#09 Herbst 2013

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KÖLNER KULTUREN MAGAZIN | WWW.NULL22EINS-MAGAZIN.DE HERBST 2013 #09 FREIEXEMPLAR | EHRENAMTLICH | WERT 3 EURO

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Transcript of #09 Herbst 2013

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Kölner Kulturen Magazin | www.null22eins-Magazin.de

Herbst 2013

#09

FreiexeMplar | eHrenaMtlicH | wert 3 euro

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22 Meter zu Fuß durch die Stadt: eine Ton-ne liegt umgetreten am Straßenrand, das nächste neu errichtete Bürohaus wartet auf Mieter, ein paar junge Leute prosten sich mit Flaschenbier in der Hand zu. Normale Szenerie. Aber was, wenn die Tonne vorher gebrannt hat, wenn das Bürogebäude eine alte, aber schmucke Wohnsiedlung verdrängt hat, wenn die Bier trinkenden Jugendlichen eine ältere Dame belästigt haben? Sofort entstehen neue Bilder im Kopf – und bleiben bis zur nächsten ähnlichen Situation erhal-ten. So manifestieren sich diese Bilder Stück für Stück, werden Wahrnehmungen, werden ein festes Urteil.

Diese Urteile hat jeder – mal stärker, mal schwächer ausgeprägt. Und sie existieren nicht nur bei einer wiederkehrenden Sze-nerie, sondern auch gegenüber Menschen, Berufen, Ländern, Stilen, Religionen und vielem mehr. null22eins ist eine Plattform für Kölner Themen, kulturelle Beiträge und ge-staltende Gesichter dieser Stadt. Dabei treffen die Menschen hinter dem Magazin auf die unterschiedlichsten Köpfe – sind selbst Teil der multikulturellen Sphäre und bemerken auch ihre eigene Urteilskraft. Nicht nur aus dem Klischee-Denken, Vorverurteilun-gen oder anderen Paradigmen und Paradig-menwechseln heraus, möchte die aktuelle Ausgabe null22eins im Herbst mit auf eine Reise durch verschiedenste Betrachtungswei-sen nehmen. Dabei werten wir nicht, sondern zeigen, wollen Brücken schlagen. Und laden ein, über eigene Bilder nachzudenken.

Viel Spaß beim Lesen!

EditorialNull22eins Artishocke e.v.

03Editorial

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#0904 Inhalt

inhaltalt | neu /// ClouthVon Industrie über freien Raum zu neuem Veedel

06

WissensChaft /// Natur & MensChRaus in die Natur, aber wohin?

08

fotostreCke /// PolyPersPektive Faszinationen und Brückenkunst

10

GesChiChte /// FasteNBreCher Eine Geschichte aus einem Leben

14

kunst /// Von natur iNsPiriert Tuschemalerei, Objekte und Installationen

16

kölner orte /// MicroGalerie Ein Raum, eine Badewanne, ein Ort für Kultur

22

artishoCke /// super Heroes Super-Nostalgie im Blick von Illustratoren

26

Musik /// iN kölN Radikal Translation, Halblaut, One in a Googolplex, Beyond Plastic

32

handGeMaCht /// vJ Blausand Eierkartons, Licht und Wassermelone

18

kölner orte /// liNtgasse 28 Ein Atelier der 60er – ein Blick auf Avantgarde

24

Musik /// ColoristAtmosphäre mit elektrisierenden Klängen

30

portät /// reut sHeMesH Sei ein Hund und bell!

34

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#0905Inhalt

theater /// spielt sie NocH? Betrachtung über und von Schauspielern

40

filM /// Von der strasse The Case of Conrad Cooper

44

köln szene /// radio 674 FM Selbstgemacht für und von jedermann

46

ausBliCk /// iM dezeMBer 51

zWisChenrauM /// BalkoniaZwischen urbanem Nutzraum und Eskapismus

38

WerksChau /// ewige inszenierunGenVor und hinter der Fotokamera

46

BankVerBindunG artishocke e. V.

