenkenntnis als auch der Weltkenntnisgenommen werden» könne. Fehlende Reise-erfahrungen minderten die Qualität seinerhäufig sogar von ausserhalb besuchten Vorle-sungen über physische Geographie und Anthro-pologie offensichtlich nicht. An der Universitäthatte Kant zunächst 15 Jahre als Privatdozentthematisch ausserordentlich weit gespannteVorlesungen gehalten, bis er 1770 die ordent-liche Professur für Metaphysik und Logikerhielt. Mit der breiten Rezeption seiner 1781erschienenen «Kritik der reinen Vernunft» undder damit verbundenen «Revolution der Denk-art» nach 1785 wurde er zum berühmtestenPhilosophen Deutschlands; an der KönigsbergerUniversität bekleidete er zweimal das Amt desRektors.

Im historischen Rückblick auf dasTodesjahr Kants ist aber auch unübersehbar,dass der philosophische Zeitgeist in Deutsch-land von seinem Konzept kritischer Philosophiebereits zu einer neuen Metaphysik fortgegangenwar, die philosophiegeschichtlich mit dem Eti-kett «deutscher Idealismus» versehen ist. Erst 70Jahre später wurde Kant wieder aktuell. DerRückgriff auf seine Theorie der Erfahrung soll-te die Lücke füllen, die mit dem Verfall desHegelianismus entstanden war. Und der «Neu-kantianismus» holte in der Tat die kantischePhilosophie erfolgreich zurück, indem er mit ihrden akuten Bedarf an Erkenntnis- und Wissen-

schaftstheorie einerseits, an Ethik anderer-seits deckte. Seither ist Kants Werk ohne Unter-bruch in den philosophischen Debatten weltweitpräsent geblieben. Dabei wurden immer wiederunterschiedliche Akzente gesetzt; in den 1920er-Jahren beispielsweise versuchten einige Inter-preten, Kants späten Schriften eine Metaphysikeinzulegen, die an die Schulphilosophie seinerfrühen Jahre anknüpfte. Im letzten halbenJahrhundert zogen in seinem Werk auch dieÄsthetik, die Philosophie der lebendigen Natur,die Rechtslehre und die Geschichtsphilosophiephilologische Aufmerksamkeit und sachlichesInteresse auf sich. An der vordersten Frontaktueller Diskussionen ist nach wie vor KantsEthik zu finden.

GEGEN «FAULHEIT UND FEIGHEIT»

Zu Recht wird sein Werk mit der Aufklärung inVerbindung gebracht. Aus diesem Zusammen-hang hat sich als Element unserer Schulbildungvor allem die Aufforderung zum Selbstdenkenerhalten, die Kant in den Wahlspruch kleidete:«Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zubedienen!» So überzeugend dieses Postulatauch heute noch daherkommt, so sehr manwünscht, es im alltäglichen Leben, in der Wis-senschaft und in der Politik beherzigt zu sehen,so stark lässt unser Eifer, ihm nachzuleben,nach, wenn Selbstdenken zu Konflikten führenkönnte. Aber so war es gerade gemeint gewe-sen: Kant verlangte eine kritische Einstellunggegenüber Autoritäten, Gewohnheiten undVorurteilen, die nie ohne Inkaufnahme vonKonflikten zu haben sein würde. Er hat vielAnstoss damit erregt, dass er «Faulheit undFeigheit» als Ursachen des Verharrens in derUnmündigkeit ausmachte und den gern unterVormundschaft lebenden Zeitgenossen so zi-tierte: «Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ichnur bezahlen kann; andere werden das ver-driessliche Geschäft schon für mich überneh-men.» Meines Erachtens trifft seine Analyseganz aktuell ein in der subjektiven Verfassungheutiger westlicher Gesellschaften wieder auf-

tretendes, sehr beunruhigendes Moment. Sichunter widrigen und undurchsichtigen Umstän-den eine eigene Stellungnahme zu erarbeiten,wird oft als Zumutung erlebt oder erst gar nichtmehr in Erwägung gezogen. Ich führe zwei Bei-spiele aus dem Bereich des öffentlichen Ver-nunftgebrauchs an. 1. Dass die Förderung wirt-schaftlichen Wachstums oberste Priorität inder Politik haben muss, nehmen wir neuerdingswie ein Naturgesetz hin, ohne den Sinn und diemöglichen Grenzen solchen Wachstums oderseinen Preis überhaupt noch in Frage zu stellen:Kapitalismus als Religion. 2. Selbst die Univer-sitäten bringen nicht mehr den Willen und dieKraft auf, einer ihnen von oben autoritär ver-ordneten und der Herrschaft der Bürokratie Vor-schub leistenden Reform den Widerstand diffe-renzierender Argumentation entgegenzuset-zen. Selbst nachdem das Ziel der Herstellungeuropaweiter Kompatibilität der Studienab-schlüsse als unerreichbar beziehungsweise alsblosse Rhetorik durchschaut worden ist, fahrenwir fort, wider besseres Wissen die historischund kulturell bedingten Unterschiede zwischenFächern, Fakultäten, Universitäten und Ländernin der europäischen Bildungslandschaft weg-zurasieren. Welche Konsequenzen die Reforminsbesondere für das Studium der Philosophieoder der Geisteswissenschaften hat, wird kaumnoch gründlich reflektiert, denn «der Zug istabgefahren». Kant schrieb 1765 in der Besin-nung auf seine Aufgabe als akademischer Leh-rer: «Der den Schulunterweisungen entlasseneJüngling war gewohnt zu lernen. Nunmehrodenkt er, er werde Philosophie lernen, welchesaber unmöglich ist, denn er soll jetzt philoso-phieren lernen.» Über dieses Diktum, seine Gül-tigkeit und seine Relevanz für eine Reform derReform wäre zu diskutieren.

SCHONUNGSLOSE SELBSTEVALUATION

Kant setzt auf Vernunft, aber nicht blind, son-dern unter der Voraussetzung, dass ihreLeistungsfähigkeit bei der Begründung vonErkenntnis und der ethischen Normierung des

SELBER DENKEN!

ESSAY ZU IMMANUEL KANTS 200.TODESJAHR von Helmut Holzhey

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Handelns überprüft wird. Die Experten bei die-ser Evaluation sind weder der reine Geist nochdas sinnliche Gefühl. Die Prüfung oder – wieKant sagt – Kritik der Vernunft» erfolgt in Formeiner schonungslosen Selbstevaluation. InFrage steht, wie weit Menschen im Gebrauchihrer Vernunft kommen können. Kant ist davonbeeindruckt, in wie starkem Masse die Meta-physik als die eigentliche philosophische Ver-nunftwissenschaft hinter der Entwicklung vonMathematik und Naturwissenschaften zurück-geblieben ist. Sie gleicht mit ihren umstrittenenAussagen über Gott, Freiheit und Unsterblich-keit eher einem Kampfplatz der Meinungen alseiner Wissenschaft. Hier ist Kritik gefordert, Kri-tik als Grenzsetzung. Dafür muss die Maximedes Selbstdenkens durch die Maxime ergänztwerden, «sich in die Stelle jedes Anderen zu den-ken». Das Problematische an der Metaphysik istdie durchgängige Strittigkeit ihrer Theoreme.Die Beweise für die Existenz Gottes und dieUnsterblichkeit der Seele werden angefochten,bei der Bestimmung der raum-zeitlichen Gren-zen des Universums und in der Frage desDeterminismus liegen sich Dogmatisten undEmpiristen in den Haaren. Das Ziel, den Streitzwischen den verschiedenen Positionen zuschlichten, ja zu beenden, kann der Philosophnur erreichen, wenn er sich zunächst selbst aufdie Streitsache einlässt. Ohne sich auf die eineoder andere Seite festzulegen, sucht er eingemeinschaftliches Interesse der Streitparteienauszumachen. Verfolgen sie unterschiedlicheInteressen, so liegt ein Streit unter Feinden vor,dem kaum beizukommen ist. Ein Streit unterFreunden ist hingegen nur ein Streit über die Artund Weise der Verfolgung eines an sichgemeinsamen Interesses. Bei den metaphysi-schen oder «letzten» Fragen nach dem Sinn derWelt und des Lebens haben alle Menschen Kantzufolge ein gemeinschaftliches Interesse, sindalso Freunde im Streit. Sie sollten sich deshalbnicht dabei aufhalten zu zeigen, «wo der ande-re geirrt hat, sondern wo er Recht hat». Wer sichim Prozess der Aufklärung die Haltung der Kri-

