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Karin Hartewig Wir sind im Bilde

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Karin Hartewig

Wir sind im Bilde

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Karin Hartewig

Wir sind im Bilde Eine Geschichte der Deutschen in Fotos vom Kriegsende bis zur Entspannungspolitik

L E I P Z I G E R U N I V E R S I T Ä T S V E R L A G 2 0 1 0

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Inhalt 5

Inhalt

I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8

II. Krieg und Kriegsende in Fotos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

1 . Daheim und in der Fremde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

2 . Durch das Objektiv der Alliierten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

3 . Leben in Ruinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

III. Unter Aufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

1 . Die Illustrierten und die Besatzungsmächte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

2 . Die „Bildberichter“ oder die Unschuld der Fotografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

3 . Nürnberg – Bilder des Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

4 . Die Schatten des Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

IV. Konflikt und Entfremdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94

1 . Berlin – Die Insel im Meer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

2 . Der 17 . Juni 1953 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

3 . Ungarn 1956 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

4 . Der Mauerbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

5 . Prag 1968 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

6 . Der letze Limes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

V. Exkurs: Die Mischung macht’s. Kleine Typologie der Illustrierten . . . . . . . . . . . . . . . . 136

VI. Eigene Welt. Die fünfziger Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148

1 . Illustrierte und Fotografen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

2 . Der Westen ist schön! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156

3 . Agitation zum Glück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

4 . Uns geht’s prima! Kollektive Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180

5 . Deutsche und andere Deutsche oder Der Teufel und das Weihwasser . . . . . . . . . . . . . . . 189

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber http://dnb .d-nb .de abrufbar .

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Die Autorin dankt der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf, für ihre großzügige Förderung.

© Leipziger Universitätsverlag GmbH 2010Umschlaggestaltung: berndtstein | grafikdesign, BerlinGesamtherstellung: Arnold & Domnick, Leipzig

ISBN 978-3-86583-489-8

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VII. Parallelgesellschaften. Die sechziger Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210

1 . New Look . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212

2 . Das Politische und der Konsum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

3 . Die große Übereinstimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

4 . Unfreiwillige Gemeinsamkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250

5 . Wechselwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258

6 . Das nächste und fernste Land der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270

VIII. Einseitige Annäherung. Die siebziger Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284

1 . Beschwörungsrituale und Illusionsmaschinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286

2 . Wandel durch Anbiederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292

IX. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300

X. Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304

1 . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306

2 . Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311

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Krieg und Kriegsende in Fotos

II.

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18 II. Krieg und Kriegsende in Fotos 1. Daheim und in der Fremde 191. Daheim und in der Fremde 19

Die ersten Fotos der Befreiung schossen die Alliierten . Was ihre Armeefotografen auf dem Vormarsch in das Deutsche Reich sahen und ablichteten, prägte über

Jahrzehnte unser Bild des Krieges und der unmittelba-ren Nachkriegszeit . Doch auch die Deutschen griffen zur Kamera . Dem Wunsch der Zeitgenossen, ihre Ge-genwart im Bild festzuhalten, war mit Verboten nicht beizukommen . Welten trennten die Deutschlandbilder der Sieger und Besiegten in der Zeitluke des Jahres 1945 – je nachdem wer fotografierte .

Die Fotos aus dem letzten Jahr des Krieges und dem ersten Friedensjahr öffnen ein Fenster zum Stand des zeitgenössischen Bewusstseins . Sie geben Aufschluss über die selektive Wahrnehmung aller Überlebenden: der Angehörigen einer geschlagenen Armee, der be-siegten Parteigänger und Profiteure, der Befreiten und der militärischen Sieger . Sie zeigen uns die Feindbilder des Krieges im Moment ihrer schnellen Auflösung und ihrer Neuformierung im Zeichen des Kalten Krieges . Am interessantesten aber ist die Frage, wie die Über-windung dieser Parallelbildwelten von Siegern und Be-siegten gelingen konnte .

terte Seiteneinsteiger zum „Bildberichter“-Beruf wie nie zuvor oder danach . In den ersten Kriegsjahren wa-ren längst nicht nur gelernte Fotografen, sondern auch Amateure zur Schadensdokumentation an der Heimat-front aufgefordert . Doch seit dem verheerenden „1000-Bomben-Angriff “ auf Köln im Mai 1942 scheute die NS-Propaganda die demoralisierende Macht der Zerstörung im Foto zusehends .5

Die Lust am Fotografieren aber blieb ungebrochen . Die Motive, zur Kamera zu greifen, waren durchaus un-terschiedlich . Zahllose Hobbyfotografen wie der Braun-schweiger Hans Steffens und Handwerkerfotografen wie der Kölner Hermann Claasen legten ihre persönli-che Dokumentation der zerstörten Heimatstadt an . Sie begannen damit, nachdem ihre nächste Umgebung von Bomben schwer getroffen worden war . Von den be-rühmten Wahrzeichen hielten sie Zustände des Über-gangs bis zur völligen Zerstörung fest; Zwischensta dien, die am Ende nur noch in ihren Fotos existierten . Stef-fens, der während des Krieges uk-gestellt war, 1944 aber doch noch zum Volkssturm eingezogen wurde, und der

1. Daheim und in der Fremde

Fotografie an der Heimatfront

Seit Oktober 1944 war die private Dokumentation der Bombenschäden und Räumkommandos im Reich un-tersagt . Ohnehin wurden Filme und Chemikalien knapp . Illustrierte Zeitschriften erschienen nur noch selten . So verdächtigte die Gestapo jeden, den sie mit einer Kamera antraf, der Greuelpropaganda oder der Feindspionage . Und doch wurden die offiziellen Durchhalteparolen, die bis zuletzt Siegeszuversicht verbreiteten, nicht allein durch Schnappschüsse aus dem privaten Leben unterlaufen . Amateure und Profis bewiesen jenen Realitätssinn, der als Defätismus galt . Sie fotografierten heimlich oder doch ohne offiziellen Auftrag . Die Fotos schossen sie „für später“, denn an eine Entwicklung der Filme war nicht zu denken . Ihre Aufnahmen zeigten das Gesicht des Luftkrieges in seiner letzen Phase: den Morgen nach einem Bomben-angriff, das Aufstapeln der Leichen oder die Trümmer-beseitigung durch KZ-Häftlinge in ihren Zebra- An-zügen .

Ganz allgemein hatte die Amateurfotografie im Na-tionalsozialismus einen enormen Aufschwung genom-men . Für fast alle war das Hobby in den 1930er Jahren erschwinglich geworden .1 Die fotografische Ratgeberli-teratur erlebte eine ungeahnte Konjunktur . Die Aufla-gen von Fotobüchern gingen in die Hunderttausende .2 Reihen in Broschürenform, so „Der Fotorat“, und Zeit-schriften wie der „Foto-Beobachter“, die sich ausdrück-lich an Amateure wandten, erfreuten sich wachsender Beliebtheit .3 Aus Mangel an professionellen Fotografen – nicht wenige oppositionelle und jüdische Bildjourna-listen sahen sich gezwungen zu emigrieren – ermunter-ten die Kreispropaganda-Ämter der NSDAP Amateure dazu, ihre Fotos von Aufmärschen und Kundgebungen sowie anderen Ereignissen des öffentlichen Lebens für eine Veröffentlichung zur Verfügung zu stellen . Die 1937 eingeführten Reichsfotowettbewerbe öffneten den Amateuren als den „wirklichen Massenpropagandis-ten“ ihrer Zeit eine Tür in die Professionalität .4 Und mit der Aufstellung der Propaganda-Kompanien ab 1938 kamen unter Kriegsbedingungen so viele fotobegeis-

Weiße Fahnen für die Sieger! Die ersten Amerikaner in

Braunschweig. April 1945, Heimliches Foto durch die

Gardine. Fotograf: Hans Steffens, Braunschweig.

Nach dem Luftangriff. KZ-Häftlinge räumen die

Trümmer aus dem Wohnhaus des Senators Bernhard,

Bremen 13. Juni 1943. Fotograf: W. Cüppers.

Die demoralisierende Macht der Zerstörung. Mutter

mit Kind nach einem Luftangriff auf dem Kurfürsten-

damm. November 1942. Fotograf: Wolf Strache.

Kölnisch Wasser in Trümmern. Glockengasse „4711“,

Köln 1943. Fotograf: Hermann Claasen.

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20 II. Krieg und Kriegsende in Fotos 1. Daheim und in der Fremde 211. Daheim und in der Fremde 21

1946 Pressefotograf bei der Braunschweiger Zeitung werden sollte, dokumentierte den Krieg und dessen Fol-gen für die Bewohner seiner Heimatstadt . Unverdros-sen mobilisierte die NSDAP Braunschweigs die Bevöl-kerung zum Durchhalten .Un ter dessen versanken Haus für Haus und Straße um Straße im Hagel der Brand-bomben in Schutt und Asche . Nach dem Feuersturm vom 14 ./15 . Oktober 1944 hingen die Rauchwolken der Schwelbrände tagelang über der Stadt . Als sie sich ver-zogen hatten, nahm der Fotograf auf, was von ihr übrig geblieben war . Ausgebombte Familien hausten in Kel-lerräumen . Geschnürte Bündel, Säcke und sperrige Las-ten türmten sich über den abgemagerten Schultern der Flüchtlinge, die versuchten, Braunschweig zu verlas-sen .6

Bei jungen Leuten überwog nicht selten die reine Abenteuerlust . Als „rasende Fotoreporter“ wollten sie es daheim den Idolen aus den Propaganda-Kompanien an der Front gleichtun . Und wer sich nach dem Krieg – von wem auch immer – eine Entschädigung für die in Schutt und Asche gelegten Wohnhäuser und Betriebe erhoffte, fotografierte aus Eigennutz .

Wenige Kriegsreporter der Propagandakompanien wie Hilmar Pabel nutzten ihr Privileg der Mobilität im Lande, um den Untergang Deutschlands zu fotografie-ren . Pabel schuf auf eigene Faust Bildserien von der

dramatischen Bergung Verschütteter in Remagen und vom aussichtslosen letzten Gefecht des Volkssturms in der Trümmerwüste Berlins . Dabei gelangen ihm Auf-nahmen von großer Einfühlungskraft in das Unglück der Menschen . Seine Fotos sollten im ersten Jahrzehnt des Friedens, vielfach veröffentlicht, zu Ikonen der deutschen Niederlage werden .

Ganz anders Walter Frentz, der bevorzugte Kamera- mann Adolf Hitlers für die Wochenschauen .7 Frentz scheint die Trümmerstädte des deutschen Reiches in den letzten Kriegsmonaten geradezu systematisch auf-gesucht zu haben: Berlin, München, Dresden, Nürnberg . Die Dokumente dieser Winterreise ohne offiziellen Auf-trag – durchweg Farbfotos – zeigen vordergründig im-mer wieder dasselbe: Geborstene Giebel, geschwärzte Wände, verbogenes Metall, ein pulverisiertes Land, un-ter Schuttbergen begraben . Nur wenige Menschen be-völkern die Szenerie . Sie sind unversehrt . Geschäftig gehen sie ihrer Wege oder sind mit Aufräumarbeiten be-schäftigt . Leichen, verkohlte Körper, Verletzte oder Traumatisierte sind nirgends zu sehen . Besonders irri-

tierend sind seine Aufnahmen aus Dresden . Im März 1945, wenige Wochen nach dem verheerenden Bombar-dement vom 14 . Februar, bei dem nach Schätzungen 25 .000 bis 40 .000 Menschen den Tod fanden, leuchten unter einem strahlend blauen mediterranen Himmel die Ruinen Dresdens . Gerade in Dresden ästhetisierte Frentz die Verwüstung von Menschenhand als Werk der Zeit im Bund mit der Natur . Die ruinierte Stadt übte eine eigentümliche Faszination aus . Vor der Erfindung des Stahlbetons galten Verfall und Zerstörung als selbst-verständliche, fast natürliche Spätphasen jeder Archi-tektur, denen der Zahn der Zeit zusetzte . Pathetisch setzte Frentz die toten Über reste als zeitlose Zeichen der Vergänglichkeit von Macht und Herrschaft in Szene .

Amateure und professionelle Fotografen, die sich an der Heimatfront im Zentrum des Geschehens aufhiel-ten, wurden zu Chronisten der letzen Kriegstage aus deutscher Perspektive . Doch auf ihren Bildern fehlt et-was . In den Aufnahmen der Bombenschäden, Rauch-wolken und Schwelbrände sind die Alliierten nur als technische Destruktivkräfte präsent . Schnappschüsse vom Vorrücken der Sieger in das Reich, die aus der Hand deutscher Fotografen stammen, haben Selten-heitswert . Zu groß war das Risiko der Entdeckung und die Furcht vor unberechenbarer Strafe . Darüber hinaus war es für die Besiegten in einem psychologischen Sinne nahezu undenkbar, im Augenblick der Invasion zur Kamera zu greifen . Der Akt des Fotografierens hätte die Geste der Unterwerfung – das Schwenken der wei-ßen Fahnen – konterkariert . Im Moment der Kapitula-tion legten die Zivilisten für kurze Zeit die Kameras aus der Hand .

Amateure und Kriegsberichter an der Front

Auch an der Front und in der Etappe produzierten die Fotoamateure einen riesigen Bilderberg . Eine Armee von Freizeitfotografen überfiel Europa mit der Klein-bildkamera im Marschgepäck . Wer Mut und Nerven-stärke bewies, fotografierte auf dem Vormarsch unter feindlichem Beschuss . Gelungene „Soldatenaufnahmen“ unter Gefechtsbedingungen wurden in deutschen Illustrierten veröffentlicht . Sie zeigen die Trümmer der neuesten Eroberungen, erbeutete Waffen, zerfetzte

Panzer und brennende Siedlungen . In den Kampfpau-sen wurden idyllische Szenen und komische Charaden aus dem Soldatenleben aufgenommen . Gefallene Wehr-machtssoldaten oder zerschossenes eigenes Gerät zu fotografieren, war offiziell untersagt . Die bei weitem meisten Fotos entstanden in der Etappe . Gegen alle Ver-bote, Leichen zu fotografieren, bannten die Knipser nicht nur kriegsgefangene Russen, sondern auch er-schos sene Juden und erhängte Partisanen im Bild . Die Fotos von den Grausamkeiten im Rücken der Front kursierten unter den Mannschaften . Es entstanden regelrechte Tauschbörsen . Mit der Feldpost nach Hause konnten diese Aufnahmen die Zensur nicht passieren .

Nürnberg nach einem Bombenangriff, o. J.

Fotograf unbekannt.

Rettung von Verschütteten in Remagen. Januar 1945.

Fotograf: Hilmar Pabel.

1. Mit eigenen Augen gesehen! Fotografierende

Solda ten, erhängte Partisanen. 1941 oder 1942,

Sowjet union. PK-Foto, Fotograf unbekannt.

2. Soja Kosmodemjanskajas Hinrichtung, 29.11.1941.

Gemälde von Tanja Kukrynisky, 1942–47.

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22 II. Krieg und Kriegsende in Fotos 1. Daheim und in der Fremde 231. Daheim und in der Fremde 23

Die Soldaten trugen sie bei sich . Bei Gefangennahme oder Tod gelangten sie in die Hände des militärischen Gegners . Die Überlebenden des Krieges jedoch bewahr-ten die Fotos daheim in Kartons und Fotoalben auf .8

Für die Eroberer und neuen Herren schließlich wurde der Krieg zur „billigsten Reise ihres Lebens“9 . Land und Leute durchsuchte man bald nach touristi-schen Motiven: Russische Kirchen, flandrische Solda-tenfriedhöfe aus dem Ersten Weltkrieg, die Sehens-würdigkeiten von Paris oder poussierende russische Mäd chen .10

Offiziell hielten die Fotografen und Kameramänner der Propagandakompanien an ihrem Auftrag fest . Die Militärzensur funktionierte bis zuletzt . Man verbreitete Siegeszuversicht. Glaubten die Zeitgenossen daheim den PK-Fotos auf den Titelseiten der Illustrierten, dann war die Wehrmacht stets auf dem Vormarsch oder sie hielt doch zumindest den gegnerischen Angriffen stand, von Rückzug und Niederlage keine Spur . Nur wenige Cover-Fotos zeigten das Gesicht des Krieges und noch weniger Aufnahmen ließen am Ende die bevorstehende Niederlage erahnen: Der Soldat, der für einen verwun-deten Kameraden verzweifelt nach einem Sanitäter ruft oder Goebbels in seiner Funktion als Reichsverteidi-gungskommissar und Gauleiter Berlins und sein Mitar-beiter Gerhard Schach, wie sie mit unverhohlenem Ent-setzen vor der Leuchtkarte Berlins stehen und die Markierungen für Bomben- und Brandschäden be-trachten .

Bis zu 12 .000 Männer arbeiteten während des Zweiten Weltkrieges im Dienst der Propaganda: Ab August 1938 im Heer, ab Juni und Oktober 1939 in Marine und Luftwaffe und ab Januar 1940 auch in der Waffen-SS . Allein deren Kriegsberichter-Kompanie „Kurt Eggers“ zählte Ende 1943 bis zu 150 Offiziere und 1 .600 Mann-schaftsdienstgrade . Einer von ihnen war Henri Nan-nen, der spätere Chefredakteur des Stern . Der Zulauf an gelernten Journalisten, Fotografen, Kameraleuten, Grafikern, Malern und Zeichnern muss beträchtlich gewesen sein . Aber auch etliche begeisterte Dilettanten wurden in den PK-Lehrgängen ausgebildet . Bereits bei Kriegsbeginn pries man in der Deutschen Presse das Zusammenfassen der „Kriegsberichter“ in eigenen Propagandakompanien stolz als „Made in Germany“ . Angeblich handele es sich um Soldaten, die nicht nur berichteten, sondern auch kämpften .11 Goebbels stili-sierte den Kriegsreporter des Dritten Reiches zum He-ros: „Der PK-Mann ist kein Berichterstatter im her-kömmlichen Sinne, sondern ein Soldat . Neben Pistole und Handgranate führt er noch andere Waffen mit sich: die Filmkamera, die Leica, den Zeichenstift und den Schreibblock . Er ist in der Truppe ausgebildet wor-den, er lebt als Soldat unter Soldaten, kennt ihr Milieu, weil es das Seine ist …“ .12 Diesem neuen Helden des Krieges widmeten die Illustrierten in der ersten Kriegs-hälfte Aufmacher und Reportagen .13

PK-Aufnahmen und Amateurfotos der Soldaten dienten dazu, Front und Heimatfront auf diesen Krieg einzuschwören . Alle eingeführten heimischen Illust-rierten, aber auch die neu gegründeten Magazine und Wochenzeitungen zeigten den Krieg im Bild: von der Münchener Illustrierten Presse bis zur Berliner Illust-rierten, von der Wochenzeitung Das Reich und der Aus-landsillustrierten Signal bis zur SS-Zeitung Das Schwarze Korps . Die Zeitschriften wiederum wurden mit dem offiziellen Vermerk „Mit herzlichen Grüßen an die Front von […]“ an die Feldgrauen versandt . Zahllose Kampfaufnahmen von PK-Fotografen kamen auch in den Presseorganen der Land-, Luft- und See-streitkräfte Die Wehrmacht, Der Adler und Die Kriegs-marine zur Veröffentlichung . Darüber hinaus wurden PK-Aufnahmen über regierungsfern anmutende, pri-vatwirtschaftlich tätige Bilderdienste wie die Agentur „Atlantik“ im Ausland vertrieben . Zu den Kriegsfoto-grafen, die in den Magazinen und Illustrierten für das

deutsche Reich häufig publizierten, gehörten Wolfgang Weber, Benno Wundshammer, Erich Zülsdorf, Heinz von Per(c)khammer, Bernd Lohse, Hans Schaller, […] Seeger und […] Etzold .