Deutsche Skatbank Konto-Nr.: 4680715 • BLZ: 830 654 10

iMpressuMherausGeBer

redaktion u. redaktionelle

MitarBeit

V.i.s.d.p

layout

fotos

illustrationen

titelseite

rüCkseite

http://

druCk

anzeiGen

artishocke e. V.Genovevastraße 65 • 51063 Kö[email protected]

Miriam Barzynski, René Denzer, Anne-Sarah Fiebig, Robert Filgner, Marie-Luise Hofstetter, Anna-Sophia Lumpe, Jonas Mattusch, Saskia Rauchmann, Sun Soor, Anna Stroh, Maximilian Voigt, Britta Wanderer, Christine Willen.

Robert Filgner [email protected]

Zena Bala, Stefanie Grawe, Leo Pellegrino, Stephanie Personnaz, Kirsten Piepenbring, Andi Wahle, Julia Ziolkowski.

Alessandro De Matteis, René Denzer, Tobias Fröhlich, Peter H. Fürst, Eugen Herber, Stephanie Lieske, Conrad Moods, Madame Rossi, Romana Schillack, Anna Shapiro, Andi Wahle.

Zena Bala, Robin von Gestern, Nadine Magner, Leo Pellegrino, Stephanie Personnaz, Kirsten Piepenbring.

Andi Wahle

Kaspar Achenbach

null22eins-magazin.defacebook.com/null22einsissuu.com/null22eins-magazin

Druckpunkt Medien GmbHRobert-Bosch-Str. 6 • 50181 Bedburg www.druckpunktmedien.de

[email protected]

Urheberrechte für Beiträge, Fotos und Illustratio-nen sowie der gesamten Gestaltung bleiben beim Herausgeber oder den Autoren. Abdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Herausgebers! Alle Veranstaltungsdaten sind ohne Gewähr.

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06 alt | neu

UMBRUCHABBRUCHAUFBAU

Es ist eine Zeit des Umbruchs. Und die beginnt mit dem Abbruch. Seit Februar dieses Jahres haben Abrissbagger ganze Arbeit geleistet. Ein großer Teil der früheren Fab-rikgebäude der Clouth-Gummiwerke in Nippes sind nie-dergelegt, weitere werden folgen. Ein Stück Kölner Wirt-schaftsgeschichte verschwindet, macht Platz für ein neues Veedel. Wo früher Transportbänder, Bodenbeläge, Reifen und auch beschichtete Gewebe für Fesselballons – im Zeit-alter von Ferdinand von Zeppelin auch für Luftschiffe – gefertigt wurden, entstehen auf 14,5 Hektar Wohnungen und Gewerbe. Auch wenn der Projektentwickler ,,Moderne Stadt“ heißt, soll ein Stück der alten Industriearchitektur erhalten bleiben. Es wird Platz für Gastronomie geben, Freiflächen und auch Raum für kreative Berufe. Streit gibt es zwischen der Künstlerkolonie „Cap Cologne“, Verwal-tung, Politik und ,,Moderne Stadt“. Bis 2011 waren die Künstler auf dem Areal beheimatet. Sie dürfen zurückkeh-ren, diese Zusage hatte der Stadtrat 2010 gemacht. Die da-für vorgesehene Halle 10 soll doch abgerissen werden, als neues Ausweichquartier ist nun Halle 29 vorgesehen. Der Streit geht weiter, es geht um das liebe Geld. Es ist eine Zeit des Umbruchs. Denn nach dem Abriss folgt der Aufbau.

abschiedvom gummi

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07alt | neu

altes Foto und besonderer dank /// Hillen / rotHenHöFer / soénius:

Kleine illustrierte Wirtschaftsgeschichte der stadt Köln

bacHem-Verlag (2013)

text /// rené denzer

Fotos /// rené denzer

romana schillacK

moderne stadt

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„Natur ist glücklich. Doch in uns begegnen sich zuviel Kräfte, die sich wirr bestreiten: Wer hat ein Frühjahr innen zu bereiten? Wer weiß zu scheinen? Wer vermag zu regnen?

Wem geht ein Wind durchs Herz, unwidersprechlich?Wer faßt in sich der Vogelflüge Raum?Wer ist zugleich so biegsam und gebrechlich wie jeder Zweig an einem jeden Baum?

Wer stürzt wie Wasser über seine Neigung ins unbekannte Glück so rein, so reg?Und wer nimmt still und ohne Stolz die Steigungund hält sich oben wie ein Wiesenweg?“

Rainer Maria Rilke

08 wissenschaft

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TexT /// maximilian voigt

illusTraTion /// robin von gestern

Wir wollen Natur, wir wollen Abenteuer. Doch was ist unsere Natur? Woraus besteht noch ein Abenteuer? Fragen von gestern und heute gleichermaßen.

