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Der Begriff der Verfremdung in der Science-Fiction-Theorie –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– QM 103/104 13 DER BEGRIFF DER VERFREMDUNG IN DER SCIENCE-FICTION-THEORIE. EIN KLÄRUNGSVERSUCH* –––––––––––––––––––––––– Simon Spiegel Der Terminus Verfremdung gehört zum festen Vokabular der SF-Forschung, seit Darko Suvin den Modus 1 in seiner Poetik der Science Fiction als „kognitive Ver- fremdung“ definiert hat. 2 Fast alle Auto- ren sind sich einig, dass SF die von ihr dargestellten Dinge in irgendeiner Weise verfremdet. Darüber hinaus herrscht aber wenig Einigkeit; wie so oft bei scheinbar allseits akzeptierten Begriffen versteht jeder etwas anderes unter Ver- fremdung. Dies ist auch nicht weiter er- staunlich, denn nicht nur Suvin verwen- det den Terminus widersprüchlich, Ver- fremdung ist auch ausserhalb der SF- Theorie ein alles andere als einheitliches Konzept. In diesem Artikel versuche ich, einige Aspekte des Verfremdungs- begriffes in Bezug auf die SF zu klären. * Der vorliegende Artikel ist eine kompri- mierte Fassung eines Kapitels meiner Disser- tation Die Konstitution des Wunderbaren. Zu einer Poetik des Science-Fiction-Films, die Ende des Jahres bei Schüren erscheinen wird. 1 Suvin selbst spricht nicht von Modus, son- dern von Gattung respektive Genre; zur Un- terscheidung Modus/Genre siehe Spiegel (2003). 2 Suvin benutzt den Terminus estrangement; je nach Autor und Kontext wird Verfremdung in der englischsprachigen Literatur auch mit alienation oder defamiliarization übersetzt, der Sprachgebrauch ist hier leider alles ande- re als einheitlich. Dazu werde ich zuerst den Begriff der Verfremdung generell diskutieren und dann genauer auf Suvins Verwendung eingehen. 3 Ich stütze mich dabei we- sentlich auf meine in Wege der Weltdar- stellung (2003) erarbeitete Definition der SF; Meine Überlegungen beziehen sich in erster Linie auf den SF-Film, doch lassen sie sich größtenteils auf die Literatur übertragen. Verfremdung Im deutschen Begriff „Verfremdung“ treffen sich zwei unterschiedliche Tradi- tionslinien, nämlich jene des ostranenie- Konzepts von Viktor Šklovskij und das Brechtsche Konzept des V-Effekts. Ob- wohl es zwischen diesen Ansätzen Über- schneidungen und Berührungspunkte gibt, sind sie nicht identisch. 4 Im deut- 3 Ich gehe hier nur auf den Begriff der Ver- fremdung, nicht aber auf den der Kognition ein, der bei Suvin ebenfalls eine zentrale Rolle spielt. Dieser Artikel ist deshalb auch nicht als umfassende Kritik des Suvin‘schen Ansatzes zu verstehen. 4 Brecht kam zwar mit den Konzepten der Russischen Formalisten, zu deren Kreis Šklovskij gehört hat, in Berührung, ein direk- ter Einfluss Šklovskijs auf Brecht ist aber nicht nachweisbar wohl aber waren Brechts Überlegungen zum Epischen Theater

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Der Begriff der Verfremdung in der Science-Fiction-Theorie––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––

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DER BEGRIFF DER VERFREMDUNGIN DER SCIENCE-FICTION-THEORIE.

EIN KLÄRUNGSVERSUCH*––––––––––––––––––––––––

Simon Spiegel

Der Terminus Verfremdung gehört zumfesten Vokabular der SF-Forschung, seitDarko Suvin den Modus1 in seiner Poetikder Science Fiction als „kognitive Ver-fremdung“ definiert hat.2 Fast alle Auto-ren sind sich einig, dass SF die von ihrdargestellten Dinge in irgendeiner Weiseverfremdet. Darüber hinaus herrschtaber wenig Einigkeit; wie so oft beischeinbar allseits akzeptierten Begriffenversteht jeder etwas anderes unter Ver-fremdung. Dies ist auch nicht weiter er-staunlich, denn nicht nur Suvin verwen-det den Terminus widersprüchlich, Ver-fremdung ist auch ausserhalb der SF-Theorie ein alles andere als einheitlichesKonzept. In diesem Artikel versuche ich,einige Aspekte des Verfremdungs-begriffes in Bezug auf die SF zu klären. * Der vorliegende Artikel ist eine kompri-mierte Fassung eines Kapitels meiner Disser-tation Die Konstitution des Wunderbaren. Zueiner Poetik des Science-Fiction-Films, die Endedes Jahres bei Schüren erscheinen wird.

1 Suvin selbst spricht nicht von Modus, son-dern von Gattung respektive Genre; zur Un-terscheidung Modus/Genre siehe Spiegel(2003).

2 Suvin benutzt den Terminus estrangement;je nach Autor und Kontext wird Verfremdungin der englischsprachigen Literatur auch mitalienation oder defamiliarization übersetzt,der Sprachgebrauch ist hier leider alles ande-re als einheitlich.

Dazu werde ich zuerst den Begriff derVerfremdung generell diskutieren unddann genauer auf Suvins Verwendungeingehen.3 Ich stütze mich dabei we-sentlich auf meine in Wege der Weltdar-stellung (2003) erarbeitete Definition derSF; Meine Überlegungen beziehen sich inerster Linie auf den SF-Film, doch lassensie sich größtenteils auf die Literaturübertragen.

Verfremdung

Im deutschen Begriff „Verfremdung“treffen sich zwei unterschiedliche Tradi-tionslinien, nämlich jene des ostranenie-Konzepts von Viktor Šklovskij und dasBrechtsche Konzept des V-Effekts. Ob-wohl es zwischen diesen Ansätzen Über-schneidungen und Berührungspunktegibt, sind sie nicht identisch.4 Im deut- 3 Ich gehe hier nur auf den Begriff der Ver-fremdung, nicht aber auf den der Kognitionein, der bei Suvin ebenfalls eine zentraleRolle spielt. Dieser Artikel ist deshalb auchnicht als umfassende Kritik des Suvin‘schenAnsatzes zu verstehen.

4 Brecht kam zwar mit den Konzepten derRussischen Formalisten, zu deren KreisŠklovskij gehört hat, in Berührung, ein direk-ter Einfluss Šklovskijs auf Brecht ist abernicht nachweisbar – wohl aber warenBrechts Überlegungen zum Epischen Theater

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schen Begriff Verfremdung werden diebeiden Konzepte aber meist unter-schiedslos vermischt; dies nicht zuletzt,weil die Rezeption der Russischen For-malisten im deutschen Sprachraum rela-tiv spät einsetzte und die ostranenie des-halb lange fast ausschliesslich vor demHintergrund der Brecht‘schen Theoriediskutiert wurde.

Das Konzept der Verfremdung nimmteinen prominenten Platz in zahlreichenästhetischen Theorien des 20. Jahrhun-derts ein: Für die Russischen Formalistenist es ebenso zentral wie für die Surreali-sten und viele postmoderne Autorenoder – im Bereich der Filmtheorie – fürden Neoformalismus. In der theoreti-schen Diskussion wurde Verfremdungdeshalb immer weiter gefasst und stän-dig auf neue Gebiete ausgeweitet, sodass sie heute als allgemeines kunst-theoretisches Prinzip erscheint. Eine aus-führlichere Diskussion dieses Begriffsfel-des würde den Rahmen dieses Artikelssprengen und wäre auch nicht sehr hilf-reich,5 hier muss es vielmehr darum ge-hen, den Begriff der Verfremdung mög-lichst eng zu fassen, so dass er sich alsanalytisches Instrument einsetzen lässt.

Das Konzept der ostranenie – wörtlich:„Seltsammachen“ (Lachmann 1970: 228)– wurde von Šklovskij 1916 in dem Auf-satz Kunst als Verfahren eingeführt(Sklovskij 1969). Šklovskij bezeichnetdamit das Aufbrechen etablierter Seh-gewohnheiten: Im Alltag nehmen wir diemeisten Gegenstände nur oberflächlichwahr, sehen sie aber eigentlich nichtmehr als das, was sie wirklich sind. Da-mit wir die Dinge wieder sehen können, für den späten Šklovskijs von Bedeutung(Lachmann 1970: 246–248).

5 Siehe dazu auch die Beiträge in Helmers(1984b).

müssen wir unsere automatisierte ‚blin-de’ Wahrnehmung überwinden, und diesgelingt uns nur, wenn uns die Gegen-stände zuerst ‚fremd gemacht’ werden.Dieser Vorgang, das ‚Fremdmachen desBekannten’, ist gemäss Šklovskij die we-sentliche Aufgabe von Kunst.

Wie Renate Lachmann (Lachmann1970) und Frank Kessler (Kessler 1996)beide anmerken, ist ostranenie schon beiŠklovskij ein mehrschichtiger, schwer zufixierender Begriff, der Vorgänge auf un-terschiedlichen Ebenen beschreibt. Soversteht er ostranenie zum einen als Un-terscheidungskriterium zwischen Kunstund Nicht-Kunst. „Diese Differenzierungfindet allerdings zunächst in der Wahr-nehmung statt, ist also eher der Rezepti-on zuzuordnen“ (Kessler 1996: 54).Gleichzeitig beschreibt Šklovskij ostrane-nie aber auch spezifische formale Verfah-ren und siedelt sie somit auch als stilisti-sches Mittel innerhalb eines Textes an –zum Beispiel durch neue Sprachbilderoder ungewohnte Erzählstrategien. Eindritter Aspekt ist die Rolle von ostraneniein der Kunstgeschichte: Jeder noch so re-volutionäre Stil verliert einmal seinenNeuheitscharakter, wird kanonisiert und‚normal’. Durch bewusstes Abrücken vonder etablierten Norm werden erstarrtekünstlerische Verfahren ihrerseits wie-der fremd gemacht und ent-auto-matisiert. Kunstgeschichte präsentiertsich demnach als eine ständige Abfolgevon Erstarrung und Ent-Automati-sierung. Wie Kessler schreibt, ist ostra-nenie somit bereits bei Šklovskij ein Kon-zept, das unterschiedliche Phänomenebenennt:

Zwar geht es immer um dasselbe Prin-zip – den abweichenden Charakter ei-ner Form in Hinsicht auf eine gegebeneNorm –, doch es tritt auf verschiedenenEbenen in Erscheinung. Gerade weil es

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so vielseitig ist, einmal als ästhetischesVerfahren innerhalb eines Textes auf-tritt, dann als allgemeines Gesetz derhistorischen Formentwicklung, schließ-lich als Mittel, um Kunst und Nicht-Kunst voneinander zu unterscheiden,besteht die Gefahr, dass es zu einer ArtPassepartout-Begriff wird (Kessler 1996:56).