Unter den Illustrierten und Wochenzeitungen im Reich genoss Das schwarze Korps eine Sonderrolle . Die Zeitschrift der SS, die erstmals im Februar 1935 er-schien und vom erst 25jährigen Demagogentalent Gunter d’Alquen geleitet wurde, wetterte vor dem Krieg vor allem gegen den politischen Katholizismus, alle Formen der Vorteilsnahme und Korruption und gegen „die Bürokratie“ . Auch stand die Diffamierung der Rechtsberufe an der Tagesordnung .

Das Blatt wurde wegen dieses Populismus rasch zu einer Art Beschwerdeinstanz seiner Leserschaft . Dar-über hinaus galt es wegen seiner Nähe zur Parteispitze für besser informiert als andere Blätter . Wichtige Rubri-ken waren: „Der politische Soldat“, die ab Dezember

Hoher Besuch. Der „GröFaz“ [Der Größte Führer aller

Zeiten] bei der Truppe an der Ostfront. Ohne Datum.

Fotograf: Kurt Höffkes, Auris.

Illustrierte im Krieg. 1. „Sanitäter!“ (Kölnische Illustrierte Zeitung 47, November 1942). PK-Foto: SS-Kriegs-

berichter Augustin, Atl.[antik] 2. „Die Reichshauptstadt in der Kampflinie“ (Berliner Illustrierte Zeitung 9, März

1944). PK-Foto: Erwin Baas. 3. „Struppi heißt der Staffelhund“ (Die Woche 5, Februar 1942). PK-Foto: Seeger.

4. „Invasion! Die deutschen Gegenmaßnahmen laufen!“ (Stuttgarter Illustrierte 25, Juni 1944).

Mit Doppel-Leica und Walter. Ein PK-Fotograf. 1941,

Moldawien. Fotograf: Hanns Hubmann.

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24 II. Krieg und Kriegsende in Fotos 1. Daheim und in der Fremde 251. Daheim und in der Fremde 25

1939: „Für die Waffen-SS“ hieß und Kriegsberichte lie-ferte, „Der nordische Mensch“ – eine Unterweisung im Ariertum – und „Aus Sippe und Familie“, in der die Hei-rats-, Geburts- und später die Gefallenenanzeigen von SS-Männern veröffentlicht wurden . Man zeigte sich während des Krieges ausgesprochen antibritisch . Zahl-los waren etwa die Karikaturen Winston Churchills . Vor allem aber pflegte das „Schwarze Korps“ in Artikeln, Karikaturen und Fotos einen aggressiven Anti semi-tismus . So dienten der SS-Propaganda besonders un-vorteilhafte Porträtfotos polnischer Juden als Rechtfer-tigung für die Errichtung des Warschauer Ghettos .

Bereits von Zeitgenossen wurde der journalistische Stil des Magazins unterschiedlich beurteilt . Für die einen war es das Schmuddelkind im deutschen Blätter-wald . Es galt als geschmacklos oder sogar pornogra-phisch, und man las es allenfalls heimlich . Andere hielten das Blatt für erfrischend frech, schnoddrig und aggressiv .14 Mit einer wöchentlichen Auflage von bis zu 750 .000 Exemplaren war „Das Schwarze Korps“ weit

mehr als eine bloße Hauspostille der SS . Aus Sicht der verantwortlichen Redakteure sollte die Wochenzeitung, die wegen ihrer zahlreichen Fotos eher einer Zeitschrift glich, ein Blatt reinster ideologischer Schulung sein, welche den Menschen in Stand versetzen sollte, sich über Konventionen und (falsche ethische) Rücksichten mit Nüchternheit, Kälte und Effizienz hinwegzusetzen .

Für Das Schwarze Korps fotografierten nach 1939 vornehmlich, freilich nicht exklusiv die Kriegsberich-ter der Waffen-SS, die ab Januar 1940 in einer eigenen Kompanie zusammengefasst waren, der Gunther d’Al-quen von Beginn an vorstand . Zu den Bildberichtern der Waffen-SS gehörten Paul Neumann, Gio vani (Nino) Niquille, Paul Augustin, Alois Jarolim, Peter Adendorf, […] Kamps, Gerhard Gerber, Max Bue schel, Hermann Grönert, […] Nonnenmacher, Friedrich Zschäckel, Johan King, […] Pospesch und Werner Mielke . Nicht wenige von ihnen waren hoch deko rierte Kriegsteil-nehmer, ihre Aufnahmen wurden auch in anderen deutschen Zeitschriften abgedruckt . Vor dem Krieg war das Blatt vor allem durch den Bilderdienst Hein-rich Hoffmann beliefert worden, der auch nach 1939 Fotos beisteuerte . Eine Vielzahl der Fotos und Foto-reportagen abseits der unmittelbaren Kriegsberichter-stattung stammten von Dr . Lore Weskamp, einer fest angestellten Bildberichterin des Blattes .

In Berlin wurde der Kriegsberichter-Kompanie mit tatkräftiger Unterstützung der Firma AGFA ein zentra-les Fotolabor eingerichtet . Die Einheit wurde mit neu-artigem Filmmaterial für Schwarz-Weiß- und Farbfo-tos versorgt . In der Zentrale beschäftigte man ein Heer von Lektoren und Journalisten in jeder europäischen

Sprache .15 So erhoben die Ideologen den heutzutage bizarr anmutenden Anspruch, die SS sei d a s Medium zur Verwirklichung des neuen Europa . Oder wie d’Al-quen es nach 1945 formulierte: „Man hatte das Gefühl, man fährt eines Tages mit seinem Volkswagen durch Europa, nach Dijon oder nach Paris und trifft dort einen von der gleichen Couleur .“16

„Das Schwarze Korps“ verschrieb sich dem Europa-gedanken, indem es unter der Rubrik „Die Antwort Europas“ im Genre des Authentischen – und das heißt im Medium der Fotografie – Porträts volksdeutscher, flämischer, dänischer, schweizerischer, galizischer, nie-derländischer, lettischer und französischer Freiwilliger für die SS präsentierte . Sie galten als Kronzeugen für eine Neuordnung Europas „gegen Bolschewismus und Plutokratie“ . Und sie sollten die Behauptung des Geg-ners entkräften, „dass nur Gewalt und Machtwille des deutschen Volkes die Jugend der europäischen Völker in den Kampf “ treibe .17

Doch die Fotografie diente auch der Propaganda in den besetzten Ländern . Für die Satrapen des Dritten Reiches und die wenigen neutralen Länder Europas wurde im April 1940 mit Signal eine aufwendige Aus-landsillustrierte gegründet, die bis März 1945 erschien .18 Sie brachte es zu einer Höchstauflage von 2,5 Millionen Exemplaren, wurde zeitweilig in zwanzig Sprachen produziert und dabei nur außerhalb des Reiches ver-trieben . Die besten Fotografen, die gelenkigsten Jour-nalisten und die rührigsten freien Autoren arbeiteten für Signal . Zu letzteren zählten Eduard Rhein, der spä-tere Chef von „HÖR ZU“ und Herausgeber der Nach-kriegsillustrierten Kristall, und Kurt Zentner, der in den fünfziger Jahren historische Sachbücher über den Welt-krieg veröffentlichte . Hauptschriftleiter waren 1940 Ha-rald Lechenperg, 1941 Heinz Medefend, 1942 Wilhelm Reetz und ab 1943 Giselher Wirsing . Die Bildreporta-gen und Einzelfotos lieferten in erster Linie Fotografen der Propagandakompanien, darunter Arthur Grimm, Wolfgang Weber und Dietrich Kenneweg . Zu den pro-minentesten Fotografen für Signal zählten Benno Wunds hammer, Gerhard Gronefeld, Hanns Hubmann und Hilmar Pabel .

Das Magazin im Umfang von rund 40 Seiten zeich-nete sich durch seriöse Aufmachung, guten Stil, überra-gende (Farb-)Fotos und ungewöhnliche Titelseiten aus . Einen aggressiven Antisemitismus und eine Verhöh-

nung oder Verächtlichmachung des militärischen Geg-ners im Osten, wie sie im SS-Blatt Das Schwarze Korps an der Tagesordnung waren, sucht man in den Signal-Nummern vergeblich . Die Momentaufnahmen an der Front waren Kriegsfotografie „at its best“ . Die Fotogra-fen hielten sich in unmittelbarer Nähe zum Kampfge-schehen auf . Doch militärische Themen machten nur einen kleinen Teil der Beiträge aus . In ihnen ging es stets um Optimismus und Kampfbereitschaft . Weder das Grauen der Kriegsschauplätze noch die Zerstörung deutscher Städte durch alliierte Bomben wurden ge-zeigt . Das Gros der Bildberichte pries das „artreine“ Kulturleben, die deutsche Wirtschaftskraft und die NS-Sozialpolitik, glückliche deutsche Familien, Lifestyle-Reportagen und Blondinen im Bikini, auch nach 1943 . Diese Mischung aus Unterhaltung und Ablenkung war ausgesprochen professionell . Noch im letzten Kriegs-jahr 1944/45 enthielten die Hefte besondere Seiten mit Farbfotos, welche deutsche Bildhauer (Georg Kolbe)

Titelblatt eines Fotoalbums (1940–1944). Walter

Henisch, PK 612, später 693. Fotografen unbekannt.

Benno Wundshammer, Feldflugplatz

in Nordafrika 1943. Fotograf unbekannt.

„In vorderster Front: Deutsche Kriegsberichter“ (Signal

1, April 1940 = Sondernummer der Berliner Ill. Zeitung).

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26 II. Krieg und Kriegsende in Fotos 2. Durch das Objektiv der Alliierten 272. Durch das Objektiv der Alliierten 27

und Schauspieler (Willi Forst), österreichische Kompo-nisten (Franz Lehár), Schiller in Weimar sowie Monte-cassino und Castel Gandolfo vor und nach der Bom-bardierung durch die Alliierten zeigten .

Signal präsentierte seinen Lesern das neue Europa, das kulturell unverkennbar von Deutschland geprägt sein und unter deutscher Vorherrschaft stehen würde . Die Berichterstattung folgte weniger den Gesetzen einer platten Siegespropaganda als denen einer subti-len Überlegenheitsgeste: In bestechender Ästhetik spie gelte man einen Pseudokonsens der europäischen Völker über die neue Ordnung unter deutscher Füh-rung vor . Nach dem Überfall auf die Sowjetunion am 22 . Juni 1941 ließ Reporter Hanns Hubmann fröhliche Flamen, Holländer, Dänen und Norweger als „germa-nische Freiwillige der SS“ verkünden: „Ich will zu Lande für ein neues Europa kämpfen“ .

Laut Erinnerung des ehemaligen Chefs vom Dienst F . H . Mößlang hatten sich die Blattmacher die ameri-kanische Illustrierte Life zum Vorbild genommen . Die journalistische Invasion Europas erfolgte in Farbe und anspruchsvollem Layout . Der britische Daily Express musste nach Erscheinen der ersten Nummer am 25 . April 1940 neidvoll anerkennen, dass die Artikel sich lesen, „als ob sie von einem Engländer übersetzt wären“ . Life selbst – hellster Stern am Zeitschriften-himmel – verlautete am 22 . März 1943, Signal schlage mit ihrem „intensiven Propagandastil“ die heimische Victory um Längen . Und noch über zwanzig Jahre später bezeichnete der französische Kriegsreporter Daniel Camus von Paris Match, der unter anderem über die Suez-Krise (1956) berichtete, die fotojourna-listische Leistung von Signal als Vorbild für seine Bild-redaktion .

Viele namhafte Fotografen hatten mit dem Kriegsein-tritt ihres Landes die Sondererlaubnis erhalten, als Bild-reporter an der Front zu arbeiten . Lee Miller fotogra-fierte den Weltkrieg für Vogue . George Rodger, Margaret Bourke-White, David Douglas Cuncan, Eliot Elisofon, Eugene Smith, Robert Capa (André Friedman) oder William Vandivert standen bei Life unter Vertrag . Hum-phrey Spender und Bert Hardy oder James Jarché und Eddie Malindine, aber auch die deutschen Emigranten Felix H . Man (Hans Baumann) und Kurt Hutton (Kurt Hübschmann) arbeiteten für die britische Picture Post und Illustrated London News. Die Fotografen waren von den einzelnen Militärverwaltungen ausgewählt und unterstanden dem Kriegsministerium, dem sie als „Captain“ in den Fotografie-Einheiten des „US Army Signal Corps“ oder als „Sergeant photographer“ inner-

halb der „Army Film and Photographic Unit“ (AFPU) verpflichtet waren . Anders die sowjetischen Kriegsfoto-grafen . Jewgenij Chaldej (TASS), Georgi Selma, Arkadi Schaichet (Fotograf des Ogonjok, einem populären Magazin mit Millionenauflage), Georgi Petrussow, Timofej Melnik oder Iwan Schagin waren im Großen Vaterländischen Krieg unmittelbar den Kampfeinhei-ten zugeteilt und nicht nur Bildreporter in Uniform, sondern mitunter auch Soldaten der kämpfenden Truppe . Sie lieferten Bilder für die regierungsoffizielle Iswestia, für das Sowinformbüro, die Frontowaja Illjust-razia, die Komsomolskaja Prawda, für die sowjetische Nachrichtenagentur TASS und für diverse Frontzeitun-gen .19 In der Regel waren die sowjetischen Fotografen mutiger und wagten sich näher ans unmittelbare Kampfgeschehen als ihre Kollegen an der Westfront .

Das Überschreiten der Westgrenze des Deutschen Reiches im Winter 1944/45 war für die Alliierten wie ein zweiter D-Day . Als sein Ende abzusehen war, kon-zentrierte sich das Interesse der westalliierten Foto-Krieg und Vergnügen. Titelblatt und Rückseite (Signal 10, 1944). Cover: PK-Foto Erwin Baas.

Die erste Schlacht auf deutschem Boden

(Picture Post 12, Dec. 1944).

Landeskunde über den Feind (Picture Post 11,

March 1945).

2. Durch das Objektiv der Alliierten

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28 II. Krieg und Kriegsende in Fotos 2. Durch das Objektiv der Alliierten 292. Durch das Objektiv der Alliierten 29

grafen auf den Aggressor und auf den militärischen und moralischen Sieg über ihn .

Bereits Ende Mai 1944 gab die Picture Post unter dem Titel „Know your Enemy: The German as a Sol-dier“ Hinweise über Land und Leute im Krieg . Im März des folgenden Jahres fragte sie: „The Beaten German: What is He Like?“ Eine Woche später begann die Inva-sion als Häuserkampf: „Into Germany House by House .“ Das Coverfoto zeigte jedoch kurioserweise die Invasion als Vorrücken auf der Landstraße, deren erste Zeugen Kinder waren .20

Martialisch, entschlossen und siegesgewiss blickte Robert Capas Fallschirmspringer in der „Life“-Repor-tage „The last round“ in die Kamera . Seine Einheit sollte im März 1945 hinter dem Rhein bei Wesel abspringen, um die braune Diktatur endgültig in die Knie zu zwin-gen . Die extreme Untersicht verleiht dem Soldaten Überlebensgröße . Von britischen Fotografen wurde das Überschreiten des Westwalls, der sogenannten Sieg-fried-Linie, als symbolischer Moment der Eroberung häufig ins Bild gesetzt . Heckenschützen, versprengte Einheiten, die sich ein letztes Gefecht mit den Erobe-rern geliefert hatten, und Überläufer blickten mit erho-benen Händen in die Kamera . Nun konnte der Feind aus nächster Nähe betrachtet werden . Noch bewegte sich die Bildberichterstattung der Briten und Amerika-ner über die in der Schlacht Unterlegenen auf gleicher Augenhöhe . Aber der Akt des Fotografierens wurde –

insbesondere von den weiblichen Kriegsfotografen wie Lee Miller – als Teil des Triumphes begriffen, während die Besiegten, unter ihnen vor allem die Offiziere, das Fotografiertwerden als Demütigung empfanden .21

Am schockierendsten waren für die Fotografen an der Westfront zunächst die Kindersoldaten der Wehr-macht, die ihnen als Kriegsgefangene in die Hände fie-len – halbwüchsige Angehörige der Hitlerjugend, deren Seelenzustand zwischen Fanatismus und Verzweiflung schwankte . Der zweite Schock galt dem Zustand man-cher amerikanischer Kriegsgefangener . Einige von ihnen waren völlig unterernährt und abgemagert aus deutschen Kriegsgefangenenlagern befreit worden .22

An der Ostfront dagegen riefen Halbwüchsige unter den deutschen Kriegsgefangenen kein allzu großes Er-staunen hervor . Obwohl die einfachen Soldaten in allen Armeen der Welt jung, also zwischen 18 und 22 Jahren alt sind, waren jugendliche Freiwillige unter 18 Jahren in der Roten Armee anscheinend keine Seltenheit . Über-haupt war die sowjetische Perspektive eine andere . Bis 1941 galten die Deutschen als „Klassenbrüder in Wehr-machtsuniform“ . Danach avancierten sie zu Faschisten und zu „wilden, tollwütigen Tieren“ . Die Soldaten der Roten Armee lieferten sich mit dem deutschen Aggres-sor seit 1941 erbitterte Kämpfe auf eigenem Boden . Sie lernten die Grausamkeiten der deutschen Kriegführung gegen die Zivilbevölkerung und zuletzt die Strategie der verbrannten Erde kennen . Sie gingen durch eine mehr-

jährige Schule der Hasspropaganda, wonach es sich bei „den Faschisten“ nicht nur um militärische Gegner, sondern um ideologische Feinde und Bestien in Men-schengestalt handelte . Ihnen war bewusst, dass die Wehr machtssoldaten ebenfalls ein hartes politisches und rassistisches Feindbild im Kopf hatten . So be-stimmte das Bedürfnis nach Vergeltung jede politische Arbeit in der Roten Armee .23 Ilja Ehrenburg, der nach dem Überfall auf die Sowjetunion Kriegskorrespondent der Krasnaja Swesda wurde und zu den schärfsten Agi-tatoren ge hörte, benutzte für seine Flugblätter auch er-beutete Briefe, Tagebücher und Amateurfotos deutscher Soldaten . In einem Flugblatt „Neue Fotos, die die fa-schistischen Greuel enthüllen“, schrieb er 1942 zu den Aufnahmen erhängter Partisanen: „[…] Diese vollzoge-nen Strafen sind nach dem Geschmack der deutschen Soldateska verübt worden, und alle Einzelheiten ihrer blutigen Arbeit sind von den Hobbyfotografen unter den Henkern sorgfältig dokumentiert .“24 Ganz offen-sichtlich war es die Lust am Fotografieren von Kriegs-verbrechen, die Ehrenburg besonders irritierte .