tik zu eigen macht, stellt sich auf den Boden des gemeinschaftlichen Interesses aller. Diesedritte Position, der später so genannte Kriti-zismus, wird in der Selbstevaluation der Ver-nunft erarbeitet, muss allerdings angesichts derhistorischen Veränderungen, denen auch dasmenschheitliche Interesse unterliegt, immerwieder neu definiert werden. Kant selbst miss-billigt ausdrücklich «die Regel, wenn man imGebrauch der reinen Vernunft vorher etwasbewiesen hat, dieses nachher wie einen festenGrundsatz nicht mehr in Zweifel zu ziehen.»Aber können wir uns das leisten, was Kant sichhier gutschreibt? Gewiss, Kritik der die Erfah-rung «überfliegenden» Vernunft wird in jederZeit wieder fällig, heute etwa gegenüber fun-damentalistischen Strömungen mit ihren Heils-versprechen. Aber bei dieser Kritik befinden wiruns als Kantianer in der Situation geistiger Unsi-cherheit, weil wir die sich stellenden «letzten»Fragen nicht beantworten, aber auch nicht ein-fach abweisen können. Das auszuhalten fälltschwer. Es erscheint überdies als nicht zeitge-mäss. Dennoch erachte ich gerade diesenBegriff von Vernunftkritik mit der in ihm ent-haltenen Einsicht, dass die Kritik einer sich ausdem metaphysischen Bedürfnis speisenden,zuviel versprechenden «Vernunft» eine Dauer-aufgabe bleibt, für den entscheidenden kanti-schen Beitrag zur Fortsetzung der Aufklärungheute.

PHILOSOPHIE NACH IHREM WELTBEGRIFF

Schon Kants Zeitgenossen stiess die schwereVerständlichkeit seines Hauptwerks sauer auf.Der Autor reagierte empfindlich. Zwar dekla-rierte er in der Vorrede zur zweiten Auflage, dassdie Kritik der Vernunft niemals populär werdenkönne, es aber auch nicht nötig habe, populär zusein. Vernunftkritik lässt sich nicht per SMSkommunizieren. Doch war Kant der Vorwurf derDunkelheit seiner Ausführungen nicht gleich-gültig. So machte er sich an eine Unterschei-dung mit weittragenden Konsequenzen. Primärsei, so legt er sich fest, professionelle Begriffs-

arbeit zu leisten, auf deren Boden erst wahrephilosophische Popularität erlangt werdenkönne. Das Erstere erklärt er zur Sache derPhilosophie nach ihrem Schulbegriff, das Letz-tere zur Aufgabe der Philosophie nach ihremWeltbegriff. Das Problem der Kommunikationphilosophischer Gedanken wird damit, jeden-falls ansatzweise, mit dem Problem des genui-nen Ortes der Philosophie – Schule oder Welt –verknüpft. Wie schon gegenüber dem Streit inder Metaphysik, nimmt Kant auch hier wiedereine vermittelnde Position ein. Schulphilosophiekann nicht erspart werden, massgebend für sieist Tradition in inhaltlicher und formaler Hin-sicht: Metaphysik, strenge Begrifflichkeit,Systematik. Aber Philosophie erreicht mit ihrnoch nicht ihren eigentlichen Zweck, wie er imWort «Weltweisheit» anklingt. Der alte Ausdruckverweist auf eine philosophische Praxis in derWelt. Für Kant besteht diese vornehmlich inEthik. Die Pointe liegt aber darin, dass einegemäss ihrem Weltbegriff konzipierte Philoso-phie nicht nur ethische Lehre von der Bestim-mung des Menschen ist, sondern zugleich«Weisheit» als Vollzug dieser Bestimmung, sosehr das auch ein Ideal bleiben mag. Im Lichtedieses Philosophiebegriffs genügt es nicht, imBologneser Elfenbeinturm philosophischesWissen und Können zu vermitteln beziehungs-weise zu erwerben, um sich Philosophin oderPhilosoph nennen zu können. Was kennzeich-net sie/ihn darüber hinaus? Dieses Plus möch-te ich nicht allein im Vollzug der moralischenBestimmung des Menschen suchen, so wichtignach wie vor «das moralische Gesetz in mir» alsBeleg für das Besondere des Menschseins in dernatürlichen Ordnung der Dinge zu nehmen ist.Ich würde das Plus eher mit mutigem Selbst-denken identifizieren. An Kanälen, es zu kom-munizieren, fehlt es in der heutigen Welt nicht.

Helmut Holzhey ist Ordinarius für Philosophie, insbe-sondere Geschichte der Philosophie an der UniversitätZürich.

KONTAKT [email protected]

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DER RANDALE AUF DER SPUR

Kinder und Jugendliche sollten ernster genommen werden, sagt Reinhard Fatke,Ordinarius für Sozialpädagogik. Soeben hat er eine brisante Studie über die Aus-schreitungen am 1. Mai in Zürich fertiggestellt. Von David Werner

Wer sind sie eigentlich, die Jugendlichen, die Jahrfür Jahr pünktlich nach der offiziellen 1.-Mai-Demonstration ihr Randale-Ritual im ZürcherKreis 4 zelebrieren? Was treibt sie an? Bisher gabes darüber nur Vermutungen. Vom «SchwarzenBlock» war die Rede, dann auch von wild ge-wordenen «Secondos». Reinhard Fatke und seinTeam wollten es genauer wissen. Im Auftrag derStadt haben sie eine Auswahl festgenommenerKrawallmacher nach ihren Motiven gefragt – mitüberraschenden Ergebnissen.

Zunächst aber: Wer ist eigentlich Rein-hard Fatke? Was treibt ihn an? Woher bezieht er als erfolgreicher Akademiker sein Einfüh-lungsvermögen für Versager, Gewalttäter undsogenannte Schwererziehbare? Fatke, 60 Jahrealt, ist Professor für Pädagogik mit besondererBerücksichtigung der Sozialpädagogik an derUniversität Zürich. Seit kurzem ist er auchProdekan.

SENSORIUM FÜR UNGERECHTIGKEITEN

Er spricht sehr überlegt. Der Tonfall verrät seinenorddeutsche Herkunft. Fatke ist mit einer Ärz-tin verheiratet, hat drei erwachsene Kinder, liebtOper und Kino. Er wirkt freundlich, aufmerk-sam und zurückhaltend. «Nein, einen Pflaster-stein habe ich selbst noch nie geworfen», gibt erzu. Aber immerhin: Demonstriert hat er auchschon – damals, als Student 1968 in Tübingen.Den autoritären Geist der Adenauerzeit hat ernoch miterlebt, die Studentenrevolte war für ihnwie ein «Erwachen», wenn ihn auch das eineoder andere daran irritierte, etwa die Streiks:«Ich empfand es als Privileg, überhaupt studie-ren zu können. Die Universität zu bestreiken,das kam mir völlig absurd vor: als würde einRentner auf seine Rente verzichten, nur weil ergegen den Staat ist.»