Bertolt Brechts Definition von Verfrem-dung entspricht zwar weitgehendŠklovskijs ostranenie – „Eine verfrem-dende Abbildung ist eine solche, die denGegenstand zwar erkennen, ihn abergleichzeitig fremd erscheinen lässt“(Brecht 1964: 32) –, bei ihm erhält derBegriff aber zusätzlich eine dezidiert di-daktische und politische Note und wirdklar auf die Rezeption bezogen: Der Ver-fremdungseffekt, V-Effekt, verhindert ei-ne Einfühlung des Publikums. In BrechtsEpischem Theater darf der Zuschauernicht in das Dargestellte ‚eintauchen’und es als ‚natürlich gegeben’ betrach-ten, vielmehr soll das Geschehen auf derBühne – und analog dazu die gesell-schaftlichen Verhältnisse – als etwas vonMenschen Gemachtes sichtbar werden.Im Sinne des dialektischen Materialis-mus werden auf diese Weise „gesell-schaftliche Zustände als Prozesse“(Brecht 1964: 34) erkennbar; V-Effektedienen dazu, den kritischen Blick des Pu-blikums zu schärfen und es für gesell-schaftlich-politische Vorgänge zu sensi-bilisieren. Anders als Šklovskij verstehtBrecht Verfremdung auch weniger alsallgemeines Kunst-Prinzip, sondernmehr als einen gezielten Effekt, ein Un-terschied, auf den auch Peter Brookerhinweist:

A distinction should be made, however,between this [Šklovskij’s] view of artand strategies employed by Brecht andother modernist and avant-garde artists

of the early decades of the century. Inthis art […] the aesthetic and perceptu-al effects identified by Shklovsky wereradicalized, both in the sense that thelanguages and forms employed weremore conspicuously ‚estranged’ than inprevious art, and in the general intenti-on to exert a profound psychological orideological effect upon its readers oraudiences (Brooker 2003: 90).

Ist Verfremdung bei Šklovskij primär einformales Phänomen auf der Ebene desTextes,6 hat es bei Brecht auch eine me-tafiktionale Dimension: Nicht nur derdargestellte Gegenstand soll fremd ge-macht werden, sondern auch die fiktio-nale Illusion an sich soll durchbrochenwerden. Bei beiden Autoren ist Verfrem-dung aber ein im weitesten Sinne stili-stisches Verfahren, das die Art und Wei-se beschreibt, wie bestimmte fiktionaleInhalte vermittelt werden; Šklovskijspricht unter anderem von ungewohn-ten Sprachbildern und Erzählstrategien,Brecht in Bezug auf das Theater von eherhandwerklich-technischen Elementenwie einer distanzierten Spielweise undSpruchbändern, die alle das Ziel haben,die diegetisch-realistische Illusion zu un-terlaufen.

Suvin, der selbst auch Deutsch spricht,geht nun zwar – ohne die beiden Tradi-tionslinien in irgendeiner Form zu un-terscheiden – explizit von Šklovskij undBrecht aus (Suvin 1979: 26),7 führt den

6 Von Šklovskijs Verwendung der ostraneniezur Definition von Kunst überhaupt möchteich hier absehen, denn wenn es sich bei derostranenie um ein Merkmal jeder Formkünstlerischen Ausdrucks handelt, wird esäusserst problematisch, damit gleichzeitigauch ein isolierbares Phänomen auf der Ebe-ne des Textes zu bezeichnen.

7 Ein weiterer Autor, dessen Werk für Suvin

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Begriff der Verfremdung aber in ein neu-es Gebiet ein, indem er ihn als Gat-tungsmerkmal versteht: „In der SF ist dieHaltung der Verfremdung – die vonBrecht anders verwendet wird, nämlichinnerhalb eines noch immer vorwiegend‚realistischen’ Parabelkontextes – zumformalen Rahmen des Genres geworden(Suvin 1979: 26).

Was bei Šklovskij und Brecht noch einstilistisches Mittel ist, das an bestimm-ten Stellen eines an sich realitätskompa-tiblen Textes auftreten kann, ist gemässSuvin in den verfremdeten Gattungen –zu denen er neben der SF auch Märchenund Mythos zählt – zum formalen Gat-tungsrahmen geworden. Suvin verwik-kelt sich an dieser Stelle gleich in mehre-re Widersprüche: Eine wesentliche Er-kenntnis von Šklovskij und den Russi-schen Formalisten ist gerade, dass sichauch vorderhand ‚realistische’ Textefortlaufend Verfremdungseffekte bedie-nen (Parrinder 2001: 37), die Gegenüber-stellung von verfremdeten und – in Su-vins Terminologie – naturalistischen

einen wichtigen Ausgangspunkt darstellt. DieUnterscheidung von Verfremdung und Ent-fremdung übernimmt Suvin von Bloch, wobeier Verfremdung mit estrangement und Ent-fremdung mit alienation übersetzt (siehe da-zu die von Suvin besorgte Übersetzung eineskurzen Blochschen Textes: Bloch 1970). WieBrecht steht auch Bloch in der Tradition dasdialektischen Materialismus, was für den er-klärten Marxisten Suvin von großer Bedeu-tung ist. Für unsere Zwecke ist Blochs Ansatzallerdings nicht sehr hilfreich, denn er ver-steht Verfremdung sehr allgemein als Effekt:„ihr genuines Feld ist und bleibt in der Zurü-stung eines epatierenden Fernspiegels überallzu Vertrautem“ (Bloch 1962: 89); konkreteWirkungsweisen und Mechanismen der Ver-fremdung in Texten oder Filmen untersuchtBloch nicht.

Gattungen, ist somit aus formalistischerSicht äusserst fragwürdig.8 Der Wider-spruch zwischen der formalistischenostranenie und Suvins Ansatz entsteht,weil Suvin in seinem Verfremdungskon-zept zwei unterschiedliche Aspekte ver-mischt, nämlich die Beschaffenheit derfiktionalen Welt – Suvins verfremdeteGattungen sind nichts anderes als wun-derbare, ‚nicht-realistische’ Gattungen9 –und die stilistischen Mittel, derer sichein Text bedient; Verfremdung be-schreibt für Suvin somit sowohl formaleals auch fiktionale Aspekte. Suvin sprichtzwar vom formalen Rahmen eines Gen-res und zitiert auch die hier bereits an-geführte brechtsche Verfremdungsdefi-nition, bei ihm ist Verfremdung jedocheindeutig kein rein formales Phänomen.Folgt man dem Brecht‘schen Ansatz –„Eine verfremdende Abbildung ist einesolche, die den Gegenstand zwar erken-

8 Suvin schreibt zur Verfremdung, dass„[d]ieses Konzept […] zuerst anhand nichtna-turalistischer Texte von den russischen For-malisten entwickelt [wurde] (Šklovskijs‚ostranenie‘, 1917)“ (Suvin 1979: 25 f.). Zu-mindest in Bezug auf den zitierten Šklovskij-Text stimmt das aber nicht: Šklovskij geht beiseiner Darlegung der ostranenie keineswegsnur von wunderbaren Texten aus. Vielmehrentwickelt er den Begriff anhand von TextenLeo Tolstoijs (Sklovskij 1969: 13–23), der ge-meinhin als Realist gilt. Zwar führt Šklovskijauch Beispiele aus Märchen an, er betontaber immer wieder, dass die ostranenie einMerkmal dichterischer Sprache überhaupt istund keineswegs nur dem Märchen vorbehal-ten ist. Es ist unklar, wie Suvin dazu kommt,verfremdet als nicht-realitätskompatibel zuverstehen, Šklovskijs Text legt diese Verbin-dung auf jeden Fall nicht nahe.

9 Zur Unterscheidung von realitätskompa-tiblen und wunderbaren Welten siehe Spiegel(2003).

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nen, ihn aber gleichzeitig fremd erschei-nen lässt“ (Brecht 1964: 32) –, dannwürde daraus folgen, dass Märchen, Fan-tasy und SF ihre wunderbaren Elementepermanent fremd machen. Dies trifftfreilich nicht zu; im Märchen treten zwarnicht-realitätskompatible Figuren auf,diese sind aber nicht ‚fremd’ in dem Sin-ne, dass sie den Rezipienten überraschenund das Gelesene oder Gesehene ent-automatisieren würden. Verfremdungbesteht sowohl bei Šklovskij als auch beiBrecht darin, dass etwas Alltäglichesseiner Gewöhnlichkeit enthoben wird.Eine Fee oder ein sprechendes Tier imMärchen sind aber keine alltäglichen Ge-genstände, besitzen keinen Referenten inder empirischen Realität und könnendeshalb schwerlich eine verfremdete Ab-bildung eines existierenden Gegenstan-des sein. Gerade das klassische Volks-märchen ist eine der typisiertesten, inŠklovskijs Sinne kanonisiertesten Gat-tungen.10

So unterschiedlich und vieldeutig Ver-fremdung bei Šklovskij und Brecht auchangelegt ist, der Begriff benennt bei bei-den primär rhetorische Verfahren, „dieSpezifik jeder poetischen Sprache in ih-rer Abweichung von der pragmatischenSprache des Alltags“ (Helmers 1984a: 26f.). Suvin dagegen bezeichnet damit –wenn er „naturalistische und verfremde-te Gattungen“ unterscheidet – das Ver-

10 Natürlich ließe sich argumentieren, dassein sprechendes Tier die verfremdete Dar-stellung eines realen Tiers ist, aber auch da-mit ließe man die Konventionalität einesMärchens außer Acht (ganz abgesehen da-von, dass es sich auch hier weniger um einenformalen als einen fiktionalen Aspekt han-delt). In einem Märchen sind sprechende Tie-re eben gerade nichts Ungewöhnliches undbewirken deshalb auch keinen V-Effekt.

hältnis der fiktionalen Welt zur empiri-schen Realität. Dies ist umso wider-sprüchlicher, als Suvin zwar davonspricht, dass Verfremdung den „forma-len Rahmen“ von SF, Märchen, Mythosetc. bildet, er damit aber offensichtlichkeine formale Kategorie, sondern die Be-schaffenheit, die Ontologie der fiktiona-len Welt bezeichnet.

In „Spiegel“ (2003) habe ich SF als dastechnizistische Wunderbare definiert, inihr erhalten wunderbare, unmöglicheDinge – im Gegensatz zum Märchen oderzur Fantasy — ein (pseudo-)realistischesGewand. Ein Beamer ist nicht ‚wahr-scheinlicher’ oder plausibler als einezaubernde Fee, da er sich aber einertechnisch-wissenschaftlichen Ikonographiebedient, erscheint er mit unserer Weltkompatibel. Versteht man Verfremdungnun als rhetorisch-stilistisches Verfah-ren, so ergibt sich ein offensichtlicherWiderspruch zwischen Suvins Feststel-lung, Verfremdung bilde den formalenRahmen der SF, und meiner Definition,die ja gerade davon ausgeht, dass diespezifische Rhetorik der SF Realitäts-kompatibilität suggerieren soll. Die for-male Grundoperation der SF ist das Ge-genteil dessen, was Šklovskij und Brechtunter Verfremdung verstehen: Auf for-maler Ebene macht die SF primär nichtdas Vertraute fremd, sondern das Fremdevertraut.

Die Feststellung, dass SF auf formalerEbene nicht verfremdet, bedeutet nunaber nicht, dass Verfremdung der SF völ-lig fremd wäre, denn von der SF gehtdurchaus eine der Verfremdung zumin-dest analoge Wirkung aus: Wenn in ei-ner SF-Erzählung Menschen zu unbe-kannten Planeten fliegen oder durch dieZeit reisen, wenn neuartige Erfindungendie bekannte Welt umkrempeln, Monsterdie Erde verwüsten, kurz: Wenn in einer

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vordergründig realitätskompatiblen Weltwunderbare Elemente auftreten, dannführt der Zusammenprall der beidenRealitätssysteme zu einer verfremden-den Wirkung: Das Bekannte erscheint ineinem neuen Umfeld, wird rekontextua-lisiert.

