06 Schuetz TheorieI SoSe19 - uni-muenchen.de · 2019-06-02 · Alfred Schütz: Der sinnhafte Aufbau...

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Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 1 Armin Nassehi Institut für Soziologie Vorlesung Soziologische Theorie SoSe 2019 Mo 1015-1145 Uhr, AudiMax 3. Juni 2019 Alfred Schütz: Gesellschaft als Lebenswelt/ Soziologie als Phänomenologie und Anthropologie Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 2 Armin Nassehi Institut für Soziologie Armin Nassehi: Soziologie. Zehn einführende Vorlesungen 2. Aufl. Wiesbaden: VS-Verlag 2011. Hans Joas/Wolfgang Knöbl: Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen Aktualisierte Auflage Frankfurt/M./Berlin: Suhrkamp 2004.

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Armin NassehiInstitut für Soziologie

VorlesungSoziologische Theorie

SoSe 2019Mo 1015-1145 Uhr, AudiMax

3. Juni 2019

Alfred Schütz:Gesellschaft als Lebenswelt/

Soziologie als Phänomenologie und Anthropologie

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Armin Nassehi: Soziologie. Zehn einführende Vorlesungen2. Aufl.Wiesbaden: VS-Verlag 2011.

Hans Joas/Wolfgang Knöbl:Sozialtheorie. Zwanzig einführende VorlesungenAktualisierte AuflageFrankfurt/M./Berlin: Suhrkamp 2004.

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Programm

29.04.Die Vorgeschichte: Rousseau, Hobbes, Hegel und MarxDie Erfindung der bürgerlichen Gesellschaft und ihre KritikGeorg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke, Band 7, Frankfurt/M. 1970, �� 182-188, S. 339-346;

Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Marx-Engels-Werke, Band 1, Berlin (DDR) 1969, S. 378-391.

06.05. (Julian Müller)Emile Durkheim: Gesellschaft als integrierte Einheit/Soziologie als MoralwissenschaftEmile Durkheim: Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt/M. 1977, S. 152-173 und 437-450. Emile Durkheim: Regeln der

soziologischen Methode, Neuwied 1961, S. 115-128.

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13.05.Max Weber:Soziologie ohne GesellschaftMax Weber: Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: ders.: Schriften 1894-1922, ausgew. v. Dirk Käsler, Stuttgart

2002, S. 275-313.

20.05. (Julian Müller)George Herbert Mead:Gesellschaft als universe of discourse/Soziologie als VerhaltenswissenschaftGeorge Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. Hrsg. von Charles W. Morris. Frankfurt/M. 1992, S. 194-221 und 230-265.

27.05.Talcott Parsons:Gesellschaft als politische Einheit/Soziologie als Theorie sozialer SystemeTalcott Parsons: Das System moderner Gesellschaften, München 1972, S. 12-42.

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03.06.Alfred Schütz/Peter Berger/Thomas Luckmann:Gesellschaft als Lebenswelt/Soziologie als Phänomenologie und AnthropologieAlfred Schütz/Thomas Luckmann: Die Lebenswelt des Alltags und die natürliche Einstellung, in: dies.: Strukturen der Lebenswelt. Band

1, Frankfurt/M. 2003, S. 29-50.

10.06. Pfingstmontag

17.06.Gary S. Becker/James ColemanGesellschaft als Situation/Soziologie als Theorie rationaler WahlGary S. Becker: The Economic Way of Looking at Life, Nobel Lecture, Oslo 1992.

24.06.Jürgen Habermas:Gesellschaft als System und Lebenswelt/Soziologie als AufklärungsprojektJürgen Habermas: Der normative Gehalt der Moderne, in: ders.: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen,

Frankfurt/M. 1985, S. 390-425.

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01.07.Niklas Luhmann:Gesellschaft ohne Zentrum und Spitze/Soziologie als AufklärungNiklas Luhmann: Das Moderne der modernen Gesellschaft, in: ders.: Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 11-49.

08.07.Pierre Bourdieu:Gesellschaft als Distinktionsraum/Soziologie als (Selbst-)AufklärungPierre Bourdieu: Leçon sur la leçon, in: ders.: Sozialer Raum und ‘Klassen’. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985, S.

49-81.

15.07.Bruno Latour:Gesellschaft posthumaner Kollektive/Soziologie als Theorie hybrider AkteureBruno Latour: Kleine Soziologie alltäglicher Gegenstände, in: ders.: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der

Wissenschaften, Berlin, S. 15-84.

22.07.Klausur

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Weitere Informationen:

Die Texte werden in den Tutorien bearbeitet und sollen von allen sonstigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Vorlesung mitgelesen werden.