Fatke stammt aus Kiel, er wuchs alsArbeiterkind auf, die Verhältnisse waren be-scheiden. «Ich hatte ein ausgeprägtes Sensorium

für gesellschaftliche Ungerechtigkeiten», erin-nert er sich. «Fast alle meiner Schulkameradenam Gymnasium kamen aus wohlhabendenFamilien, und es hat mich empört, mit welcherVerachtung sie über die Probleme Benachtei-ligter hinweggingen.» Dank eines Hochbegab-tenstipendiums konnte Reinhard Fatke studie-ren – bis zum Staatsexamen in Kiel und Tübin-gen, danach in den USA, wo er einerseits dieempirische Sozialwissenschaft kennen lernteund sich andererseits auf psychoanalytischerGrundlage mit sozial auffälligen und delin-quenten Kindern beschäftigte – unter Anleitungdes weltweit bekannten Kinderanalytikers FritzRedl. Mehrere von Redls Schriften edierte Fatkein deutscher Übersetzung, darunter auch dasHauptwerk «Kinder, die hassen».

Nach Stationen in Lüneburg und Fri-bourg kam der Forscher 1991 nach Zürich. DieStadt findet er ihres kosmopolitischen Charak-ters wegen «grosse Klasse», ebenso die Arbeits-bedingungen an seinem Institut. Einziger Wer-mutstropfen: Reinhard Fatke hätte gern mehrStudierende, die sich für die Wissenschaftbegeistern lassen. Die meisten ziehe es nachdem Studium in die Praxis. «Mir fällt auf, dasssich die Studierenden hier eher ungern der wis-

senschaftlichen Diskussion stellen. Sie scheuendas Risiko, auch mal kritisiert zu werden. Das istin Deutschland anders», sagt er. Ansonstenaber ist er des Lobes voll für die Schweiz und«jede Sekunde glücklich, hier zu sein».

WENIGER SCHONRÄUME, MEHR PARTIZIPATION

Vom Achtundsechziger-Ideal der antiautoritärenErziehung ist Fatke früh abgerückt. Oder viel-mehr: er hat es modifiziert. Den emanzipativen

Kerngedanken hat er beibehalten, das Credovom blossen «laisser faire» hingegen verabschie-det. «Man sollte Kindern und Jugendlichen zu-trauen und zumuten, ihr Leben selbstverant-wortlich mitzugestalten», sagt Fatke. Was abernicht heissen dürfe, sie einfach sich selbst zuüberlassen, denn so würden sie nicht erfolgreichin die Erwachsenenwelt integriert. «Ich erken-ne zunehmend, dass Kinder und Jugendlicheweniger Schonräume, dafür mehr Partizipa-tionsmöglichkeiten brauchen. Es ist wichtig fürsie, einbezogen, anerkannt und ernst genom-men zu werden. Sie sollten in möglichst vielenLebensbereichen mitdenken, mithandeln undmitentscheiden können.»

Das Fach Sozialpädagogik, das sich frü-her vorwiegend mit Heimerziehung befasste,hat sich in den letzten Jahrzehnten stark diver-sifiziert.Wie stark, das zeigt ein Blick auf einigeder Forschungsarbeiten, die Reinhard Fatke mitseinem Team in der letzten Zeit bearbeitet hat:Da geht es etwa um die Bedeutung von Freund-schaftsvorstellungen, um Suizid im Jugendalter,um Strassenkinder oder um den Zusammen-hang von Familienerziehung und Rechtsextre-mismus. Ziel all dieser Studien ist es, sichanbahnende Probleme in den verschiedenstensozialen Bereichen frühzeitig zu erkennen.Und für Fatke besteht kein Zweifel, worin diewirksamste Prävention besteht: In einem mög-lichst intensiven gesellschaftlichen Einbezug

Heranwachsender. Viel bleibt in dieser Be-ziehung noch zu tun. Fatkes gross angelegte, von der UNICEF in Auftrag gegebene und letz-tes Jahr fertig gestellte «Studie zur Partizipa-tion von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz» zeigt: Genügend Mitgestaltungsmög-lichkeiten für Heranwachsende finden sichgegenwärtig einzig im Familienrahmen; weitseltener gibt es sie in der Schule, im öffentlichenLeben fehlen sie fast ganz. Glaubt man der ein-

PORTRÄT

«Jugendliche brauchen die Erfahrung, selbst etwas in der Gesellschaft zu bewegen. Wir sollten dafür sorgen, dass sie dies tun können.» Reinhard Fatke

BILD Jos Schmid

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gangs erwähnten Untersuchung zur ZürcherNachdemonstration 2002, dann sind die all-jährlichen Ausschreitungen am 1. Mai inZürich ein Indiz auch für dieses Manko. DasHauptmotiv der Randalierer liegt jedenfallsnicht im puren Erlebniswert blindwütigerZerstörung, sondern im Missmut über feh-lende Anerkennung und mangelnde Artiku-lations- und Gestaltungsmöglichkeiten. Diepolitischen Interessen der befragten Jugend-lichen waren viel ausgeprägter als erwartet.«Wie man sich denken kann, war es nichtganz einfach, an die Akteure heranzukom-men», sagt Fatke. Unter Wahrung der Da-tenschutzbestimmungen konnten Kontakteüber die Polizei, aber auch mit Hilfe von Sozi-alarbeitern und Jugendpfarrern hergestelltwerden. Am Ende wurden 35 ausgefüllte Fra-gebögen und 13 Interviews ausgewertet.

SELBER ETWAS BEWEGEN

In quantitativer Hinsicht ist die Studie zwarnicht repräsentativ, dank der qualitativen Ver-tiefung der Interviews wurde jedoch dasganze Spektrum der Verhaltensmuster undEinstellungen unter den Demonstrantenermittelt. Die Breite dieses Spektrums er-staunte sogar Fatke selbst: Es reicht von ganzlinks bis ganz rechts, hinzu kommen noch diepolitisch schwer einzuordnenden Migranten.Von einer geschlossenen Krawallszene alsokeine Spur, von einer einheitlichen politi-schen Stossrichtung schon gar nicht. Dochwie auch immer sich die Befragten in ihrerWerthaltung voneinander unterscheiden – inihren Grundmotiven sind sie sich durchausähnlich: Verunsicherung, Suche nach Iden-tität und Anerkennung, mangelnde gesell-schaftliche Integration – all das ist bei Auto-nomen, Skins oder Migranten gleichermas-sen anzutreffen.

Was also ist zu tun? Fatke plädiert füreine ernsthaftere Jugendpolitik. «Es reichtnicht», sagt er, «ein Jugendhaus hinzustellenund Jugendarbeiter zu engagieren, die eintolles Programm mit Billard und Musik orga-nisieren; Jugendliche brauchen die Erfah-rung, selbst etwas in der Gesellschaft zubewegen. Wir sollten dafür sorgen, dass siesolche Erfahrungen machen können.»

«Die Zustimmung zur Gentechnologie ist in der Schweiz wieder gesunken.» Heinz Bonfadelli

INTERVIEW

«DIE FORSCHER MÜSSEN SICHLEGITIMIEREN»

Die Publizistikwissenschaftler Heinz Bonfadelli und Urs Dahinden haben sich aneiner europaweiten Analyse der Wahrnehmung der Gentechnologie beteiligt. DasProjekt ist seit kurzem abgeschlossen. Zeit, Bilanz zu ziehen. Von Thomas Gull

Herr Bonfadelli, Herr Dahinden, im RahmenIhres Forschungsprojektes «Life Sciences inEuropean Society» haben Sie 1996, 1999 und2002 Eurobarometer-Erhebungen gemacht,um festzustellen, wie die Gentechnologie inder Gesellschaft wahrgenommen wird.Weshalb wurden die Erhebungen gemacht?URS DAHINDEN: Die Eurobarometer haben dieFunktion, die Europäische Kommission zu be-raten. Die Erhebungen zur Gentechnologiewurden lanciert, weil man sah, dass die Euro-päer der neuen Technologie gegenüber skepti-scher eingestellt sind als die Amerikaner. Esging darum, mehr über die Gründe zu erfahren,auch um zu wissen, wie man die Stimmung insPositive wenden könnte.