Als Beispiel hierfür möchte ich eineSzene aus SOYLENT GREEN (1973) von Ri-chard Fleischer analysieren, die auch Vi-vian Sobchack in ihrem StandardwerkScreening Space anführt (Sobchack 1987:131 f.): Im New York des Jahres 2022 istÜberbevölkerung zum Hauptproblemgeworden; die Stadt platzt aus allenNähten. Die Menschen ernähren sich vonsynthetischen Energieriegeln, natürlicheNahrung ist ein Luxusgut geworden. DieHauptfigur Thorn (Charlton Heston)muss in einem Mordfall ermitteln undkommt bei dieser Gelegenheit in ein Lu-xusappartement. Mit fast schon an Ek-stase grenzender Begeisterung dreht erden Wasserhahn auf, lässt sich das Was-ser über die Hände fliessen und riecht ander Seife. „[He] is so entranced with thetaken-for-granted sensual pleasures of amiddle class bathroom that it is impos-sible to look at the bathroom in the filmas a familiar place“ (Sobchack 1987: 132).Ein prosaischer und für den Zuschaueralles andere als ungewöhnlicher Ortwird in SOYLENT GREEN zur Quelle derFreude verfremdet; dem Zuschauer wirdauf diese Weise bewusst gemacht, dassauch sein ganz alltäglicher Luxus kei-neswegs selbstverständlich ist.

Dies ist wohl die Form von Verfrem-dung, die Suvin im Auge hat, allerdingsberuht sie auf einem anderen Prinzip alsŠklovskijs ostranenie, denn das Bade-zimmer in SOYLENT GREEN wird primärnicht formal verfremdet. Zwar fliesst dasWasser in Zeitlupe und verharrt die Ka-mera ungewöhnlich lange auf unspekta-

kulären Gegenständen wie einer Seife,doch ist es in erster Linie Thorns Verhal-ten, das die Verfremdungswirkung er-zielt. Ohne seine überschwänglicheFreude würde die Szene kaum ihre Wir-kung entfalten. Formale Verfremdungs-techniken wie das ausführliche Zeigender Seife unterstützen dies zwar noch,für sich allein würden sie aber nichtgleich irritierend wirken.11 In SOYLENT

GREEN beruht die Verfremdung wesent-lich auf dem Verhalten der Figuren undist somit auf der Ebene der Diegese, derFiktion, anzusiedeln. Die Verfremdungentsteht in diesem Fall, weil sich Thornin einem scheinbar realistischen Rahmenungewöhnlich verhält.

Wenn Suvin von Verfremdung spricht,meint er in den meisten Fällen nichtostranenie, sondern diegetische Verfrem-dung, das Zusammenprallen wider-sprüchlicher Elemente auf der Hand-lungsebene. Dies kann ungewöhnlichesVerhalten der Figuren sein wie inSOYLENT GREEN, aber auch ungewohnte,‚unmögliche’ Bilder wie zum Beispiel diein der Wüste gestrandeten Schiffe inCLOSE ENCOUNTERS OF THE THIRD KIND (1977)(Abb. 1). Auch in diesem Fall ist die Ver-fremdung nicht das Ergebnis eines for-malen Verfahrens, sondern resultiert ausder Tatsache, dass Schiffe an einem Ortsind, an dem sie nicht sein können, unddass diese unmögliche Begebenheit rea-listisch dargestellt wird.

Verfremdung bildet also, im Gegen-

11 In MAD MAX BEYOND THUNDERDOME (1985)gibt es eine analoge Szene: Max (Mel Gibson)werden frisches Wasser und Früchte angebo-ten, und ohne dass diese Nahrungsmittelformal besonders auffallend inszeniert wer-den, wird aus dem Verhalten der Figurendeutlich, dass es sich hierbei um Kostbarkei-ten handelt.

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satz zu Suvins Ausführungen, keines-wegs den formalen Rahmen der SF. Tat-sächlich widerspricht sich Suvin an eini-gen Stellen auch selbst und stellt – ent-gegen der Behauptung, dass Verfrem-dung den formalen Rahmen der SF bilde– fest, dass die für die SF typischen „fak-tischen Darstellungen von Fiktionen […]als Konfrontation eines gegebenen nor-mativen Systems […] mit einem Stand-punkt oder Blick [wirken], der ein neuesSystem von Normen impliziert“ (Suvin1979: 25, meine Hervorhebung). Für dieSF ist somit auch in Suvins Augen we-sentlich, dass sie ihre wunderbaren Ele-mente als realitätskompatibel darstellt –„die für die SF typischen Darstellungenvon Fiktionen“ (Suvin 1979: 25). Die Ver-fremdungswirkung der SF beruht somitgenau auf dem Gegenteil der ostranenie,nämlich auf der Naturalisierung desWunderbaren.12

Suvin dehnt das Verfremdungskon-zept, das schon bei Šklovskij vieldeutigangelegt ist, also noch weiter aus undzwängt alle Aspekte, die ihm für die SFzentral erscheinen – fiktionale, gat-tungsmäßige, stilistisch-formale und re-zeptive – in einen Begriff hinein;13 er be-nennt damit sechs unterschiedlicheAspekte:

12 Ich verstehe Naturalisierung als rein for-male Operation und nicht im ideologiekriti-schen Sinne von Roland Barthes (Barthes1964).

13 Gleichzeitig gelingt ihm damit das Kunst-stück, eine Kontinuität zwischen Brecht –welcher ihm als Fürsprecher eines „Theaterdes wissenschaftlichen Zeitalters“ natürlichbesonders nahe steht – und der SF zu postu-lieren. Diese Verbindung ist nun aber defini-tiv eine Konstruktion Suvins und lässt sichempirisch nicht stützen.

• Die Beschaffenheit fiktionaler Welten,ihr Verhältnis zur empirischen Reali-tät.

• Daraus abgeleitet die Gattungszuge-hörigkeit des Filmes/Textes.

• Ein formales Verfahren zur Rechtfer-tigung des Novums, die Naturalisie-rung des Wunderbaren.

• Ein gegenläufiges formales Verfahren,nämlich das Fremdmachen des Bekann-ten.

• Ein dazu analoges Verfahren auf fik-tionaler Ebene, das Fremdmachen desBekannten auf der Handlungsebene.

• Beide Verfahren streben die gleiche –oder zumindest eine analoge – Wir-kung seitens des Rezipienten an, näm-lich die Ent-Automatisierung der Wahr-nehmung, das Neu- und Wiedererken-nen des Bekannten.

Abb. 1: Close Encounters of the Third Kind

Es ist unumgänglich, Suvins vieldeutigenVerfremdungsbegriff einzuschränkenund seine verschiedenen Aspekte klar zuunterscheiden. Dabei kann als erstes aufden Begriff der verfremdeten Gattungenverzichtet werden: Suvin benennt damitwunderbare Gattungen/Modi, seine No-menklatur sorgt aber nur für Verwir-rung, ohne einen echten Vorteil zu brin-gen. Des weiteren sind die formalen undfiktionalen Verfahren, mittels denen sicheine Verfremdungswirkung erzielenlässt, zu unterscheiden: Für das Norma-

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lisieren des Fremden verwende ich Ter-minus der Naturalisierung, das formal-rhetorische Fremdmachen des Bekann-ten im Sinne Šklovskijs werde ich imWeiteren als ostranenie bezeichnen. Fürdie Verfremdung auf der Ebene derHandlung führe ich den Begriff der diege-tischen Verfremdung ein. Den rezeptivenAspekt, also die Wirkung auf den Zu-schauer, werde ich als Verfremdung oderVerfremdungswirkung bezeichnen. DieseVerfremdungswirkung kann in der SFgrundsätzlich auf zwei Arten erzieltwerden, mittels ostranenie oder diegeti-scher Verfremdung.

Suvin trennt in seiner Definition derSF nicht klar zwischen fiktionaler, stili-stisch-formaler und rezeptiver Aspekte.Solange diese verschiedenen Ebenenaber nicht unterschieden werden, kannauch die Frage, ob und wie die SF ver-fremdet, nicht klar beantwortet werden.So reicht es eben nicht, Verfremdung als„a rhetorical effect created by the use ofspecific stylistic devices“ (Mather 2002:2002) zu definieren, wie es beispielswei-se Philippe Mather tut. Dies zeigt sich inzahlreichen Beispielen, die Mather an-führt: Die verlassenen Grossstädte inOMEGA MAN (1961) oder ON THE BEACH

(1959) wirken nicht deshalb fremd undunheimlich, weil ihre Bewohner mittels„specific stylistic devices“ unsichtbargemacht wurden, sondern weil sie tat-sächlich menschenleer sind. Ob die Be-völkerung gestorben oder – wie in THE

DAY OF THE TRIFFIDS (1963) – erblindet ist,die Verfremdung vollzieht sich immerauf der Ebene der Handlung; auch dieseltsame Schönheit des eingefrorenenManhattans in THE DAY AFTER TOMORROW

(2004) ist nicht Ergebnis einer formalenOperation, sondern Folge eines Ereignis-ses in der Handlungswelt.

Naturalisierung und ostranenie

Im Folgenden werde ich auf das Verhält-nis von Naturalisierung, ostranenie unddiegetischer Verfremdung eingehen undihre Funktionen im SF-Film ausführlicherdiskutieren. Dazu muss zuerst dasWechselspiel von Naturalisierung undostranenie genauer betrachtet werden.

Die formale Grundoperation der SF istdie Naturalisierung, sie ist wie die ostra-nenie auf formaler Ebene angesiedelt;anders die diegetische Verfremdung, dieein fiktionales Phänomen auf Hand-lungsebene darstellt. Diegetische Ver-fremdung und Naturalisierung hängenaber eng zusammen; erst wenn das No-vum naturalisiert ist, kann sich die Ver-fremdungswirkung auf diegetischerEbene entfalten. Die diegetische Ver-fremdung ist somit logisch auf einer spä-teren Stufe anzusiedeln als die Naturali-sierung (und die ostranenie): Die SF stelltzuerst das Novum als realitätskompati-bel dar, diese Naturalisierungsoperationist primär, und eine allfällige Verfrem-dungswirkung erfolgt erst, wenn sichder Rezipient der Rekontextualisierungbewusst wird; im Gegensatz dazu ist dieostranenie eine rein formale Angelegen-heit.

Ich werde das Zusammenspiel dieserMechanismen im Folgenden am Beispieldes in der SF beliebten Motivs der Grö-ßenveränderung untersuchen: In THE

INCREDIBLE SHRINKING MAN (1957) undAMAZING COLOSSAL MAN (1957) verändertsich der Körper des Protagonisten nacheiner radioaktiven Kontamination je-weils: Im einen Film schrumpft er un-aufhörlich, im anderen wird er immergrößer. In beiden Fällen führt die drama-tische Veränderung der Körpergrössedazu, dass vertraute Alltagsgegenstände

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in völlig neuem Licht erscheinen. Fürden Däumling im SHRINKING MAN wird eingewöhnliches Wohnhaus zur lebensge-fährlichen Falle, eine Katze und spätereine Spinne erweisen sich als tödlicheBedrohung. Das einstige Heim ist unbe-wohnbar und feindlich, ein Puppenhauswird zum einzigen sicheren Ort. Analogverhält es sich mit dem Riesen inAMAZING COLOSSAL MAN: Schon bald passenihm keine Kleider mehr, kann er sich nurnotdürftig in Zeltplanen wickeln. Fässerwerden zu Trinkbechern und Zärtlichkei-ten zum Gesundheitsrisiko für seine Ge-liebte.

In beiden Filmen haben wir es auf ei-ner ersten Ebene nicht mit ostranenie zutun: Die veränderten Größendimensio-nen sind kein rein formaler Kunstgriff,kein – im Sinne Šklovskijs – rhetorischesVerfahren, das Vertrautes fremd macht.Wenn Tolstoij – um ein BeispielŠklovskijs anzuführen – das Auspeit-schen eines Kindes oder eine napoleoni-sche Schlacht auf ungewöhnliche Weiseschildert, macht er zwar den Gegenstandder Beschreibung fremd, verändert aberden Gegenstand selbst nicht. EineSchlacht bleibt auch dann eine Schlacht,wenn sie auf unkonventionelle Weise inSzene gesetzt wird. Der gigantischeMann in AMAZING COLOSSAL MAN dagegenist kein auf ungewöhnliche Weise darge-stellter ‚normaler’ Mensch, sondern tat-sächlich ein Riese. Die Verfremdung er-folgt auf diegetischer Ebene, und derformale Kunstgriff besteht bei den bei-den Filmen darin, dass derSchrumpfungs- beziehungsweise Wach-stumsprozess ‚realistisch’ dargestelltwird.