Die Anmeldeformalitäten für die Klausur bzw. für die Anmeldung zu den Theorie II-Veranstaltungen werden im Laufe der Vorlesung erläutert.

Sonntags ab spätestens 23.00 Uhr (meist früher) lassen sich die Folien des darauf folgenden Montags von der Homepage des Lehrstuhls herunterladen (www.nassehi.de).

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Alfred Schütz (1899-1959)

Alfred Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialenWelt (Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981)

S. 11f.: Hat es die Sozialwissenschaft mit dem Sein des Menschen an sich oder nur mit seinen gesell-schaftlichen Verhaltensweisen zu tun? Ist das gesellschaftliche Ganze dem Sein des Einzelnen vorgegeben, so dass das Individuum nur ist, weil es Teil einer Ganzheit ist, oder ist es umgekehrt das, was wir das gesellschaftliche Ganze nennen und seine Teilorga-nisationen eine Synthesis von Funktionen der einzelnen mensch-lichen Individuen, deren Sein allein Realität zukommt? Ist das das

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gesellschaftliche Sein des Menschen, was sein Bewusstsein, oder umgekehrt sein Bewusstsein, das sein gesellschaftliches Sein be-stimmt? Kann das historische Geschehen der Menschheits – und Kulturentwicklung unter Gesetzen begriffen werden oder sind um-gekehrt alle als “Gesetze“ ausgegebenen Deutungsversuche der fortgeschrittensten Sozialwissenschaft, wie z.B. der Nationalöko-nomie, ihrerseits bloß historisch bedingte Abstraktionen? Es ist begreiflich, dass derjenige, auf den Fragen von solcher Tragweite einstürmen, der Versuchung unterliegt, ihre Lösung naiv voraus-zusetzen und von seinem, durch Temperament, wertenden oder po-litischen Einstellungen oder bestenfalls metaphysischen Instinkt diktierten Standpunkt aus an die einzelnen Tatsachen heranzutre-ten.

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Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (J.C.B. Mohr, Tü-bingen 1972)

S.1: �1. Soziologie (im hier verstandenen Sinn dieses sehr vieldeu-tig gebrauchten Wortes) soll heißen: eine Wissenschaft, welche so-ziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will. „Handeln“ soll da-bei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerli-ches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. „Soziales“ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orien-tiert ist.

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Alfred Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, a.a.O.

S.15f: Weber macht zwischen Handeln als Ablauf und vollzogener Handlung, zwischen dem Sinn des Erzeugens und dem Sinn des Erzeugnisses, zwischen dem Sinn eigenen und fremden Handelns bzw. eigener und fremder Erlebnisse, zwischen Selbstverstehen und Fremdverstehen keinen Unterschied. Er fragt nicht nach der besonderen Konstitutionsweise des Sinnes für den Handelnden, nicht nach den Modifikationen, die dieser Sinn für den Partner in der Sozialwelt oder für den außenstehenden Beobachter erfährt, nicht nach dem eigenartigen Fundierungszusammenhang zwischen Eigenpsychischem und Fremdpsychischem, dessen Aufklärung für die präzise Erfassung des Phänomens „Fremdverstehen“ unerläss-

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lich ist. Zwar stellt Weber dem subjektiv gemeinten Sinn eines

Handelns dessen objektiv erkennbaren Sinngehalt gegenüber. Aber

er differenziert nicht weiter und untersucht jene spezifischen Ab-

wandlungen, die ein Sinnzusammenhang von der jeweiligen Posi-

tion des Deutenden aus erfährt, ebenso wenig, wie die Auffas-

sungsperspektiven, in denen dem in der Sozialwelt Lebenden seine

Mit- und Nebenmenschen überhaupt gegeben ist.

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S. 16: Die soziale Welt ist eben keineswegs homogen, sondern

mannigfach gegliedert, und der „Andere“, der Partner, ist dem

sozial Handelnden und beide wieder dem Beobachter jeweils in

verschiedenen Graden der Anonymität, der Erlebnisnähe und

Inhaltsfülle gegeben. Der Einzelne zieht aber diese perspektivi-

schen Verkürzungen, in denen ihm die Sozialwelt erscheint, bei

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seinen Sinnsetzungs- und Sinndeutungsakten ins Kalkül, und des-halb sind auch sie Gegenstand der sozialwissenschaftlichen For-schung. Denn es handelt sich hier nicht um empirische Unterschie-de des zufälligen Standpunktes des Einzelnen, sondern um Wesens-unterschiede prinzipieller Natur – um den wesensmäßigen Unter-schied insbesondere zwischen der Selbstinterpretation der Erlebnis-se durch das eigene Ich und der Interpretation fremder Erlebnisse durch das deutende alter ego. Dem handelnden Ich und dem deu-tenden Beobachter präsentiert sich nicht nur die einzelne sinnhafte Handlung und ihr Sinnzusammenhang, sondern auch das Ganze der Sozialwelt in völlig verschiedener Perspektive.