Am Ende waren die Besiegten, die einst als aggres-sive Eroberer und „Herrenmenschen“ ausgezogen waren, die Sowjetunion zu unterwerfen, für die sowje-tischen Armeefotografen anonyme Gestalten, die mut-los und apathisch im Staub hockten . Oder es handelte sich um ausgemachte Schuldige, weil sie nach ihrer Ge-fangennahme aus Scham ihr Gesicht verhüllten . Die gefangenen genommenen Generäle aber repräsentier-ten in straffer Haltung und untadeliger Uniform noch immer den verhassten Faschismus .

Siegerposen und Hitleriana

Plötzlich war der Krieg zu Ende und niemand wußte, was er damit anfangen sollte. Die Journalisten wußten nicht, was sie schreiben sollten. Die Photographen fürchteten, im Augenblick des Endes am falschen Platz zu sein. Margaret Bourke-White, 1946

Aus dem befreiten Europa eilten die Kriegsfotografen herbei, um den Sieg über die braune Diktatur in Berlin, Nürnberg, München und anderswo in Szene zu setzen: Die Kapitale des Faschismus, die Hauptstadt der Reichs-

parteitage und die Hauptstadt der Bewegung wurden nun auch im Bild eingenommen, bevor sie wenig später für die Besatzungssoldaten zur touristischen Attrak tion werden sollten . Die bekanntesten Siegesfotos sind ge-stellt . Besser als jede zufällige Momentaufnahme sym-bolisierten visuelle Inszenierungen die vernichtende Niederlage des Dritten Reiches – ob es sich um den ge-zielten Schnappschuss Robert Capas des „Victorious Yank“ auf der Haupttribüne des ehemaligen Reichspar-teitagsgeländes in Nürnberg oder um Jewgenij Chaldejs fahneschwenkenden Rotarmisten auf dem Berliner Reichstag handelte .

Life hatte seine Fotografen beauftragt, das Foto zum Sieg über Nazi-Deutschland für die Titelseite des ersten Heftes nach Kriegsende zu schießen . Und Robert Capa lieferte es . Auf dem Vormarsch durch Deutschland hielt sich seine Einheit gerade in Nürnberg auf . Kurzent-schlossen postierte er auf der Haupttribüne des ehema-ligen Reichsparteitagsgeländes seinen Fahrer Hubert Strickland vor dem riesigen lorbeerumkänzten Haken-kreuz aus Stein . Halb ist der erhobene Arm eine Paro-die auf den Hitlergruß, halb eine unbehol fene Geste des Triumphs . Das Foto, das wie ein privater Schnappschuss zur Erinnerung an den Sieg entstanden war, ging um die Welt .

Das letzte Gefecht („The Last Round“, Life 15,

April 1945). Foto: Robert Capa.

Die Kapitulation der Kindersoldaten. Vierzehnjährige,

Zeven, April 1945. Foto: Sergeant Gordon.

„Victorious Jank“ (Life 20, May 1945).

Foto: Robert Capa.

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30 II. Krieg und Kriegsende in Fotos 2. Durch das Objektiv der Alliierten 312. Durch das Objektiv der Alliierten 31

Viele der sowjetischen Fotos von der Kapitulation Berlins wurden mit Blick auf eine propagandistische Verwertbarkeit angefertigt oder nachträglich mit pas-senden Bildlegenden versehen . So montierte Mark Red-kin den erschöpften deutschen Soldaten in eine Auf-nahme des zerstörten Reichstags hinein . Das bekannte Foto Iwan Schagins „Die Zeit des Nachdenkens hat be-gonnen“ vom 3 . Mai 1945 gibt vor, die Überreste einer vollständig demoralisierten Wehrmacht vor dem Bran-denburger Tor zu zeigen . Im Zentrum des Fotos befin-

den sich drei auf dem Boden hockende und in Decken gehüllte Männer . Ihre gekrümmte Haltung verstärkt die Anmutung in sich gekehrter kollektiver Abwesenheit . Doch das Bild hat seine eigene Geschichte . Schagin nahm verwundete deutsche Soldaten auf, die aus dem in Brand geratenen Notlazarett im Hotel Adlon evakuiert werden mussten und nun auf dem Pariser Platz von deutschem Rotkreuzpersonal versorgt wurden . Ein ins-trumentelles Verhältnis zur Wahrheit offenbarte auch eine Aufnahme, die den Befehlshaber der Berliner Trup-pen, General Weidling, angeblich beim Verlassen des Bunkers der Reichskanzlei am 6 . Mai 1945 in Berlin zeigt . Das Foto entstand aber in sowjetischer Kriegsge-fangenschaft vor irgendeinem Bunker . Die gestellten Fotos und Filme über hohe Offiziere dienten weniger der Berichterstattung als der Propaganda .

Nichts symbolisierte für die Roten Armee die Zent-rale des deutschen Faschismus so sehr wie der Reichs-tag . In der Schlacht um Berlin entbrannte unter den Einheiten ein regelrechter Wettkampf, wer das Gebäude als Erster erreichen würde . Alle wollten in seinen Mau-ern ihre eigene Botschaft vom Sieg hinterlassen . Kurz-fristig wurde der TASS-Fotograf Jewgenij Chaldej ins besiegte Berlin eingeflogen, mit dem Auftrag, das Sie-gerfoto zu schießen, das die Frontberichterstatter vor Ort im allgemeinen Triumphgefühl und bei exzessivem Alkoholgenuss mutmaßlich nicht zustande bringen würden . Für ihn hissten die beiden Rotarmisten auf dem verhassten Reichstag die sowjetische Fahne am 2 . Mai 1945, als der Häuserkampf um die Hauptstadt

entschieden und Berlin eingenommen war, ein zweites Mal . Nachträglich mussten die Aufnahmen jedoch re-tuschiert werden . Zwei Armbanduhren am Handgelenk des einen Soldaten – kleine Trophäen des Sieges und Statussymbole der neuen Herren – waren eine zuviel .

Wie bei allen Siegern der Welt wurde die unterlegene Macht auch durch Spott demontiert . In Hitlers Privat-residenz am Münchener Prinzregentenplatz ließ sich David E . Scherman für Life ausgestreckt auf Hitlers

Bett ablichten, wie er „Mein Kampf “ las und zum Militärtelefon griff . Und Lee Miller saß als amerikani-sche Venus in Hitlers Badewanne, für eine Homestory ohne Hausherr in Vogue . Ihr Kommentar zur Einrich-tung: „Es fehlte an Grazie und Charme, es fehlte an In-timität, aber es war nicht erhaben .“ Die Russen dagegen nahmen das Schlagwort „Hitler kaputt“ wörtlich, feier-ten Gelage unter zerstörten Hitler-Porträts und demo-lierten Bronzeköpfe des verhassten Feindes . Oder sie nahmen solche als Kriegstrophäen an sich wie der Dichter Jewgeni Dolmatowski, nachdem er vor dem zerschossenen Brandenburger Tor für seine Einheit einige Gedichte zum Sieg über Nazi-Deutschland de-klamiert hatte . Zwar bildeten das Brandenburger Tor und der Reichstag für die Soldaten der Roten Armee die bevorzugten Orte für improvisierte Siegesfeiern und Erinnerungsfotos, doch es wurde auch anderswo in der Stadt gejubelt, zum Beispiel an der Siegessäule .

Als die westlichen Alliierten im Juli und August 1945 in Berlin einrückten, besetzten sie die ehemalige Reichshauptstadt nachträglich auch mit den Mitteln der Fotografie . Zerstörtes Kriegsgerät am Reichstag gab die perfekte Kulisse für ein Siegerfoto ab .25 Franzo-sen stellten sich auf dem Balkon der Reichskanzlei auf und imitierten den „Deutschen Gruß“ . Zum Sigthsee-ing-Programm gehörten die Ruinen Berlins als zweites Karthago, die Wahrzeichen der Stadt – das Branden-burger Tor, das Hotel Adlon, Reichstag und Reichs-kanzlei –, die Sektorengrenzen mit ihren Hinweisschil-dern, aber auch die Sinnsprüche Stalins und die auf- gestellten riesigen Plakatwände mit den Porträts von Churchill, Truman und Stalin . Die Soldaten der Roten Armee wurden Bestandteil der touristischen Attraktio-nen, vor denen oder mit denen man sich aufstellte .

Schwarz auf Weiß. Die befreiten Lager

Mit dem Vorrücken der Front stießen die Armeefoto-grafen auf die Vernichtungs- und Konzentrationslager . Die ersten Fotos und Berichte stammten von den Kriegsreportern der Roten Armee . Als erstes Lager überhaupt war Lublin/Maidanek am 23 . Juli 1944 be-freit worden . Es galt den Russen künftig als Inbegriff des Vernichtungslagers . Ursprünglich für sowjetische Kriegsgefangene geplant, diente es als Straflager für

„Die Zeit des Nachdenkens hat begonnen.“ Berlin, April/Mai 1945. Bildausschnitt und Originalfoto.

Aufnahme: Iwan Schagin.

Die Rote Fahne über Berlin, 2. Mai 1945.

Foto: Jewgenij Chaldej.

In Hitlers Badewanne. Lee Millers Homestory aus

München, im Mai 1945 (British Vogue, July 1945).

Foto: David Scherman.

Die Sieger als Touristen. „Berlin Tourist“ (Yank Weekly

18, Oct. 1945).

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32 II. Krieg und Kriegsende in Fotos 2. Durch das Objektiv der Alliierten 332. Durch das Objektiv der Alliierten 33

Polen, dann als KZ für Juden . Maidanek wurde zum Ort der Massenexekutionen und mit dem Bau der Gaskammern seit März 1942 zum Vernichtungslager . 200 .000 bis 250 .000 Menschen wurden dort ermordet . Zuletzt hatte die SS 12 .000 bis 16 .000 Häftlinge evaku-iert . Am Tag der Befreiung fanden die Truppen noch einige hundert russische Gefangene in beklagenswer-tem Zustand vor . Die Befreiung von Treblinka folgte noch im selben Monat, die von Auschwitz am 27 . Ja-nuar 1945 .

Bereits in dieser Phase des Krieges wurden deutsche Kriegsgefangene mit den Verbrechen, die in ihrem Na-men begangen worden waren, konfrontiert . Von Lublin erfuhr auch die westliche Welt .26 Doch die 1944 veröf-fentlichten Fotos zeigten ein Lager ohne Überlebende . Es fehlten Aufnahmen der Leichen und Innenaufnah-men der Baracken . Gezeigt wurden Fotos der Öfen im Krematorium, ein Berg von Schuhen und Zyklon-B-Dosen . Über die Gründe für diese Bildauswahl wissen wir nichts . Möglicherweise beschränkte man sich auf „sachliche“ Fotos, weil es gegen Informationen aus so-wjetischen Quellen durchaus Vorbehalte gab . Es war bekannt, dass dieses Material zu Propagandazwecken eingesetzt wurde . Bereits vor Beginn des Kalten Krieges bedurfte es für die westliche Öffentlichkeit des eigenen Augenscheins, beglaubigt durch ihre eigenen Fotogra-fen . Daher kursierte der mit Fotos illustrierte Bericht

„Ich sah das Vernichtungslager“ des Kriegsberichter-statters Konstantin Simonow vor allem in der deut-schen kommunistischen Exilpresse in der Sowjetunion, den USA und in Mexiko . Unmittelbar nach dem Krieg gelangte er als Broschüre der sowjetischen Militärad-ministration nach Deutschland und Österreich . Spar-sam illustrierte Berichte über Treblinka, Auschwitz, Buchenwald, Dachau und Ravensbrück folgten .27

Mit dem Vorrücken der Front sah auch die westliche Welt die Lager . Margaret Bourke-White erinnerte sich 1946: „Alle Life-Photographen an der ganzen Westfront stießen gleichzeitig darauf: Dave Scherman versuchte, Bilder von Auschwitz zu machen, bis ihm übel wurde, [Johnny] Florea traf auf Nordhausen, [William] Van-divert machte in Gardelegen ein paar unvergeßliche Aufnahmen und George Rodger lieferte einen erschüt-terten Bericht über Belsen .“28 Bourke-White selbst fotogra fierte Leipzig-Mockau, Lee Miller Buchenwald und Dachau . Das Entsetzen der Kriegsberichterstatter über das System der Vernichtungs- und Arbeitslager fand seinen unmittelbaren Nachhall in der alliierten Presse . Die britischen und amerikanischen Zeitungen veröffentlichten die Fotos über „Atrocities“ seit Anfang April 1945 . Die Berichterstattung begann am 4 . April mit Ohrdruf, setzte sich fort mit der Befreiung Buchen-walds und Belsens Mitte April, Dachaus am Ende des Monats und endete mit Falkenau, einem Außenlager

Flossenbürgs, am 7 . Mai . Life und Picture Post widme-ten den Lagern Anfang Mai ausführliche Bildberichte . Im April und Mai veröffentlichten die Alliierten die Fo-tos in ihren Heereszeitungen und in den ersten Lizenz-blättern für die deutsche Bevölkerung . Parallel wurden für die Wochenschau Kurzfilme, Plakate, Tafeln, Schau-fensterausstellungen und Broschüren erstellt . Über kein Thema wurde bei Kriegsende mehr und ausführlicher berichtet .

Es waren die Alliierten, die dem besetzten Land sein furchtbarstes Geheimnis entrissen . Ihre Fotos verän-derten das Verhältnis der Sieger zu den Besiegten grundlegend . Ohne genaue Instruktionen nahmen die Kriegsfotografen alles auf, was sie unmittelbar nach der Befreiung der Lager sahen: namenlose Tote und zahl-lose Sterbende, berüchtigte Kapos und SS-Aufseher, ge-gen die sich die Rache der Häftlinge wandte, aber auch Einwohner und Honoratioren der Orte in der näheren Umgebung, die man zwang, die Lager und Massengrä-ber aufzusuchen und die Leichen ordentlich zu bestat-ten . Die Kamera diente der Dokumentation von Ver-brechen gegen die Menschheit, der Sicherung von Beweisen, der Ablichtung von Opfern, Tätern und Zeit-genossen und der Beglaubigung durch anwesende Zeu-gen in der Uniform der Befreier .

Das unbestechliche Objektiv registrierte die Reaktio-nen der Deutschen auf Tatsachen, die nicht zu leugnen waren . Ganzen Gemeinden wurde der Besuch der Auf-

„Das wird niemals vergessen.“ Ohne Ort, 1944.

Foto: Mark Markow Grinberg.

„Die am Leben Gebliebenen.“ Auschwitz, 1945.

Foto: Olga Ignatowitsch.

Diese Schandtaten: Eure Schuld! Öffentliches Plakat,

Bad Mergentheim Juli 1945. Fotograf unbekannt.

KZ Dachau, April 1945. Foto: Lee Miller.

Vesper neben Leichen. KZ Bergen-Belsen, Mai 1945.

Foto: Sergeant Midley.

Schockpädagogik. Die Bevölkerung von Nammering

vor den exhumierten Opfern des KZ Flossenbürg, Juni

1945. Foto: Edward Delfer (US Army Signal Corps).

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34 II. Krieg und Kriegsende in Fotos 2. Durch das Objektiv der Alliierten 352. Durch das Objektiv der Alliierten 35

klärungsfilme über die Konzentrationslager verordnet . Vorher-Nachher-Fotos der Besucher sollten Aufschluss über die Intensität ihrer Reue geben . Wer beim Hinaus-gehen lachte, musste sich den Film ein zweites Mal anse-hen, wie die beiden Mädchen aus Burgsteinfurt, „the vil-lage of hate“ .29 Auch die Fotodokumentationen über die Entdeckung von Massengräbern und die zwangsweise Bergung und ordentliche christliche Bestattung der Lei-chen durch die ortsansässige Bevölkerung erfüllte den Zweck der doppelten Beweise . Niemand sollte künft ig die furchtbare Realität der Lager leugnen können, schließlich war sie gefilmt und fotografiert worden . In der Konfrontation mit Fotos und Filmen über die „To-desmühlen“, das System der Zwangsarbeit und den Ter-ror wollte man das deutsche Volk dazu bringen, diese zweite Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen . Die Kon-frontation der Deutschen mit dem „wahren Gesicht“ der braunen Diktatur war in der ersten Phase durch und durch visuell . Die Schock-Pädagogik kreiste um das Vor-zeigen und das erzwungene Betrachten der Greueltaten und um die Einsicht in die eigene Schuld . Nachträglich bestätigten die Fotos den Siegern die moralische Berech-tigung ihres Sieges .30 Hochfliegend und ein wenig naiv waren die Erwartungen gegenüber den Besiegten, sich für diesen im Kern unverständlichen Rückfall in die Bar-barei verantwortlich zu fühlen: die kollektive Schuld sollte einen kollektiven kathartischen Schock auslösen .31

Doch für die Alliierten überraschend und enttäu-schend, reagierten viele Deutsche abwehrend und ver-stockt auf die ersten Umerziehungsversuche . Ihr Alltag wurde gleichsam über Nacht als pathologisch und ver-brecherisch gebrandmarkt . Die Suche nach einer Bleibe, nach Brennmaterial, Nahrung, Medizin, saube-rem Wasser, die Sorge um vermisste Angehörige und verlorene Kinder forderte ihre ganze Kraft . Nicht ohne Berechtigung fühlten sie sich selbst als Opfer eines Krieges, für den sie nun die Verantwortung überneh-men sollten . Wo die Alliierten allzu schnell politische Unbelehrbarkeit und Arroganz vermuteten, hielten an-dere die Politik der Reeducation für fragwürdig und konnten für deren breite Ablehnung auch Gründe an-führen . Eugen Kogon, der ehemalige Buchenwald-Häftling und Mitbegründer der Frankfurter Hefte, bezeichnete es als fatal, dass der Anklageschock der Kollektivschuld jede Form der Selbst besinnung blo-ckieren musste . Er gab zu bedenken, dass eine Zivilbe-

völkerung, die durch den Bombenkrieg gegangen war, nicht so leicht durch den Anblick der Über lebenden und Ermordeten der Lager zu erschüttern sei . Im Ge-genteil, für Kogon wäre in einer Situation der unmittel-baren Konfrontation unterschiedlichster Erfahrungen jede Regung der Humanität und Reue erstaunlich ge-wesen: „Verwahrloste und verbitterte Angehörige der ‚Vereinten Nationen‘ [DPs, d .V .in], nun endlich we-nigstens dem Bewusstsein nach Sieger und einer Teil-freiheit zurückgegeben, trafen auf eine gleichfalls ver-bitterte, verfemte und verständnislose Bevölkerung, die sich fragte, wie sie dazu komme, zu allem übrigen Leid jetzt auch noch diese plündernde und rachenehmende ‚Landplage‘ über sich ergehen zu lassen .“32 Misstrau-isch und selbstgerecht standen sich Nichtnazis und Nazis, DPs und Deutsche, Flüchtlinge und Eingeses-sene, Emigranten und Dagebliebene gegenüber .