Die Tatsache, dass SF in erster Linieauf der Naturalisierung des Wunderba-ren beruht, heisst nicht, dass ihr dieostranenie völlig fremd wäre. In den bei-

den Filmen werden zahlreiche Alltags-gegenstände fremd gemacht: InSHRINKING MAN erscheinen Menschen undMöbel riesig groß, eine Katze wird zumgigantischen Monster, im Kampf gegeneine Riesenspinne wird ein Nagel zurLanze umfunktioniert; gewöhnliche Ge-genstände erscheinen plötzlich in einemneuen Licht. Scheinbar lauter Paradebei-spiele für ostranenie, doch unterscheidetsich SHRINKING MAN in einem wesentli-chen Punkt von Šklovskijs Beispielen: DieGegenstände in SHRINKING MAN wirkennur deshalb fremd, weil der Film sie ausder Perspektive des Protagonisten zeigt,weil er seine Erzählperspektive auf die-sen fokalisiert.14 Der ungewöhnlicheBlickwinkel ist jener der Hauptfigur undnicht der eines mehr oder weniger neu-tralen Erzählers oder einer anderen,nicht-wunderbaren Figur. Wäre der Filmnicht mehrheitlich auf den Protagonistenfokalisiert, sondern zum Beispiel auf des-sen Verlobte, wären keine riesenhaftenMöbel und keine gigantische Katze zusehen, sondern nur ein winzig kleinerMann in gewohnter häuslicher Umge-bung.

Die ungewöhnliche Perspektive kannnur deshalb eingenommen werden, weilder Film zuvor eine Naturalisierung vor-genommen hat, weil wir als Zuschauerdas Novum – den schrumpfenden Men-

14 Zum Konzept der Fokalisierung siehe Ge-nette (1994), 134–138; Anders als in der Lite-ratur müssen beim Film zwei Formen der in-neren Fokalisierung unterschieden werden: Istdie Narration auf eine Figur fokalisiert, dannfolgt die Kamera dieser lediglich. Bei der Fo-kalisierung durch einen Protagonisten sehenwir, was dieser sieht; dies kann unter ande-rem in Form von subjektiven Einstellungenund Traum- oder Erinnerungssequenzen ge-schehen (Vanoye 1989: 144–152).

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schen – akzeptiert haben; der Film voll-zieht also eine Fokalisierung aufund/oder durch das naturalisierte No-vum. Diese Fokalisierung lässt sich alsTeil der gesamten rhetorischen Strategieder SF verstehen: Der Film ‚tut so’, als seidas dargestellte Novum normal undplausibel, und er tut dies nicht nur aufder ‚oberflächlichen’ Ebene des Ausse-hens, sondern auch auf der Stufe derNarration. Die Narration akzeptiert dasNovum ebenfalls, sie nimmt dessen Per-spektive ein und vollzieht auf diese Wei-se eine narrative Naturalisierung.

Das Resultat dieser narrativen Natu-ralisierung ist gewissermassen eine‚ostranenie zweiter Ordnung’, die ihreWirkung erst nach erfolgreicher Natura-lisierung entfalten kann. Diese Form vonostranenie, die aus der diegetischen folgt,scheint mir in der SF weitaus häufiger zusein als ‚normale’, primäre ostranenie.Auch bei dem von Sobchack und Freed-man angeführten Beispiel von SOYLENT

GREEN, wenn fließendes Wasser, ein Ap-fel oder ein Stück Fleisch ungewöhnlichlange zu sehen sind und so ihrer Ge-wöhnlichkeit enthoben werden, habenwir es mit ostranenie zweiter Ordnung zutun: Die Erzählung ist auf den Protagoni-sten fokalisiert, und die Kamera stauntgemeinsam mit ihm über das Wunderdes fließenden Wassers.

Das Zusammenspiel von Naturalisie-rung und ostranenie kann unterschiedli-che Formen annehmen, das äußersteMass an narrativer Naturalisierung liegtvor, wenn der Film die subjektive Sichteines Außerirdischen zeigt. Mather(2002) führt hierfür die BeispieleWESTWORLD (1973), ROBOCOP (1987) undPREDATOR (1987) an; daneben gibt es nochzahlreiche weitere, zum Beispiel THE

TERMINATOR (1989), ALIEN 3 (1992) und na-türlich 2001: A SPACE ODYSSEY (1965–68),

in dem wir die Geschehnisse immer wie-der aus HALs Perspektive sehen. Auchdie Facetten-Sicht mutierter Insekten istbeliebt: THE FLY (1958), PHASE IV (1974). Indiesen Beispielen wird ganz durch dasNovum fokalisiert, wir sehen regelrechtmit fremden Augen.

Primäre ostranenie, die nicht auf einemnaturalisierten Novum beruht, ist in derSF dagegen viel seltener und läuft demModus bis zu einem gewissen Grad auchzuwider: Wenn das Novum nicht natu-ralisiert, sondern fremd gemacht wird,wird die Kernfunktion der SF aufgeho-ben: das Plausibelmachen des Wunder-baren. Dies ist ein Grund, warum SF imAllgemeinen einen wenig experimentel-len, klassischen Erzählmodus bevorzugt.Die meisten nicht-klassischen Erzähl-formen zielen in ihrer Wirkung – wieŠklovskij ja auch ausführt – auf Verfrem-dung ab; damit treten sie mit der natu-ralisierenden Tendenz der SF in Konflikt,das Ergebnis wäre eine ‚verfremdeteVerfremdung’.

Primäre ostranenie ist im SF-Film sel-ten in Reinform anzutreffen, sondern un-terstützt meist die diegetische Verfrem-dung: PISMA MYORTVOGO CHELOVEKA/BRIEFE

EINES TOTEN (1986) entwirft eine düsterePost-Doomsday-Welt, Menschen vegetie-ren in einer verseuchten Ruinenstadt vorsich hin. Auch hier gibt es zahlreicheBeispiele diegetischer Verfremdung, et-wa den kümmerlichen Weihnachtsbaumgegen Ende – einige dürre Äste, spärlichbehängt mit Drähten und Kerzenstum-meln –, der eben nicht eine formal ver-fremdete Abbildung eines normalenTannenbaums ist, sondern dessen ärmli-che Imitation. Neben solchen Momentendiegetischer Verfremdung ist der gesam-te Film in ein dreckiges Braun-Gelb ge-taucht, stellenweise, bei Innenaufnah-men, durch ein kränkliches Blau unter-

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brochen. Hierbei handelt es sich um ei-nen Fall von ostranenie: Das Bild wirdformal verfremdet, doch soll diese Tö-nung wohl nicht suggerieren, dass diegezeigte Welt tatsächlich einfarbig ist,vielmehr wird damit der morbide unddegenerierte Charakter der verwüstetenStadt auf formaler Ebene zusätzlich un-terstrichen (das gleiche Verfahren istauch in Lars von Triers FORBRYDELSENS

ELEMENT/THE ELEMENT OF CRIME (1984) zufinden). Der Film vollzieht hier eine for-male Verfremdung auf der Ebene desBildes. Vom technischen Verfahren heridentisch, aber mit einem anderenZweck, operiert THE ANGRY RED PLANET

(1959), in dem die Szenen auf dem Marsrot getönt sind. Die Färbung wirkt eben-falls verfremdend, allerdings liegt hiereine diegetische Verfremdung vor, denndie Einfärbung soll das Licht auf dem ‚ro-ten Planeten’ wiedergegeben, die roteFarbe ist diegetisch. Eine dritte Variantezeigt PHASE IV, in dem die Landschaft miteinem gelben Insektizid überzogen wird.Zwar ist das Ergebnis in allen Beispieleneine Einfärbung der Szenerie, bei PHASE

IV wird aber die fiktionale Welt inner-halb der Diegese eingefärbt. Im Unter-schied zu ANGRY RED PLANET findet dieseEinfärbung in PHASE IV tatsächlich statt,die profilmische Realität ist gelb ange-malt, während in den beiden anderenBeispielen eine (nachträgliche) Tönungdes Filmbildes vorgenommen wird.

Hat die ostranenie in BRIEFE EINES TOTEN

in erster Linie die Funktion, die diegeti-sche Verfremdung zu unterstützen, sosetzt PHASE IV ostranenie auch ein, umdiegetische Verfremdung überhaupt erstzu erzeugen. Dies ist ein Verfahren, dasim SF-Film relativ selten vorkommt unddeshalb ausführlicher betrachtet werdensoll: Saul Bass’ einziger Spielfilm handeltvon mutierten intelligenten Ameisen, die

sich daran machen, die Erde zu erobern.Im Unterschied zu anderen SF-Filmenmit mutierten Insekten wie TARANTULA

(1954), THEM! (1955), THE BEGINNING OF THE

END (1957) oder THE DEADLY MANTIS (1957)sind die Ameisen in PHASE IV äußerlichunverändert; kleine Insekten, die sicheinzig durch ihre ungewöhnliche Intelli-genz auszeichnen. Da sich Ameisen nichtdressieren lassen und künstliche Amei-sen Mitte der 1970er Jahre wohl kaumüberzeugend hätten realisiert werdenkönnen, blieb den Filmemachern nichtsanderes übrig, als gewöhnliche Ameisenbei ihren mehr oder weniger normalenTätigkeiten zu filmen. Zahlreiche Se-quenzen des Films sind mittels extremerMakroaufnahmen, wie man sie aus bio-logischen Lehrfilmen kennt, gefilmt. An-ders als in Naturkundefilmen werden dieAmeisen in PHASE IV aber bewusstmenschlich inszeniert: Bedrohliche Mu-sik und eine unnatürliche, teilweise fastexpressionistische Beleuchtung sugge-rieren, dass diese Tierchen etwas imSchilde führen. Relativ früh im Film sindVertreter verschiedener Ameisenspeziesversammelt und halten Kriegsrat. DerFilm wechselt hier wie bei einer ge-wöhnlichen Dialogszene zwischenGrossaufnahmen der einzelnen Köpfehin und her und legt damit nahe, dasssich die Insekten miteinander unterhal-ten. Zu hören ist hier freilich nichts au-sser lauter Zirp- und Schnarrgeräusche.Dennoch vermittelt diese Szene durchden Schnitt und das ‚Gestikulieren’ derAmeisen mit ihren Fühlern, dass hier einaufgeregtes Gespräch im Gange ist. Auchan anderen Stellen wird primär mittelsGroßaufnahme suggeriert, dass dieAmeisen miteinander kommunizieren. Indiesen Szenen agieren die Tiere keines-wegs ungewöhnlich, sie tun all jeneDinge, die Ameisen auch in Biologiefil-

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men tun. PHASE IV gelingt es aber mittelsformaler Mittel wie Großaufnahmen,Licht, Musik und Schnitt, den Eindruckzu erwecken, dass diese Ameisen allesandere als gewöhnlich sind – ein Para-debeispiel für ostranenie, die in diesemFall jedoch nicht dazu führt, die Ameisenwieder oder neu zu sehen, sondern die ihrWesen insgesamt verändert. Die ostrane-nie bewirkt keine Ent-Automatisierungunserer Wahrnehmung, sondern erzeugteine Täuschung.

