070 - 25 Jahre Mauerfall 09.11.’89 · KURIER:25 Jahre Mauerfall – 24 Jahre vereintes...

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www.sauerlandkurier.de 070 - 0 27 21/13 60 oder 0 27 61/9 39 90 09.11.14 - Seite 13 schreckt, dann sind wir erfolg- reich. KURIER: Die Ukrainekrise stellt die härteste Belastung der Be- ziehungen zu Russland seit 25 Jahren dar. Ist das ein Rückfall in den Kalten Krieg? Weidenfeld: Nein. Diese Krise gibt uns im Westen starke Hinweise auf erhebliche stra- tegische Defizite . Wir küm- mern uns um Länder wie die Ukraine, aber auch Libyen, Tunesien oder Ägypten, Stich- wort „Arabischer Frühling“, erst dann, wenn es dort zu Konflikten kommt, anstatt vorher strategische Gemein- samkeiten zu entwickeln. Das gilt in gleicher Weise für die Beziehungen zu Russland. Wir haben erhebliche Defizite im langfristigen strategisch- kulturellen Denken. KURIER: Letzte Frage: Kennen Sie das Sauerland und den Kreis Olpe? Weidenfeld: Ich habe in Bonn studiert, anschließend im Pri- vathaus von Konrad Adenauer an dessen Biografie gearbei- tet. Danach war ich in Bonn zwölf Jahre lang Amerika-Ko- ordinator der Bundesrepu- blik. In dieser langen Zeit lernt man fast automatisch die Um- gebung kennen, und natürlich auch das Sauerland und den Kreis Olpe. KURIER: Herr Professor Weiden- feld, vielen Dank für dieses Ge- spräch. gibt keine Trennung in Ost und West, die Ökonomie hat sich verwoben. Da gi bt es eher eine Kontrastierung querbeet durch die Bevölke- rungsschichten. Im Rückblick ist eine moderne Gesellschaft entstanden, deren divergie- rende Erfahrungshorizonte sich nicht an Ost und West festmachen lassen. Als bestes Beispiel dient die Herkunft von Bundespräsident und Kanzlerin. KURIER: Welche Auswirkungen hat die Wiedervereinigung auf Europa? Und - hat Deutsch- land die Pubertät hinter sich und seine Rolle in Europa ge- funden? Weidenfeld: Diese Vereini- gung hat von Anfang an eine immense europäische Kom- ponente. Ohne die früheren Freiheitsbestrebungen und Massenaufmärsche in Un- garn, der CSSR und Polen hät- te es die Protestbewegung in der DDR nie gegeben. Ich ha- be in der Nacht vom 9. auf den 10. November zu meinen Mit- arbeitern gesagt: „Das ist die EU-Osterweiterung.“ Und so ist es dann ja auch gekom- men. Zur Rolle Deutschlands: Unsere Nachbarn erwarten Führungsimpulse von Deutschland. Wenn wir eine sensible, behutsame, einfühl- same und ausbalancierte Führungsleistung erbringen, die die Nachbarn nicht er- gierung, Anm. der Red.) ge- troffen - Ost-Berlin kam we- gen des Status als Treffpunkt nicht in Frage. Schon dieses Treffen war ohne vorherige Kontakte und Klärungen mit Moskau gar nicht möglich ge- wesen. Ab diesem Datum wurden von der Bundesregie- rung die Währungsreform und die ersten freien Wahlen auf DDR-Boden im März 1990 massiv vorangetrieben, in ste- tigem Kontakt zur UdSSR-Re- gierung. KURIER: 25 Jahre Mauerfall – 24 Jahre vereintes Deutschland; sind wir „ein Volk“? Ist die Ein- heit in den Köpfen derer fest etabliert, die 1989/90 als Er- wachsene – und damit auch den Kalten Krieg davor – mit- erlebt haben? Weidenfeld: Das Volk hat sich schon sehr weit angenähert. Die Nation ist nicht in Ost und West gespalten. Dass es unter- schiedliches Empfinden gibt, liegt in den unterschiedlichen Wahrnehmungen der Men- schen. Wer in einer Diktatur gelebt hat, nimmt natürlich vieles anders wahr, als die Leute mit dem „westlichen“ Wahrnehmungshorizont. Es der Einigung überrascht. In seinem „10-Punkte-Plan“ zur Einheit war lediglich von „konföderativen Strukturen“ die Rede, nicht einmal von ei- ner Konföderation. Und der ZK-Beschluss, den Politbüro- mitglied Günter Schabowski in der Pressekonferenz be- kanntgab, sah eigentlich nur eine Formulierung für Reise- erleichterungen vor, ohne Zeitangabe. Schabowski hat den Text ungelesen selbst in- terpretiert. Dieser Mauerfall war aber ein so elementarer Vorfall, dass der Prozess im Ergebnis gar nicht anders hät- te ausgehen können. Davon war ich felsenfest überzeugt. KURIER: Gab es direkte Kontakte zur DDR-Führung und zur UdSSR bzw. deren Militär- Hauptquartier in Berlin- Karlshorst? Weidenfeld: Aber ja. UdSSR- und DDR-Führung waren bei- de stark in den Einigungspro- zess ab dem 19. Dezember 1989 involviert. An diesem Tag ist Helmut Kohl nach Dresden gefahren und hat sich mit Hans Modrow (leitete vom 13. November 1989 bis März 1990 die letzte DDR-Re- KURIER: Wie hoch schätzen Sie den Anteil der Bundesregie- rung an der Wiedervereini- gung ein? Weidenfeld: Es gibt hier meh- rere Komponenten, die sich zu einem erheblichen Anteil summieren. Die Bundesrepu- blik war zum Ersten ein Mag- net für die Menschen in der DDR. Ohne so eine „Attrakti- on“ hätte die Protestbewe- gung im Osten kein Ziel ge- habt, auf das sie zusteuern konnte. Zum Zweiten hat die Bundesregierung über Jahre hinweg die menschlichen Be- gegnungen ausgebaut. Das hat mit der Entspannungspo- litik zu tun, aber auch bei Zu- geständnissen wurden Ge- genleistungen eingefordert, soll heißen, dass Milliarden- hilfen nur gegen beispielswei- se Ausreisegenehmigungen gewährt wurden. Und zum Dritten hat die Kohl/Gen- scher-Regierung ab dem 19. Dezember 1989 eine sehr akti- ve Einigungspolitik betrieben. KURIER: Gab es während des Ei- nigungsprozesses einen Zeit- punkt oder eine Phase, in der Sie Zweifel hatten, dass dieses Ereignis zu einem positiven Ende kommen kann? Weidenfeld: Nein. Ich hatte von Beginn an einen ganz be- sonderen Erwartungshori- zont; ich bin davon ausgegan- gen, dass die Mauer fallen wird – wann auch immer. Im gesamten Regierungsumfeld war ich der Einzige, der vom Mauerfall ausgegangen ist. Stellen Sie sich vor: An dem besagten 9. November, das ist ja nur einfach ein Datum, wa- ren Kohl und Genscher nicht einmal in Deutschland, son- dern in Warschau, weil sie nicht mit einer so dramati- schen Wendung der Ereignis- se gerechnet hatten. In den Taschen hatten sie die am Tag erschienenen jüngsten Um- frageergebnisse zur Wieder- vereinigung: Nur 3 Prozent der Westdeutschen erwarte- ten ein geeintes Deutschland zu ihren Lebzeiten! Selbst Helmut Kohl war vom Tempo 25 Jahre Fall der Mauer. Am 9. November 1989 begann mit einem gestammelten Satz, gesprochen in einer Pressekonferenz, der Anfang vom Ende der Deutschen Demokra- tischen Republik, DDR. Eine Persönlichkeit, die seinerzeit das Geschehen sozusagen aus dem „Vorzimmer der Macht“ erlebte, ist Prof. Dr. Werner Weidenfeld. Der renom- mierte Münchner Politikwissenschaftler spricht am Montag, 10. November, um 19.30 Uhr (Abendkasse ab 18.30 Uhr) in der Reihe „Das politische Gespräch“ in der Aula des At- tendorner Rivius-Gymnasiums über die Vor- gänge, die zur deutschen Einheit führten. Der Titel seines Vortrags lautet „Der Fall der Mauer – Aufbruch in ein neues Europa?