Haben sich die Wahrnehmungen undHaltungen gegenüber der Gentechnologie im

Zeitraum Ihrer Untersuchung verändert?HEINZ BONFADELLI: Wir haben eine Meinungs-dynamik gemessen. Darin spiegelt sich die Dis-kussion der Gentechnologie im Zusammenhangmit der Gen-Schutz-Initiative, über die 1998 ab-gestimmt wurde. Die erste Erhebung haben wirvor, die zweite nach der Abstimmung und diedritte vor zwei Jahren gemacht. Die Aktivitätenvon Befürwortern und Gegnern der Initiative unddie Medienberichterstattung darüber haben das abstrakte Thema in den Köpfen der Bevöl-kerung zum ersten Mal in den Vordergrundgerückt. Das hat dazu beigetragen, dass sichMeinungen stärker herauskristallisiert haben.

Wie haben sich die Meinungen entwickelt –eher für oder gegen die Gentechnologie?DAHINDEN: Wie unsere Erhebungen durch dasGfS-Forschungsinstitut zeigten, war eine Mehr-

WEBSITE www.ipmz.unizh.chUNIMAGAZIN 1/04

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heit der Bevölkerung bis wenige Monate vor derAbstimmung eher gegen die Gentechnologie.Durch die Kampagne kippten die Meinungen.Sie hatte den kurzfristigen Effekt, dass dieMehrheit der Bevölkerung für die Gentechno-logie war. Aber dieser Trend war nicht nach-haltig. Die Zustimmung hat wieder abge-nommen.BONFADELLI: Im zweiten Survey 1999 stellten wir eine wachsende Akzeptanz der Gentech-nologie fest. Der Abstimmungskampf von 1998wirkte nach. Diese Wirkung ist verblasst, des-halb ist die Zustimmungsrate in der Erhe-bung von 2002 wieder gesunken. Das ist er-staunlich, denn in der EU sind die Meinungeneher stabil geblieben.

Wie erklären Sie sich das?BONFADELLI: Tendenziell ist die Grundhaltungder Bevölkerung ambivalent. Dann kommt esdarauf an, ob und in welcher Form das Themain der Öffentlichkeit behandelt wird. Wennbeispielsweise Dolly ein Thema ist, wird dieAmbivalenz bestätigt, und die Zustimmungs-werte sinken weiter. Im Vorfeld der Abstimmungüber die Gen-Schutz-Initiative hat das gegneri-sche Komitee die medizinischen Applikationenin den Vordergrund gestellt, was zur Folgehatte, dass das Thema Gentechnologie mitmedizinischen Anwendungen assoziiert wurde.

Das hat zum Meinungsumschwung in die posi-tive Richtung geführt. Eine Rolle spielte auch dieAbwanderung der Arbeitsplätze. Es wurde argu-mentiert, man müsse Forschung zulassen,damit die Schweiz international konkurrenzfä-hig bleibe. Die Abstimmung war zudem einerder ersten Fälle, in denen sich die Forscher inder Öffentlichkeit sehr stark engagiert haben,etwa mit der Demonstration in der Bahnhof-strasse oder der Kolumne von NobelpreisträgerRolf Zinkernagel im «Blick». Hinzu kommt,dass die Leute hin und her gerissen sind, weilman über die neue Technologie noch zu wenigweiss. Das unterscheidet diese Debatte vonjener über die Kernkraftwerke.

Wie Ihre Studie zeigt, wir die Gentechnologiedifferenziert wahrgenommen. Ist demwirklich so, oder ist dieses Ergebnis auch eine Folge der differenzierten Befragung?BONFADELLI: Wir haben differenziert gefragt.Aber die Bevölkerung hätte auf alle Fragenähnlich antworten können. Was sich jedochgezeigt hat, ist, dass je nach Anwendung derGentechnologie auch die Wahrnehmungs-struktur unterschiedlich ist. Zudem sind dieAnwendungen unterschiedlich gut bekannt. Dagibt es auch Unterschiede zwischen den Län-dern. Gewisse Anwendungen findet die Bevöl-kerung nützlich, moralisch unbedenklich und

schätzt das Risiko als gering ein. Bei anderenAnwendungen wie Genfood findet die Mehrheitder Befragten, sie seien nicht nützlich undriskant. Klonen wiederum wird nicht nur alsriskant, sondern auch als moralisch verwerf-lich angesehen.DAHINDEN: Wir unterscheiden zwischen «roten»Anwendungen im medizinischen Bereich und«grünen» Anwendungen bei Lebensmitteln undin der Agronomie. Da gibt es eine klare Trenn-linie, wobei auch bei den menschlichen An-wendungen nicht alles gleichermassen akzep-tiert ist. Die positivste Einstellung haben dieMenschen gegenüber Gentests. Darauf folgt der Einsatz der Technologie zur Entwicklungvon Medikamenten. Dann geht die Akzeptanzrapide runter. Beispielsweise bei der Xeno-transplantation, der Herstellung von Ersatz-organen in Tieren, die genmanipuliert wer-den, um dann Menschen eingepflanzt werdenzu können, sind die Meinungen gespalten,obwohl es sich dabei um medizinische Anwen-dungen handelt. Die Widerstände liegen weni-ger auf der technischen als vielmehr auf der kul-turellen Ebene. Es geht um die Frage: Ist der Mensch nur eine spezielle Tierart, oder ister etwas ganz anderes?

Es gibt jedoch Anwendungsbereiche, dieumstrittener sind als die Xenotransplantation?

«Es geht um die Frage: Ist der Mensch nur eine spezielle Tierart, oder ist eretwas ganz anderes?» Urs Dahinden

BILDER Ursula Meisser

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BONFADELLI: Die grössten Vorbehalte gibt esgegenüber dem Klonen, das auch als moralischverwerflich empfunden wird.DAHINDEN: Das gilt jedoch nur für das repro-duktive Klonen. Beim therapeutischen Klonensieht das anders aus. Bei den medizinischenAnwendungen heiligt der Zweck die Mittel: dieAkzeptanz ist darum grösser.

Die Akzeptanz gentechnisch veränderterLebensmittel ist in Europa sehr gering.DAHINDEN: Das hängt auch damit zusammen,dass wir genügend und gute Nahrungsmittelhaben. Gentechnisch veränderte Lebensmittelbieten deshalb keine klaren Vorteile. Im Lebens-mittelbereich geht es zudem um internationa-le Handelsbeziehungen und nationale Identität.Wenn beispielsweise der gentechnisch verän-derte Mais aus den USA etwas billiger ist, ist dasin Europa kein Argument, ihn zu kaufen.

Sie haben Forschungspartner in den USA, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Steht man in den USA der Gentechnologiegrundsätzlich unkritischer gegenüber?BONFADELLI: Nur bedingt. Wenn man die Erhe-bungen genauer anschaut, so sieht man, dassauch in den USA signifikante Bevölkerungsan-teile nicht unbedingt für die Gentechnologiesind. Die Gentechnologie ist jedoch viel weniger

ein Thema in den Medien, und gentechnischveränderte Lebensmittel sind auf dem Marktviel häufiger anzutreffen.DAHINDEN: Die amerikanische Kultur ist in-novationsfreudiger und fortschrittsorientier-ter. Wenn etwas Neues kommt, nimmt man esan, was nicht heisst, dass die Konsumenten in den USA nicht kritisch wären. Das sind jedochindividuelle Haltungen. Es gibt keine sozialeBewegung gegen gentechnisch veränderteLebensmittel.