Abb. 2: Seconds

Diegetische Verfremdung und ostra-nenie können auch mehr oder wenigerungestört nebeneinander in einem Filmauftreten: In SECONDS (1966) von JohnFrankenheimer erhält Arthur, ein wohl-situierter Mann in den Fünfzigern, dieGelegenheit, seine völlig durchschnittli-che Existenz mit einem Leben seinerWahl zu vertauschen. Eine geheimnis-volle Organisation bietet ihm die Mög-lichkeit an, ein anderes Leben mit neuerIdentität und verändertem Aussehen zuführen. Alles scheint perfekt, doch kannsich Arthur – der nun Tony heisst undaussieht wie Rock Hudson – nicht ansein neues Leben gewöhnen, nicht zu-letzt deshalb, weil er merkt, dass seineneuen Freunde alle der Geheimorganisa-tion angehören, dass er Teil einer riesi-gen Inszenierung und weiter denn je vonder Erfüllung seines ‚wahren Ichs’ ent-fernt ist.

Die Titelsequenz von SECONDS zeigtTonys Gesicht in Großaufnahme; mit ex-tremem Weitwinkel gefilmt erscheint esgrotesk verzerrt, unmenschlich undfremd (Abb. 2). Dieser Einstieg ist ostra-nenie in Reinkultur: Einer der uns ver-trautesten Gegenstände, das menschli-che Gesicht, wirkt unheimlich undfremdartig – dieses Gesicht sehen wir inder Tat neu. Ansonsten ist SECONDS überweite Strecken hinweg in nüchternem,eher flachem Schwarzweiss gefilmt.Spektakuläre Spezialeffekte fehlen, dasNovum wird gänzlich naturalisiert; dieradikale Veränderung des Protagonisten(die auch mit einer Verjüngung einher-geht) erscheint als aufwändige, imGrunde aber normale medizinische Ope-ration. Zwar kommt es zum Schluss,wenn Tony realisiert, was mit ihm ge-schehen soll, noch einmal zum Einsatzextremer Weitwinkellinsen, doch bleibenderartige Einstellungen die Ausnahme.Normalität herrscht vor, und gerade ausdieser – scheinbaren – Normalität be-zieht der Film seine Wirkung, denn derZuschauer – und mit der Zeit auch Tony– weiss, dass hier nichts normal ist. Indiesem Film ist nichts, wie es scheint,sind selbst vermeintliche Freunde undGeliebte Teil eines abgekarteten Spiels.Sogar Tony selbst wird sich fremd: Ermuss feststellen, dass er eigentlich garnicht weiss, wer er ist, dass er seine ei-genen Wünsche nicht kennt und seineEntscheidungen letztlich alle von unbe-kannten Mächten gesteuert werden.SECONDS ist ein Beispiel für das in der SFhäufig anzutreffende Paranoia-Thema:Was, wenn die ganze Welt um uns her-um nur eine Inszenierung ist, wenn un-ser Wille nur vermeintlich frei ist, wenndie Normalität nur eine Lüge ist?

In SECONDS wechseln sich ostranenieund diegetische Verfremdung ab und er-

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gänzen sich gegenseitig. In der Titelse-quenz wird der menschliche Körper sofremd wie möglich gemacht; dies ist andieser Stelle möglich, da die Titelsequenznoch nicht wirklich Teil der Filmdiegeseist, sondern eher eine Kommentar- oderMetaebene darstellt. Hier spricht gewis-sermassen der Film selbst, und es be-steht keine Gefahr, dass ostranenie undNaturalisierung miteinander kollidierenkönnten, da der Film noch nicht in seinefiktionale Welt eingetaucht ist. Die Bot-schaft dieses Einstiegs ist jedoch klar:Der Mensch ist sich selbst fremd. Der ei-gentliche Film führt dies auf der Hand-lungsebene aus; nicht nur der Körper desMenschen, auch seine gesellschaftlicheExistenz, sein Wille und seine Hoffnun-gen werden im Laufe des Films als Illusi-on dargestellt. SECONDS ist ein Beispieldafür, wie sich die beiden Verfrem-dungstechniken ergänzen, wie rein for-male ostranenie auf fiktionaler Ebeneweitergeführt wird. Eine ähnliche Auf-teilung zwischen ostranenie und diegeti-scher Verfremdung ist auch in THE DAY

THE EARTH CAUGHT FIRE (1962) zu finden, indem sich die Umlaufbahn der Erde nachzwei gleichzeitig erfolgten Wasserstoff-bombendetonationen Richtung Sonneverschiebt: Der grösste Teil des Filmes isteine Rückblende, in der die Geschehnis-se, die zur Katastrophe führen, aufgerolltwerden. Wir sehen, wie sich das Klimaweltweit verändert und insbesondere inLondon die Temperatur sukzessive an-steigt. Während dieser Hauptteil innüchternem Schwarzweiss gehalten ist,ist der Rahmen des Filmes, also die imzeitlichen Ablauf nachfolgenden Erei-gnisse, rot getönt, womit die Hitze undder bevorstehende, im Filmtitel erwähn-te Weltenbrand angedeutet wird.

Fremde Klänge

Bislang habe ich die verschiedenenVerfremdungsverfahren nur auf derEbene des Bilds und der Narration unter-sucht, so gut wie gar nicht angespro-chen wurde die Tonspur. Der Ton ist tra-ditionell ein Stiefkind der Filmwissen-schaft, dem wenig Aufmerksamkeit ge-schenkt wird. Hauptgrund hierfür istwohl, dass Ton, Geräusche und Musikviel schwieriger präzise erfass- und be-schreibbar sind als visuelle Information.Die einzige mir bekannte Untersuchungzum Ton im SF-Film stammt von TillBrockmann (Brockmann 1999). Brock-mann kommt zum Schluss, dass sich derSF-Film insgesamt durch eine besonderssorgfältig gestaltete Tonspur auszeich-net.

Brockmann unterscheidet zwei gegen-sätzliche Strategien bei der Gestaltungdes Tons im SF-Film: Die Tonspur kanneinerseits dazu beitragen, das Fremdeund Unbekannte zugänglich zu machen.„Für diese didaktische Aufgabe greift derTon gerne auf – im Alltag oder in ande-ren Filmgenres – etablierte Muster zu-rück. Leitmotiv ist aber immer ‚Ver-ständlichkeit’, weniger ‚Realitätsnähe’„(Brockmann 1999: 100). Als Beispieleführt Brockmann unter anderem dieRaumschiffe in STAR WARS an, deren Ge-räusche an Flugzeugtriebwerke erinnern.Die Triebwerksgeräusche haben hier ei-ne naturalisierende Funktion, sie sollendem Raumschiff die Fremdheit nehmen.Dabei ist auffallend, dass die Naturalisie-rung hier in hohem Masse unrealistischverfährt, denn im Vakuum des Alls kön-nen sich keine Schallwellen ausbreiten.Und selbst wenn das Raumschiff hörbarwäre – etwa wenn es in die Atmosphäreeines Planeten eintritt –, wäre es eigent-

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lich nahe liegend, dass der Antrieb einesÜberlichtgeschwindgkeitsschiffs andersklingt als ein Düsentriebwerk. OberstesZiel ist hier eindeutig nicht Realismus,sondern Vertrautheit.

Der Ton kann in der SF aber auch einegegenteilige, verfremdende Wirkung ha-ben:

Destabilisierende Züge sind im narrati-ven (z. B. Raum-Zeit-Gefüge, Kausalbe-ziehungen) und psychologischen Be-reich (Mensch/Maschine-Problematik,Identitätsverlust, Reizüberflutung) zuerkennen, sie erfassen die fiktionalenFiguren ebenso wie die empathisch mit-fühlenden und mitdenkenden Zu-schauerInnen (Brockmann 1999: 100).

Brockmann unterscheidet also ebenfallszwischen einer verfremdenden und na-turalisierenden Tendenz. Interessant isthierbei, dass sich die beiden Wirkungs-weisen der Tonspur nicht mit der bishergemachten Unterscheidung von Natura-lisierung, ostranenie und diegetischerVerfremdung decken, denn im Grundeist jede Form von extradiegetischer Mu-sik ein Beispiel für ostranenie, währenddiegetische Geräusche eigentlich nur alsdiegetische Verfremdung wirken kön-nen; beim Ton verschwimmen diese Ka-tegorien allerdings. So sind im SF-Filmmanigfaltige ‚elektronische’ Flirr-, Biep-und Zischgeräusche üblich, die zwar ineinem anderen Kontext verfremdendwirken würden, innerhalb der SF aberdie Tätigkeit elektronischen Geräts mar-kieren sollen. Ähnlich verhält es sich mitden verschiedenen Varianten von Robo-ter- und Computerstimmen, die tech-nisch gesehen zwar verfremdetemenschliche Stimmen sind, aber in derFilmhandlung verankert werden.

Die Unterscheidung der formalen unddiegetischen Ebene, die sich für das Bild

als fruchtbar erwiesen hat, ist beim Tonwenig hilfreich. Wir sind es gewohnt,dass Filme mit einem Soundtrack unter-legt sind, und nehmen diesen meist erstdann als verfremdend wahr, wenn er ausdem üblichen Rahmen fällt oder ganzfehlt. Für die Zuschauer, die 1968 2001sahen, waren die Walzerklänge, die dieWeltraumaufnahmen begleiten, zwei-fellos eine Neuerung, ebenso die späterfolgende vollkommene Stille. Obwohl dieStille des Alls im Grunde ganz realistischist, sind, wie bereits erwähnt, in einemGrossteil der SF-Filme Triebwerks-geräusche von Raumschiffen und Explo-sionen im All zu hören. Es ist nun maleine Konvention des kommerziellen Ki-nos, dass ein Film nicht über längere Zeitvollkommen still sein darf, und ein Ab-weichen von dieser Konvention ist inden Augen – oder vielmehr: Ohren –vieler offenbar schwerwiegender als einewidersinnige Geräuschkulisse im luftlee-ren Raum.15

Ein grundsätzliches Problem, das inSF-Filmen besonders oft auftritt, ist die

15 DESTINATION MOON (1950), der großen Wertauf technische Genauigkeit legt, zieht sichdiesbezüglich elegant aus der Affäre, indemer bei Szenen im All teilweise den Soundtrackals Geräuschkulisse einsetzt. In einer Szenemuss ein ins All abgedrifteter Astronaut zurRakete zurückgeholt werden. Zu diesemZweck wird eine Druckluftflasche als Antriebeingesetzt, durch gezieltes Entweichenlassender Luft kann der Astronaut im All die Rich-tung wechseln. Dieser Vorgang verläuft ansich geräuschlos, doch ist den Einstellungen,in denen die aus der Flasche entweichendeLuft zu sehen ist, eine Art Tusch unterlegt,der wie ein Zischen klingt. Die Musik ahmtdas Geräusch nach und verleiht dem lebens-rettenden Luftstoß damit deutlich mehr Prä-senz, gleichzeitig findet kein Verstoß gegendie physikalischen Gesetze statt.

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häufig schwer zu ziehende Grenze zwi-schen diegetischem und nicht-diegetischem Ton und – damit verbun-den – zwischen Musik und Geräusch.Seit den 1980er Jahren ist das Soundde-sign im Hollywoodfilm generell vielkomplexer geworden, auf der Tonspurist oft eine Vielzahl von Geräuschen undMelodien zu hören, die einen dichten,kaum noch klar unterscheidbaren Klang-teppich bilden. Typisch hierfür ist BLADE

RUNNER (1982), in dem sich die Synthesi-zermusik von Vangelis, die diegetischenGeräusche und nicht eindeutig identifi-zierbare Tonschnipsel zu einer dichtenakustischen Kulisse verbinden, die denZuschauer regelrecht einlullt.