Natur ist voller Fragen, voller Geheimnisse, voll von Assoziationen und vor allem: voll im Trend. Nicht nur Outdoorkleidung und Ökolebensmittel werden häufig gekauft, auch wird dieser Tage viel über Naturschutz ge-redet – manchmal sachlich, meistens emo-tionsgeladen. Denn Natur ist voller Emotio-nen. So stellt sich die Frage, was da eigentlich geschützt werden soll, was Natur für den urbanisierten Menschen ist: ein Gefühl, ein Bildnis oder eine Marke?

„Draußen zuhause“Dass Natur ein Begriff ist, der auf Sozialisie-rung beruht und jeder eine andere Vorstel-lung davon hat, was Natur eigentlich bedeu-tet, ist eine philosophische Binsenweisheit. Aber genau diesen Vorstellungen sind wir ausgeliefert. So ist das ästhetische Bild „Na-tur“ so artenreich wie die Natur selbst. Weni-ger artenreich, aber dem Anschein nach klar definiert, lässt sich Natur im griechischen Sinne als etwas bezeichnen, das von selbst wächst. Natur ist das, was fern von menschli-cher Kultur ist. Aber genau das Gegenteil ist der Fall, wenn der Mensch versucht ihr zu be-gegnen. So machen Jack Wolfskin und Kon-sorten mit Slogans wie „Draußen zuhause“ Natur zum Lifestyle und transformieren den

Naturbegriff mehr denn je zu einem Gefühl. Zum Gefühl der Freiheit, frei von Zwängen der Gesellschaft, frei von Menschen. Dabei ist der Weg zu dieser Freiheit durchdrungen von menschlicher Kultur. Denn wo begegnen wir Natur? Im gepflegten Stadtpark, beim Spaziergang durch den bewirtschafteten Wald oder beim Erklimmen ferner Berge? Egal wo wir auf „Natur“ treffen, war oder ist Mensch, ist Kultur, ist Technik.

Das MenschenzeitalterWir befinden uns in einem Zeitalter, das die Geologen Anthropozän nennen. Einem Zeitalter, in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren geworden ist, auf das, was wir Natur nennen. So ist Natur nicht mehr als wild und menschenfrei zu be-trachten. Der Mensch ist vom Diener zum Herrscher über Natur aufgestiegen. Ausge-stattet mit Wasser abweisender High-Tech-Kleidung trotzt er ihr und die Orte der Wild-nis, der Einsamkeit werden weniger. Der Mensch muss seine Übermacht akzeptieren und sich selbst in sein Bild von Natur inte-grieren. Denn sonst ist die Suche nach Natur mehr Traumreise als Begegnung. Natur ist da, sind wir, umgibt uns, aber ist – solange es uns gibt – nie frei von Mensch.

09wissenschaft

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10 Fotostrecke

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PolyPersPektiveWeitere infos /// Andi WAhle

WWW.AndiWAhle.com

fachliche Beratung ///

dipl. des. uWe boden

dipl. des. thomAs zikA

ecosign.net

11Fotostrecke

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12 Fotostrecke

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Faszinationsversuche

Gegenstände und Handlungen kombiniert mit Substanzen in verschiedenen Aggregatzuständen, an kontextfremden Orten: Stets mit dem Spielraum für den Betrachter, der sich dabei selbst finden kann oder selbst Erlebtes oder einfach nur ein Gefühl.

ZooBrückeZubringer und Abfahrten der Zoobrücke sowohl aus der Luft als

auch von der Erde aus. Geometrische Satellitenansichten im Kölner Brückengrün erweitern das Bauwerk zu mehr als nur dem

Verbindungselement zwischen linkem und rechtem Rheinufer.

13Fotostrecke

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Musik 14 Geschichte

Ein junger HipHopper in Teheran. Er ist an diesem Ramadan-Morgen spät dran. Erst sprang das Auto wiedermal nicht an, dann der obligatorische Stau, und später machte lange niemand auf, als er am Studio war und klingelte. Nun muss er wieder schnell zurück und steckt natürlich abermals im Stau. Sein Chef hatte letzte Woche angedroht, dass das wohl sein letzter Arbeitstag wäre, würde er noch einmal zu spät zur Arbeit erscheinen.