Nur eine Minderheit fand sich bereit, die Bürde der Mitschuld und Mitverantwortung für Angriffskrieg und Völkermord auf sich zu nehmen . Pfarrer Martin Niemöller sprach von einer Kollektivhaftung .33 Das „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ der evangelischen Kir-che vom 19 . Oktober 1945 löste in weiten Teilen der Bevölkerung lebhafte Kontroversen aus und stieß als vermeintliche Anbiederung an die amerikanische Um-erziehungspolitik vorwiegend auf Ablehnung . Stets war diese frühe Auseinandersetzung verbunden mit dem Bedürfnis nach geistiger Neuorientierung, Rückbesin-nung auf christliche Werte und nach Anschluss an die europäische Kultur . Zugleich bemühten sich zeitgenös-sische Philosophen und Publizisten wie Karl Jaspers und Wilhelm Röpke zu erläutern, dass es eine „Kollek-tivschuld“ gar nicht geben könne . Tatsächlich wurde die Frage nach der „Kollektivschuld“ auch in alliierten Prozessen vermieden . Doch außerhalb der Gerichts-höfe war den Vertretern der alliierten Besatzungsmacht wie auch manchen ausländischen Beobachtern, die Deutschland bereisten, die Vorstellung nicht einsichtig, es könne nur eine konkrete, persönliche Schuld geben .

Rache- und Sühnefotos

Die Befreiung der Konzentrationslager kehrte die Ge-waltverhältnisse um . Diejenigen, die eben noch die Herren über Leben und Tod gewesen waren, wurden

nun mit ihren Untaten konfrontiert . Endlich konnten die Häftlinge ihrem Hass gegen die Peiniger von ges-tern freien Lauf lassen . In den Zeitungen und Illustrier-ten der Westalliierten erschienen die Bilder der Miss-handelten .

Ein Wachmann des KZ Dachau liegt ertränkt in einem Bach . Mit weit aufgerissenen Augen voller Angst sieht ein geschlagener KZ-Aufseher aus Buchenwald in die Kamera . Lee Miller fotografierte für die Modezeit-schrift Vogue KZ-Personal in dem Moment, als sich die Rache gegen sie entladen und die Befreiten von ihnen wieder abgelassen hatten . Die Aufnahmen wurden zu-sammen mit ihren Fotos der befreiten Lager unter dem beschwörenden Titel „Believe it!“ abgedruckt . Der brennende Hass und die Wucht der Vergeltung erschie-nen als Gradmesser für die vormals herrschende Ge-walt der Menschenschinder .

George Rodger steuerte für die Life-Ausgabe zur deutschen Kapitulation das beunruhigende Foto der „Two German Guards“ aus Bergen-Belsen bei . Zu sehen sind ein Uniformierter, kahlköpfiger SS-Offizier und eine junge Frau in Zivil, die knietief zwischen den ver-wesenden Körpern stehen und mit bloßen Händen an einer Leiche zerren . Die Beleibtheit des SS-Mannes steht in provozierendem Gegensatz zu den abgemager-ten Toten . Während der Glatzkopf durchaus den Vor-stellungen vom fetten Nazi und „bösen“ Deutschen na-hekommt, gibt die Gestalt der hemdsärmeligen jungen Frau Rätsel auf . Mit ihrer modernen Bubikopf-Frisur, in Hosen und hohen Stiefeln irritiert sie das Auge des Betrachters . Sie passt nicht ins Bild einer von den Nati-onalsozialisten propagierten Weiblichkeit, auf die selbst das weibliche KZ-Personal noch Wert legte, wenn auch in karikaturhafter Übersteigerung . Annelise Kohl-mann, die junge Frau auf dem Foto George Rodgers, hatte das Lager zusammen mit den meisten SS-Leuten kurz vor der Befreiung durch die Briten verlassen, war aber wegen einer Liebschaft mit einer zurückgebliebe-nen Aufseherin in Zivilkleidung, als falsche Gefangene, wieder ins Lager zurückgekehrt . Das offene Geheimnis gaben die Häftlinge umgehend ihren britischen Befrei-ern preis . Kohlmann starb, wie die meisten SS-Leute, die gezwungen worden waren, die ermordeten Häft-linge ohne Schutzkleidung und mit bloßen Händen or-dentlich zu bestatten, vermutlich noch im Sommer 1945 an Typhus .

„Believe it!“ KZ-Aufseher in Buchenwald. April 1945

(American Vogue, June 1945). Foto: Lee Miller.

„Two German Guards“. Bergen-Belsen, Mai 1945

(Life 18, May 1945). Foto: George Rodger.

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36 II. Krieg und Kriegsende in Fotos 2. Durch das Objektiv der Alliierten 372. Durch das Objektiv der Alliierten 37

„Faceless Fritz“

Die Entdeckung der Verbrechen gegen die Menschheit änderte alles . Die Feinde von gestern hatten nicht nur den Krieg, sondern vor aller Welt ihr Gesicht verloren . Zum Vorschein kamen Masken und Visagen – die Physiognomien des Unmenschen . Die allermeisten Armeefotografen verrieten in ihren Bildern einen Ge-neralvorbehalt gegen die Deutschen, wovon sie nur ausnahmsweise ganz wenige „gute Deutsche“ unter-schieden . Nun erschienen ihnen die Besiegten erstaun-lich solide gekleidet und im Vergleich zur englischen Bevölkerung noch immer wohlgenährt . Man erblickte in ihnen die kleinen Profiteure der Unterwerfung und Ausbeutung Europas, die selbst wenig gelitten hatten .

In Fotos unternahmen die Alliierten den Versuch, sich selbst die beunruhigende „deutsche Frage“ zu be-antworten . Und sie erlagen der Versuchung, Mentalitä-ten und Ideologien in die Gesichter und die Körper-sprache der Porträtierten hineinzulesen .

Picture Post titelte am 5 . Mai 1945 „The Smiling Ger-mans and Their Murder Camps“ . Neben dem Porträt der jungen Frau, die ihren kleinen Sohn auf dem Arm hält, ist zu lesen: „The Face that Hides so Much: A Ger-man Mother and Child .“ In Anspielung auf Henry

Morgenthaus Polemik „Germany is our Problem“ prä-sentierte das Blatt die Schrecken der Lager in Sichtweite der Bevölkerung unter dem Titel „The Problem That Makes All Europe Wonder“ . Darin wurde das erwähnte Titelfoto konfrontiert mit der Aufnahme ausgemergel-ter Überlebender eines Lagers . Für diese „typische rei-zende deutsche Familie“ außerhalb des Stacheldrahts bedeutete die andere Welt nichts .

Life präsentierte in seiner Ausgabe zur bedingungs-losen Kapitulation Deutschlands vom 7 . Mai 1945 als Titelblatt „The German People“, das in Großaufnahme drei männliche Zivilisten zeigt – zwei Jugendliche und einen älteren Mann . Alle drei sind dem Fotografen di-rekt zugewandt . Der junge Mann im Vordergrund hat seine verletzte, bandagierte Hand aus der Schlinge sei-nes Schals gezogen und hält sie sich vor die Brust . In-dem Life und auch Picture Post und Illustrated in den Besiegten mürrische, müde Antitypen zu den bisher glorifizierten „blonden und blauäugigen“ Ariern prä-sentierten, spielten die Illustrierten auf die allgemeine Demoralisierung der Deutschen und – auf die verroh-ten, desillusionierten (männlichen) Jugendlichen an . Die Gesichter werden vorgestellt als Spiegelbilder einer zerrütteten geistigen Verfassung . Die Masken verlangen nach Demaskierung . Das Gruppenbild William Vandi-verts wollte als spektakulärer Aufmacher den Leser da-von überzeugen, dass die Besiegten „zwar unglücklich, aber hart und arrogant“ seien .

Dem aufmerksamen Betrachter dürfte schon damals aufgefallen sein, dass auf diesem Foto die Frauen fehl-

ten . Ein ausführlicher Bildkommentar informierte die Leser im redaktionellen Teil über die unmittelbare Vor-geschichte der Aufnahme . Die drei hatten zusammen mit 7000 anderen Zivilisten 84 Stunden lang in einem aufgegebenen Minenstollen Schutz vor den alliierten Bomben auf ihre Stadt gesucht . Bei dem Versuch, die weiße Fahne aufzuziehen, waren sie von Wehrmachts-einheiten beschossen worden . Für die Redaktion hatten die drei Deutschen „die Bitterkeit der Niederlage aus erster Hand erfahren“ . Doch ihre Arroganz war noch nicht gebrochen, da sie „noch nicht gezwungen worden waren, sich die Greueltaten anzusehen, die in ihrem Namen begangen wurden“ .

Besonders deutlich nahmen die Armeefotografen Starrsinn und Fanatismus in den Gesichtern jugendli-cher Saboteure wahr, die als „Wehrwölfe“ bei Kriegs-ende und noch in der unmittelbaren Nachkriegszeit gegen kapitulationswillige Zivilisten und alliierte Trup-pen kämpften, aber auch von den Alliierten eingesetzte deutsche Verwaltungskräfte angriffen . Die Hände hin-ter dem Kopf verschränkt sitzt der Junge mit den schma-len Schultern auf einem Karren oder auf der Ladefläche eines offenen Lkws . Im Unterschied zu seiner nachlässig

„The Problem That Makes All Europe Wonder“.

Foto zum Bericht (Picture Post 5, May 1945).

„The Smiling Germans and Their Murder Camps“

(Picture Post 5, May 1945).

„The German People“ (Life 10, May 1945).

Foto: William Vandivert.

„Das Gesicht eines fanatischen Nazis: Ein fünfzehnjäh-

riger deutscher Saboteur, Werwolf genannt, gefangen-

genommen an der Elbe, April 1945.“ Foto: Seargent

Craiger-Smith.

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38 II. Krieg und Kriegsende in Fotos 3. Leben in Ruinen 393. Leben in Ruinen 39

getragenen Uniform verrät die Frisur Akkuratesse und Eitelkeit – als sei sich der junge Mann vor seiner Verhaf-tung noch einmal mit dem Kamm durch die Haare ge-fahren und habe den Scheitel neu gezogen . Die Unter-sicht verleiht dem Jungen etwas allzu breitbeinig Erwachsenes . Er ist angestrengt bemüht, den Fotografen, der sich direkt vor ihm aufgebaut hat, nicht anzusehen .

Auf die Ausgabe vom 7 . Mai 1945 folgten die großen Fotoreportagen des Sommers mit weiteren Beobach-tungen über die Deutschen . Ihren Höhepunkt fand diese Art von Ethno-Imagologie über „Land und Leute“ in der Life-Reportage über „Super Babies“ . Selbst vor der nächsten Generation wohlgenährter Säuglinge hatte man sich in Acht zu nehmen . Robert Capa lieferte die Aufnahmen von Kleinkindern des „Lebensborn“-Hei-mes Hohenhorst . Die Bildreportage mit der ironischen Headline löste auf der Leserbriefseite vom 3 . September eine lebhafte Debatte aus . Beim Anblick der wohlge-nährten „Nazi-Babies“ ließ man seinen Ressentiments freien Lauf: „Die Kamera hat das Nazi-Aussehen, oder was immer es ist, das aus diesen schlauen Augen, aus fetten, vulgären und jetzt schon bösen Gesichtern her-ausblickt, eingefangen“ . Eine andere Leserin verwahrte sich gegen die Nazi-Methode, Kinder aufgrund ihrer Herkunft zu verurteilen . Sie befürchtete, auf diese Weise würde man aus ihnen wirklich Nazis machen . Die Bild/Text-Rhethorik dieser Fotoreportage löste bei den Be-trachtern in jedem Fall starke Reaktionen aus . Robert Capa zog aus diesem Auftrag den Schluss, mit dieser Art von Bildjournalismus endgültig zu brechen .

Unter dem Arbeitstitel „The Faceless Fritz“ schossen die Fotografen für die Bildredaktion von Life zahlreiche Porträtaufnahmen von Deutschen . Doch Porträtfotos bargen von Anfang an alle Unwägbarkeiten der falschen Rezeption . In Margaret Bourke-Whites Bildserie „Faces . The German Look“ (1946), welche „gute“ und „böse“ Deutsche zeigen wollte, waren die Fotos bei weitem vieldeutiger und offener als ihr Text . Nicht die Porträts, sondern erst die Bildlegenden gaben Aufschluss über die Person: hier die Widerstandskämpferin, dort die Nazi-Größe .

Auch in einem anderen Sinne hatte Deutschland sein Gesicht verloren . Wenn die Städte die charakteris-tische Kultur und Zivilisation eines Landes repräsentie-ren, dann war diesem Land im Bombenkrieg das Ge-

sicht zerschlagen worden . Die Ruinenlandschaft galt den Siegern als Mahnmal selbstverschuldeter Zerstö-rung . Sie wurde mit Vorliebe in Luftbildern aufgenom-men . Die Lufthoheit über dem besiegten Land zeigte unmissverständlich, wer die moralisch legitime Macht ausübte . Im Sommer 1945 dokumentierte Margaret Bourke-White, die Patriotin, die ihre Bilder stets auf einfache Botschaften reduzierte, die Zerstörung der deutschen Städte . Sie nahm auf, was die Bomben übrig gelassen hatten . Ihre Auftragsdokumentation für Life, „The Battered Face of Germany“, wiederholte in den einzelnen Aufnahmen stets die eine Botschaft: Die Ver-geltung für die Unmenschlichkeit der Deutschen ist streng, aber gerecht und in Wahrheit schön .34

Die Perspektive der Besiegten

Auf die Eroberung und Besetzung des Landes folgte die Beschlagnahmung von Fotoapparaten und Filmka-meras . Die Sieger wollten die Kontrolle darüber aus-üben, wer was in welcher Absicht ablichtete . Dem Be-fehl gehorchten freilich nicht alle Zeitgenossen .35 Amateurfotografen und Profis, die ihre Kameras nicht konfiszieren ließen, nahmen eine andere Wirklichkeit auf als die alliierten Fotografen, obwohl sie dieselben Themen aufgriffen . Ihre heimlichen Ruinenbilder spra-chen vom Verlust des Vertrauten . Die Fotos der Nie-derlage thematisierten Einzelne im Massenschicksal . Sie konzentrierten sich auf die Anstrengungen der Menschen zu überleben . Die Amateurfotos zeigten die Verheerungen der vertrauten Umwelt, die zerstörten Wahrzeichen der Heimatstadt, unvollständige Fami-lien, denen Väter, Brüder und Söhne fehlten, aber auch

die Porträts der ersten Kriegsheimkehrer . Im Vorher-Nachher-Vergleich zu den Gesichtern aus Friedenszei-ten mahnten diese Aufnahmen an die inneren Verwüs-tungen, die der Krieg den Davongekommenen auf- erlegte . Der Wunsch der Zeitgenossen, ihre Gegenwart im Bild festzuhalten, war mächtiger als alle Verbote .

Bereits im Sommer 1945 fotografierten die ersten Deutschen wieder ganz legal . Ihre Aufnahmen aus der Zeit des unmittelbaren Kriegsendes, das von den meis-ten nicht als Befreiung, sondern als Niederlage emp-funden wurde, zeigen zerstörte Verbindungswege – den Bahnhof, Straßen, Strommasten und unwirtliche Stein-wüsten . Notdürftig richten sich Eingesessene, Ausge-bombte, Vertriebene und Entwurzelte darin ein . Müh-sam bahnen sich die Menschen ihre Wege . Dieser Mondlandschaft fehlt das menschliche Maß . Junge Frauen leisten beim Freilegen der Stadt Schwerstarbeit . Ganze Familien hausen in Kellern . Nissenhütten und alte Bauwagen stehen als menschliche Behausungen zwischen Abfall und Schutt . Wie in den Goldgräber-städten des Wilden Westens entstehen Baracken eilig zwischen den Ruinen . Zäune und Brandmauern dienen als Werbeflächen für erste Reklamen . Zierliche alte

Köln 1945. Foto : Margaret Bourke-White.

Überlebenskunst. Wir haben geöffnet. München

1945. Foto: Herbert List.

Flüchtlinge auf dem Trachtenberger Platz, Pfingsten

1945, Dresden. Foto: Erich Höhne.

3. Leben in Ruinen

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40 II. Krieg und Kriegsende in Fotos 3. Leben in Ruinen 413. Leben in Ruinen 41

Frauen mühen sich mit riskant bepackten Handwagen und scheinen kaum von der Stelle zu kommen . Flücht-linge sinken neben ihren Habseligkeiten nieder, schei-nen sich selbst in undefinierbare Bündel zu verwandeln und schlafen erschöpft ein . Kinder und Erwachsene suchen in Abfällen nach Essbarem . Von den Angehö-rigen einer geschlagenen Armee kehren die ersten be-reits zurück: ausgebrannt und um Jahre gealtert . Über Nahrungsmittel und Kohlen wacht die Militärpolizei .