Wie aus Ihren Unterlagen hervorgeht, bestehtkeine Korrelation zwischen den tatsächlichenRisiken der Anwendungen der Technologieund deren Wahrnehmung durch dieBevölkerung. Wie erklären Sie sich das?DAHINDEN: Bei den Lebensmitteln etwa brauchtes einen Mehrwert. Wenn ich für den glei-chen Preis «natürliche» Lebensmittel bekom-men kann, dann kaufe ich diese. Es ist ein kul-turelles Phänomen, dass man das Natürlichedem Künstlichen vorzieht. Es handelt sich dabeinicht um einen rational durchdachten Ent-scheid.BONFADELLI: Zuerst kommt die Nützlichkeits-erwägung. Das Risiko kommt dann noch dazu.

Wenn man den Nutzen einsieht, ist man be-reit, ein gewisses Risiko in Kauf zu nehmen?

BONFADELLI: Wenn man beispielsweise krank ist und es keine Alternativen gibt, geht manjedes Risiko ein, um vielleicht wieder gesund zu werden.

Wie die Studie zeigt, gibt es in Europa grosse Unterschiede: Die Gentechnologie wirdin den südlichen Ländern der EU positiverbeurteilt als im Norden.BONFADELLI: Die Unterschiede in Europa sindenorm. In südlichen Ländern ist die Haltung vielpositiver, weil man dort die moderne Industrienicht hat und sie gerne möchte. DAHINDEN: Die Gentechnologie ist eine Zu-kunftstechnologie. Ab einem gewissen Ent-wicklungsniveau nimmt der Technologieglau-be ab. In der postmodernen Industriegesell-schaft wird der Technologieglaube nicht auto-matisch assoziiert mit wirtschaftlichem Fort-schritt. Das gilt etwa für die Schweiz, Deutsch-land und die skandinavischen Länder.BONFADELLI: Im Einzelfall, wie die Abstimmungüber die Gen-Schutz-Initiative zeigt, ist derForschungsplatz Schweiz dann schon wieder einArgument. Das muss jedoch in der Öffentlichkeitthematisiert werden.

Die Wissenschaftler haben sich in der Abstim-mung um die Gen-Schutz-Initiative sehrengagiert. Es hat offenbar etwas gebracht?

«Forschung per se hat nicht mehr den positiven Nimbus wie noch vorzwanzig Jahren.» Heinz Bonfadelli

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BONFADELLI: Die Wissenschaftler sind nicht zu-fällig auf die Strasse gegangen. Grundsätzlichgenügt es eben nicht mehr, nur gute Forschungzu machen, man muss der Bevölkerung diesauch kommunizieren. Am Anfang dachte dieIndustrie, man könne das mit den Behörden inBern regeln, die Risiken und die Grenzen fest-legen, ohne einen Dialog mit der Bevölkerungzu führen. Die Anfang der 90er-Jahre lancierteso genannte Beobachter-Initiative gegen Miss-bräuche der Fortpflanzungs- und Gentechno-logie beim Menschen war der erste Schritt, derdazu geführt hat, dass Politiker und Wirt-schaftsführer erkennen mussten, dass dieseTechnologien so weitreichende Konsequenzenhaben, dass die Bevölkerung in den Diskurs ein-bezogen werden muss. Die im vergangenenJahr verabschiedete Gen-Lex ist ein Ergebnisder Gen-Schutz-Initiative. Die Behörden muss-ten der Bevölkerung zeigen: wir setzen Leit-planken. Dass sich Gesetze in Vorbereitungbefinden, war auch in der Abstimmung einwichtiges Argument.

Die Gen-Lex hat keine grossen Wellen mehrgeworfen. Worauf deutet das hin? Ist dasauch ein Anzeichen dafür, dass das Interesseam Thema wieder gesunken ist?BONFADELLI: Wir sprechen von einem Pro-blemlösungszyklus. Zunächst ist die Technolo-

gie da, es wird geforscht, sie ist aber noch keinThema in der Öffentlichkeit. Dann gelingt eseiner Gruppierung, die Technologie zu proble-matisieren. Sie wird in den Medien und dann inder Bevölkerung diskutiert. Damit wird das poli-tische System gezwungen zu handeln. Darauffolgt eine Deproblematisierung. Die Behördenübernehmen die Lösung des Problems mitGesetzen und Ausführungsbestimmungen. Dieursprünglich initiativen Gruppen sind dannnicht mehr unbedingt gefragt, weil das Problemerfasst ist und sich in den Händen der Bürokra-tie befindet.

Jetzt gibt es jedoch neue Teildebatten etwaüber die Stammzellenforschung.DAHINDEN: Etwas besonderes in der Schweiz ist,dass Organisationen wie Science et Cité mitt-lerweile solche Debatten bewusst initiierenund darüber informieren, worum es beispiels-weise bei der Stammzellenforschung geht. Dasheisst, der Dialog mit der Öffentlichkeit wirdbewusst gepflegt. Vor der Gen-Schutz-Initiativewar das öffentliche Interesse ein Ärgernis.Heute wird dieser Dialog als demokratischerWert betrachtet.BONFADELLI: Das war ein Lernprozess. Geradebei der Gentechnologie, die so viele Bereicheanspricht ist klar, dass das Thema nicht erledigtist. Es kann jederzeit wieder eine Gruppe

geben, die dagegen ist. Es wird sich zeigen,wieweit es gelingt, die Genfood-Initiative desWWF und der Schweizerischen ArbeitsgruppeGentechnologie wieder zu einem politischenThema zu machen.

Sie haben auch die Rolle der Medien in derGentech-Debatte untersucht. Dabei kommendiese recht gut weg. Die Wissenschaftlerhaben oft das Gefühl, ihre Anliegen würdenin den Medien verzerrt dargestellt. Zuwelchen Schlüssen sind Sie bei Ihrer Analysegekommen?BONFADELLI: Die Medien berichten in der Regelsachlich. Das Gefühl, die Darstellung einesThemas sei verzerrt, erklärt sich mit der selek-tiven Wahrnehmung der direkt Betroffenen.

Was verstehen Sie unter «selektiverWahrnehmung»?BONFADELLI: Selektive Wahrnehmung ist eineinteressengebundene Wahrnehmung. Wennman in einer bestimmten Branche wie der che-mischen Industrie oder als Forscher arbeitet,erwartet man von den Medien, dass sie den eige-nen Standpunkt popularisieren. Man gehtdavon aus, dass der eigene Standpunkt derdominante ist und dass man die Gegenseiteauch erwähnen darf, aber nur in sehr be-schränktem Umfang. In einem Abstimmungs-

«Vor der Gen-Schutz-Initiative war das öffentliche Interesse ein Ärgernis. Heute wird dieser Dialog als demokratischer Wert betrachtet.» Urs Dahinden

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kampf gehen die Medien jedoch davon aus, dassbeide Seiten in vergleichbarem Ausmass zuWort kommen sollten und alle Argumente imSinne eines Forums ausgebreitet werdenmüssen. Die Inhaltsanalysen zeigen, dass dieMedien selbst nicht stark werten, sondern siereproduzieren Wertungen der am Konfliktbeteiligten Parteien.DAHINDEN: Speziell war in der Schweiz die Hal-tung des Blick. Boulevardzeitungen sprechentendenziell Schichten mit tieferem Bildungs-niveau an, die wissenschaftsskeptischer sind. In der Schweiz war es genau umgekehrt. DerBlick hat sich als Boulevardzeitung klar zur Gen-technologie bekannt. Die Wertung war auchziemlich klar: Nobelpreisträger Zinkernagelhatte im Blick wöchentlich eine Kolumne.