Als wenn all das nicht genügen würde, scheint die Sonne unversöhnlich aufs Dach seines Autos und verwandelt den Innenraum in einen Backofen. Nichts bewegt sich, nur die Zeit scheint angesichts der Hitze mit den Schweißtropfen auf seiner Stirn – die ihren Weg über sein Gesicht in seinen Kragen im-mer wieder aufs Neue suchen – um die Wette zu laufen.

Er steckt sich gedankenverloren eine Zi-garette an. Der Rauch steht still, als wollte er sich nur ungern unter die Autoabgase mi-schen. Plötzlich bremst ein Motorrad laut-stark links neben seinem Auto. Zwei Männer mustern ihn und sein Auto argwöhnisch. Au-genblicklich wird sein Weg noch von einem zweiten Motorrad von rechts abgeschnitten – ebenfalls bestückt mit zwei Männern, die an Gesichtsausdruck und Statur nur Klone der anderen sein können.

„Hast du keine Würde im Leib?“, wird der junge Mann von links angefahren. „Wer seid ihr? Was wollt ihr?“, sind die Fragen, die ihm durch den Kopf gehen. Die verkneift er sich aber lieber, als er sich die Beulen unter ihren Hemden anschaut, die nur die Umrisse von Colts sein können. Erst jetzt fällt ihm auch der Grund ein, weshalb er gestoppt wurde. Die Zigarette zu verstecken, macht nun kei-nen Sinn mehr. „Nicht nur, dass Du Dreck-sack nicht fastest. Du animierst auch unsere Brüder und Schwestern, ihr Fasten zu bre-chen?“ Das hat ihm gerade gefehlt! Er kennt die Prozedur aus unzähligen anderen Situ-ationen: Jetzt bloß die Ruhe bewahren, die Erniedrigungen der Zivilgarde ungehört ver-

text /// sun soor

ILLUStRAtION /// ZenA BALA

Der Fastenbrecher!Willkür ist immer ein zentrales Instrument von Macht. Die systematische Kultivierung und Ausübung von Willkür gehört beispielsweise im Iran zum Alltag. eine Geschichte, die einen kleinen EinBlick in diese Verhältnisse und Realitäten bieten möchte.

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15Geschichte

hallen lassen, und schauen, dass man schnell aus der Situation kommt.

„Ja, tut mir leid! Eigentlich habe ich ge-fastet, aber gerade hatte ich das vergessen.“ Eine schwache Ausrede, denkt er, während er sich das sagen hört. Eigentlich gibt es keine schlüssige Ausrede, wenn man mit ei-ner Kippe erwischt wird. „Im Auto bleiben, Fahrzeugschein, Führerschein und Perso-nalausweis!“ Unwillig sucht der Musiker seine Papiere heraus. Er weiß genau, sobald sie die Papiere haben, sitzt er in der Falle. „Wir beschlagnahmen deine Papiere. Dei-nen Wagen kannst du hier parken. Wenn du die Strafe von 250.000 Toman (Anmerkung: halber Monatslohn eines einfachen Arbei-ters) wegen Fastenbrechen bei der zentralen Strafstelle bezahlt hast, kannst du deine Pa-piere abholen!“ Es ist immer das gleiche Spiel, denkt er sich. Sie spielen sich erst groß auf, um dich klein zu bekommen, sind aber am

Ende auf ein wenig Handgeld aus. „Können wir das nicht direkt hier erledigen?“, seufzt er. Nun schieben sich die Augenbrauen des Redelsführers nach oben und verursachen seltsame Falten auf seiner Stirn „Wie ist das denn gemeint? Was würdest du denn be-zahlen wollen?“ „Na, was Sie verlangen. Ich hoffe, wir werden uns einig.“ Ein Grinsen zeichnet sich auf dem bärtigen Gesicht des Revolutionswächters ab. Der junge HipHop-per fragt sich, was die Jungs eigentlich immer bewachen, außer ihren eigenen Vorteil. Die vier Zivilkräfte wechseln kurz Blicke und scheinen sich einig. „Also wenn ich das rich-tig sehe“, setzt das Alphatier nun fort, „nicht nur, dass du dein Fasten öffentlich brichst. Nun willst du auch noch unsere Ehre in Frage stellen, indem du versucht, uns zu be-stechen?!“ Er spürt, wie eine Ader an seiner Schläfe für einen Herzschlag so heftig pumpt, als würde er gleich einen Schlaganfall erlei-den. Seine Zunge fühlt sich an wie aus Sand-