Als das Kontinuum der Erfahrung brüchig und die eigene Welt durch Zerstörung unkenntlich und fremd geworden war, kam dem Fotografen am Ort die Auf-gabe zu, den Sprung in der Zeit, die Überreste einer ver-sunkenen Welt und die Inbesitznahme des leer gefegten Raumes für die Mitlebenden und die Nachwelt zu do-kumentieren . Zu sehen sind aber auch die Anstrengun-gen, im Chaos Haltung zu bewahren oder zumindest den Anschein von Ganzheit und Unversehrtheit auf-rechtzuerhalten . Erfindungsgeist und Improvisations-talent verwandelten alte Stoffe und Materialien in neue Kleider . Wer über materielle und psychische Reserven verfügte, setzte alles daran, sich nicht der Trostlosigkeit zu ergeben . Schließlich hatte man überlebt!

Nur ein ausgesuchter Personenkreis erhielt von der Besatzungsmacht eine der „befreiten“ Kameras zuge-teilt . Dazu gehörte unter anderem die Polizei und die neu gegründete und von den Alliierten kontrollierte Lizenzpresse . Auf dem Schwarzmarkt erzielten Fotoap-parate Höchstpreise . Glücklich, wer seine Foto-Aus-rüstung unversehrt über den Krieg gerettet hatte . Auf die Frage, wer eine der begehrten Kleinbildkameras er-halten könne, lancierte die Herstellerfirma der welt-berühmten Leica noch zwei Jahre später, im Oktober 1947, eine Presseerklärung:

In der Hauptsache wird die Leica [nach Prüfung durch die Militärregierung] geliefert an wissenschaftliche Insti-tute der Medizin und Naturwissenschaften, an medizi-nische Institutionen, die beispielsweise im Interesse der Bekämpfung der Tuberkulose und Geschlechtskrankhei-ten tätig sind, an namhafte Industrieunternehmungen, die von jeher Kleinbildfotografie betrieben haben, an die Kriminalistik für den polizeilichen Erkennungsdienst, weiterhin an die Presse, Bildberichterstatter und schließ-lich Berufsfotografen. Dabei muß bemerkt werden, dass nur ein ganz geringer Bruchteil der Produktion für alle diese Zwecke zusammen zur Verfügung steht, und dass das schmale Kontingent bereits buchstäblich auf Jahre hinaus vorgemerkt ist.36

Nur wenigen diente die Fotografie bereits 1945 als Grundlage für Tauschgeschäfte und damit zum Brot-erwerb . Gelegentlich stellten sich deutsche Fotografen der jeweiligen Siegermacht für die Produktion von Souvenir-Fotos zur Verfügung . Hans Steffens lichtete britische Offiziere in ihrer freien Zeit im Braunschwei-ger Kasino-Cafe ab . Der Berliner Helmut Köhler machte für sowjetische Soldaten touristische Aufnahmen . Als Kulisse wurden markante Sehenswürdigkeiten und Wahrzeichen gewählt, um den Angehörigen zu Hause einen „Beweis“ ihres Aufenthaltes in Berlin zu geben: das Bismarck-Denkmal im Tiergarten, die Siegessäule oder das Nationaldenkmal am Berliner Schloss und

selbstverständlich der Reichstag und das Brandenbur-ger Tor . Oder sie versorgten die Bevölkerung mit neuen Passfotos . Bereits in den ersten Friedenstagen ergat-terte Gerhard Gronefeld eine der begehrten Lizenzen, um diejenigen Berliner zu fotografieren, die ein neues Foto für die obligatorische neue Kennkarte benötig-ten . Abraham Pisarek, der Jude, der in Berlin überlebt hatte, grub seine alte gerettete Leica aus und fotogra-fierte im Dienst der Sowjets, der KPD und des Berliner Magistrats .

Die Wende: „Displaced Germans“

Wenn vielen Deutschen jeglicher Sinn dafür abging, wie die Nazis in Europa gewütet hatten, so sahen die Sieger zunächst über die harten Kriegsfolgen für die deutsche Zivilbevölkerung hinweg . Schließlich hatte sie den Krieg selbst verschuldet, und die Wehrmacht hatte ihn unehrenhaft geführt . Auf die unheimliche Fremd-heit des menschlichen Chaos regierten sie in aller Regel mit Abwehr und Distanz . In die Genugtuung über den Sieg mischte sich nur zögernd ein diffuses Mitgefühl für die Zivilisten .

Doch das Elend der Nachkriegszeit war zu groß, um dauerhaft übersehen zu werden . Auch in Deutschland hatte der Krieg ein Heer von Toten, Verstümmelten und Traumatisierten hinterlassen . Die Debatte über das ge-genwärtige und das künftige Los der Deutschen be-herrschte die englischsprachige Presse bis 1947 . Bereits im Juni 1945 diskutierte die Picture Post das Problem der Grausamkeit und die Schuldfrage . Bertrand Russel wandte sich in seinem Artikel „Whose Guilt? The Prob-lem of Cruelty“ gegen eine Dämonisierung des deut-schen Nationalcharakters und auch gegen die Annahme einer kollektiven Schuld . Er stellte vielmehr die Frage nach den Handlungsspielräumen in einer Diktatur .37 Was die britische Besatzungspolitik anlangte, provo-zierte Edward Hulton Anfang Oktober 1945 seine Leser mit der Frage „Is Humanity Wasted on Germans?“ Sein Artikel bildete den Auftakt einer Reihe von deutsch-landpolitischen Stellungnahmen, die allesamt der Wille einte, nicht Gleiches mit Gleichem in chauvinistischer Manier der Nazis zu vergelten, sondern nach den Re-geln und im Interesse der eigenen demokra tischen Ge-sellschaft zu verfahren, die es zu bewahren galt .38 Im

Neue Identität: Fotos für die Kennkarte, München im

Sommer 1945. Fotograf unbekannt.

Souvenirs für die Sieger. Kolorierte Fotos eines

unbekannten Berliner Fotostudios.

„Displaced Germans“ (Life 16, Oct. 1945), S. 107 ff.

Foto: Leonard McCombe.

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42 II. Krieg und Kriegsende in Fotos 3. Leben in Ruinen 433. Leben in Ruinen 43

Sommer 1946, ein Jahr nach Kriegsende, gelangte man zu dem Schluss, dass Europa sich ein darniederliegen-des Deutschland schlichtweg nicht leisten könne . Die Picture Post titelte: „The Problem of a Dying Germany“ .39 Einen etwas anderen Akzent setzten die Reportagen und Reiseberichte in Life . Getrude Stein und Percy Knauth begründeten das publizistisch-literarische Genre der Deutschlandberichte, beglaubigt durch Vor-urteile, Augenschein und Hörensagen .40

Unter der Rubrik „Inside Germany“ ging es in den Illustrated London News bereits im Sommer 1945 nicht ausschließlich um Maßnahmen der Reeducation . In so-zialdokumentarischen Reportagen berichteten Foto-grafen bald über das dürftige Leben in Trümmern . Stets wurden die Ruinen und der Hunger als „Folgen Hitlers“ gezeigt . Die Bildberichte aus Deutschland endeten zu-nächst mit dem Abwurf der Atombombe auf Japan und dem Kriegsende im Pazifik . Sie wurden Mitte Oktober 1945 aber wieder aufgenommen . Nun war es die Not der Flüchtlinge, die Aufsehen erregte . Gelegentlich un-terschied man zwischen ausgebombten Deutschen – als Ergebnis Hitlerscher Politik – und Flüchtlingen aus Eu-ropa .41 Doch je näher der Winter rückte, desto nüchter-ner gerieten die Einschätzungen über das harte Leben der besiegten Nation – im hoffnungslos überfüllten Berlin, aber auch in der Provinz .42

Das massenhafte Schicksal von Flucht und Vertrei-bung öffnete die Wahrnehmung für das individuelle Leid . Nicht wenig trug zum Bewusstseinswandel die Bezeichnung „Displaced Germans“ in der englisch-sprachigen Presse bei . Sie stellte die Erfahrungen der Flüchtlinge und Ausgebombten denen der überleben-den „Displaced Persons“ aus den Konzentrationslagern gleichberechtigt zur Seite . Der britische Fotograf Leo-nard McCombe veröffentlichte in der Illustrated am 22 . September 1945 seine Berlin-Fotos . Der überfüllte Zug im Anhalter Bahnhof eröffnete die Reportage mit der Bildunterschrift:

Berlin. Gemäß dem Potsdamer Abkommen, dass die Ausweisung der Deutschen auf ‚ordnungsgemäße und humane Weise‘ erfolgen solle, recherchierte Illustrated die Fakten und präsentiert diese sieben Seiten – nicht um Sympathie für die Deutschen hervorzurufen, sondern um die Aufmerksamkeit auf ein Problem zu lenken, das weit über Deutschlands Grenzen hinausgeht.

In der Ausgabe vom 15 . Oktober 1945 druckte Life Mc-Combes Fotoreportage in einer komprimierten Fassung unter dem Titel „Displaced Germans Driven from their Homes by Poles and Czechs – They Pour Unwelcome into Berlin“ nach . Seine Fotos vom Anhalter Bahnhof konzentrierten sich – anders als die Aufnahmen Marga-ret Bourke-Whites – nicht auf die Anstrengungen der Menschen, dieser Trümmermetropole zu entkommen, sondern auf die Gestrandeten, die hier täglich anka-men . McCombes Kamera zielte auf die Zustände der Hoffnungslosigkeit unter den Vertriebenen, Demobili-sierten, Verletzten und Verstümmelten . Auf den Bahn-höfen Berlins wurde gehungert, vergewaltigt, geraubt und gestorben . Nur die schlimmsten Fälle von Erschöp-fung, Not und Verzweiflung zogen die Aufmerksamkeit der Helfer – und des Fotografen – auf sich .

Tausende drängten im Sommer 1945 täglich in die bereits vollkommen überfüllte Stadt, die kaum im Stande war, ihre eigene Bevölkerung zu versorgen . Bis zum 1 . September waren acht Millionen in Berlin ange-kommen, zwei weitere Millionen wurden erwartet . Flüchtlinge durften sich nicht länger als 24 Stunden in Berlin aufhalten und wurden, sofern sie keine Familien-verbindungen im Westen nachweisen konnten, nach Mecklenburg oder Sachsen weitergeschickt, von wo nicht wenige erneut nach Berlin aufbrachen .

Die Reportagen über „Displaced Germans“ themati-sierten das für die westlichen Alliierten heikle Thema der wilden Vertreibungen und der Deportationen der Deutschen im Machtbereich der Sowjetunion . Insofern waren die Bildreportagen ein vorsichtiger Versuch, die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten ins allge-meine Bewusstsein zu heben . Zwar betonten die Kom-mentare und Vorbemerkungen stets, man wolle kein falsches Mitleid für die Besiegten erheischen, doch die Fotos skandalisierten das, was sich vor den Augen der westlichen Alliierten und mit ihrer Duldung abspielte . Sie kritisierten das Wegsehen der westlichen Welt . Auf diesem Umweg bewirkten die Bilder ein erstes Um-schwenken der öffentlichen Meinung in der Frage, wie die Sieger mit den Besiegten umzugehen hätten .

Konfliktstoff war in der Realität des Besatzungsalltags aber weiterhin gegeben . Unter den Deutschen war die britische Militärregierung nicht sonderlich beliebt . Im Hungerwinter 1946 wurde die rigorose Kürzung der Le-bensmittelrationen als kalte Vergeltungspolitik empfun-

den . Der Militärgouverneur der britischen Zone, Feld-marschall Montgomery, bestand auf einer Reduk tion auf 1000 Kalorien mit dem Hinweis, dass „die Kalorien in Bergen-Belsen 800 Kalorien betragen hätten und dass die wohlgenährten Deutschen ihren Gürtel enger schnallen müssen“ . Denn Montgomery hielt 75 Prozent der Bevölkerung immer noch für unverbesserliche Na-zis . Lebensmittellieferungen aus England in seine Besat-zungszone lehnte er ab . Im Frühling 1947 betrug die effektive Nahrungsration für die meisten Deutschen in der britischen Zone 815 Kalorien . Selbst in der briti-schen Öffentlichkeit wurde dies kritisiert . Der Verleger und Philanthrop Victor Gollancz warf der Militärregie-rung vor, Unterernährung und Hunger in ihrer Zone billigend in Kauf zu nehmen .43 Hungerproteste unter den Arbeitern des Ruhrgebiets und antibritische Graffi-ties in den Städten führten hier zu einem Kurswechsel .

Das neue demokratische Gesicht

Alle vier Besatzungsmächte hegten besondere Erwar-tungen in die kommende Generation . Fotoreportagen über die Umerziehung Jugendlicher und Fotos fröhli-cher Kinder drückten diese Haltung aus . Und sie ver-mittelten zaghaft bereits jenen Optimismus, der die Aufbaujahre ab 1948 prägen sollte . Die Aufnahmen ab-gestumpft oder arrogant wirkender Jugendlicher, die als Hitlerjungen des Volkssturms oder als Werwölfe gefan-gen genommen worden waren, verschwanden bald aus den Illustrierten . Stattdessen zeigte man Kinder und Ju-gendliche, wie sie sich mit Hingabe beim Baseball-Spiel versuchen .

Am 8 . Oktober 1945 wartete Life mit einer Bildrepor-tage über jugendliche Kriegsgefangene auf, die Demo-kratie gelehrt wurden: „Educating Hitler Youth . Young German Prisoners of War, Age 12 to 17, are Taught De-mocracy by the Americans .“ Der Fotograf Ralph Morse präsentierte Jungen, die wieder lächeln konnten . Das Umerziehungsprogramm brachte – so die Botschaft sei-ner Bilder – hinter der Maske der Gleichförmigkeit, Er-starrung und Leere von gestern das individuelle Gesicht zum Vorschein . Auch die Struktur der Masse hat sich verändert . Die Ansammlung ehemaliger Hitlerjungen ist keine militärisch formierte Masse . Sie ist unregelmä-ßig und innerlich bewegt, dank unterschiedlicher

Zurück in Berlin. Cafe Wien am Kurfürstendamm,

Sommer 1945. Foto: Robert Capa.

Umerziehung: Deutsche Kinder spielen Baseball.

Pocking bei Passau, Juni 1945. Foto: Tony Vaccaro.

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44 II. Krieg und Kriegsende in Fotos 3. Leben in Ruinen 453. Leben in Ruinen 45

Standpositionen und indvidueller Körperhaltungen der Jungen . Das Gruppenfoto Morses kann betrachtet wer-den als allegorisches Bild für die Demokratie selbst: ein lockerer freiwilliger Zusammenschluss von Individuen mit unterschiedlichen Ansichten und Verhaltenswei-sen . Am 9 . Dezember 1946 nahm Life das Thema erneut auf . Walter Sanders’ Fotos aus dem Bremer Boys Camp, einer privaten Umerziehungs- Initiative, zeigten ein-zelne Halbwüchsige, die locker beisammen stehen und freundlich in die Kamera blicken . Wie in Morses Fotos ging es auch bei Sanders um die Visualisierung demo-kratischer Grundsätze, wie die freie und geheime Wahl oder die demokratische Rechtsprechung .

Bald unternahmen amerikanische Fotografen die ers-ten Reisen in die eigene Vergangenheit . Im August 1945 hielt sich Robert Capa in Berlin auf . Als junger Emigrant und Student hatte er Anfang der 30er Jahre in der pulsie-renden Metropole gelebt . Er fotografierte die Trümmer des Cafes, das er zwölf Jahre zuvor häufig besucht hatte . Im wunderbaren ersten Sommer des Friedens entstan-den in dieser Gestimmtheit Fotos von überraschender Leichtigkeit und Entspanntheit. Ende November 1946, unmittelbar nach der Berichterstattung über den Nürn-berger Hauptkriegsverbrecherprozess, präsentierte Life die freundlich-melancholische Bildreportage des Emig-ranten Sanders über die ehemalige Reichshauptstadt und ihre Bewohner . „The Road back to Berlin“44 zeigt den Zurückgekehrten in seiner zerstörten früheren Wohnung . Und er präsentiert seine ehemaligen Freunde inmitten der Ruinen . Im Bild der jungen Frauen, die in einem Straßencafé entspannt die letzten Sonnenstrahlen genießen, vermittelte auch Sanders etwas vom Optimis-mus der Überlebenskünstler . Das neue deutsche Gesicht verlor schnell an Apathie, aber auch an Starre und Ver-

bohrtheit und zeigte stattdessen Neugier, Offenheit und Wissbegier . Als gelehrige Schüler westlicher Lebensart waren die Deutschen bald wieder vorzeigbar .

Bereits 1945 näherte sich die Fotografie der westlichen Sieger einem Bildprogramm der Normalisierung an . Sie konzentrierte sich noch immer auf das Beispielhafte und Außergewöhnliche, aber sie verließ die ideologische Vogelperspektive: Bilder, die als visuelle Umsetzung von Symptomen und negativen Klischees, als Bestätigung für einen Generalverdacht und als Beweis für eine kol-lektive Schuld gelten konnten, wurden seltener . Der Bildjournalismus ebnete den Deutschen auf diese Weise den Weg in den Westen und in die Völkergemeinschaft .

Mit der Verkürzung der Abstände kehrten die Foto-grafen zurück zum klassischen Fotojournalismus des „Human-Interest“ – dorthin, wo die deutsche Fotografie in der kollektiven Erfahrung der totalen Niederlage längst war . Ihr Blick auf die Nachkriegszeit war bald wie-der gefragt . Was qualifizierte deutsche Fotografen darü-ber hinaus für die Nachkriegszeit? Den Vertretern der älteren Generation erleichterten zwei Dinge den atem-beraubend schnellen Zugang zum Bildjournalismus nach 1945: erstens ihre langjährige Professionalität, die sie bereits in der Weimarer Republik erworben hatten, in den 1930er Jahren in solide Karrieren wandeln und im Weltkrieg weiter ausbauen konnten; zweitens ihre Lei-denschaft für die Fotografie und ihre Affinität zum mo-dernen Heldentum des „Bildberichters“, sofern sie als Amateure zur Kriegsfotografie gekommen waren . Dabei erwies sich von den neu gegründeten NS-Medien Signal geradezu als Sprungbrett in eine Nachkriegskarriere als Bildjournalist, andere, wie Das Schwarze Korps oder Das Reich hingegen als schier unüberwindliche Blockade .