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S. 28f: Nur wenn angenommen wird, dass auch der Andere mit sei-nem Verhalten einen Sinn verbinde und diesen Sinn so in den Blick bringen könne, wie ich auf den Sinn meines Handelns hinzusehen vermag, kann überhaupt mit Fug nach dem fremden gemeinten Sinn gefragt werden. Dass aber dieser gemeinte Sinn einer fremden Handlung oder eines fremden Verhaltens nicht mit demjenigen Sinn zusammenfallen muss, welchen der wahrgenommene, von mir als fremdes Handeln oder fremdes Verhalten interpretierte Vorgang für mich, den Beobachtenden, hat, ist die zweite Voraussetzung, welche in diesem Postulat enthalten ist.

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S. 20f: Schon eine oberflächliche Analyse zeigt nämlich, dass das Sinnproblem ein Zeitproblem ist, allerdings nicht ein solches der physikalischen Raumzeit, die teilbar und messbar ist, oder der hi-storischen Zeit, die immer eine von äußeren Begebenheiten erfüll-barer Ablauf bleibt, wohl aber ein solches des „inneren Zeitbe-wusstseins“, des Bewusstseins der je eigenen Dauer, in dem sich für den Erlebenden der Sinn seiner Erlebnisse konstituiert. Erst in dieser tiefsten, der Reflexion zugänglichen Erlebnisschicht, die nur in streng philosophischer Selbstbestimmung schlossen werden kann, ist der letzte Ursprung der Phänomene „Sinn“ und „Verste-hen“ aufweisbar. Der mühevolle Weg in diese Tiefenschichten kann aber demjenigen, der sich über die Grundbegriffe der Sozial-wissenschaften Rechenschaft geben will, nicht erspart bleiben. Er

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wird vielmehr die im hochkomplexen Sinngefüge der Sozialwelt sichtbar werdenden Phänomene nur dann deutlich erfassen können, wenn er sie auf ursprünglichen und allgemeinen Wesensgesetzen des Bewusstseinslebens abzuleiten vermag. Erst die großen philo-sophischen Entdeckungen Bergsons und vor allem Husserls haben den Zugang zu diesen Tiefenschichten philosophischer Reflexion erschlossen. Nur mit Hilfe einer allgemeinen Theorie des Bewusst-seins, wie Bergsons Philosophie der Dauer oder Husserls transzen-dentaler Phänomenologie, kann die Lösung der Rätsel gefunden werden, mit denen die Problematik der Sinnsetzungs- und Sinn-deutungsphänomene umlagert ist.

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Edmund Husserl: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbe-wusstseins (1893-1917), Husserliana, Band X, Den Haag 1966.

S. 23: Die Sache scheint zunächst sehr einfach: wir hören die Me-lodie, d.h. wir nehmen sie wahr, denn Hören ist ja Wahrnehmen. Indessen, der erste Ton erklingt, dann kommt der zweite, dann der dritte usw. Müssen wir nicht sagen: wenn der zweite Ton erklingt, so höre ich ihn, aber ich höre den ersten nicht mehr usw.? Ich höre also in Wahrheit nicht die Melodie, sondern nur den einzelnen ge-genwärtigen Ton. Daß das abgelaufene Stück der Melodie für mich gegenständlich ist, verdanke ich - so wird man geneigt sein zu sa-gen - der Erinnerung; und daß ich, bei dem jeweiligen Ton ange-kommen, nicht voraussetze, daß das alles sei, verdanke ich der vor-

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blickenden Erwartung. Bei dieser Erklärung können wir uns aber nicht beruhigen, denn alles Besagte überträgt sich auch auf den ein-zelnen Ton. Jeder Ton hat selbst eine zeitliche Extension, beim An-schlagen höre ich ihn als jetzt, beim Forttönen hat er aber ein im-mer neues Jetzt, und das jeweilig vorausgehende wandelt sich in ein Vergangen. Also höre ich jeweils nur die aktuelle Phase des Tones, und die Objektivität des ganzen dauernden Tones konstitu-iert sich in einem Aktkontinuum, das zu einem Teil Erinnerung, zu einem kleinsten, punktuellen Teil Wahrnehmung und zu einem weiteren Teil Erwartung ist.