“. Im Vorfeld dieser Veranstaltung sprach Hart- mut Poggel mit Werner Weidenfeld. Prof. Weidenfeld ist auch am heutigen Sonntag in der Zeit von 13 bis 14 Uhr im TV-Dokumen- tationskanal Phoenix zu sehen in „History, Der Fall der Mauer - Wie es wirklich war“. „Vom Fall der Mauer überzeugt“ Vor 25 Jahren war der Politikwissenschaftler beim Fall der Mauer mitten im politischen Geschehen – am Montag be- richtet er darüber im Attendorner Rivius-Gymnasium. Prof. Dr. Dr. hc Werner Weidenfeld Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung (CAP) der Ludwig-Maximili- ans-Universität München Rektor der Alma Mater Eu- ropaea der Europäischen Aka- demie der Wissenschaften und Künste (Salzburg) Vorsitzender des Abt-Her- wegen-Instituts der Benedik- tinerabtei Maria Laach Gastprofessuren an der Sor- bonne (Paris), an der Remnin- Universität (Peking), an der Hebräischen Universität (Je- rusalem), an der Zeppelin- Universität (Friedrichshafen) Ehrenmitglied der Ungari- schen Akademie der Wissen- schaften Assoziiertes Mitglied des Club of Rome 1987 – 1999 Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-amerikanische Zu- sammenarbeit Träger zahlreicher Orden und Auszeichnungen Autor zahlreicher Bücher über die Einigung Europas. deutsche Außenpolitik, Zeit- geschichte 3. Oktober: In ganz Deutschland liegen sich die Menschen in den Armen – der Tag wird offizieller „Tag der deutschen Einheit“. germächte (USA, Sowjetuni- on, Großbritannien, Frank- reich) die volle Souveränität durch Unterzeichnung des „2- plus-4-Vertrags“. 18. März 1990: erste freie Wahlen auf dem Gebiet der DDR; die Volkskammer wird beauftragt, den Beitritt zur BRD vorzubereiten. 5. Mai: „2-plus-4-Gesprä- che“ zwischen den 4 Sieger- mächten des 2. Weltkriegs und den Außenministern bei- der deutscher Staaten. 18. Mai 1990: Die beiden Re- gierungen unterzeichnen den Vertrag über eine Wirtschafts- und Währungsunion. 1. Juli: Die D-Mark wird ein- ziges Zahlungsmittel in ganz Deutschland. Die DDR-Volkskammer be- schließt – obwohl die Ver- handlungen zum Vertrag der deutschen Wiedervereinigung noch stattfinden – den Beitritt zur Bundesrepublik und be- nennt dafür den 3. Oktober. 12. September: 45 Jahre nach dem Ende des 2. Welt- kriegs gewähren die vier Sie- verhindern. Es kommt in Dresden zu schweren Zusam- menstößen zwischen De- monstranten und Ausreise- willigen und der Staatsmacht, die u.a. Wasserwerfer einsetzt. 7. Oktober 1989: Die SED will den 40. Jahrestag der DDR-Gründung feiern, statt- dessen gibt es in vielen Städte Demonstrationen gegen das SED-Regime. 9. Oktober: In Leipzig de- monstrieren 75.000 Men- schen friedlich für politische Reformen und Meinungsfrei- heit. 18. Oktober 1989: Erich Ho- necker tritt von allen Funktio- nen zurück. 3. November 1989: DDR- Bürger dürfen legal über die CSSR ausreisen. 8. November 1989: Die SED gibt auf 9. November 1989: In Berlin fällt die Mauer! reich. Binnen drei Tagen nut- zen dies mehr als 15.000 Men- schen zur Flucht in den Wes- ten. In der Botschaft der Bun- desrepublik in Prag warten et- wa 6000 Flüchtlinge aus der DDR, ihnen gestatten die Re- gierungen der SU und der DDR Ende des Monats die Ausreise in die Bundesrepu- blik. 1. Oktober: DDR-Flüchtlin- ge durchqueren das Land in Sonderzügen aus Warschau und Prag; dort stürmen am späten Nachmittag 300 Men- schen auf das Gelände der BRD-Botschaft. 4. Oktober 1989: Am Haupt- bahnhof in Dresden eskaliert die Situation. DDR-Sicher- heitskräfte stoppen Sonder- züge der Reichsbahn, die DDR-Flüchtlinge aus Polen und der CSSR Richtung Bun- desrepublik transportieren, um weiteres Aufspringen zu garn mit dem schrittweisen Abbau der Grenzzäune zu Ös- terreich. Dies wird von zehn- tausenden DDR-Bürgern ge- nutzt, um in die Bundesrepu- blik zu fliehen. Gleichzeitig wachsen die Oppositionsbe- wegungen in der DDR. 8. August 1989: In Ost-Berlin nimmt die „Ständige Verte- tung“ der Bundesrepublik 130 DDR-Flüchtlinge aus. 4. September 1989: In Leip- zig beginnen die friedlichen Montagsdemonstrationen. Ca. 1000 Menschen versam- meln sich und fordern Frei- heit und mehr rechte. Die DDR-Führung reagiert mit brutalen Übergriffen der Si- cherheitskräfte. Die Ein- schüchterungen misslingen – an den folgenden Montagen nimmt die Zahl der Demons- trationsteilnehmer ständig zu. 11. September 1989: Ungarn öffnet seine Grenzen zu Öster- Es fällt sicher schwer, ein be- stimmtes Datum als Auslöser des Prozesses zu benennen, der die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten nach 65 Jahren der Trennung herbeiführte. Der Beginn dieser kurzen Chronik ist da- her subjektiv. 11. März 1985: Michail Gor- batschow wird zum General- sekretär der KPdSU gewählt. Februar 1986: Gorbatschow setzt mit dem 27. Parteitag der KPdSU Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umstruktu- rierung) um. 1988: Michail Gorbatschow dekretiert, dass die Staaten des Warschauer Paktes zu- künftig ihre Staatsform selbst bestimmen können, damit löst er friedliche Reformbewe- gungen in Polen, CSSR und Ungarn aus. Ab Mai 1989 beginnt Un- Ein kurzer Blick zurück auf die deutsche Wiedervereinigung Ein Abschnitt der Berliner Mauer in der Mühlenstraße in Friedrichshain, aufgenommen am 25. Januar 1990 (l.) und am 10. Oktober 2014, heute als „East Side Gallery“ be- kannt. Foto: Eberhard Klöppel/Lukas Schulze (dpa) 09.11.’89 25 Jahre Mauerfall © Thomas Röske - Fotolia.com