8 Die in der „Wehrmachtsausstellung“ gezeigten Fotos waren deutschen Soldaten abgenommen worden und stammten zum größten Teil aus sowjetischen und jugoslawischen Archiven. Vgl. Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.): Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944 [Ausstellungskatalog], Hamburg 1996. Zu den Fotos des Zweiten Weltkrieges in deutschen Fotoalben siehe die Beiträge in: Ulrich Borsdorf und Mathilde Jamin (Hg.): Überleben im Krieg [Ausstellungskatalog], Essen 1989.

9 So im Bericht von Günter Olberg: Mit der Kleinka-mera nach Nordnorwegen, in: Die Foto-Schau 6. Jg. (1941) H. 9, S. 6f.

10 Thomas Eller, Petra Bopp (Hg.): Shadows of War [Photographs of Wilhelm Rose], New York 2005. Petra Bopp: Fremde im Visier. Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg, Bielefeld 2009.

11 Z. B. Ehrhardt Eckert: Großangriff der deutschen Pro-paganda. Der Kriegsberichter in der großen Armee des deutschen Freiheitskampfes, in: Deutsche Presse 30. Jg. (1940) 7, S. 65.

12 Joseph Goebbels: Die Zeit ohne Beispiel. Reden und Aufsätzen aus den Jahren 1939/40/41, München 1941, S. 482–483.

13 Correspondent de guerre allemand au front, in: Segna-le, H.1 (1941), Coverfoto. Der Bildberichter, in: Die Woche H. 17 (23.4.1941), Aufnahme: PK Schmidt (Scherl-Bilderdienst).

14 Helmut Heiber, Hildegard von Kotze (Hg.): Facsimile Querschnitt durch „Das Schwarze Korps“, München/Bern/Wien 1968, Einführung, S. 5 und 21. Mario Zeck: Das Schwarze Korps. Geschichte und Gestalt des Organs der Reichsführung SS, Tübingen 2002.

15 Zeck, Schwarzes Korps, S. 48f.16 Unterredung Jürgen Thorwalds mit Gunther d’Alquen

am13./14.3.1951, IfZ, Archiv 788/52, S. 15. Zitiert nach Zeck, Schwarzes Korps, S. 40.

17 „Die Antwort Europas“, in: Das Schwarze Korps (30.12.1943) S. 3.

18 Hans Dollinger (Hg.): Facsimile Querschnitt durch „Signal“. Eingeleitet von Willi A. Boelcke, München 1969. Martin Moll: „Signal“. Die NS-Auslandsillu-strierte und ihre Propaganda für Hitlers „Neues Eur-opa“, in: Publizistik, 31. Jg. (1986) H. 3/4, S. 357–400. Jüngst erschienen: Rainer Rutz: Signal. Eine Illustrierte als Instrument der deutschen Auslands- und Besat-zungspropaganda während des Zweiten Weltkrieges (1940–1945), Essen 2007.

19 Karin Wieland, Ursula Breymayer: Das bewaffnete Auge, in: Ende und Anfang. Photographen in Deutsch-land um 1945. Hg. von Klaus Honnef und Ursula Breymayer, Berlin 1995, S. 169–176.

20 „Salute to Defeat“, in: PP H. 12 (24.3.1945), Cover.

21 Siehe Katharina Menzel-Ahr: Lee Miller. Kriegskor-respondentin für Vogue. Fotografien aus Deutschland 1945, Marburg 2005, S. 141.

22 Jonny Florea: POW, drei Monate in NS-Kriegsgefan-genschaft, in: Life H. 16 (16.4.1945), S. 25.

23 Elke Scherstjanoi: Rotarmisten schreiben aus Deutsch-land. Briefe von der Front (1945) und historische Ana-lysen, München 2004.

24 Ilja Ehrenburg und die Deutschen. Hg. vom Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst, Berlin 1997, S. 71.

25 Vgl. Berlin 1945: der private Blick, S. 77, Foto 6.26 „Lublin Funeral“, Life (28.8.1944), S. 34 und „The Most

Terrible Example of Organized Cruelty in the History of Civilization. Mass Murder by the Germans at the Maidanek ‚Camp of Annihilation‘“, in: Illustrated Lon-don News (14.10.1944).

27 Konstantin Simonow: Ich sah das Vernichtungslager, Berlin 1945. Vernichtungslager [Majdanek und Treb-linka]. Dokumente der Nazibarbarei, Wien 1945.

28 Margaret Bourke-White: Deutschland, April 1945, München 1979 [Original: Dear Fatherland, rest quietly, 1946], S. 92.

29 „Inside Germany“, in: Illustrated London News (16.6.1945), S. 638.

30 Dagmar Barnouw: Ansichten von Deutschland (1945). Krieg und Gewalt in der zeitgenössischen Photogra-phie, Basel/Frankfurt am Main 1997, S. 67 und 140.

31 Habbo Knoch: Die Tat als Bild. Fotografien des Holo-caust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001, S. 123.

32 Eugen Kogon: Gericht und Gewissen, in: Frankfurter Hefte H. 1. (April 1946), S. 25–37; hier S. 29f.

33 Martin Niemöller: Reden 1945–1954, Darmstadt 1958.34 Barnouw, Ansichten von Deutschland, S. 11.35 Als das Deutsche Historische Museum, Berlin, sechzig

Jahre später für eine Ausstellung Amateurfotos aus der Zeit des Kriegsendes per Annonce in diversen Tages-zeitungen suchte, kamen rund 300 Aufnahmen zum Vorschein.

36 In: Fotospiegel (Okt. 1947), S. 21.37 PP H. 11 (16.6.1945), S. 10 ff.38 „Wanted: a Policy for Germany“, in: PP (1.12.1945),

S. 7 ff.39 Dazu erschien der Artikel von Sidney Jacobson: „Eu-

rope Cannot Afford this Germany“, in: PP (31.8.1946), S. 12–19.

40 Gertrude Stein: „Off we all went to see Germany“, in: Life (6.8.1945), S. 54 ff.

41 Illustrated London News (13.10.1945), S. 397.42 Illustrated London News (3.11.1945), S. 487 und Illu-

strated London News (15.12.1945), S. 645.43 Victor Gollancz: Leaving them to their Fate. The Ethics

of Starvation, London 1946.44 Life (11.11.1946), S. 30–33.

1 Zur Fotografie im Dritten Reich siehe Rolf Sachsse: Die Erziehung zum Wegsehen. Fotografie im NS-Staat, Dresden 2003.

2 Wolf H. Döring: Knipse – aber richtig! Ein volkstümli-ches photographisches Lehrbuch, 7. Auflage (250.000), Nürnberg 1939.

3 A. Strasser: Fotografiere Dein Leben!, Halle (Saale) 1938. Wolf. H. Döring: Lebendige Erinnerungsfotos (Der Fotorat Nr. 37), Halle (Saale) 1938.

4 Wilhelm Schöppe: Fotos werden gesucht (Der Fotorat Nr. 40), Halle (Saale) 1938.

5 Thomas Deres, Martin Rüther (Hg.): Fotografieren verboten! Heimliche Aufnahmen von der Zerstörung Kölns, Köln 1995.

6 Karin Hartewig: Fotos für die Zeitung. Pressefotografie nach 1945, in: Hans Steffens: Braunschweig im Bild. Presse- und Dokumentarfotografie, 1946 bis 1980. Hg. von Barbara Lauterbach. Museum für Photographie, Braunschweig 2005, S. 14–33.

7 Hans Georg Hiller von Gaertingen (Hg.): Das Auge des Dritten Reiches. Hitlers Kameramann und Foto-graf Walter Frentz, München/Berlin 2006.

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Einseitige Annäherung. Die siebziger Jahre

VIII.

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286 VIII. Einseitige Annäherung. Die siebziger Jahre 1. Beschwörungsrituale und Illusionsmaschinen 2871. Beschwörungsrituale und Illusionsmaschinen 287

1. Beschwörungsrituale und Illusionsmaschinen Gesprächsrunden mit Vertretern der heimischen Fo-toindustrie führten den Fotografen die deprimierende Realität des heimischen Angebotes vor Augen . So er-klärten Mitarbeiter des VEB Pentacon Dresden, des fo-tochemischen Kombinats (ORWO) Wolfen und des Fotopapierwerks Dresden den Teilnehmern des 4 . Bil-dungslehrgangs im November 1976, in keinem Bereich seien Verbesserungen zu erwarten: Pentacon Six und Praktica Kameras würden vor allem für den Export und dort für die Amateurfotografie hergestellt und ge-nügten den Ansprüchen von Profis nicht . Nicht nur die Colorfilme seien unzuverlässig in der Farbwiedergabe, grob im Korn und nur unter 18 DIN zu haben . Auch die Schwarzweißfilme wiesen Qualitätsmängel auf . Das Fo-topapier lasse ebenfalls zu wünschen übrig .5 Das Ange-bot an Kameras, Objektiven, Filtern, Filmen, Fotopa-pieren und Entwicklern sollte sich auch bis zum Ende der DDR nicht wesentlich verbessern . Was den Stand der Fototechnik angeht, blieb die DDR das Land der Amateure . Profis waren zur Improvisation gezwungen oder versuchten, sich mit Waren aus dem Westen ein-zudecken . Dies sollte sich bis 1989 nicht ändern . 1983 konstatierte die Gesellschaft für Fotografie im Kultur-bund zur materiell-technischen Situation der Bildjour-nalisten:

Importiert werden müssen auch [neben den Color-Kunstlichtfilmen] alle Aufnahmekameras vom Kleinbild bis zum Großformat, weil im RGW-Gebiet keine Geräte für die Berufsfotografie hergestellt werden. Dasselbe gilt für die Ateliertechnik und die Ausstattung der Labors. Es gibt keine Studioblitzanlagen, keine professionell brauchbaren Vergrößerungsgeräte, nicht einmal hoch-wertige Vergrößerungsobjektive oder Fotohintergründe. Besonders schmerzlich ist das völlige Fehlen von hoch-wertigen elektronisch ausgestatteten Laborgeräten. Von der stürmischen Weiterentwicklung der Farbfotografie blieben wir bis jetzt ausgeschlossen. […]Der technische Ausstattungsgrad der Abteilung Fotogra-fie der Hochschule für Grafik und Buchkunst ist bekla-genswert. Es ist fast unverantwortlich mit dieser Technik noch Studenten auszubilden, die einmal in vorderster Reihe die DDR-Fotografie repräsentieren sollen.6

Kurz vor dem Entschwinden der DDR waren die Män-gellisten noch länger . Doch man hatte längst resigniert .7

Auch wenn die Resümees zur Lage immer auch die Strategien der Selbstlegitimation und die Beschaffungs-intelligenz der organisierten Amateure und Bildjourna-listen in der sozialistischen Planwirtschaft reflektierten, so war die Situation für professionelle Fotografen zwei-fellos prekär . Und es ist schon eine Leistung, dass trotz aller Unzulänglichkeiten in der Foto- und Reprotech-nik etliche gute Bildreportagen und Einzelfotos ent-standen .

Die Sprache der Fotografie

Wenn DDR-Funktionäre über Fotografie sprachen, ging es noch immer um Selbstverpflichtung, Parteiauf-trag und Stolz über die Errungenschaften, die bereits erreicht worden waren . Deutliche Verbesserungen in der Porträtfotografie konstatierten die Verbandsfunkti-onäre zu Beginn der siebziger Jahre . Anläßlich der Er-öffnung der ersten Porträtfoto-Ausstellung in der DDR im Dezember 1971 charakterisierte Gerhard Mertink, der stellvertretende Vorsitzende der Zentralen Kom-mission Fotografie im Kulturbund, die Menschendar-stellung der Vergangenheit und Gegenwart:

In den zurückliegenden Jahren war zu beobachten, dass es manchem Fotografen nicht gelang, das Wesen unserer Menschen so zu erfassen und im fotografischen Bild zu gestalten, dass er uns als Beherrscher der Natur und der gesellschaftlichen Entwicklung wirklich fesselte und erregte. Oft traten Maschinen, Gerüste oder Baustellen in den Vordergrund und der menschliche Bezug, das schöpferische Handeln, blieben ein wenig nebensächlich. Hier ist ein deutlicher wohltuender Wandel eingetreten. Heute überwiegt das Bemühen um ein tiefes Eindringen in das Wesen, den Charakter und die innere Haltung jener Persönlichkeiten, die der Fotograf mit dem Bild für den Betrachter erlebbar machen will.8

Die Beispiele, die Mertink für die neue Sicht der Foto-grafen anführte, bedienten sich aber doch wieder der klassischen Motive sozialistischer Genrefotografie: Noch immer bevölkerten Braunkohlekumpel (Erich Schutt), Stahlwerker (Heinz Hirschmann), Laborantin-nen (Joachim Fieguth), sodann die Grande Dame der DDR-Literatur Anna Seghers (Manfred Uhlenhut) und

Lernen, lernen, lernen!

An der Professionalisierung des Bildjournalismus wa-ren neben der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst, der Sektion Journalistik an der dortigen Karl-Marx-Universität und ADN-Zentralbild mit ei-nem einjährigen Bildvolontariat (seit 1971) vor allem der Verband der Deutschen Journalisten der DDR be-teiligt . Die Zentrale Kommission Fotografie (1952) und ihre Nachfolgerin, die Gesellschaft für Fotografie (1982) im Deutschen Kulturbund, an deren Spitze auch die Bildjournalisten vertreten waren, organisierte und kon-trollierte die Amateurfotografie in der DDR . Konferen-zen, Tagungen und Bildungslehrgänge sollten die Bildjournalisten handwerklich, vor allem aber ideolo-gisch auf den neuesten Stand bringen, der nicht selten der alte war .

Seit Anfang der 1970er Jahre arbeitete der VDJ ver-stärkt an einem verbindlichen Berufsbild für Bildjour-nalisten und an der Institutionalisierung eines neuen Ausbildungsweges, der das Journalistikstudium an der Karl-Marx-Universität besser mit der Ausbildung zum Fotografen und Grafiker an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig verbinden und insgesamt verkürzen sollte . Anders als in der Bundesrepublik, wo Mitte der 1970er Jahre etliche Hoch- und Fachschul-einrichtungen mit der Ausbildung von Fotografen und Bildjournalisten befasst waren, fehlte in der DDR ein Ausbildungsgang, der auf den Beruf des Bildjournalis-ten vorbereitete . Manche Bildreporter absolvierten ein Doppelstudium: Sie studierten zunächst vier Jahre Journalistik an der Universität, und setzten ein zweites Studium der Fotografie von fünf Jahren darauf .1 An-dere beschränkten sich auf die journalistische oder die fotografische Ausbildung . Die meisten Bildreporter und auch etliche Redakteure kamen jedoch – nicht an-ders als in der Bundesrepublik – als Quereinsteiger und Autodidakten in ihren Beruf .

Bildungslehrgänge für Bildjournalisten veranstaltete der VDJ ab 1973 im zweijährigen Turnus . Darin wur-den den Fotografen ideologische Vorträge gehalten . So formulierte die Abteilung Bildung beim VDJ für den 2 . Bildungslehrgang: „Das Ziel dieses Lehrgangs besteht

darin, die Bildjournalisten mit neuen Fragen der Ent-wicklung von Staat und Recht sowie der sozialistischen Demokratie, mit aktuellen Fragen der Politik, der Partei und der Regierung bei der weiteren Vervollkommnung des Planungssystems sowie der Planung und weiteren Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebens-niveaus des Volkes vertraut zu machen .“2 Lobenswerte Beispielfotos, die vom VDJ vorab prämiert worden wa-ren, lieferten das praktische Anschauungsmaterial für eine erfolgreiche Umsetzung der politischen Vorgaben . Die Teilnehmer hatten aber auch Gelegenheit zum prak-tischen Erfahrungsaustausch in bildjournalistischen Fra gen und waren aufgefordert, eigene Fotografien mit-zubringen, die sie zur Diskussion stellen sollten .

Oft genug aber kommunizierten die Veranstaltungen die technisch Rückständigkeit der Fotobranche . Beson-ders deutlich wurde dies beim Thema Farbfotografie . So verlautete die Kommission für Bildjournalismus des VDJ in der Vorbereitung einer Konferenz zur Farbfoto-grafie 1967: „Es ist völlig unzulässig und widerspricht Geist und Beschlüsse [sic!] über die weitere Entwicklung unserer sozialistischen Gesellschaft, unzulängliche jour-nalistische Qualität bei der Behandlung der DDR-The-matik länger zuzulassen, nur auf das Was, auf die ‚Rich-tigkeit‘ der Aussage zu achten, und das Wie, von den Genres bis zur Sprache, zu vernachlässigen .“ Man for-derte für die Farbfotografie „eine neue Materialbasis mit Weltniveau“ und eine Verbesserung der polygrafischen Verfahren .3 Für ADN-Zentralbild hatte die Verbreitung der Farbfotografie – noch stärker als für westliche Bild-agenturen – zentrale Bedeutung, weil die ostdeutsche Agentur nicht nur viele Printmedien, sondern auch das DDR-Fernsehen mit Bildmaterial belieferte . So arbeitete die Redaktion der „Aktuellen Kamera“ mit einem hohen Anteil von Nachrichtenfotos . Nach einer Lernphase der Bildreporter in Colorfotografie und einer Testphase mit einem Schweizer Colorprinter war Walter Heilig, der Leiter der Hauptabteilung Zentralbild, 1970 entschlos-sen, „nunmehr mit Nachdruck einen Durchstoß bei der Farbfotografie in seinem Bereich zu erzielen“ .4 Denn die Farbfotografie der Illustrierten mußte jede Konkurrenz mit dem DDR-Fernsehen verlieren, von den westdeut-schen Illustrierten ganz zu schweigen .

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288 VIII. Einseitige Annäherung. Die siebziger Jahre 1. Beschwörungsrituale und Illusionsmaschinen 2891. Beschwörungsrituale und Illusionsmaschinen 289

Wissenschaftler wie Professor Max Steenbeck (Bernd-Horst Sefzik) die Szenerie . Die Porträts wirkten nur we-niger gestellt . Dies alles verwundert wenig . Personell bestand im ostdeutschen Bildjournalismus bis weit in die 1970er Jahre hinein eine starke Kontinuität . Etliche Bildjournalisten durchliefen die gesamte Entwicklung der DDR und prägten sie auch . Neue Sichtweisen auf das altbekannte Personal und die Requisiten des Sozia-lismus waren, wenn überhaupt, von den Fotografen der jüngeren Generation zu erwarten .