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Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, a.a.O.S.104: Wir können nun den Gesamtzusammenhang der Erfahrung auch definieren als den Inbegriff aller durch das Ich als freies We-sen in einem gegebenen Zeitpunkt seiner Dauer vollziehbaren re-flexiven Zuwendung (einschließlich aller attentionalen Modifika-tionen dieser Zuwendungen) auf seine abgelaufenen in phasenwei-sen Aufbau konstituierten Erlebnisse. Der spezifische Sinn eines Erlebnisses, also das besondere Wie der Zuwendung zu ihm, be-steht dann in der Einordnung dieses Erlebnisses in den vorgegebe-nen Gesamtzusammenhang der Erfahrung. Wir können diesen Satz auch in folgender Form ausdrücken, die zugleich eine präzise Defi-nition des Begriffes „gemeinter Sinn“ abgibt: Gemeinter Sinn eines Erlebnisses ist nichts anderes als eine Selbstauslegung des Erleb-nisses von einem neuen Erleben her.

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S.112: Wir können den Prozess der Einordnung eines Erlebnisses unter die Schemata der Erfahrung durch synthetische Rekognition auch als Deutung dieses Erlebnisses bezeichnen, wenn wir dieses Wort in einem erweiterten Sinn gelten lassen, der auch die in der allgemein üblichen Redeweise damit gemeinte Zuordnung eines Zeichens zu dem, was es bezeichnet, umschließt. Deutung ist dann nichts anderes als Rückführung von Unbekanntem auf Bekanntes, von in Zuwendungen Erfasstem auf Schemata der Erfahrung. Die-sen kommt also beim Prozess des Deutens der eigenen Erlebnisse eine besondere Funktion zu. Sie sind die fertigen in der Weise des Wissens (Vorwissens) jeweils vorrätigen Sinnzusammenhänge zwi-schen kategorial vorgeformten Material, auf welches das zu deuten-de Erlebnis in einem neuen synthetischen Akt rückgeführt wird. In-soferne sind die Schemata der Erfahrung Deutungsschemata und

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als solche wollen wir sie im folgenden bezeichnen. Die Zuordnung eines Zeichens zu einem Zeichensystem, für welche der Terminus „Deutungsschema“ vorzugsweise verwendet wird, ist nur ein Spe-zialfall des soeben gekennzeichneten Vorgangs der Selbstausle-gung überhaupt. ______________________________________________________S.139: Das Postulat der „Erfassung des fremden gemeinten Sinnes“ besagt nämlich, dass die Erlebnisse des alter ego durch ein ego in der nämlichen Weisen auszulegen seien, wie das alter ego die Selbstauslegung seiner Erlebnisse vollzieht.Ein solches „Wissen“ könnte aber nur in einem eigenen Erleben und in einer Serie reflexiver Blickwendungen auf dieses eigene Er-leben bestehen. Hierbei müsste der Beobachter die einzelnen Erleb-nisse, und zwar die Urimpressionen, die reflexiven Akte, die akti-

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ven Spontaneitäten, die Phantasieerlebnisse usw. in der gleichen Reihenfolge und mit den gleichen Höfen von Protentionen und Re-tentionen in seinem (des Beobachters) Bewusstsein vorfinden. Mehr noch: der Beobachter müsste dazu fähig sein, auch alle vor-vergangenen Erlebnisse des Beobachteten in freier Reproduktion zu durchlaufen, er müsste also dieselben Erlebnisses in ihrer To-talität, und zwar in ihrer gleichen Abfolge erlebt und in gleicher Weise Zuwendungen zu ihnen vollzogen haben, wie der Beobach-tete selbst. Das heißt aber nichts anderes, als dass der Bewusst-seinsstrom der durée des Beobachters der nämliche sein müsste, wie der des Beobachteten, oder mit anderen Worten, dass Beob-achter und Beobachteter ein und dieselbe Person sein müssten.

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S.156: Die vorgenommene Analyse zeigt aber in voller Deutlich-keit, dass eben diese letzten Fragen erst gestellt werden können, sobald das Ich das vernommene Wort (als von einem alter ego kundgegeben) in Selbstauslegung erfasst hat, dass also alles echte Fremdverstehen auf Akten der Selbstauslegung des Verstehenden fundiert ist.