Der oft unklare Status der Tonspur istkeine neue Erscheinung, sondern auch inälteren SF-Filmen anzutreffen, die imEinsatz des Tons von der Norm abwei-chen. So ist es schwierig zu beurteilen,ob die in 2001 an zentralen Stellen ein-gesetzten modernen Kompositionen vonGyörgy Ligeti eigentlich Musik oder Ge-räusch sind. Bei diesen Stücken handeltes sich nicht um Musik im klassischenSinn mit Melodie, Harmonie und Rhyth-mus, sondern um komplexe Klangclu-ster, die mehr wie eine sphärische Ge-räuschkulisse wirken; wenn währendder Stargate-Sequenz Atmosphères er-klingt, ist kaum noch auszumachen, obwir hier (extradiegetische) Musik oder(diegetische) Sphärenklänge hören. 2001führt in dieser Hinsicht eine Tendenzfort, die bereits in den Fünfzigerjahrenzu beobachten ist: SF-Filme bedienensich schon früh ‚seltsamer’ Musik, umden fremdartigen Charakter ihrer Weltenzu betonen.

Philip Hayward unterscheidet für denEinsatz von Musik im SF-Film grob fünfPhasen, wobei sich der SF-Film seinerAnsicht erst nach 1945, also mit der ei-

gentlichen Geburt des SF-Kinos, musika-lisch vom übrigen Kino zu unterscheidenbeginnt.16 Musik wurde von nun an ver-mehrt dazu verwendet, Andersartigkeitzu evozieren. Die Soundtracks bliebenvorläufig zwar orchestral, wurden abermit Dissonanzen und elektronisch ver-fremdeten Instrumenten angereichert.1950 wurde für die Musik von ROCKETSHIP

X-M (1950) erstmals ein Theremin einge-setzt, ein 1919 entwickeltes elektroni-sches Musikinstrument, das den typi-schen SF-Sound der 1950er maßgeblichprägte: „Its eerie wailing glissandoseems to capture a sense of other-wordliness and was often used to ac-company the presence of aliens“ (King2000: 69). FORBIDDEN PLANET (1956) giltsogar als erster Film, der ausschliesslichelektronisch erzeugte Musik verwendet.Trotz solcher Pionierleistungen bleibenwirklich gewagte musikalische Experi-mente in der SF aber eher die Ausnahme.Die Entwicklung der Musik im SF-Filmunterscheidet sich insgesamt nichtgrundlegend vom übrigen Hollywood-Kino. Meist werden die dominierendenTrends übernommen und nur leicht ab-gewandelt; „the music used in SF cinemaoverwhelmingly draws on recognisableand well-known conventions and asso-ciations“ (Hayward 2004: 25).

Zum Schluss möchte ich noch einenFilm genauer diskutieren, der die Ton-spur auf sehr ungewöhnliche Weise

16 Haywards Off the Planet ist ein Sammel-band, dessen Beiträge ausschließlich den Ein-satz von Ton und Musik in SF-Filmen behan-deln. In der Einleitung gibt Hayward einenkurzen Überblick über die allgemeine Ent-wicklung der Tonspur im SF-Film (Hayward2004), die einzelnen Artikel dagegen konzen-trieren sich jeweils auf einzelne Filme undmachen kaum allgemeinere Aussagen.

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verwendet, und zwar Rainer WernerFassbinders Ausflug in die SF, der eherunbekannte Fernseh-Zweiteiler WELT AM

DRAHT (1974). Der Film handelt ähnlichwie MATRIX (1999) und 13TH FLOOR (1999)von computersimulierten Welten. DieHauptfigur Stiller (Klaus Löwitsch) istLeiter eines Forschungszentrums, dasein Simulationssystem entwickelt hat,welches man heute wohl als virtuelleRealität bezeichnen würde, eine elektro-nisch erschaffene künstliche Welt, in diesich die echten Menschen beliebig ein-und ausklinken können. Nach mehrerenrätselhaften Ereignissen beginnt Stillerallmählich zu ahnen, dass auch er nurTeil einer Simulation ist, dass er in Wirk-lichkeit also gar kein Mensch aus Fleischund Blut, sondern bloß ein elektronischerzeugtes Bewusstsein ist. Interessanthierbei ist nun, dass der Film ‚ontologi-sche Unsicherheiten’, also Szenen, in de-nen der Status von Stillers Welt insWanken gerät, akustisch markiert. Im-mer, wenn Stiller auf etwas stößt, dasauf den künstlichen Status seiner Welthinweist, sind durchdringende ‚syntheti-sche’ Geräusche zu hören – Flirren, Sur-ren, Schnarren, Quietschen. Diese Geräu-sche sind eindeutig extra-diegetisch,denn niemand innerhalb der Filmhand-lung scheint sie zu bemerken, sie sindeine akustische Markierung für den Zu-schauer. Bei diesen Markern handelt essich um eine sehr präsente Form vonakustischer ostranenie – mittels formalerMittel wird ein verfremdender Kommen-tar zur Handlungsebene abgegeben.

Fassbinders Werk zeichnet sich insge-samt durch eine starke Betonung derTonspur aus, Musik und Geräusch spie-len in seinen Filmen oft eine wichtigeRolle und sind ungewöhnlich präsent. Sosind viele Szenen in WELT AM DRAHT

durch markante, oft ‚unpassend’ laute

Musik unterlegt. Doch selbst in diesemUmfeld stechen die akustischen Markerklar heraus, und obwohl ihre Funktionschnell klar wird, wirken sie doch sehrungewohnt.

Verfremdung im SF-Film

In PHASE IV und ANGRY RED PLANET dientdie ostranenie zur Erzeugung der diegeti-schen Verfremdung, in SECONDS dagegenwerden die beiden Verfahren getrenntvoneinander eingesetzt. Die Kombinati-on von ostranenie und diegetischer Ver-fremdung in einer Szene ist selten, dadie SF ja immer auf eine Naturalisierungangewiesen ist und eine verfremdeteVerfremdung die Realitätsillusion der SFin Frage stellen würde. Es kann in einemSF-Film durchaus einzelne Szene mitprimärer ostranenie geben, doch über dieLänge eines ganzen Filmes hinweg istdiese Konstellation sehr selten. Ein Film,der die beiden Verfahren stellenweisemischt, ist THX 1138 (1971); in GeorgeLucas’ erstem Langspielfilm gibt es einelängere Szene in einer Art Gefängnis, einscheinbar endloser weißer Raum, in demweder Wände, noch Boden, noch Deckeauszumachen sind. Alles ist in der glei-chen (Nicht-)Farbe gehalten, die Prota-gonisten sind ebenfalls weiß gekleidetund haben alle rasierte Schädel. Voll-kommen weiße und somit in hohemGrade unnatürliche Räume sind in der SFimmer wieder anzutreffen, etwa in Mis-sion to Mars (2000) oder MATRIX.

Im Vergleich zu diesen beiden Filmengeht THX 1138 aber noch einen Schrittweiter, da er gegen die in Hollywood ge-bräuchlichen Regeln der Bildkompositionund des ‚unsichtbaren’ Schnitts verstößt:Manche Bilder sind fast leer, die Figurennur an den Rändern sichtbar, in anderen

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Einstellungen stehen unscharfe Gestal-ten im Vordergrund und verdecken diemomentan sprechende Figur. Die Orien-tierung fällt in dem konturlosen Raumohnehin schon schwer, doch der Film istin dieser Sequenz ausserdem noch nichtauf Anschluss geschnitten, sondernspringt mit fast jeder Einstellung imRaum, Achsensprünge und ‚Anschluss-fehler’ sind die Regel. Dieser Schnittstilwirkt in Kombination mit den fast gänz-lich weissen Bildern desorientierend undverstörend, man hat als Zuschauer sogut wie keinen Anhaltspunkt und findetsich kaum zurecht. Derart konsequentverfährt THX 1138 allerdings nur an we-nigen Stellen, was auch nicht weiter er-staunlich ist, denn der desorientierendeErzählstil führt einem zwar die Fremd-heit der gezeigten Welt äusserst wirk-sam vor Augen, eignet sich aberschlecht, um eine Geschichte zu erzäh-len. Immer wenn die insgesamt rechtkonventionelle Handlung im Vorder-grund steht, wird auch die Erzählweisedes Films ‚normaler’.

Der klassische Stil Hollywoods istnicht statisch; viele formale und narrati-ve Spielereien, die heute auch in Gross-produktionen üblich sind, wären noch inden 1950er und 1960er Jahren in Holly-woodfilmen undenkbar gewesen. Ob-wohl der SF-Film diesbezüglich wohlnoch konservativer ist als das übrigeHollywood, sind auch hier Veränderungzu beobachten. So wird in EVENT HORIZON

(1997) und FANTASTIC FOUR (2005) an zen-tralen Stellen die als Vertigo-Effekt be-kannte Kombination aus Zoom und ge-genläufiger Kamerafahrt eingesetzt; die-ser Kunstgriff führt zu einer auffälligenVeränderung der Bildgeometrie und istein Beispiel für ostranenie. Zwar werdendamit in beiden Filmen psychische Vor-gänge dargestellt – es besteht also kein

direkter Konflikt mit der Naturalisierungeines Novums –, etwas Entsprechendeswäre im SF-Film der 1950er Jahre aberundenkbar gewesen.

Der Wandel der erzählerischen Ge-pflogenheiten lässt sich beispielhaft amMotiv der Schwerelosigkeit zeigen: Feh-lende Schwerkraft, schwebende Men-schen, das Vertauschen von oben undunten, ist ein typisches Mittel diegeti-scher Verfremdung und wurde im Filmerstmals in DIE FRAU IM MOND (1929) ge-zeigt (Abb. 3). Allerdings beschränkt sichdie Darstellung der „Schwerefreiheit“ inLangs Film auf eine kurze humoristischeSequenz. Die fehlende Schwerkraftscheint sich hier nicht überall gleichauszuwirken: So schwebt zwar eineMaus in ihrem ebenfalls schwebendenKäfig, ihr Futternapf steht aber fest aufdem Käfigboden. Dank Schlaufen im Bo-den kann das Leben in der Rakete ohnegroße Störungen weitergehen. Die Ka-mera ist weitgehend statisch und mar-kiert deutlich, wo Oben und Unten sind,auch wenn diese Kategorien im All imGrunde hinfällig werden.

Abb. 3: Die Frau im Mond

DESTINATION MOON (1950) inszeniert diefehlende Schwerkraft nur unwesentlichspektakulärer. Zwar können die Astro-nauten in Pichels Film dank Magnet-

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Abb. 4.1–4.6: Event Horizon

schuhen an die Wändee hoch gehen,aber auch hier ist die Kamera weitge-hend unbewegt; trotz Schwerelosigkeitbleibt der Bildaufbau herkömmlich, ge-wissermaßen zur Erde ausgerichtet.

Während fast zweier Jahrzehnte än-dert sich an dieser Darstellungsweisewenig. Viele Weltraumfilme ignorierendie fehlende Schwerkraft völlig oder ge-hen unausgesprochen von künstlich er-zeugter Gravitation aus. Geradezu zele-briert wird die Schwerelosigkeit dann in2001, der zahlreiche verblüffende Arran-gements präsentiert und die gewohntenVerhältnisse buchstäblich auf den Kopfstellt. Allerdings bezieht auch 2001 seineEffekte in erster Linie daraus, dass Men-schen ‚auf dem Kopf’ stehen, die Kameradrängt sich nicht in den Vordergrund.