papier. Er will noch was sagen, bekommt aber nur ein unverständliches „Nicht doch!“ her-aus. „Das ist natürlich was anderes. Du be-zahlst nun nicht nur die Geldstrafe, sondern fährst direkt zum Innenministerium, wo du wegen Beleidigung von Staatsbediensteten 75 Peitschenhiebe abholen darfst.“ Der Wächter strahlt bei diesen Worten als habe er ihm eine frohe Botschaft übermittelt.

Später beim Innenministerium angekom-men, muss der junge Mann direkt am Anfang der Straße aus dem Taxi aussteigen, da sie so überfüllt mit Menschen ist, dass es für Au-tos einfach nicht mehr weiter geht. Erst nach und nach fängt er an zu begreifen, dass all die anderen jungen Menschen, wie er selbst, lediglich anstehen, um ihre Peitschenhiebe abzuholen. Er beschließt, den Türsteher zu bestechen.

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16 Kunst

von der natur geleckt Es sieht aus wie ein fröhliches Universum, das Atelier von Yi Zheng Lin im Quartier am Hafen. Irgendwie völlig natürlich und farbenfroh. Bei dieser anfänglichen Vertrautheit bleibt der zweite Blick aber abgelenkt an den bunten Kunstwerken haften, die den ge-samten Raum zieren. Pflanzenähnliche Formen beginnen sich zu transformieren: So löst sich ein Stamm oder Stängel in ein Abwasserrohr aus Plastik auf, ein Kaktus-Dorn in einen Kabelbinder oder eine Blüte in einen Eierbecher.

Diese alltäglichen Gegenstände sind an sich nicht unbedingt schön, kunstvoll, ge-schweige denn natürlich. Aber Lin zaubert in seine Kunstwerke natürliche Formen, als wäre das Plastik, aus dem die Gegenstände oft beschaffen sind, von der Natur höchst persönlich geleckt worden: „Ich bin wie ein Scanner. In der Natur, in den Pflanzen und Blüten entdecke ich jederzeit Formen und Symmetrien für meine Kunstwerke“, sagt Lin. Jedes seiner Kunstwerke enthält Formen und Elemente, die an die Natur erinnern. Sei es zweidimensional in der Malerei mit Tusche und Acryl auf Reispapier oder dreidi-mensional mit Objekten und Installationen, die auf den Tisch passen und Skulpturen, die den Raum zieren oder meterlang die Wände schmücken.

kunst so wie er ist Seine Kunst ist von der Natur inspiriert, weil er es auch so erfahren hat: Sein chinesi-scher Name, Lin, bedeutet auf Deutsch „Wald“. Lin ist in China groß geworden – bei seiner Oma, die einen großen Garten mit vielen Nutzpflanzen und Blumen hatte. Die Großmutter war Kunsthandwerkerin und arbeitete mit traditionellen chinesischen Materialien wie Reispapier, Bambus und Lack. Lin hat ihr von Klein an bei den Arbei-ten mitgeholfen. Jedoch war er mit dem Material Reispapier an sich nicht vollständig zufrieden: „Reispapier ist auf Dauer nicht haltbar genug, zu empfindlich in der La-gerung und wird mit der Zeit gelblich.“ Und so ging Lin, als er 1999 seine Laufbahn

weitere infos /// Yi zheng lin

www.Yizhenglin.de

Tuschmalerei, Objekte& Installationen

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17Kunst

& Installationenals freischaffender Künstler begann, auf die Suche nach neuem Material. Neben seiner Malerei arbeitet er bis heute mit Gegenständen aus Plastik oder verarbeitet seine Lack-skulpturen mit traditioneller chinesischer Lackkunsttech-nik. Seine Kunst ist nicht nur geschwungen schön, sondern darüber hinaus schön praktisch. Das ist ihm wichtig: „Es ist gut, wenn ich meine Kunst wieder in einen Karton pa-cken und herausnehmen und wiederaufbauen kann, so wie ich möchte.“