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Alfred Schütz: Gesammelte Aufsätze III. Studien zur phänome-nologischen Philosophie, Den Haag 1971

S. 116f: Es kann aber mit Bestimmtheit gesagt werden, dass nur ei-ne solche Ontologie der Lebenswelt, nicht aber eine transzendenta-le Konstitutionsanalyse jenen Wesensbezug der Intersubjektivität aufzuklären vermögen wird, der die Grundlage sämtlicher Sozial-wissenschaften bildet, obschon er von diesen meistens nur als schlichte Gegebenheit ungeprüft, d.h. als „selbstverständlich“ angesetzt wird.

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Alfred Schütz: Gesammelte Aufsätze I. Das Problem der sozia-len Wirklichkeit, Den Haag 1971.

S. 286: Wir können jetzt einige Merkmale der Epoché der wissen-schaftlichen Einstellung zusammenfassen. In dieser Epoché wer-den „eingeklammert“: (1) die Subjektivität des Denkers als Mensch unter Mitmenschen einschließlich seiner körperlichen Existenz als psycho-physisches menschliches Wesen in der Welt; (2) das Orien-tierungssystem, durch das die Alltagswelt nach der tatsächlichen, der wiederherstellbaren, der erreichbaren Reichweite usw. geglie-dert ist; (3) die grundlegende Sorge und das in ihr gründende Sy-stem pragmatischer Relevanzen.

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S.262: Ich weiß, dass ich sterben werde und fürchte mich davor. Diese fundamentale Erfahrung wollen wir die grundlegende Sorge nennen. Dies ist die ursprünglichste Erwartung, der alle anderen entstammen, - die vielen untereinander verflochtenen Systeme von Hoffnungen und Befürchtungen, von Wünschen und Erfüllungen, von Chancen und Wagnissen – die den Menschen in der natürli-chen Einstellung dazu anspornen, die Meisterung der Welt anzu-streben, Hindernisse zu überwinden, Pläne zu entwerfen und sie zu verwirklichen.Doch die grundlegende Sorge selbst ist lediglich ein Korrelat unse-rer Existenz als menschliches Wesen innerhalb der ausgezeichneten Wirklichkeit des alltäglichen Lebens. Daher sind unsere Hoffnun-gen und Befürchtungen und die mit ihnen verbundenen Erfüllungen und Enttäuschungen allein in der Wirkwelt verankert und nur in ihr

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möglich. Sie sind wesentliche Bestandteile der Realität dieser Welt des Wirkens, beziehen sich aber nicht auf unseren Glauben an sie. Im Gegenteil, es ist bezeichnend für die natürliche Einstellung, dass sie die Welt und ihre Gegenstände – so lange sie nicht in Frage ge-stellt werden – als selbstverständlich gegeben hinnimmt. So lange das einmal festzulegende Bezugsschema, nämlich das System unse-rer eigenen und der fremden verbürgten Erfahrungen nicht fehl-schlägt, so lange das Handeln und Tun unter der Anleitung dieses Schemas den gewünschten Erfolg hat – so lange vertrauen wir die-sen Erfahrungen. Wir sind gar nicht daran interessiert, herauszufin-den, ob diese Welt wirklich existiert oder ob sie nur ein wohlgefüg-tes System zusammenhängender Erscheinung ist. Wir haben keinen Grund, unsere verbürgten Erfahrungen irgendwie zu bezweifeln, von denen wir annehmen, dass sie uns die Dinge so darbieten wie sie wirklich sind.

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S. 263: Die Phänomenologie hat den Begriff der Epoché eingeführt. Sie versteht darunter ein Verfahren, das unseren Glauben an die Wirklichkeit der Welt ausklammert, um so die natürliche Einstel-lung durch eine radikale Weiterentwicklung der Cartesianischen Methode des philosophischen Zweifels zu überwinden. Man kann andererseits vielleicht sagen, dass der Mensch in der natürlichen Einstellung auch eine bestimmte Epoché verwendet, die allerdings von der des Phänomenologen ganz verschieden ist. Jener klammert nicht etwa seinen Glauben an die Außenwelt und ihren Gegenstän-den aus, sondern, im Gegenteil, seine Zweifel an der Existenz dieser Welt. Was er „in Klammern setzt,“ ist sein Zweifel daran, dass die Welt und ihre Gegenstände anders sein könnten, als sie ihm erschei-nen. Wir wollen diese Epoché die Epoché der natürlichen Einstel-lung nennen.

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S.363: Durch wechselseitiges Verstehen und Einverständnis wird somit eine gemeinsame kommunikative Umwelt geschaffen, innerhalb der die Subjekte sich gegenseitig in ihren Bewusstseinsaktivitäten motivieren.