Offenbar spielen die Medien doch keine so neutrale Rolle. Es wäre auch denkbargewesen, dass sich der Blick gegen dieGentechnologie entschieden hätte und Nobel-preisträger Zinkernagel nicht ins Blattgekommen wäre.BONFADELLI: Die Medienberichterstattung istnur eine Facette im Abstimmungskampf. VielGeld wurde für Plakatkampagnen und Eventsausgegeben. In diesem Zusammenhang spre-chen wir von Framing: Das gleiche Thema kannganz verschieden dargestellt werden.DAHINDEN: Bei der Gen-Schutz-Initiative ging esum Regulierungen im Landwirtschaftsbereichwie der Patentierung von Pflanzen und Lebens-mitteln. Die Gegenkampagne thematisierteaber eingeschränkt nur noch die medizini-schen Anwendungen. Da wurde ein völlig un-terschiedlicher thematischer Akzent gesetzt.Das ist die Schwierigkeit bei der Thematisierungder Gentechnologie: sie ist eine Basistechnolo-gie. Je nachdem, von welcher Anwendung manspricht, ist man eher dafür oder dagegen.

Zurück zu den Medien. Sie haben festgestellt,dass der Einfluss der Medien auf die Mei-nungsbildung nicht besonders gross war. Wervorher schon negativ eingestellt war, sah sich durch die Berichterstattung eherbestätigt und umgekehrt. Die Gruppe jener,die aufgrund der Medienberichterstattung die Meinung ändern, ist relativ klein.

BONFADELLI: Es sind beide Momente gleichzei-tig vorhanden: natürlich nehmen die Menschendie Medienberichterstattung vor dem Hinter-grund ihrer Haltung wahr. Das heisst Leute, diesensibilisiert sind für Umweltanliegen, sindder Berichterstattung gegenüber kritisch ein-gestellt. Man kann sie nicht überzeugen unddurch positive Berichte zu Gentech-Befürwor-tern machen. Umgekehrt nehmen junge Leute,die technikoptimistisch sind, die Berichterstat-tung auch so wahr. Gleichzeitig gibt es ein rela-tiv grosses Segment, am Anfang war das etwaein Viertel, das wenig informiert und unent-schieden war. Dort gibt es trotzdem eine Ver-schiebung. Vor einer Abstimmung genügt es,dass ein gewisser Teil durch die Berichter-stattung seine Meinungen und Haltungen ver-ändert, um dem Ergebnis eine andere Richtungzu geben.

Anhand der Gentech-Debatte haben Sie exem-plarisch den öffentlichen Diskurs über einwissenschaftliches Thema beobachtet. Was sind die Schlüsse, die Sie daraus ziehen,etwa wenn Sie an Wissenschaftler denken, die in solchen Bereichen arbeiten? Wie sollman vorgehen, um die Akzeptanz einer neuenTechnologie zu erhöhen?DAHINDEN: Proaktiv informieren, das heisstbevor beispielsweise vom WWF eine Initiativelanciert wird. Es sollte frühzeitig informiert und der Nutzen einer neuen Technologie auf-gezeigt werden. Das wäre eine gute Strategie.Gleichzeitig sollte auf die Risiken eingegangen werden.BONFADELLI: Das wäre die Differenz zu früher,als man erst reagierte, wenn etwas problemati-siert wurde. Nachhaltig zu kommunizieren istdie Lehre für die Wissenschaft. Forschung perse hat nicht mehr den positiven Nimbus wienoch vor zwanzig Jahren. Letztlich müssensich auch die Forscher der Bevölkerung gegen-über legitimieren. Das haben die Naturwissen-schaftler zum Teil bereits gelernt. Ein Beispielist die Stiftung Science et Cité, die einen stän-digen Dialog mit der Gesellschaft über wissen-schaftliche Themen führt.

Herr Bonfadelli, Herr Dahinden, wir dankenIhnen für das Gespräch.

GENTECHNOLOGIE IN EUROPADie moderne Gentechnik gilt als Schlüs-seltechnologie für das 21. Jahrhundert, istgleichzeitig aber auch stark umstritten so-wohl in der Schweiz wie auch in anderenLändern Europas. Das international verglei-chende Projekt «Life Sciences in EuropeanSociety» untersucht nationale Gemeinsam-keiten und Unterschiede bei der Themati-sierung von Gentechnologie in der Politik,der Medienberichterstattung sowie deröffentlichen Meinung. Das IPMZ (Institut für Publizistikwissenschaft und Medienfor-schung der Universität Zürich) ist SchweizerProjektpartner innerhalb des europäischenGesamtprojekts. Das Projekt wird finanziellunterstützt von der Europäischen Gemein-schaft, vom Schweizerischen Bundesamt für Bildung und Wissenschaft sowie vomSchweizerischen Nationalfonds.

Heinz Bonfadelli (54) ist Professor für Publi-zistikwissenschaft am IPMZ. Zu seinenForschungsschwerpunkten gehört die Unter-suchung von Medienleistungen und Medien-wirkungen. Insbesondere im Bereich derWissenskluftforschung ist er ein internatio-nal anerkannter Experte. E-MAIL [email protected]

Urs Dahinden (40) arbeitet als Oberassistentam IPMZ. Zu seinen Schwerpunkten in der Forschung und Lehre gehören die Wis-senschafts- und Risikokommunikation, diepolitische Kommunikation sowie die Unter-suchung von Neuen Informations- und Kom-munikationstechnologien. Seine Forschungs-ergebnisse hat er in zahlreichen Beiträgen ininternationalen Fachzeitschriften und Bü-chern veröffentlicht. E-MAIL [email protected]

PUBLIKATIONENBonfadelli, Heinz (Hrsg.) (1999): Gentechnologie imSpannungsfeld von Politik, Medien und Öffentlich-keit. Zürich, Institut für Publizistikwissenschaft undMedienforschung der Universität Zürich.Bonfadelli, Heinz, Dahinden, Urs (Hrsg.) (2002):Gentechnik in der öffentlichen Kontroverse: Eine so-zialwissenschaftliche Analyse. Zürich, Seismo.

WEBSITE www.lse.ac.uk/Depts/lses/

PROJEKT UND PERSONEN

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ZÜRICH AUF LATEINISCH

BÜCHER

Latein, eine tote Sprache? Dass dem nicht so ist, zeigt eine Publikation der Sprach- und Li-teraturwissenschaftler des MittellateinischenSeminars: Zwischen 2000 und 2002 ging eineArbeitsgruppe von Dozierenden und Studie-renden der Frage nach, wie Latein in denLebensäusserungen der Stadt Zürich über dieJahrhunderte hinweg wirksam war. Unter der Leitung von Peter Stotz, Professor fürLateinische Sprache und Literatur des Mittel-alters an der Universität Zürich, publizierte sie ihre Ergebnisse schliesslich im Buch«Turicensia Latina».

Selten trägt eine historische Spezialis-tengruppe, noch dazu des MittellateinischenSeminars, ihre Forschung an die breite Öffent-lichkeit. Wie kam es dazu? Das Buch erschienzum vierzigjährigen Jubiläum des Seminars. «Es soll daran erinnern, dass die lateinischeSprache nicht auf die ferne römische Antikebeschränkt ist, sondern all die Jahrhunderte hin-durch auch in unserer Gegend von Bedeutungwar», erklärt Sprach- und Literaturwissen-schafter Stotz. Texte sensibel zu erfassen undauthentisch zu vermitteln liegt ihm besondersam Herzen.

AUSGELASSENES UND OKKULTES

Das mittelalterliche Latein unterscheidet sichnicht nur formal, sondern auch in seinenAnwendungszwecken vom «klassischen» La-tein. Obwohl Deutsch seit dem 13. Jahrhundertzunehmend literaturfähig wurde, schrieben diedamaligen Autoren weiterhin in Latein. Dafürgibt es mehrere Gründe. Zum Beispiel lerntendie Schüler anhand lateinischer Texte schrei-ben. Wenn also geschrieben wurde, dann inLatein. Ausserdem musste ein Werk in einerbreitenwirksamen Sprache wie Latein abgefasstsein, um überregionale Wirkung zu erzielen.Zudem konnte sich mancher Autor in Deutsch

weniger gewählt ausdrücken als in Latein. Erstim 18. Jahrhundert setzte sich Deutsch durchund verdrängte das Latein in die Bereiche Kir-che, Schule und Wissenschaft.