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schreckt, dann sind wir erfolg-reich.KURIER: Die Ukrainekrise stelltdie härteste Belastung der Be-ziehungen zu Russland seit 25Jahren dar. Ist das ein Rückfallin den Kalten Krieg?Weidenfeld: Nein. Diese Krisegibt uns im Westen starkeHinweise auf erhebliche stra-tegische Defizite . Wir küm-mern uns um Länder wie dieUkraine, aber auch Libyen,Tunesien oder Ägypten, Stich-wort „Arabischer Frühling“,erst dann, wenn es dort zuKonflikten kommt, anstattvorher strategische Gemein-samkeiten zu entwickeln. Dasgilt in gleicher Weise für dieBeziehungen zu Russland.Wir haben erhebliche Defiziteim langfristigen strategisch-kulturellen Denken.KURIER: Letzte Frage: KennenSie das Sauerland und denKreis Olpe?Weidenfeld: Ich habe in Bonnstudiert, anschließend im Pri-vathaus von Konrad Adenaueran dessen Biografie gearbei-tet. Danach war ich in Bonnzwölf Jahre lang Amerika-Ko-ordinator der Bundesrepu-blik. In dieser langen Zeit lerntman fast automatisch die Um-gebung kennen, und natürlichauch das Sauerland und denKreis Olpe.KURIER: Herr Professor Weiden-feld, vielen Dank für dieses Ge-spräch.