Andererseits wurden die Erwartungen der SED an den Bildjournalismus gebetsmühlenartig wiederholt . Auf der 4 . Tagung des Zentralvorstandes des Verbandes der Journalisten am 17 . Oktober 1973 betonte der Chef-redakteur der „Freien Welt“ Joachim Ullmann vier An-forderungen an den Bildjournalismus, darunter zual-lererst diese:

Wir haben den Prozess des Aufbaus der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der DDR zu fördern und widerzuspiegeln und zu zeigen, wie sich der Mensch in diesem Prozess entwickelt, dass alles durch den Men-schen und zum Wohle des Menschen geschieht und geschehen muß. Wir haben die Arbeiterklasse darzu-stellen als Klasse, die die Werte schafft, als Klasse, die politisch, ökonomisch und kulturell führt, als Klasse, die alle Werktätigen um sich schart, als Klasse, die bei der Verteidigung des sozialistischen Vaterlandes vorangeht.9

Weitere Pflichtthemen der roten Bildjournalisten wa-ren der sozialistische Internationalismus und die natio-nalen Befreiungsbewegungen in der sogenannten Drit-ten Welt .

Die längste Zeit mühte man sich mit den allzeit aktu-ellen Problemen „sozialistischer Parteilichkeit“ beim Blick auf die Wirklichkeit ab . Auch die „Massenwirk-samkeit“ der Illustrierten schien stets ungenügend und verbesserungswürdig . So eilten die im VDJ organisier-ten Bildjournalisten von Parteiauftrag zu Parteiauftrag . Insbesondere seit dem VIII . Parteitag der SED galt es ausdrücklich, „die Wirksamkeit der Massenmedien zu erhöhen, die journalistische Arbeit weiter zu verbessern und durch lebensnahe, überzeugende und packende Darstellung mitzuhelfen, die Probleme der entwickel-ten sozialistischen Gesellschaft zu lösen“ . Kritisiert wurde bei allen Fortschritten eine Genrefotografie nach

Schema F: „Fotografierte Klischees, Routine aufnahmen von diskutierenden, behelmten Arbeitergruppen sind sehr häufig zu sehen .“10 Von den Redaktionen noch im-mer stark nachgefragte oder in Auftrag gegebene Stan-dardfotos waren auch in den siebziger Jahren die „Troika-Bilder“ – die „tötende [sic!] Dreiergruppe“ –, Massenszenen – „soviel, wie man auf das Bild drauf-bekommt“ – und „Bilder, auf denen man irgend etwas in der Hand hat, was gerade für die Arbeit benötigt wird“ .11

Gelungene Ansätze dagegen sah man in der Porträt-fotografie und in der Präsentation ausgezeichneter Bür-ger und Arbeiter als allseitig entwickelte Persönlichkei-ten . Walter Heilig, der Chef von ADN-Zentralbild, betonte mit Verweis auf die vermehrten Anstrengungen der SED, Agitation und Propaganda auszudehnen, in Zeiten des Wandels durch Annäherung sei mehr denn je „DDR-wirksames Material“ gefordert, an dem die Au-gen hängenbleiben . Mit Blick auf ihre östlichen Nach-barn im sozialistischen Lager fehlte es noch weithin an gelungenen – eher dynamischen als statischen – Bildern zum großen Thema der Integration . Er dachte dabei an Exkurse in Sachen Landeskunde der Bruderstaaten, touristische Reportagen, Kooperationen im Dienst der Völkerfreundschaft und Export-/Import-Geschichten .

Als Beispiel fielen ihm freilich nur Fotos von DDR-Ar-beitern an tschechischen Maschinen oder DDR-Tech-nik und tschechische Arbeiter ein .

Doch in der Praxis trugen die Illustrierten inzwi-schen maßgeblich zur Selbsterfindung einer gefestigten und selbstbewussten DDR bei . Eine Bildreportage von Eckard Zobel stellte die DDR als Leseland vor: „Leben

in einem Buchland“ behauptete tröstlich, die DDR sei ein Land der Bücher, ein Land, in dem man mit Bü-chern lebe, kurz ein Land, in dem Kreativität und Intel-lektualität besondere Wertschätzung erfahre und in dem Schriftstellern eine besondere Rolle zukomme . Der alte Traum der Fellow Traveller der kommunisti-schen Bewegung, Geist und Macht zu versöhnen, schien

„Leben in einem Buchland“ (NBI 29, Juli 1972), S. 16ff.

Richtfest Palast der

Republik (NBI 49,

Dezember 1974), S. 12ff.

Fotos: Werner Schulze.

Geburtstag der DDR

(NBI 40 und 42, Oktober

1974), S. 34ff. und

Sonderheft.

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290 VIII. Einseitige Annäherung. Die siebziger Jahre 1. Beschwörungsrituale und Illusionsmaschinen 2911. Beschwörungsrituale und Illusionsmaschinen 291

erfüllt worden . Das gefällige Bild vom Leseland DDR nahm der Westen wenig später dankbar auf, weil es eine so schöne Projektions fläche für ein besseres Deutsch-land abgab .

Den Höhepunkt des proklamierten neuen Wir-Ge-fühls der siebziger Jahre bildete ein Neubauprojekt im historischen Zentrum Berlins . Dort wurde der „Palast des Volkes“ gebaut . Die NBI berichtete seit Herbst 1973 von einer der prominentesten Großbaustellen der Re-publik . Und am 18 . November 1974 wurde am Palast der Republik Richtfest gefeiert .12

Reportagen zum Thema Landeskunde in eigener Sa-che hatte die NBI regelmäßig seit den sechziger Jahren veröffentlicht . Ein Jahrzehnt später steigerte man diese Berichte zur kulinarischen Touristik quer durch die DDR . Reisen und Speisen lautete die Devise . Zum

25 . Jahrestag der Staatsgründung bot die NBI alle ihre namhaften Fotografen auf: Boldt, Christian Borchert, Morgenstern, Thomas Sandberg, Uwe Steinberg, Beh-rendt, Jochen Moll, Bernd Sefzik waren beteiligt . „Unter den Linden“ und „Der Geburtstag in Berlin“ feierten die Republik und ihre Hauptstadt in einer Mischung aus offiziellen Protokollfotos und subjektiven Impres-sionen .

Am Ende erzählte die NBI selbstbewusst die Erfolgs-geschichte der ostdeutschen Landwirtschaft am Bei-spiel von Westhausen, deren Niedergang ursprünglich vom Westen auf Aussichtstürmen erwartet worden war . Die siebziger Jahre wurden zum Höhepunkt einer fal-schen „Als-ob-Realität“ .

Der Selbstzufriedenheit der Bildjournalisten und den Beschwörungsritualen der Funktionäre, stand der kritische Blick der Leser gegenüber . Jedes „falsche“ Nachrichtenfoto eines Ereignisses – ob seitenverkehrt abgedruckt, erkennbar retuschiert, als Aufnahme des Vorjahres unters Publikum gebracht, irreführend be-schriftet oder als Propaganda an der tristen Wirklich-keit gemessen –, ließ die Leser zur Feder greifen . Man beanstandete Fotos von Tischuhren, die es nicht zu kaufen gab, Aufnahmen von der Ehrentribüne bei der Maidemonstration, die offensichtlich vom Vorjahr stammten und Fotos, die man aus dem Westen kannte . Sofern es sich um Agenturbilder handelte, leiteten die Redaktionen die für sie unangenehme Post weiter an ADN-Zentralbild . Die Agentur verwahrte diese Zeug-nisse wachsenden Überdrusses und kleiner Kämpfe um die Wahrheit in ihrem Archiv . Offenbar wurde jeder Brief beantwortet, man bemühte sich um Richtigstel-lung, gab Fehler zu oder, seltener, man beharrte auf dem abgedruckten Bild .13 Der Überdruß der Leser an „fal-schen“ Fotos ist bei ADN allerdings erst für die achtzi-ger Jahre überliefert .

Friedliche Koexistenz mit den Revanchisten?

Nach wie vor stand in den siebziger Jahren die visuelle Imperialismuskritik auf der Agenda der Fotojournalis-ten, die in der Phase der politisch gewollten friedlichen Koexistenz der beiden deutschen Staaten besonders kompliziert wurde:

Wir müssen einerseits diesen Prozess fördern, ande-rerseits Gesicht und Wesen des menschenfeindlichen Imperialismus zeigen und ständig entlarven. Als Inter-nationalisten haben wir den Kampf der Arbeiterklasse und aller demokratischen Kräfte in den imperialisti-schen Staaten darzustellen, die Schwere des dortigen Klassenkampfes zu zeigen und auch damit die Soli-darität und das sozialistische Bewußtsein unserer Werk-tätigen zu stärken.Auch der Bildjournalismus hat sich auf die sich ver-schärfende ideologische Auseinandersetzung einzustel-len. Auch durch das Foto muß gezeigt und bewiesen werden, dass der Imperialismus gefährlich ist und bleibt. Es geht also um die Erziehung zu erhöhtem Klassenbe-wußtsein und zum Haß gegen den menschenfeindlichen, reaktionären Imperialismus. Wir müssen die Wahrheit immer wieder erhärten helfen, dass nur der Sozialismus wirkliche Freiheit, Menschenrechte und Selbstbestim-mung gewährleistet, dass nur er das Zusammenleben der Menschen wahrhaft menschlich, moralisch und lebens-wert gestaltet.14

Bis zuletzt hatten die Medien der DDR ideologische Probleme mit einer positiven Darstellung der Bundes-republik . Sie waren grundsätzlicher Art . Stets aufs Neue mußte die Überlegenheit des realen Sozialismus be-schworen werden . Als bewiesen galt sie ohnehin längst . Staatsbesuche westdeutscher Politiker in der DDR und Gegenbesuche von DDR-Politikern im Westen, die das deutsch-deutsche Verhältnis entkrampfen sollten, wur-den in der NBI nahezu totgeschwiegen . Über das Tref-fen Willi Stophs und Willy Brandts in Erfurt verlautete die Illustrierte nur einen knappen Bericht, ebenso über den Besuch Stophs in Kassel . Das Titelblatt des April-hefts zierte ein Alpinist . Kein Hinweis deutete auf das politische Ereignis des Frühjahrs hin . Der Bericht über das Treffen in Erfurt war vage und dezidiert unpolitisch überschrieben mit „Erfurter Impressionen“ . Nichtssa-gend, wenn auch etwas langatmiger, war die Reportage über den Gegenbesuch: „Kassel in diesen Tagen“ . Viel-leicht aber traf die NBI-Redaktion mit einer Beschrän-kung auf ein Minimum an Berichterstattung und mit ihrer Form des politischen Understatements die bessere Entscheidung . Die Agentur-Fotos, die auf der Titelseite des parteioffiziellen Neuen Deutschland abgedruckt wurden, zeigten – abgesehen vom Protokollfoto der

Verhandlung und der internationalen Präsenz der Me-dien – ganz unverhohlen ihre Wirkungsabsicht: Laut-stark demonstrieren die Bürger für ihre eigene Regie-rung und gegen Revanchismus und Neonazismus in der BRD . Beim Bad in der Menge wird Willi Stoph ge-feiert . Wenn man gestellte Propagandafotos nicht zeigen wollte, blieb nicht allzuviel Spielraum .

Die Unterzeichnung des Grundlagenvertrags war der NBI nur eine knappe Meldung mit Agenturfotos in der Rubrik „Zeit im Bild“ wert . Und die Einrichtung Ständi-ger Vertretungen der beiden deutschen Staaten in Bonn und Ostberlin scheint nicht weiter reportagewürdig ge-wesen zu sein . Allein das Passierscheinabkommen für Westberliner nach dem Mauerbau hatte 1964 die hoch-erfreute Zustimmung der Zeitschrift gefunden . Mit al-len späteren politischen Schritten der Annäherung war man offenkundig dauerhaft überfordert . Die politisch gewollte friedliche Koexistenz erforderte mediale Seil-tänze in höherer Dialektik, denen Fotografen, Journalis-ten und Redakteure nicht immer gewachsen waren . Da war es wesentlich einfacher, weiterhin die ganz alten ideologischen Schablonen an den ungeliebten „West-staat“ anzulegen: Kriegs- und NS-Verbrecher, die unbe-helligt in der Bundesrepublik lebten;15 die Macht der Landsmannschaften und die neuen Nazis16 oder West-berlin als rechtsradikales Nest .17 Der „Aggression auf Filzlatschen“, wie man die neue Ostpolitik der Bundes-republik nannte, begegnete man mit den altbekannten Feindbildern . Oder man übte wohlfeile Sozialkritik . Im Fotojournalismus wie im DDR-Fernsehen und im Do-kumentarfilm war die „ABC-Berichterstattung“ aus dem Westen“ erprobt: A wie Arbeitslosigkeit, B wie Be-rufsverbote und C wie Chaos also Protest, Drogen und Kriminalität .18

Bis Mitte der siebziger Jahre waren alle Anflüge einer freundlicheren Stimmung vollends abgekühlt . In der Weihnachtsnummer des Jahres 1974 zog die NBI eine finstere Prognose: „Kein Licht im Tunnel . Werktätige der kapitalistischen Welt vor einem hoffnungslosen Jahr“ . Die Krisenangst ging um . In der Bundesrepublik zählte man 1 Million Arbeitslose, in Italien schritt die Inflation voran, in Frankreich wuchs die Armut . Anfang 1975 griff der VW-Konzern in Deutschland zu Kurzar-beit und Entlassungen, obwohl das Werk in Brasilien florierte . In der Reportage „Krise . Bilder aus einer Welt ohne Hoffnung“ wurde das Panorama in den dunkels-

„Tief gepflügt – nicht nur den Acker“ (NBI 41, Oktober

1975), S. 12ff. Fotos Thomas Sandberg, Text: Günter

Milde.

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292 VIII. Einseitige Annäherung. Die siebziger Jahre 2. Wandel durch Anbiederung 2932. Wandel durch Anbiederung 293

ten Farben gemalt . In der Bundesrepublik herrschten (Jugend-)Arbeitslosigkeit, sinkende Kaufkraft, Kurzar-beit, Pleite und Konkurs, Rekordprofite, Mietwucher, Kriminalität und Kinderfeindlichkeit . Eine Reportage über Hamburg geriet nun weniger freundlich als noch zehn Jahre zuvor . Sie nahm sich den Lehrstellenmangel und die Arbeitslosigkeit in der Hansestadt vor . Zudem protestierten die Journalisten Manfred Schulz (Text) und Werner Schulze (Fotos) über Behinderungen bei der Arbeit: Man war vom Bundesgrenzschutz verhört worden, obwohl der Grundlagenvertrag Journalisten einen freien Informationsaustausch garantierte .

Ausbeutung, Arbeitslosigkeit, Mietwucher, rechts-staatliche Willkür gegen die Linke, das waren die klassi-schen Themen einer Kommunistengeneration, die ihre politischen Prägungen in der Weimarer Republik er-fahren hatte, die diesen geistigen Horizont nur partiell erweitern konnte und die auch die Bundesrepublik an dieser Elle maß . Die Arbeiten der jüngeren und älteren Bildjournalisten fügten sich in das eiserne Korsett der Vorgaben ein . Es war unter den Parteistrategen der Ho-necker-Jahrgang, der bis in die siebziger Jahre einfluss-reich blieb und die Argumentationen zur Bundesrepu-blik prägte: Jahrgang 1912, forever young .

tierung der ersten westdeutschen Korrespondenten und Fotografen in Ostberlin . Zunächst entsandten dpa, Vor-wärts, Der Spiegel, die WAZ und die Westfälische Rund-schau ihre Journalisten nach Ostberlin . 1974 folgten die Süddeutsche Zeitung, die Frankfurter Rundschau, die Neue Ruhr Zeitung, die Rheinische Post, ZDF und ARD-Fernsehen, ARD-Hörfunk, Neue Hannoversche Presse und Kölnische Rundschau . Später kamen hinzu: Die Zeit, die FAZ, die Nürnberger Nachrichten, epd und Konkret .21 Als einzige westdeutsche Illustrierte eröffnete 1974 der Stern ein Korrespondentenbüro in Ostberlin . Das Ma-gazin entsandte Eva Windmöller . Begleitet wurde sie von Ihrem Ehemann, dem Bildjournalisten Thomas Hoepker, der inoffiziell als „technisches Personal“ der Journalistin mitreiste .

Nicht ohne gebührende Selbststilisierung der eige-nen Arbeit zeigten die Kommentare der Journalisten damals, dass die Möglichkeit, ständig aus der DDR über die DDR zu berichten als außergewöhnlich empfunden wurde: „17 Bundesrepublikaner hatten die Terra Inkog-nita DDR betreten, Reporterneugier und das Gefühl, es endlich geschafft zu haben, drängt sie, das andere, schon fremd gewordene Deutschland neu zu entdecken, Le-ben und Denken seiner Menschen zu verstehen und auf Spuren gesamtdeutscher Gemeinsamkeiten zu sto-ßen .“22 Die meisten Korrespondenten waren bereit, „der DDR beinahe jeden Kredit einzuräumen“, erin-nerte sich der Spiegel-Korrespondent Jörg R . Mettke .23 Und die Redaktionen in Westdeutschland rissen sich in der ersten Zeit um alles, was aus der DDR berichtet wurde .