Wie Latein das Denken und Handeln imgeistigen, politischen und sozialen LebenZürichs prägte, zeigen 41 ausgewählte Texteund deren deutsche Übersetzungen in «Turi-censia Latina». Die Themenvielfalt ist gross:Neben traditionell Zürcherischem wie «Zünfteund Ämter» oder «die Reformation» finden sichauch Zeugnisse aus den Anfängen der Univer-sität – etwa das erste Vorlesungsverzeichnis desSommersemesters 1833. Anekdotisch berichtetNikolaus Wynmann 1538 in «Colymbetes sive de arte natandi» über das ausgelassene Treibender Zürcher beim Schwimmen in der Limmat.Und der Ausschnitt aus Ludwig LavatersGespensterbuch von 1570 zeigt einen Totentanzauf dem Kirchhof des Grossmünsters als okkul-tes Phänomen.

STADT DER ZWEI TÜRME

Albrecht von Bonstetten widmet Zürich in sei-ner Beschreibung der Eidgenossenschaft von1479 ein Kapitel. Darin legt er zwei umstritteneHerleitungen des Stadtnamens Turegum vor.Der Name stamme entweder vom lateinischenduorum regum her und bedeute «zwei Könige»oder «zwei Königreiche» oder Turegum leite sichvon turres, lateinisch für «Türme», ab. Währendsolche Texte leicht verständlich und unterhalt-sam sind, gibt es auch komplexere Beiträge überjuristische oder theologische Themen, wie derAusschnitt zur Palmprozession aus dem «Liberordinarius» des Konrad von Mure (1260) – einerSammlung aller damals am Grossmünstergebräuchlichen liturgischen Handlungen.

Nicht nur Texte aus dem Mittelalter sindin «Turicensia latina» zu finden, auch das Alter-tum und besonders die Neuzeit sind vertreten.

Zum Beispiel mit Taddeo Dunos Bericht über die Vertreibung und Übersiedlung der Locarnernach Zürich. Dieser zeigt die nicht ganz unei-gennützige Flüchtlingspolitik im Zürich des17. Jahrhunderts: «Der Ertrag aber und der Nut-zen dieser handwerklichen Techniken und desHandels vergrössern nicht nur den Besitz derLocarner, sondern auch vieler Bürger und Bau-ern, da ja die Staatskasse unseres Gemeinwe-sens grosse Einkünfte aus dem Zoll empfängt,wenn Waren ein- und ausgeführt werden»,schrieb Duno. Im lateinischen Original klingtdas so: «Fructus autem et utilitas artium istarumet mercaturae non solum Locarnensium, sedcivium etiam multorum et rusticorum remamplificat, quia etiam magnos reipublicaeaerarium percipit reditus ex vectigalibus, dummerces importantur et exportantur.»

NICHT NUR FÜR LATEINFREAKS

Aus dem Buch spricht viel Enthusiasmus derMitwirkenden. Diese liefern nicht nur Über-setzungen, sondern auch Einleitungen undErläuterungen zu den Texten, was den Inhalteinfacher zugänglich macht. Wer sich dieerwähnten Örtlichkeiten besser vorstellenmöchte, nimmt die beigelegte Reproduktioneiner Planvedute von Jos Murer aus dem Jahr1576 zur Hand. Zürichs Vergangenheit wird soüberraschend lebendig.

«Turicensia Latina» ist nicht sprödeFachliteratur für Lateinfreaks, sondern einunterhaltsames Sammelsurium verschiedenerTexte über Zürich, ja eine Pflichtlektüre für alleFreunde der Stadt und ihrer Eigenheiten.Sprachwissenschaftler, Geschichtsinteressierte,Studentinnen und Studenten werden angeregt,selber zu forschen. Den Autoren gelingt es,selbst Nicht-Lateiner für das alte Zürich und dasFachgebiet Latein des Mittelalters zu begeistern.

Peter Stotz (Hg.): Turicensia Latina. Lateinische Textezur Geschichte Zürichs aus Altertum, Mittelalter undNeuzeit, NZZ Buchverlag 2003, 360 Seiten, 58 Franken

Bemerkenswertes und Unterhaltsames haben Mitglieder des MittellateinischenSeminars über Zürich zutage gefördert. «Turicensia latina» bietet einen lebendigenEinblick in die Vergangenheit der Stadt. Von Gabrielle Schaad

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RISKANTE CHEMIEWissenschaftsgeschichte ist en vogue. Von Dis-kursen ist die Rede oder von Denkstilen. VonRevolutionen oder der Gleichzeitigkeit des Un-gleichzeitigen. Meist steht «Konstruktion» ir-gendwo im Titel. Das ist oft spannend, weilscheinbar Festes sich verflüssigt. Es besteht aberdie Gefahr, dass die Untersuchungen etwas anBodenhaftung verlieren. Diese böte die Sozial-geschichte, aber die ist out. Arbeitergeschich-te sowieso. Die Zürcher Historikerin NicoleSchaad zeigt in ihrer Dissertation «ChemischeStoffe, giftige Körper», wie sich dies alles ver-binden liesse. Sie analysiert, wie an der Schnitt-stelle von Theorie und Praxis die Gesundheits-risiken in der Basler Chemie wahrgenommen,beurteilt und reguliert worden sind. Wie sichDeutungsmuster herauskristallisieren und wiediese die Arbeiterschutzmassnahmen prägten.Sie schildert zum Beispiel, wie die Hygieniker abden 1860er-Jahren die Arbeiter schützen woll-ten und dabei vor allem auf den «giftigen Arbei-terkörper» zielten. Daraus entstanden Wasch-paragraphen und Badezeiten, damit die Arbei-ter die Hygienenormen verinnerlichten undumsetzten. Erst nach dem Ersten Weltkrieg ver-loren individuelle hygienische Massnahmenzugunsten betrieblicher Verbesserungen anGewicht, womit die Chemiearbeiter nicht mehralleine für ihre Gesundheit verantwortlichwaren. Oder sie zeigt, wie die ArbeitsmedizinerEnde der 1920er-Jahre begannen, Reihenunter-suchungen durchzuführen.

Schaad erzählt die Geschichte derGesundheitsrisiken nicht nur aus der Sicht derFabrikärzte und Hygieniker, die tonnenweiseTexte hinterlassen haben. Sie wechselt auch zurSicht der Arbeiter, zur Verursachersicht derUnternehmer und zur Kontrollsicht der Sozial-politiker und Fabrikinspektoren. Dass dieArbeiter am wenigsten zu Wort kommen, liegtan den fehlenden Quellen. Markus Binder

Nicole Schaad: Chemische Stoffe, giftige Körper.Gesundheitsrisiken in der Basler Chemie, 1860–1930,Chronos Verlag 2003, 319 Seiten, 48 Franken

ESSAYISTISCHE AUSFLÜGESatte dreihundertvierundfünfzig Seiten Essaysumfasst die neuste Publikation «Theorie derWirklichkeit» von Wolfgang Marx. Das lässt auf-horchen. Ist der Essay doch die Königsformunter den deutenden Texten. Der Duden defi-niert ihn als «Abhandlung, die eine literarischeoder wissenschaftliche Frage in knapper undanspruchsvoller Form behandelt» – die Beto-nung liegt auf «anspruchsvoll». Entsprechendwird der Essayist im Duden als «Schriftsteller,der Essays verfasst» beschrieben. Nun ist Wolf-gang Marx in erster Linie Ordinarius für Allge-meine Psychologie an der Universität Zürich.Seiner Leidenschaft für die Literatur geht ersozusagen nebenamtlich nach.