gibt keine Trennung in Ostund West, die Ökonomie hatsich verwoben. Da gi bt eseher eine Kontrastierungquerbeet durch die Bevölke-rungsschichten. Im Rückblickist eine moderne Gesellschaftentstanden, deren divergie-rende Erfahrungshorizontesich nicht an Ost und Westfestmachen lassen. Als bestesBeispiel dient die Herkunftvon Bundespräsident undKanzlerin.KURIER: Welche Auswirkungenhat die Wiedervereinigung aufEuropa? Und - hat Deutsch-land die Pubertät hinter sichund seine Rolle in Europa ge-funden?Weidenfeld: Diese Vereini-gung hat von Anfang an eineimmense europäische Kom-ponente. Ohne die früherenFreiheitsbestrebungen undMassenaufmärsche in Un-garn, der CSSR und Polen hät-te es die Protestbewegung inder DDR nie gegeben. Ich ha-be in der Nacht vom 9. auf den10. November zu meinen Mit-arbeitern gesagt: „Das ist dieEU-Osterweiterung.“ Und soist es dann ja auch gekom-men. Zur Rolle Deutschlands:Unsere Nachbarn erwartenFührungsimpulse vonDeutschland. Wenn wir einesensible, behutsame, einfühl-same und ausbalancierteFührungsleistung erbringen,die die Nachbarn nicht er-