stetig auf der suche Lin ist stetig auf der Suche nach neuen Formen für seine Kunstwerke. Da kann ein Baumarkt für ihn so interessant werden, dass er kurzfristig sein Atelier dorthin verlagert: In den Verkaufsregalen mit den Rohrleitungen wühlt er, um direkt nur diejenigen Teile herauszusuchen, die er für sein Objekt benötigt. Dann bastelt er daran, bis das neue Werk so gut wie fertig ist. Die übrige Kundschaft hilft gerne, um das Objekt mal kurz zu halten, so dass er es aus etwas mehr Distanz betrachten kann. „Nur die Kassiererinnen sind nicht so begeistert, wenn die zahlreichen in Form zusam-mengesteckten Rohrleitungen das Abrechnen schwer ma-chen“, sagt Lin vergnügt. „In einem Laden möchte ich alle potenziellen Gegenstände anfassen. Ich probiere vor Ort aus, ob es sich in eine andere, für mich natürlichere Form fassen lässt.“

In seinen Blumen-Bermuda-Shorts und mit weißem Feinripp-Unterhemd demonstriert Lin in seinem Atelier an einem seiner Kunstwerke eindrucksvoll, was das bedeu-ten kann: Eine rosa, verführerisch wirkende Plastik-Blume an einem „Pflanzen-Stamm“ aus Abwasserrohren entpuppt sich umgestülpt als rosafarbener Eierbecher. Er hat diesen Eierbecher für seine Kunst auserkoren und eine schönere Form darin entdeckt. Ein Eierbecher wird so von der Natur geleckt.

Yi Zheng Lin holt aus modernen, künstlichen Alltags-gegenständen die Natur hervor. Das ist zeitgenössische Kunst: Wir leben in einer sich stetig transformierenden Welt aus Plastik. Das Wesen der Natur hat sich dabei nie verändert.

text /// christine willen

fotos /// stephanie liesKe

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EiErkartons und WassErmElonE

Als ich mich mit Michael zum Interview treffe, bin ich zunächst völlig verwirrt. Blausand? Den Namen finde ich vor Ort auf keiner Klingel. Also schnell in der Re-daktion angerufen und nachgefragt. „Baumann“, wird mir dort erklärt. Mein Fehler. An der geöffneten Tür erwartet mich Michaels sechsjähriger Sohn, der Astrid Lindgrens kleinem Micha aus Lönneberga zum Ver-wechseln ähnelt, und bittet mich herein. Nach meinem kurzen Pläuschchen mit dem Sohnemann, das Michael nutzt, um für uns beide eine Wassermelone zu zerteilen, setzen wir uns gemeinsam auf den gemütlichen Balkon seiner Deutzer Wohnung. Offenbar kneife ich meine Augen zusammen oder verziehe mein Gesicht ander-weitig komisch, denn noch bevor ich richtig mit der Fra-gerei loslegen kann, steht Michael plötzlich wieder auf und kommt mit zwei Sonnenbrillen wieder. „Such dir eine aus. Wir sitzen ja bestimmt ein Weilchen.“ „Coo-

ler Typ“, denke ich mir, und greife zum Nicht-Piloten-Modell. „Also, erzähl doch mal, was du so machst...“, steige ich ein. „Nee, erzähl du doch erst mal, wer du bist und was DU so machst,“ erwidert Michael. Huch! Und so wird aus unserem Interview urplötzlich etwas, das sich am ehes-ten zwischen einem netten Gespräch

Willkommen in einer Welt, in der das licht auf weißen tanzflächen durch die lüfte schwebt. Einer Welt, in der leerstehende

asbest-Häuser zu traumfabriken und Fens-ter zu leinwänden werden. Willkommen in

der Welt Blausands.