Zwar arbeiten viele der Schwerelosig-keitszenen in 2001 damit, dass sich dieKamera und nicht die Figur dreht, dieBewegungen der Kamera dienen aberdazu, die ungewohnte Position der Figu-ren zu betonen, und sind in diesem Sinnnicht als Kamerabewegungen sichtbar.Anders EVENT HORIZON: Hier beginnt eineSzene sehr ungewohnt mit dem Prota-gonisten auf dem Kopf, dann dreht sichdie Kamera allmählich um 180 Grad undfährt gleichzeitig zurück, bis erkennbarwird, dass wir die Figur durch eineScheibe der Raumstation gesehen haben(Abb. 4.1–4.6). In dieser Einstellung wirddeutlich, dass es im All keine festen Be-zugspunkte mehr gibt; ausserdem wirddie Kamera und somit die Filmtechnikselbst in einem Masse in den Vorder-grund gerückt, das sogar noch jenes von2001 übersteigt. Eine ganz ähnliche Ein-stellung mit einem ähnlichen Dreheffektfindet sich drei Jahre später in MISSION TO

MARS (2000); hier nähert sich die drehen-de Kamera dem Fenster einer Raumstati-on, die Szene aus EVENT HORIZON wird

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gewissermassen umgekehrt (Abb. 5.1–5.4). Der SF-Film Ende der 1990er Jahrescheint also – wie das Hollywoodkinoinsgesamt – eine stärkere Tendenz zuformalen Spielereien zu haben, wenndiese auch wie in den beiden genanntenBeispielen meist auf einzelne Einstellun-gen oder Szenen beschränkt bleiben.

Dass formale Verfremdungseffekte,die nicht diegetisch begründet sind, imSF-Modus allmählich häufiger werden,zeigt sich exemplarisch an MATRIX, demwohl einflussreichsten SF-Film der letz-ten zehn Jahre. Über weite Strecken die-nen verfremdende Spezialeffekte auch inMATRIX dazu, die fiktionale Welt glaub-haft darzustellen. In einer relativ frühenSzene wird Neo eine Art elektronischesInsekt aus dem Bauchnabel operiert,kurz darauf berührt er einen Spiegel, derflüssig wird und sich verzieht. Hier ha-ben wir es noch mit einem ganz klassi-schen Einsatz verfremdender Effekte zutun: Die Spezialeffekte liefern die Aus-stattung, die ansonsten nicht realisier-bar wäre.

Einer der spektakulärsten Effekte, derin MATRIX zum Einsatz kommt, ist der sogenannte Bullet-Time-Effekt; hierbei wirdeine Szene extrem verlangsamt oder so-gar ganz angehalten, so dass der Zu-schauer auch Bewegungsabläufe und Er-eignisse beobachten kann, die norma-lerweise zu schnell sind, um wahrge-nommen zu werden, beispielsweise flie-gende Kugeln, gleichzeitig bleibt dieKamera in Bewegung und dreht sich umdie in der Bewegung verharrenden Sze-nerie.17 Der Bullet-Time-Effekt wird in

17 Es herrscht eine gewisse Verwirrung, wasgenau Bullet-Time-Effekt ist, ob er nur dieVerlangsamung der Szene umfasst oder auchdie Bewegung der Kamera in derselben. Ichmeine hier beide Elemente.

MATRIX auf verschiedene Weise einge-setzt; SF-typisch ist die Verwendung,wenn Neo (Keanu Reeves) herannahen-den Kugeln ausweicht (Abb. 6.1–6.3). Einin hohem Masse verfremdender Spezial-effekt dient hier dazu, einen in der fik-tionalen Welt realen Sachverhalt darzu-stellen, nämlich die Tatsache, dass Neoübermenschliche Kräfte hat und Kugelnausweichen kann.

Abb. 5.1–5.4: Mission to Mars

Eine andere Verwendung hat der Ef-fekt, wenn Trinity (Carrie-Anne Moss)während einer Kampfszene in der Luftinnehält und sich die Kamera um sie

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herum dreht (Abb. 7.1–7.3). Im Gegen-satz zu Neo besitzt Trinity keine über-menschlichen Kräfte und die Szene sollauch nicht zeigen, dass hier tatsächlichdie Zeit angehalten wird – zumindestwürde das innerhalb der Handlung keinen Sinn ergeben –; der Bullet-Time-Effekt dient einzig und allein dazu, dieTricktechnik des Films zur Schau zustellen und den Zuschauer zu verblüffen.

Abb. 6.1–6.3: Matrix

In MATRIX beginnen sich ostranenie unddiegetische Verfremdung zu vermischen.Der Film tut etwas, was eigentlich ‚ver-boten’ ist, er setzt den identischen Effektgleichzeitig für diegetische und formaleVerfremdung ein und schafft damit einDurcheinander: Was für den Zuschauergleich aussieht – die Zeit hält an –, istinnerhalb der Handlungswelt keines-wegs das Gleiche. Ich möchte nicht be-haupten, dass MATRIX der erste Film ist,der dies tut. Sicher hat der Erfolg von

MATRIX aber dazu beigetragen, dass andem unausgesprochenen ‚Verbot’, for-male und diegetische Verfremdung zumischen, zusehends gerüttelt wird. Soweist zum Beispiel SLIPSTREAM (2005)ähnliche Tendenzen auf: Der Protagonistdes Films besitzt eine Art Zeitmaschine,mit der er Ereignisse wie mit einer Re-wind-Taste eines Videorecorders zurück-spulen kann. Um dies darzustellen, be-dient sich der Film unterschiedlicherVerfahren: das Bild oder Teile der Szene-rie ‚frieren ein’, und andere Szenen wer-den im Schnelllauf rückwärts abgespielt.Neben diesen diegetisch eingesetztenZeitmanipulationen setzt SLIPSTREAM for-male Verfremdungstechniken auch anStellen ein, die nicht von der Handlungher motiviert sind: Während einerSchießerei dreht sich die Kamera schnellim Kreis und zeigt die verschiedenenKombattanten, die, ebenso wie der Hin-tergrund, zu verschwimmen beginnen.Am Ende scheint sich nur noch der Hin-tergrund hinter den statischen Figurenzu bewegen, was innerhalb der Hand-lung unsinnig ist, da sich niemand wäh-rend der Schießerei von der Stelle rührt.In einer späteren Szene wird ein Ge-spräch zwischen beiden Hauptfiguren ineiner ungewohnten Parallelmontage ge-zeigt; der Film schneidet zwischen zweiSchauplätzen – im Innern eines Autosund wenige Meter davor – hin und her,der Dialog läuft aber konstant weiter,ein einziges Gespräch findet also an zweiOrten und zeitlich versetzt statt. Mankönnte diese beiden Szenen als Zeichendafür verstehen, dass die Zeit der Film-welt ganz aus den Fugen geraten ist, al-lerdings wird dies nur dem Zuschauervermittelt und entspricht nicht derWahrnehmung der Protagonisten. DerFilm betreibt ostranenie, ohne damit ei-nen diegetischen Sachverhalt darzustel-

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len; dies kumuliert dann gewisserma-ssen im Abspann, der zuerst in Zeitraffergezeigt, dann ‚zurückgespult’ undschließlich in normaler Geschwindigkeitabgespielt wird.

Trotz der genannten Beispiele undobwohl die formalen Regeln im neuerenHollywoodkino viel lockerer sind, bleibtprimäre ostranenie im SF-Film die Aus-nahme, die dominante Operation desModus ist die Naturalisierung. Der Natu-ralisierungsprozess muss dabei keines-wegs immer über technische Gadgetsfunktionieren, im Falle von SECONDS istdas eigentliche Novum die Operation,mittels derer Arthurs Aussehen verän-dert wird; was wir von diesem Eingriffzu sehen kriegen, unterscheidet sichaber in nichts von irgend einem anderenim Kino gezeigten chirurgischen Eingriff.Das Novum ist hier im Off und wir sehenin erster Linie seine Folgen.

Ein ähnlicher Fall liegt bei INVASION OF

THE BODY SNATCHERS (1956) vor, in dem dieBewohner einer amerikanischen Klein-stadt sukzessive durch Ausserirdische,sogenannte Pods, ersetzt werden. Äu-sserlich sind die Pods nicht von Men-schen zu unterscheiden, die Übernahmedes Städtchens geht unbemerkt vor sich,das Leben scheinbar normal weiter.INVASION OF THE BODY SNATCHERS kommtfast vollständig ohne die für die 1950erJahren typischen Horrorelemente aus,die Außerirdischen sind keine schleim-triefenden grünen Männchen. Vor derAssimilation haben sie die Gestalt über-dimensionaler Samenkörner, nachhersind sie identische Kopien der assimilier-ten Menschen. Die Naturalisierung desNovums ist hier fast vollständig, und esist der Widerspruch zwischen derharmlosen Oberfläche und dem Wissenum die ungeheuerlichen Vorgänge, diesich in Wirklichkeit vollziehen, der hier

verfremdend wirkt. Die Kleinstadt lebtscheinbar normal weiter, ihre Bewohnerzeigen kein aussergewöhnliches Verhal-ten; anders als in anderen Invasionsfil-men, in denen die von den Ausserirdi-schen übernommenen Figuren errati-sches Verhalten zeigen – etwa wenn derVater in INVADERS FROM MARS (1986) fasteine ganze Packung Süßstoff in seinenCafé schüttet und die Mutter rohesFleisch mit Zucker isst.

Abb. 7.1–7.3: Matrix

Weil das Publikum von INVASION OF THE

BODY SNATCHERS jedoch weiß, dass in Tatund Wahrheit nichts normal ist, er-scheint jede noch so banale Handlungverdächtig: Gewöhnliche Orte wie dieArztpraxis des Protagonisten, anfangsseine natürlich-heimische Umgebung,werden zu Stätten des Schreckens, indenen er um sein Leben kämpfen muss.Die Normalität der Kleinstadt erscheintauf einmal höchst suspekt, verfremdet.

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Diese Variante diegetischer Verfremdungwirkt besonders unheimlich, da sie nichtauf einem Kontrast mit einer wunderba-ren Gegenwelt beruht, sondern ganz all-tägliches Verhalten fremd und bedroh-lich erscheinen lässt.

Darko Suvin

Man kann im Falle von INVASION OF THE

BODY SNATCHERS nicht wirklich von ostra-nenie sprechen, da die alltäglichenHandlungen der Einwohner nicht in un-gewöhnlicher Weise wiedergegebenwerden. Ungewöhnlich ist höchstens,dass sie überhaupt gezeigt werden, dassdie Kamera etwas länger als normal aufeiner scheinbar harmlosen Strassensze-nerie verweilt. Aber selbst wenn manhier ostranenie am Werk sieht, so wirktdiese nur, weil wir wissen, dass unterder kleinbürgerlich-ordentlichen Ober-fläche schreckliche Dinge vor sich gehen.

Beim Rezipieren von Filmen gehen wirgewöhnlich von unserer Referenzweltaus, deshalb zwingt uns jede Abwei-chung von deren Normen dazu, neue

provisorische Welten zu entwerfen. Wirsind also konstant damit beschäftigt, dievon uns entworfene mögliche Welt mitder Information, die uns der Film vermit-telt, abzugleichen. Je deutlicher sich diefiktionale Welt von der gewohnten un-terscheidet, desto aufwendiger gestaltetsich dieser Abgleich und umso stärker istdie Verfremdungswirkung; maximal istsie dann, wenn es uns nicht gelingt, einein sich konsistente Welt zu entwerfen,ein Fall, der im SF-Kino allerdings kaumexistiert und – wie das Beispiel THX 1138zeigt – im Rahmen eines narrativenFilms über längere Zeit hinweg kaumdurchzuhalten ist.