gierung, Anm. der Red.) ge-troffen - Ost-Berlin kam we-gen des Status als Treffpunktnicht in Frage. Schon diesesTreffen war ohne vorherigeKontakte und Klärungen mitMoskau gar nicht möglich ge-wesen. Ab diesem Datumwurden von der Bundesregie-rung die Währungsreformund die ersten freien Wahlenauf DDR-Boden im März 1990massiv vorangetrieben, in ste-tigem Kontakt zur UdSSR-Re-gierung.KURIER: 25 Jahre Mauerfall – 24Jahre vereintes Deutschland;sind wir „ein Volk“? Ist die Ein-heit in den Köpfen derer festetabliert, die 1989/90 als Er-wachsene – und damit auchden Kalten Krieg davor – mit-erlebt haben?Weidenfeld: Das Volk hat sichschon sehr weit angenähert.Die Nation ist nicht in Ost undWest gespalten. Dass es unter-schiedliches Empfinden gibt,liegt in den unterschiedlichenWahrnehmungen der Men-schen. Wer in einer Diktaturgelebt hat, nimmt natürlichvieles anders wahr, als dieLeute mit dem „westlichen“Wahrnehmungshorizont. Es

der Einigung überrascht. Inseinem „10-Punkte-Plan“ zurEinheit war lediglich von„konföderativen Strukturen“die Rede, nicht einmal von ei-ner Konföderation. Und derZK-Beschluss, den Politbüro-mitglied Günter Schabowskiin der Pressekonferenz be-kanntgab, sah eigentlich nureine Formulierung für Reise-erleichterungen vor, ohneZeitangabe. Schabowski hatden Text ungelesen selbst in-terpretiert. Dieser Mauerfallwar aber ein so elementarerVorfall, dass der Prozess imErgebnis gar nicht anders hät-te ausgehen können. Davonwar ich felsenfest überzeugt.KURIER: Gab es direkte Kontaktezur DDR-Führung und zurUdSSR bzw. deren Militär-Hauptquartier in Berlin-Karlshorst?Weidenfeld: Aber ja. UdSSR-und DDR-Führung waren bei-de stark in den Einigungspro-zess ab dem 19. Dezember1989 involviert. An diesemTag ist Helmut Kohl nachDresden gefahren und hatsich mit Hans Modrow (leitetevom 13. November 1989 bisMärz 1990 die letzte DDR-Re-

KURIER: Wie hoch schätzen Sieden Anteil der Bundesregie-rung an der Wiedervereini-gung ein?Weidenfeld: Es gibt hier meh-rere Komponenten, die sichzu einem erheblichen Anteilsummieren. Die Bundesrepu-blik war zum Ersten ein Mag-net für die Menschen in derDDR. Ohne so eine „Attrakti-on“ hätte die Protestbewe-gung im Osten kein Ziel ge-habt, auf das sie zusteuernkonnte. Zum Zweiten hat dieBundesregierung über Jahrehinweg die menschlichen Be-gegnungen ausgebaut. Dashat mit der Entspannungspo-litik zu tun, aber auch bei Zu-geständnissen wurden Ge-genleistungen eingefordert,soll heißen, dass Milliarden-hilfen nur gegen beispielswei-se Ausreisegenehmigungengewährt wurden. Und zumDritten hat die Kohl/Gen-scher-Regierung ab dem 19.Dezember 1989 eine sehr akti-ve Einigungspolitik betrieben.KURIER: Gab es während des Ei-nigungsprozesses einen Zeit-punkt oder eine Phase, in derSie Zweifel hatten, dass diesesEreignis zu einem positivenEnde kommen kann?Weidenfeld: Nein. Ich hattevon Beginn an einen ganz be-sonderen Erwartungshori-zont; ich bin davon ausgegan-gen, dass die Mauer fallenwird – wann auch immer. Imgesamten Regierungsumfeldwar ich der Einzige, der vomMauerfall ausgegangen ist.Stellen Sie sich vor: An dembesagten 9. November, das istja nur einfach ein Datum, wa-ren Kohl und Genscher nichteinmal in Deutschland, son-dern in Warschau, weil sienicht mit einer so dramati-schen Wendung der Ereignis-se gerechnet hatten. In denTaschen hatten sie die am Tagerschienenen jüngsten Um-frageergebnisse zur Wieder-vereinigung: Nur 3 Prozentder Westdeutschen erwarte-ten ein geeintes Deutschlandzu ihren Lebzeiten! SelbstHelmut Kohl war vom Tempo