Wie bei literarischen Werken üblich,verzichtet die Edition Sturzflüge, wo die «The-orie der Wirklichkeit» erschienen ist, auf eineEinleitung oder ein Nachwort. So muss sich dieLeserschaft direkt von den Titeln der einzelnenEssays verführen lassen. Und das gelingt meis-tens gut. «Die Abenteuer des Lichts» heisst viel-versprechend eine der Abhandlungen, was diePhantasie der Rezensentin (obwohl in Physikungenügend) bereits aufs Schönste anregt.Auch sehr vielschichtig ist «Der Liebe und desStromes Stösse»; bei «Vom Zählen der Tasse imSchrank» stösst sie allerdings auf ernsthaftemathematische Schwierigkeiten.

Also zurück zur Liebe mit den Strom-stössen. Immerhin verspricht dieser Essay imUntertitel, «100 Jahre Gefühlspsychologie in ei-ne Nussschale zu packen». Aufschlussreich wer-den psychologische Erkenntnisse zum Wesender Gefühle skizziert, kommentiert und, wie sichdas für ein Essay gehört, mit eigenen Gedankenangereichert. Marx’ Essays sind allgemein dannam besten, wenn sie nah bei der Psychologieund ihren Diskursen bleiben. Sogar Name-Dropping ohne genauere Angaben wird da ver-ziehen. Ein etwas sorgfältigeres Lektorat hättendie Texte jedoch verdient. Brigitte Blöchlinger

Wolfgang Marx: Theorie der Wirklichkeit. Essays, Edi-tion Sturzflüge 2004, 358 Seiten, 62 Franken

DER BERG DER SAURIERVom Steinhaufen zum Weltnaturerbe – so etwalässt sich die Geschichte des Monte San Giorgiokurz zusammenfassen. Seit dem Entscheid derUnesco-Kommission in Paris im letzten Jahrsteht der «Berg der Saurier» nun Seite an Seite aufeiner Liste von schützenswerten Naturschön-heiten wie dem Grand Canyon, dem Kilimand-scharo oder dem deutschen Messel, einer klas-sischen Fossilfundstelle. «Das hätte der gebür-tige Schaffhauser Bernhard Peyer als junger Pri-vatdozent der Universität Zürich kaum zu träu-men gewagt», schreibt Heinz Furrer vom palä-ontologischen Institut und Museum der Univer-sität Zürich. An einem schönen Herbsttag 1919fuhr der Paläontologe nach Meride, um amMonte San Giorgio nach Wirbeltierfossilien zusuchen. Bei einem Steinhaufen neben der Ölfa-brik Spinirolo wurde er fündig. Die ölhaltigenSchiefer wurden damals abgebaut und destilliert,um Rohstoffe für die pharmazeutische Industriezu gewinnen. In diesen Gesteinen hatten sichWirbeltierskelette ausgezeichnet konserviert.

Bis dahin war aber erst auf italienischerSeite gezielt danach gesucht worden. Nun be-gann Peyer auf Schweizer Seite mit systemati-schen Grabungen. Der «Berg der Saurier» istseither eng verknüpft mit der UniversitätZürich, wo auch viele der eindrücklichen undgut erhaltenen Saurier- und Fischskelette aus-gestellt sind. Die Fragestellungen haben sichaber im Laufe der Zeit verändert. Während esam Anfang vor allem darum ging, möglichstspektakuläre Saurierskelette zu finden, liegt derSchwerpunkt heute bei der Erforschung der da-maligen Umweltbedingungen. Genau 80 Jahrenach der ersten Publikation von Peyer be-schreibt der jetzige Ausgrabungsleiter, HeinzFurrer, knapp und konzentriert die Geschichteder Fundstelle. Fotos und Zeichnungen illustrie-ren die Ausführungen. Antoinette Schwab

Heinz Furrer: Der Monte San Giorgio im Südtessin –vom Berg der Saurier zur Fossil-Lagerstätte interna-tionaler Bedeutung, Naturforschende GesellschaftZürich 2004, 64 Seiten, 30 Abbildungen, 30 Franken

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POPPENWIMMERS WELT

LAKTALES ÖFFNUNGSRISIKO

«War früher vielleicht doch alles besser?»,frage ich mich, als ich wieder einmal verzwei-felt versuche, einer Milchtüte ihren Inhalt zuentlocken, während der Morgenkaffee kaltwird. Ich gehöre zwar nicht zur Generation, dieMilch noch in Kannen im Laden um die Eckeholte. Im Gegenteil, mir ist das selbstbedie-nungsoptimierte Tetra-Pack völlig vertraut.Doch die Art, an dessen Inhalt zu gelangen – eszu öffnen – ist über die Jahre nicht wirklich ein-facher geworden.

Die Techniker haben sich einiges ein-fallen lassen, um bereits den Weg zum verpack-ten Inhalt zum Ziel zu machen. Die ersten mir bekannten Versionen der Kartongeträn-keverpackungen mussten per Abknicken undAufreissen eines Zipfels an der Seite geöffnetwerden. Der vorgesehene Idealweg führteaber unweigerlich zum Herausspritzen derFlüssigkeit. Ich nahm die Schere zu Hilfe.

Daraufhin ersannen die findigen Ver-packungsingenieure eine neue Version. Nunbefand sich die zu öffnende Öffnung auf derOberseite, hygienisch verschlossen durch einePlastiklasche. Ein beherztes Eindrücken der-selben öffnete tatsächlich ein Loch. Gleichzei-tig tauchte der Finger zur ersten Kostprobe tiefin die Flüssigkeit ein – kein Fehler also, sondernein durchdachtes Feature!

Auch diese Version war immer noch zueinfach: Zurzeit besitzen Milchverpackungenan ihrer Oberseite ein rundes Plastiksiegel ver-sehen mit einer Plastikschlaufe. Das kraftvol-le Ziehen an Letzterer führt aber selten zumÖffnen, sondern meist zum Abreissen. Erst einmesserbewehrtes Absäbeln erschliesst denersehnten Inhalt.

Besonders perfid sind in Folie ver-packte Nahrungsmittel – Schinken etwa oderSpeck in Streifen. Mit roten Pfeilen wird dort auf

die Sollbruchstelle am Eck hingewiesen. Dieseunterscheidet sich aber durch nichts von denanderen drei Ecken – ausser eben dem rotenPfeil. Da bleibt auch der subtil eingesetzte Fin-gernagel chancenlos.

Der Gipfel der Innovation sind aller-dings Verpackungen aus dem Non-Food Be-reich: Kassetten-, Video- und CD-Hüllen in Folieverpackt. Nicht nur Pfeile, auch ein vertrauen-erweckendes «open here» führen sicher zurAbrisskante. Dort findet sich tatsächlich einloses Stück, das sich leicht fassen lässt und nachvorsichtigem Ziehen daran sofort abreisst.Auch hier erschliesst nur ein weiteres Vorgehenmit dem Messer das Objekt der Begierde.Wahrscheinlich liegt den Verpackungstechni-kern der Inhalt so am Herzen, dass sie ihneigentlich gar nicht hergeben wollen. Und soerfinden sie unermüdlich neue Hindernisse –getarnt als Öffnungshilfen.

Es gibt jedoch einen Felsen in derBrandung des Fortschritts: Reis, verpackt in einer durchsichtigen Beutelfolie. Diese lässt sich einfach, ohne speziellen Hinweis,oben aufreissen. Der so entstandene Rissweitet sich in Sekundenschnelle entlang derSeite aus. Der Reis quillt heraus und ergiesstsich dorthin, wo er einen Weg findet – meist aufden Küchenboden. Ein sicherer Wert in dieserunsteten Welt!

Thomas Poppenwimmer ist Redaktor des Online-Magazins unipublic der Universität Zürich(www.unipublic.unizh.ch).

ILLUSTRATION Nina MambourgUNIMAGAZIN 1/04

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