TexT /// Marie-luise hofstetter

FoTos /// alessandro de Matteis

Visual Jockey „Blausand“

18 handgeMacht

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Musik 19handgeMacht

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mit dem interessanten, unbekannten Sitz-nachbarn auf einer fünfstündigen Zugfahrt, und einer vertrauten Unterhaltung zwischen zwei Freunden einordnen lässt – mit Tendenz zu letzterem. Michael erzählt mir von seiner Fahrradreise durch Israel, seinen Zeiten als Filmvorführer im UFA-Palast, wie er sich Backstage-Zutritt zur PopCom durch Give-away-Tütchen-„Stopfen“ ermogelt hat, von seinen Praktika in Wien und bei einem klei-nen regionalen Sender in Franken. Vor allen Dingen aber erzählt er von seiner großen Lie-be: VJing – der Erweiterung einer Audioper-formance wie dem DJing, um eine visuelle Komponente. In ihrer Welt lebt und zaubert Michael unter dem Pseudonym „Blausand“. Er besetzt ihretwegen monatelang das fünfte Stockwerk eines wegen Asbest leerstehenden Bürogebäudes, um mit Blick auf den Rhein an seiner 4-kanäligen Bewerbungsarbeit für die Folkwang Hochschule zu feilen. Mit Er-folg: Michael bekommt die Zusage, kann sich jedoch nicht, wie erhofft, ins Videostudium stürzen, sondern verbringt seine Zeit an der Universität der Künste mit Tonstudiotech-nik, Schwingungslehre und Konsorten.

Freiheit in der subkulturSo zieht es ihn nach Abschluss seines Grund-studiums wieder zurück in seine Subkultur. Das illegale, Loft-artige Studio, an dessen Stelle heute ein NH-Hotel thront, ist passé. Deshalb baut sich Michael einen Bungalow in einem Hinterhof der Kolbstraße aus, von dem er liebevoll als „überdachter Rübenacker“

spricht, um dort weitere sechs Jahre zu ex-perimentieren und komponieren. Er entwi-ckelt Werkzeuge, die es ihm ermöglichen, die Sprachparadigmen der Musik auf visuelle Kompositionen zu übertragen – unter ande-rem entsteht zu dieser Zeit in Zusammen-arbeit mit seinem Freund Jens Heinen eine

WeiTere inFos ///

www.octoscop.coM

funkturM oberhausen & kultur iM

turM e.V.:

www.kiteV.de

„fischli in weiss“ und

weitere audio-Visuelle projekte:

www.silVertree.de

20 handgeMacht

Page 21: #09 Herbst 2013

MESSE FÜR MODERNE

UND AKTUELLE KUNST

KÖLN

31.10. – 03.11.2013

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PLUS: BLOOOM –

THE CONVERGING

ART SHOW.

WWW.BLOOOM.DE

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Software namens „Aurora“, ein skalierbares System, das Panorama-VJing ermöglicht. Als sich Fassaden-Mapping, also das Benutzen von Wänden und Fassaden als Videoscreens, Anfang der 2000er immer größerer Beliebt-heit erfreut, versucht sich auch Michael in dieser Sparte des VJing.

mit einfachen lösungenSo „kapern“ er und einige VJ-Kollegen 2010 den Wasserturm in Oberhausen, funktionie-ren ihn zu einem Studio um und bespielen die Turmfenster von innen heraus. Und das kam an. Heute ist das oberste Stockwerk des Oberhausener Wasserturms eine feste Insti-tution des Kultur im Turm e.V. und trägt den Namen „Funkturm“. Dessen umlaufende Fensterreihe wird nun permanent mit einer variierenden Bild- und Videoinstallation be-spielt. Doch auch das gleichzeitige Projizie-ren auf verschiedene Wände, den Boden, die Decke, oder eben auf eine 360° Fensterfront, wird Blausand mit der Zeit zu langweilig. Er begibt sich auf die Suche nach einer Möglich-keit, weg vom flächigen, photographischen VJing, hin zum generativen VJing zu gelan-

gen. Versatil, transportabel, formbar, leicht, an den undenkbarsten Orten aufhängbar und gleichzeitig noch möglichst nachhaltig sollte die Projektionsfläche sein. Schwierige Aufgabe. Einfache Lösung. 2012 schenkt der KiT e.V. Michael einen gigantisch großen Berg Eierkartons, die dieser mit Holzleim und ein wenig weißreflektierender Farbe zu einer formbaren, ein paar hundert Gramm schweren, selbst an Bäumen aufhängbaren und immer und immer wiederverwendba-ren Projektionsfläche umfunktioniert. Das „Octoscop“, wie Blausands aktuelles Projekt und Kind der Liebe getauft wurde, ist ein le-bendiges, mal Fisch- und Wal-, mal surreal-förmiges, (audio-) visuelles Vergnügen vom Allerfeinsten und unbedingt ein Eintauchen in Michaels, alias Blausands Wunderwelt wert. Viel Spaß beim Träumen …

21handgeMacht

anzeige

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micro – so der Name der Atelier-Wohnung, die in begrenzter Räumlichkeit Kunstwerke ausstellt und verschiedenste Veranstaltungen anbietet. Warum groß, wenn man sich auf klein besser konzentrieren kann?