25 Jahre Fall der Mauer. Am 9. November1989 begann mit einem gestammelten Satz,gesprochen in einer Pressekonferenz, derAnfang vom Ende der Deutschen Demokra-tischen Republik, DDR. Eine Persönlichkeit,die seinerzeit das Geschehen sozusagen ausdem „Vorzimmer der Macht“ erlebte, istProf. Dr. Werner Weidenfeld. Der renom-mierte Münchner Politikwissenschaftlerspricht am Montag, 10. November, um 19.30Uhr (Abendkasse ab 18.30 Uhr) in der Reihe

„Das politische Gespräch“ in der Aula des At-tendorner Rivius-Gymnasiums über die Vor-gänge, die zur deutschen Einheit führten.Der Titel seines Vortrags lautet „Der Fall derMauer – Aufbruch in ein neues Europa?“. ImVorfeld dieser Veranstaltung sprach Hart-mut Poggel mit Werner Weidenfeld. Prof.Weidenfeld ist auch am heutigen Sonntag inder Zeit von 13 bis 14 Uhr im TV-Dokumen-tationskanal Phoenix zu sehen in „History,Der Fall der Mauer - Wie es wirklich war“.

„Vom Fall der Mauer überzeugt“

Vor 25 Jahren war der Politikwissenschaftler beim Fall derMauer mitten im politischen Geschehen – am Montag be-richtet er darüber im Attendorner Rivius-Gymnasium.

Prof. Dr. Dr. hc Werner Weidenfeld■ Direktor des Centrums fürangewandte Politikforschung(CAP) der Ludwig-Maximili-ans-Universität München■ Rektor der Alma Mater Eu-ropaea der Europäischen Aka-demie der Wissenschaftenund Künste (Salzburg)■ Vorsitzender des Abt-Her-wegen-Instituts der Benedik-tinerabtei Maria Laach■ Gastprofessuren an der Sor-bonne (Paris), an der Remnin-Universität (Peking), an derHebräischen Universität (Je-rusalem), an der Zeppelin-Universität (Friedrichshafen)■ Ehrenmitglied der Ungari-schen Akademie der Wissen-schaften■ Assoziiertes Mitglied desClub of Rome■ 1987 – 1999 Koordinator derBundesregierung für die

deutsch-amerikanische Zu-sammenarbeit■ Träger zahlreicher Ordenund Auszeichnungen■ Autor zahlreicher Bücherüber die Einigung Europas.deutsche Außenpolitik, Zeit-geschichte

■ 3. Oktober: In ganzDeutschland liegen sich dieMenschen in den Armen – derTag wird offizieller „Tag derdeutschen Einheit“.

germächte (USA, Sowjetuni-on, Großbritannien, Frank-reich) die volle Souveränitätdurch Unterzeichnung des „2-plus-4-Vertrags“.

■ 18. März 1990: erste freieWahlen auf dem Gebiet derDDR; die Volkskammer wirdbeauftragt, den Beitritt zurBRD vorzubereiten.■ 5. Mai: „2-plus-4-Gesprä-che“ zwischen den 4 Sieger-mächten des 2. Weltkriegsund den Außenministern bei-der deutscher Staaten.■ 18. Mai 1990: Die beiden Re-gierungen unterzeichnen denVertrag über eine Wirtschafts-und Währungsunion.■ 1. Juli: Die D-Mark wird ein-ziges Zahlungsmittel in ganzDeutschland.■ Die DDR-Volkskammer be-schließt – obwohl die Ver-handlungen zum Vertrag derdeutschen Wiedervereinigungnoch stattfinden – den Beitrittzur Bundesrepublik und be-nennt dafür den 3. Oktober.■ 12. September: 45 Jahrenach dem Ende des 2. Welt-kriegs gewähren die vier Sie-