Zu Beginn eines Filmes verfügen wirnoch über keinerlei Informationen zurBeschaffenheit seiner Welt und müssendeshalb noch ganz von den Gesetzmä-ssigkeiten unserer Referenzwelt ausge-hen. Im Moment, in dem uns der Filmseine Welt zum ersten Mal zeigt, setztsich der Abgleichungs- und Konstrukti-onsprozess in Gang.18 Hier sind zwei ver-schiedene Varianten möglich: Der Filmkann in einer grundlegend anderen Weltals der unseren angesiedelt sein – bei-spielsweise in der Zukunft oder auf ei-nem fernen Planeten. In diesem Fall istdie anfängliche Verfremdungswirkungbesonders ausgeprägt. Da wir ja quasi‚bei Null’ beginnen, ist die Diskrepanz

18 Ich vernachlässige hier bewusst die Tat-sache, dass wir in aller Regel bereits im Vor-aus etwas über den Film wissen. Dank Wer-bung, Filmkritiken, persönlichen Empfehlun-gen etc. verfügen wir meistens schon überVorinformation und betreten das Kino nichtgänzlich ahnungslos. Schon allein das Wis-sen, dass wir einen SF-Film sehen werden,aktiviert entsprechende Schemata, die unsdarauf vorbereiten, dass die fiktionale Weltstark von der Referenzwelt abweichen wird.

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zwischen der von uns konstruiertenmöglichen Welt und der fiktionalen Weltzu diesem Zeitpunkt am größten. Bei-spiele hierfür wären etwa die dystopi-schen Gesellschaften von LOGAN’S RUN

(1976), THX 1138 oder CLOCKWORK ORANGE

(1971), in der uns ohne weitere Erklä-rung Welten präsentiert werden, derensoziales System, Architektur, Kleidung –und im Falle von CLOCKWORK ORANGE auchdie Sprache – sich deutlich von unsererWelt unterscheiden. Es gilt nun, alle un-gewöhnlichen Erscheinungen möglichstschnell zu einer konsistenten Welt zuvereinen. Ist dies einmal geschehen,können wir die Konstruktionsarbeitdeutlich reduzieren. Dies erklärt, warumdie Verfremdungswirkung in SF-Filmenin der Regel zu Beginn am ausgeprägte-sten ist und dann stark nachlässt. Habenwir eine mögliche Welt entworfen, diealle Abweichungen von der Referenzweltin sich integriert, müssen wir in der Fol-ge nur noch geringen gedanklichenAufwand leisten. In den meisten Fällenist die SF-Welt eines Filmes stabil undkeinem dauernden Wandel unterworfen,folglich müssen nur noch kleine Anpas-sungen vorgenommen werden, wenn diemögliche Welt einmal etabliert ist.

Ein Film kann auch in einer Welt, dieim Wesentlichen mit der unsrigen über-einstimmt, beginnen und sich erst suk-zessive, durch Einführung eines Novums,zu einer wunderbaren wandeln. So zumBeispiel in DEMON SEED (1977) undELECTRIC DREAMS (1984): In beiden Fällenwird die Steuerung eines Haushalts ei-nem Computer übergeben, der sich all-mählich der gesamten technischen Ein-richtung bemächtigt, um dann schliess-lich auf Konfrontationskurs mit dem Pro-tagonisten zu gehen. In DEMON SEED

wandelt sich das intelligente Haus all-mählich zur Folterkammer; tragen voll-

automatische Türen und Kühlschränkeam Anfang noch zur Erleichterung desHausfrauenlebens bei, wird die Kücheschließlich zur Sauna umfunktioniert.Mittels verriegelter Türen, aufgedrehterBodenheizung und dem gezielten Ein-satz von Herd und Ofen wird die Haupt-figur einer Hitzefolter unterzogen, bissie schliesslich in die Forderungen desComputers – der Zeugung eines gemein-samen Kindes – einwilligt. Die Verfrem-dung geht hier langsam vor sich, das in-telligente Haus erscheint anfänglich alslogische Weiterentwicklung automati-scher Haushaltsgeräte und wandelt sichnur schleichend zur tödlichen Bedro-hung. Die Verfremdungswirkung basierthier auch darauf, dass wir uns langenicht bewusst sind, dass der Film all-mählich in eine wunderbare Welt abdrif-tet. Anfangs sieht alles ganz vertraut ausund die Veränderungen sind nur klein,bis wir dann auf einmal erkennen, dassscheinbar harmlose Alltagsgegenständezu gefährlichen Waffen mutiert sind. Miteinem Schlag wird uns die Diskrepanzzur Referenzwelt bewusst. Die Verfrem-dungswirkung basiert bei DEMON SEED si-cher auch auf der Einsicht, dass wir dieVeränderung anfangs nicht als solchewahrgenommen haben.

Beginnt ein SF-Film in einer mehr oderweniger realitätskompatiblen Welt, diesich erst allmählich zu einer wunderba-ren wandelt, findet sich der Protagonistin einer ähnlichen Rolle wie der Zu-schauer wieder. Auch er muss sein Welt-bild neu konzipieren und erlebt ähnlicheVerfremdungseffekte wie das Publikum,er lebt dem Zuschauer also gewisserma-ssen die adäquate Reaktion vor. NoëlCarroll hält zum Horrorfilm fest, „[that]the emotions of the audience are suppo-sed to mirror those of the positive hu-man characters, in certain but not all re-

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spects“ (Carroll 1990: 18); der Film gibtalso über das Verhalten seiner Figurenvor, wie der Zuschauer im Idealfall rea-gieren sollte. Auch wenn Carroll vomSchrecken im Horrorfilm schreibt,scheint mir diese Beobachtung ähnlichfür viele Fälle von Verfremdung zu gel-ten; die horrifizierende und die verfrem-dende Wirkung eines Filmes hängen oh-nehin oft zusammen.

Bertolt Brecht

Wenn die Figuren im Film dem Rezi-pienten gewissermassen vorspielen, wieer sich zu verhalten hat, dann tun siedies meist in einem übertriebenenMasse. Kaum ein Zuschauer wird im Ki-nosaal so gellend schreien wie diesprichwörtlichen scream queens der Hor-rorfilme, analog zeigen SF-Protagonistenein viel größeres Erstaunen über diewunderbaren Ereignisse in ihrer Welt alsder Zuschauer, denn sie sind informati-onstechnisch benachteiligt: Wir wissenmeist lange vor den Protagonisten vondem schrecklichen Monster oder der

heillosen Erfindung. Es scheint zudemeines der ungeschriebenen Gesetze desKinos zu sein, dass SF-Protagonisten,wenn sie nicht von vornherein einewunderbare Welt bewohnen, wenig überSF wissen, und Indizien, die der Zu-schauer als eindeutige Hinweise auf SFwertet, übersehen oder falsch interpre-tieren. Der nichtsahnende Held steht fürden genreunkundigen Zuschauer, derlange mit den Gegebenheiten der neuenWelt nicht zurecht kommt. Die Funktioneiner solchen Figur ist eine doppelte: Eskönnen ihr – und somit dem Zuschauer –ausführliche Erklärungen zum jeweiligenNovum gegeben werden, und ausserdemkann der begriffsstutzige Held die vonCarroll beschriebene Rolle übernehmenund die Reaktionen auf den Film ‚vorle-ben’.

Die Figuren des SF-Kinos leben dieVerfremdungswirkung für den Zuschau-er primär in Filmen vor, die in einer rea-litätskompatiblen Welt beginnen. LukeSkywalker ist über die seltsamen Gestal-ten in der Welt von STAR WARS nur seltenerstaunt, und niemand scheint inCLOCKWORK ORANGE Probleme zu haben,Alex zu verstehen. Ganz anders Ray Fer-rier (Tom Cruise) und seine Tochter inWAR OF THE WORLDS (2005): Mit offenemMund beobachten sie, wie sich ein ge-heimnisvoller Sturm zusammenbrautund pausenlos Blitze in ihrer Nachbar-schaft niedergehen; der Zuschauer kannsich leicht ausrechnen, dass diese Blitzenicht natürlichen Ursprungs sind, erahnt, was es mit ihnen auf sich hat, unddoch schaut er ihnen gemeinsam mitden Figuren des Films fasziniert zu.

Während die meisten Zuschauer dasKino mit einem großen Vorwissen betre-ten, scheinen fiktionale Figuren oft we-nig über typische Filmhandlungen zuwissen. Wenn sich in einem SF-Film eine

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Figur sattelfest in Filmgeschichte zeigt,dann hat dies meist einen satirischen Ef-fekt, so etwa in FACULTY (1998): In Rober-to Rodriguez’ Film wird eine Highschoolin Body-Snatcher-Manier von Außerirdi-schen übernommen, und wie schon inSCREAM (1996), dessen Drehbuch wie je-nes von FACULTY von Kevin Williamsonstammt, zeichnet sich der Film dadurchaus, dass er die Konventionen desSF/Horror-Films gleichzeitig plündertund parodiert und auf diese Weisedeutlich sichtbar macht. So ist einer derjugendlichen Helden erklärter SF-Fanund hält gegen Ende einen kurzen Vor-trag über die Geschichte des Body-Snatcher-Motivs in der Literatur. Indemer über die Herkunft eines beliebten SF-Motivs referiert, macht er gleichzeitigdeutlich, dass er als Filmfigur eigentlichnicht über dieses Wissen verfügen sollte.

Die Tatsache, dass die Figuren inFACULTY filmkundig sind, heisst allerdingsnicht, dass sie deswegen aller Konven-tionen enthoben werden, dass sie aufalle Situationen abgeklärt reagieren; dasSpiel wird einfach auf höherer Ebeneweitergetrieben. Auch in FACULTY reagie-ren die Protagonisten mit Unglaubenund Entsetzen, wenn das ganze Schul-haus gleich geschaltet ist, alle Schüler inReih und Glied die Gänge entlang mar-schieren, beim Glockenton jeder an sei-nem Platz sitzt und auf eine Frage desLehrers alle Hände gleichzeitig in dieHöhe fahren. Der Film gibt sich auch hierbewusst ironisch: Das unnatürlichsteVerhalten für Schüler ist Disziplin, undspätestens, wenn die gesamte Schüler-schaft aus Strebern besteht, ist jedemklar, dass etwas nicht stimmt. Für denZuschauer ist die Verfremdungswirkungeher gering; da er bereits weiss, was esmit den Ausserirdischen auf sich hat,sind diese Szenen wenig überraschend.

Die Figuren, die eigentlich ebenfalls Be-scheid wissen, reagieren mit panischemEntsetzen und demonstrieren, dass dieüblichen Mechanismen aller Parodie zumTrotz nach wie vor funktionieren.

Schlusswort

Wie ich zu Beginn bemerkt habe, weisengerade allseits akzeptierte und breitverwendete Begriffe bei genaueremHinweisen eine breite Palette von Bedeu-tungen auf, so auch die Verfremdung.Šklovskij, Brecht, Bloch und Suvin spre-chen zwar alle von Verfremdung, jedermeint aber etwas anderes damit. Wäh-rend Šklovskij mit ostranenie primär eineformale Operation Phänomen beschreibt,bezeichnet Suvin damit ein Phänomenauf der Handlungsebene – auch wenn ersich dessen nicht klar zu sein scheint.Dass diese Unterscheidung nicht reinakademischer Natur ist, sondern viel-mehr ins Herzen der SF zielt, konnte die-ser Artikel hoffentlich zeigen. Das Zu-sammenspiel von Naturalisierung undVerfremdung scheint mir für die Wir-kungs- und Funktionsweise des Modusvon zentraler Bedeutung, und ich glau-be, dass die von mir vorgeschlagenenUnterscheidungen wesentlich zu seinemVerständnis beitragen kann. Ich habemich hier auf den Film beschränkt, ei-nem Medium, das aus verschiedenenGründen insgesamt konservativer ist alsdie Literatur. Es wäre interessant zu un-tersuchen, inwiefern meine Überlegun-gen auch für literarische Bewegungenwie die New Wave, die eine Erneuerungauf formaler Ebene anstrebte, Bestandhaben, oder ob SF und Verfremdung hiereine neue Beziehung eingehen.

Simon Spiegel––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––

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