Anfangs waren die Arbeitsbedingungen durchaus zufriedenstellend . Doch die Erwartungen einer freizü-gigeren Presse- und Informationspolitik erfüllten sich nicht dauerhaft . Unmittelbar nach der Unterzeichnung der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zu-sammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki 1975, die doch gerade den Journalisten bessere Arbeitsbedingun-gen verschaffen sollte, behielt sich die DDR-Regierung weiterhin die Ausweisung von Korrespondenten als Mittel gelenkter Medienpolitik vor . Am 15 . Dezember 1975 erschien im Spiegel eine Reportage über Zwangs-adoptionen von Kindern sogenannter Republikflücht-linge . Obwohl der Beitrag, der im Westen viel Aufsehen erregte, nicht aus der Feder des DDR-Korrespondenten stammte, wurde Mettke unter Bruch der Journalisten-

Verordnung aufgefordert, die DDR binnen 48 Stunden zu verlassen . Der Protest der Bundesregierung war halblaut . Danach verschlechtere sich die Situation für alle Korrespondenten . Eine Berichterstattung über po-litisch sensible Themen wie den Strafvollzug, die NVA, Preise und Löhne wurde ganz und gar illusorisch . Sol-che Vorhaben wurden schnell aufgegeben, denn sie wä-ren vom ostdeutschen Außenministerium nicht mehr genehmigt worden . Aber auch harmlosere Themen wa-ren keine sichere Bank . Die Journalisten standen unter dem Generalverdacht der Diffamierung . Darüber hin-aus unterstanden sie in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre verschärfter Überwachung durch die Sicherheits-organe der DDR: Zunehmend wurden ihre Büros zu Anlaufstellen kritischer DDR-Bürger und politischer Dissidenten . Am 22 . Dezember 1976 kam es zur zwei-ten spektakulären Ausweisung eines westdeutschen Journalisten . Kamera-Teams der ARD und des ZDF hatten vor dem Haus Robert Havemanns die Absperr-maßnahmen gefilmt, die den Dissidenten vor westdeut-schen Journalisten abschirmen sollten, und sie zeigten einen Offizier der Volkspolizei im Wortwechsel mit den ARD-Korrespondenten Loewe und Wiessner . Nach der Ausstrahlung des aufsehenerregenden Beitrags kom-mentierte Lothar Loewe am 1 . Dezember 1976 die ein-getrübten innerdeutschen Beziehungen in der Tages-schau: „Ausreiseanträge von DDR-Bürgern werden immer häufiger in drohender Form abgelehnt . Hier in der DDR weiß jedes Kind, dass die Grenztruppen den strikten Befehl haben, auf Menschen wie auf Hasen zu schießen .“ Umgehend wurden dem Journalisten die Akkreditierung und Aufenthaltserlaubnis entzogen . Am 9 . Januar 1978 schließlich wurde das erst kurz zu-vor wiederbesetzte Büro des Spiegel geschlossen . Das Nachrichtenmagazin hatte ein anonymes Manifest mittlerer und höherer SED-Funktionäre veröffentlicht, die Kritik an der Partei- und Staatsführung und an der Person Erich Honeckers geübt hatten . Den restriktiven Schlussakkord setzte man mit der Durchführungsbe-stimmung vom 11 . April 1979, nach der jedes journalis-tische Vorhaben genehmigungspflichtig wurde . Wie in den frühen Jahren der Republik verschloss die DDR-Führung „ihr Land“ und „ihre Menschen“ westlichen Beobachtern wieder . Nun verstand man nahezu alles als Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR und jede Kritik als lügnerische Verleumdung .

Krise des Kapitalismus

(NBI 52, Dezember

1974), S. 20ff.

2. Wandel durch Anbiederung

Reisekorrespondenten

Im Jahr 1973 hielten sich nach Angaben von ADN 1 .121 westdeutsche „Reisekorrespondenten“ in der DDR auf .19 Dauerhaft akkreditierte Journalisten aus dem Westen gab es aber bis dahin so gut wie keine – mit Ausnahme der Mitarbeiter von L’Humanité und L’Unità, der Zen-

tralorgane der Kommunisten Parteien . Allein die poli-tisch unabhängige britische Nachrichtenagentur REU-TER unterhielt seit 1959 ein Büro in Ostberlin .20 Erst mit dem Grundlagenvertrag, der im Anhang auch einen „Briefwechsel zum Journalistenaustausch“ vom 8 . No-vember 1972 enthielt, kam es – nach Diskussionen um die Durchführungsbestimmungen – 1973 zur Akkredi-

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294 VIII. Einseitige Annäherung. Die siebziger Jahre 2. Wandel durch Anbiederung 2952. Wandel durch Anbiederung 295

So wichen viele Korrespondenten auf den Alltag aus . Informationen aus erster Hand erhielten sie aus ihrem ostdeutschen Freundes- und Bekanntenkreis, in schnel-len Straßeninterviews und in Gesprächen mit Personen, die nicht zum erlauchten Kreis der führenden Persön-lichkeiten gehörten und deshalb nach der Journalisten-verordnung vom 21 . April 1973 nicht genehmigungs-pflichtig waren . Im April 1979 jedoch mußte man auch solche Interviews und Befragungen absegnen lassen .

Expedition

Stärker als noch zehn Jahr zuvor waren in den siebziger Jahren die Bildreportagen über die DDR von der Eu-phorie der Entdecker getragen . Der kritische und enga-gierte Journalismus jener Jahre verstand sich als einer, der sich in Gegnerschaft zu den ewig gestrigen Kalten Kriegern in der Bundesrepublik wusste und dabei die innere Distanz zur DDR schnell aufgab . Der westdeut-sche Zeitgeist wehte links, und er hatte bisweilen einen Hang zur genrehaften, kitschigen Gefühligkeit . Im Zei-

chen der Entspannungspolitik erschien die DDR in neuen Bildern: die Reportagen waren geprägt von Sympathie für die Menschen, politischem Wunschden-ken und dem Willen, über die Auswüchse der Diktatur nachsichtig hinwegzusehen .

Über die X . Weltjugendfestspiele in Ostberlin berich-tete nicht nur die NBI, sondern auch der Stern . Zum Friedensspektakel waren 300 .000 Jugendliche aus 140 Ländern angereist . Darunter befanden sich zum ersten Mal junge Leute aus Westdeutschland – insgesamt 840, von denen 17 sogar Mitglieder der Jungen Union wa-ren . Auf Bekehrungsversuche zum westlichen Kapi-talismus reagierte die DDR-Jugend ausgesprochen unwirsch . Die erste Reportage nach der offiziellen Ak-kreditierung Eva Windmöllers und Thomas Hoepkers wollte den Stern-Lesern die Folgen von 25 Jahren Sozi-alismus im ersten Arbeiter- und Bauernstaat aufzeigen: „Unser Nachbar Deutschland“ konzentrierte sich auf alltägliche Situationen . Als erstes fielen den Ethnologen ostdeutscher Sitten selbstverständlich die Unterschiede zum Westen auf: „Sie werden platziert“ war so einer . Das Plaziertwerden gehörte zu den Gepflogenheiten und

Unwägbarkeiten der DDR-Gastronomie und stellte die entscheidende Hürde für einen gelungenen oder ver-dorbenen Abend dar . Die Fassade bürgerlicher Exklusi-vität galt für nahezu alle Cafés und Gaststätten . Gedul-dig warteten die Gäste an der Tür, bis das Personal ihnen einen Tisch zuwies . Die erste offizielle freie Reportage über die DDR war Henri Nannen ein Cover wert: „Ohne Aufpasser durch die DDR“ titelte der Stern damals . Es folgte die Reportage „Glück in Beton“ über Honeckers Wohnungsbauprogramm, das im Westen als Errungen-schaft des Sozialismus präsentiert wurde . Der 30ste Jah-restag des Kriegsendes, der im Westen in jener Zeit noch als Tag der Kapitulation galt, wurde in der DDR be-kanntermaßen als Tag der Befreiung vom Faschismus begangen . In der Reportage „Das Deutschland, das den Krieg gewann“ thematisierte der Stern diese Unter-schiede mit subtiler Ironie . Überdeutlich wurde den westdeutschen Lesern aber nicht nur die jeweils unter-schiedliche Sichtweise auf das Kriegsende, sondern auch das ungebrochene nationale Pathos im Osten .

Gedämpft wurde die denkwürdige Annäherung an die DDR durch ein Interview mit Wolf Biermann und

X. Weltjugendspiele mit westlichen Augen (Stern 33, August 1973), S. 12ff.

„Ohne Aufpasser durch die DDR“ (Stern 41,

Oktober 1974), Cover.

„Unser Nachbar Deutschland“: 1. Idylle, 2. Ferien auf Rügen und Ansichten von Weimar (Stern 41,

Oktober 1974).

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296 VIII. Einseitige Annäherung. Die siebziger Jahre 2. Wandel durch Anbiederung 2972. Wandel durch Anbiederung 297

Robert Havemann auf der Veranda des Havemann-schen Sommerhauses in Grünheide bei Berlin . Im Sommer hatte sich für Robert Havemann, den promi-nentesten Dissidenten, die Lage in der DDR bedroh-lich zugespitzt . Am liebsten hätte die SED-Spitze Have-mann zwangsweise ausgebürgert . Vorsorglich hatten die Genossen bereits veranlasst, Havemann von der Liste der antifaschistischen Widerstandskämpfer zu streichen . Allein aus Gründen der politischen Oppor-tunität nahm man davon Abstand, einen ausgewiese-nen Gegner des Nationalsozialismus und ehemaligen Vertreter der „fortschrittlichen Intelligenz“ aus dem Land zu werfen . Doch der ließ sich nicht einschüch-tern, sondern veröffentlichte im Westen unverdrossen kritische Kommentare zur Unterdrückung der Mei-nungsfreiheit im Osten, und er ließ sich vom Stern in-terviewen . Ein Jahr später schließlich wurde Have-mann wegen Bedrohung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung unter Hausarrest gestellt, der erst im Frühjahr 1979 aufgehoben werden sollte . Der Polizei-staat schlug zu . Auch für den Westen zeigte die DDR ihr hässliches Gesicht . Doch darüber berichteten die Illustrierten nicht .

Danach ging es weiter mit Hochglanzfotos aus dem anderen Deutschland . Pointierte Alltagsbeobachtungen wurden mit Informationen über das politische und wirtschaftliche System der DDR verwoben . Die Wert-schätzung von Literatur und Kunst, die Qualität des Schulsystems, der Mangel an Zukunftsangst, die Nivel-lierung sozialer Unterschiede und die „besseren“ Frauen transportierten eine neue Sicht auf die DDR: Sie er-schien als das kleine Land der vielen Fortschritte . Aber auch der Preis, der dafür gezahlt werden musste, wurde nicht verschwiegen: die Tristesse der Altstädte und der Neubauviertel, die allfällige Gängelung der Bürger durch die sozialistische Obrigkeit, die nebelhafte, aber umfassend vermutete Präsenz der Staatssicherheit durch ihre zahllosen Zuträger, das Eingeschlossensein . Die bereits veröffentlichten Fotoreportagen wurden durch weitere ergänzt und als „Stern-Buch“ publiziert – eine der interessantesten Analysen über die DDR und über den Prozess ihrer vorsichtigen Öffnung nach Wes-ten in den 1970er Jahren .24 „Leben in der DDR“ reflek-tierte dabei zugleich die Perspektive der gelernten Westdeutschen, die Missverständnisse und Grenzen der Kommunikation zwischen Deutschen West und

Ost – jenseits wohlfeiler Rhetorik über „Brüder und Schwestern“ und „Landsleute“ . Die Autoren Eva Wind-möller und Thomas Hoepker konnten nach zwei Jahren Leben in Ostberlin als DDR-Experten gelten . Ihre acht-teilige Reportage stellt die Summe ihrer Erfahrungen im anderen Deutschland dar . Am Ende fiel das persön-liches Resümee zweischneidig aus . Aber für die ost-deutschen Spezialisten an der ideologischen Front gab jede noch so kleine Ambivalenz bereits Anlass zur Freude . Eva Windmöller gab das folgende Gespräch mit einem SED-Funktionär zum Besten:

‚Bereuen Sie ihre DDR-Zeit?‘, fragt mich auf dem Presseempfang zum IX. Parteitag Heinz Geggel, 54, von Beruf Diamantenschleifer und Journalist, heute Leiter der Abteilung Agitation im Zentralkomitee. Er ist einer von den Souveränen, die einen nicht sofort überzeugen wollen. ‚Ich finde vieles in der DDR nicht gut‘, sage ich, ‚aber in der Bundesrepublik auch nicht. Ich fürchte, ich sitze zwischen allen Stühlen.‘ Leichthändig erhebt er das Glas: ‚Na, sehen Sie. – Das ist doch schon ein schöner Erfolg für uns‘.25

Das Deutschland, das den Krieg ge-

wann. (Stern 20, Mai 1975), S. 16ff.

Havemann und Biermann „Wir haben Angst“, (Stern 44, Oktober

1975), S. 56ff.

Unser Nachbar Deutschland (Stern 21- 29, Mai–Juli 1976). Fotos: Thomas Hoepker.

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Am Ende gelang die Erosion des einstigen Schreckens-bildes durch Enttypisierung, Verkürzung der Distanz und vermehrte Kommunikation und neuerliche Typi-sierung . In den Reportagen der westdeutschen Illust-rierten – vor allem in denen des Stern –, wurde die DDR immer schöner . Die neuen Klischees, die sich verdäch-tig nah an den Wunschbildern der DDR-Presse orien-tierten, passten vortrefflich zur kritischen Attitüde ge-

gen die bürgerliche Demokratie in Westdeutschland . Sie eröffneten eine perfekte Projektionsfläche für die unter-schiedlichsten Vorstellungen: Der morbide Charme der DDR wirkte wie eine Reise in die deutsche Vergangen-heit . Den Literaturbeflissenen galt der zweite deutsche Staat als Leseland, in dem die Bücher wohnten . Die Konsumkritiker wollten in der ostdeutschen Mangelge-sellschaft die Möglichkeit innerer Freiheit und wahrhaf-tiger sozialer Beziehungen erkennen . Die Frauen lobten die Gleichberechtigung und die bessere Sozialpolitik im Osten . Und die Linken rühmten den Antifaschismus, den sie im Westen so schmerzlich vermissten . Selbst die fürsorgliche Belagerung des Individuums durch den Staat fand im Westen durchaus ihre stillen Fans . Man-chen Zeitgenossen galt die Idee des Sozialismus mehr als die Idee der Freiheit .

Die journalistische Praxis westdeutscher Korrespon-denten hatte einen doppelten Boden und unbeabsich-tigte Wirkungen: Gegenüber der DDR-Bürokratie wa-ren ihre Human Interest-Geschichten und Alltagsstories ein subversives Ausweichmanöver . Auf diese Weise konnte man die Pressezensur unterlaufen und über-haupt aus der DDR berichten . Zurück in die fünfziger Jahre mit ihrem beredten Schweigen über die kleine graue Diktatur von Moskaus Gnaden wollte schließlich niemand . Doch die schäbige und zugleich pathetische, freundliche und zugleich martialische Welt des Sozia-lismus, die angereichert war mit Bildern und Deutun-gen der DDR-Medien selbst, entwickelte ihr Eigenle-ben . In westdeutschen Magazinen wurde die DDR in den siebziger Jahren allzu oft medial weichgespült, so dass misslungene Fluchten, Botschaftsbesetzungen und die oppositionellen Gruppen im Lande in der west-deutschen Öffentlichkeit fatalerweise wie eine uner-wünschte Bildstörung wahrgenommen wurden . Denn das Gesamtbild war nicht allzu negativ, vielmehr eher freundlich .

Leiter von ADN-Zentralbild, 26.9.1967, in: BArch-Berlin, SAPMO DY 10/85, unpaginiert.

4 Nachrichtenredaktion „Aktuelle Kamera“, Aktenver-merk über Gespräch mit Walter Heilig, 13.1.1970. Zentralbild/Bereichsleitung: Stand der Arbeit im Color-Labor von Zentralbild und weitere Aufgaben-stellung, 28.10.1969. In: BArch-Berlin, DC 900 II/477.

5 Abschlußbericht des 4. Bildungslehrgangs Bildjournali-sten, 26.11.1976, Anhang 1, in: BArch-Berlin, SAPMO-DY 10/313, unpaginiert.

6 „Zur materiell-technischen Situation der DDR-Fotografie“ als Anlage 3 zum Bericht „Zu Fragen der Entwicklung der Gesellschaft für Fotografie im Kul-turbund der DDR“ (überarb. 3. Fassung) bestätigt am 11.10.1983, in: BArch-Berlin, SAPMO DY 27/692, unpaginiert.

7 Ebd. „Ausgehend von den an uns herangetragenen Wünschen der Fotoamateure und Berufsfotografen […] lassen sich folgende Forderungen an Handel und Produktionsbetriebe formulieren:“ o.D.

8 Gerhard Mertink: „Menschen wie Du und ich. Bemer-kung zur 1. Porträtfotoschau der DDR“, 14.12.1971, Bl. 1–4; hier Bl. 3, in: BArch-Berlin, SAPMO DY 27–3450, unpaginiert.

9 4. Tagung des ZV des VdJ der DDR, 17.10.1973, Bl. 1–102; hier Bl. 4f., in: BArch-Berlin, SAPMO DY 10–205, unpaginiert.

10 Joachim Ullmann, Chefred. der Freien Welt im Vor-trag auf der 4. Tagung des Zentralvorstandes des Verbandes der Journalisten der DDR, 17.10.1973, Bl.

3 und 23, in: BArch-Berlin, SAPMO-DY 10/205, un-paginiert.

11 Ernst Gebauer (Armee-Rundschau) auf der 4. Tagung des Zentralvorstandes des Verbandes der Journalisten der DDR, 17.10.1973, Bl. 49, ebd.

12 NBI H. 49 (Dez. 1974), S. 12ff. Fotos: Werner Schulze.13 Korrespondenz im ADN-Bestand BArch-Berlin, DC

900 Zg. 3487, unpaginiert.14 Joachim Ullmann, Chefredakteur der Freien Welt, auf

der 4. Tagung des ZV des VdJ der DDR, 17.10.1973, Bl. 1–102; hier Bl. 4f, in: BArch-Berlin, SAPMO DY 10–205, unpaginiert.

15 NBI H. 44 (Nov. 1967), S. 14ff.16 NBI H. 36 (Sept. 1968), S. 6f.17 NBI H. 10 (März 1969), S. 4f und H. 14 (April 1969)

S. 4ff.18 Ganz ähnlich für die bewegten Bilder, siehe Steinle,

Vom Feindbild zum Fremdbild, S. 387ff.19 Auskünfte von A-Z zum Stand der innerdeutschen Be-

ziehungen. Hg. vom Bundesministerium für innerdeut-sche Beziehungen, Bonn ²1974. Stichwort „Journalisten“.

20 Bellut, S. 50f.21 Bellut, S. 107.22 ARD-Korrespondent Lothar Loewe im Interview mit

Dirk Sager „Die ersten Gehversuche sind geglückt“, in: FR (9.4.1974).

23 Spiegel Nr. 52 (Dez. 1975), S. 24.24 Eva Windmöller, Thomas Hoepker: Leben in der DDR.

Ein Stern-Buch, Hamburg o.J. [1976]25 Stern H. 29 (Juli 1976) S. 62.Der Westen, vom Osten aus einen Steinwurf entfernt.

Foto: Thomas Hoepker.

1 Heinz Frotscher: Abschlußbericht über den 3. Wei-terbildungslehrgang für erfahrene Bildjournalisten, 26.11.1976, in: BArch-Berlin, SAPMO DY 10–313, unpaginiert.

2 Abteilung Bildung im VDJ: Konzeption des 2. Zen-tralen Bildungslehrgangs für Bildjournalisten (24.2.-

8.3.1975), 16.12.1974, in: BArch-Berlin, SAPMO-DY 10/313, unpaginiert.

3 Kommission für Bildjournalismus des VDJ: Konzep-tion zur Vorbereitung einer Konferenz über Probleme der Farbfotografie in der Anwendung als spezielle Form der Bildjournalistik, versandt an Walter Heilig,