verhindern. Es kommt inDresden zu schweren Zusam-menstößen zwischen De-monstranten und Ausreise-willigen und der Staatsmacht,die u.a. Wasserwerfer einsetzt.■ 7. Oktober 1989: Die SEDwill den 40. Jahrestag derDDR-Gründung feiern, statt-dessen gibt es in vielen StädteDemonstrationen gegen dasSED-Regime.■ 9. Oktober: In Leipzig de-monstrieren 75.000 Men-schen friedlich für politischeReformen und Meinungsfrei-heit.■ 18. Oktober 1989: Erich Ho-necker tritt von allen Funktio-nen zurück.■ 3. November 1989: DDR-Bürger dürfen legal über dieCSSR ausreisen.■ 8. November 1989: Die SEDgibt auf■ 9. November 1989: In Berlinfällt die Mauer!

reich. Binnen drei Tagen nut-zen dies mehr als 15.000 Men-schen zur Flucht in den Wes-ten. In der Botschaft der Bun-desrepublik in Prag warten et-wa 6000 Flüchtlinge aus derDDR, ihnen gestatten die Re-gierungen der SU und derDDR Ende des Monats dieAusreise in die Bundesrepu-blik.■ 1. Oktober: DDR-Flüchtlin-ge durchqueren das Land inSonderzügen aus Warschauund Prag; dort stürmen amspäten Nachmittag 300 Men-schen auf das Gelände derBRD-Botschaft.■ 4. Oktober 1989: Am Haupt-bahnhof in Dresden eskaliertdie Situation. DDR-Sicher-heitskräfte stoppen Sonder-züge der Reichsbahn, dieDDR-Flüchtlinge aus Polenund der CSSR Richtung Bun-desrepublik transportieren,um weiteres Aufspringen zu

garn mit dem schrittweisenAbbau der Grenzzäune zu Ös-terreich. Dies wird von zehn-tausenden DDR-Bürgern ge-nutzt, um in die Bundesrepu-blik zu fliehen. Gleichzeitigwachsen die Oppositionsbe-wegungen in der DDR.■ 8. August 1989: In Ost-Berlinnimmt die „Ständige Verte-tung“ der Bundesrepublik 130DDR-Flüchtlinge aus.■ 4. September 1989: In Leip-zig beginnen die friedlichenMontagsdemonstrationen.Ca. 1000 Menschen versam-meln sich und fordern Frei-heit und mehr rechte. DieDDR-Führung reagiert mitbrutalen Übergriffen der Si-cherheitskräfte. Die Ein-schüchterungen misslingen –an den folgenden Montagennimmt die Zahl der Demons-trationsteilnehmer ständig zu.■ 11. September 1989: Ungarnöffnet seine Grenzen zu Öster-

Es fällt sicher schwer, ein be-stimmtes Datum als Auslöserdes Prozesses zu benennen,der die Wiedervereinigungbeider deutscher Staatennach 65 Jahren der Trennungherbeiführte. Der Beginndieser kurzen Chronik ist da-her subjektiv.

■ 11. März 1985: Michail Gor-batschow wird zum General-sekretär der KPdSU gewählt.■ Februar 1986: Gorbatschowsetzt mit dem 27. Parteitag derKPdSU Glasnost (Offenheit)und Perestroika (Umstruktu-rierung) um.■ 1988: Michail Gorbatschowdekretiert, dass die Staatendes Warschauer Paktes zu-künftig ihre Staatsform selbstbestimmen können, damitlöst er friedliche Reformbewe-gungen in Polen, CSSR undUngarn aus.■ Ab Mai 1989 beginnt Un-

Ein kurzer Blick zurück auf die deutsche Wiedervereinigung

Ein Abschnitt der Berliner Mauer in der Mühlenstraße inFriedrichshain, aufgenommen am 25. Januar 1990 (l.) undam 10. Oktober 2014, heute als „East Side Gallery“ be-kannt. Foto: Eberhard Klöppel/Lukas Schulze (dpa)

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