22 Kölner Orte

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Weitere infos ///

www.facebOOK.de/micrOgalerie

www.stellamOebel.de

Man tritt durch die offen stehende Tür und fühlt sich wohl – erfrischendes Wasser mit Zitronenscheibe steht schon auf dem Tisch, eine Jazz-Platte läuft im Hintergrund und Martin Schmitz dreht sich genüsslich eine Zigarette.

Der reduzierte und aufgeräumte Raum ist klein, 45 Quadratmeter, aber doch groß genug, dass alles seinen Platz hat – Wohnen und Ausstellen in schönem Beieinander.

Die Galerie ist überwiegend in Weiß ge-halten und mit wenigen aber stilvollen Mö-belstücken eingerichtet. Das ehemalige La-denlokal in einem Haus von 1890 ist liebevoll renoviert worden – das bestätigt auch ein Blick nach oben; dort sieht man den mühsam wieder freigelegten Stuck an den Decken, der halb abgebröckelt auf seine Art und Weise die hohen Wände perfekt abschließt.

Momentan befinden sich noch die mini-malistischen Malereien von Lena Kleins Aus-stellung „Konzentrationen“ an der Wand und fügen sich harmonisch in das Gesamt-

text /// britta wanderer

fotos /// madame rOssi

micro – so der Name der Atelier-Wohnung, die in begrenzter Räumlichkeit Kunstwerke ausstellt und verschiedenste Veranstaltungen anbietet. Warum groß, wenn man sich auf klein besser konzentrieren kann?

bild. Sie sind reduziert auf das Wesentliche und trotzdem kann man sich nach einge-hender Betrachtung in den schwarz-weißen Kunstwerken verlieren.

Man könnte meinen, dass der Tischler-meister und DJ Martin Schmitz sich nicht entscheiden kann zwischen Wohnen und Arbeiten, zwischen Holz und Musik, zwi-schen Kunst und Leben. Aber im Gegenteil – alles bedingt sich und das eine kann ohne das andere nicht sein. Im Fluss dieser ver-schiedenen Interessen findet oder trifft er auch die Künstler, dessen Werke er ausstellt, die Musiker, wie das deutsch-schweizer Trio punkt3, die er zu Jazz-Sessions lädt oder die Autoren wie Hans Nieswandt, mit dem er die sogenannte micro disco – Lesung und DJ-Set in einem, gründete.

Besonders der Stadtteil Mülheim hat sei-nen Anteil an dem Gelingen des außerge-wöhnlichen Konzepts. Ohne Vorurteile, son-dern mit Neugier und lockerem Austausch untereinander entwickeln sich Projekte und

schöne Abende in der Mülheimer Freiheit Nummer 142. So bereichert die micro galerie auch die Mülheimer Nacht oder unterstützt ihrerseits den Kulturbunker; zudem stellt die Galerie auch Lebensraum für Köln- und Mülheiminteressierte zur Verfügung – man kann sie mieten.

Mehr mit weniger erreichen, sich Zeit nehmen, besonders für Kunst und Kultur, gesund bleiben, Ausgleiche schaffen und vor allem nicht ewig dem Geld hinterherrennen und das Leben darüber vergessen – das sind die Tipps von Martin Schmitz, der sich als glücklich bezeichnet und sich nicht in seinen eigenen Mikrokosmos zurückzieht, sondern genau den gerne für alle öffnet.

klein aber fein

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TexT /// MiriaM Barzynski

FoTos /// MadaMe rossi, Peter H. Fürst

Die Giebelwohnung in der Kölner Altstadt mit Rheinblick fällt heute selten ins Auge. Das ehemalige Atelier der Künstlerin Mary Bauermeister in der Lintgasse war jedoch Anfang der 60er Jahre ein wichtiger Treffpunkt der Avantgarde.

LinTGAsse 28

24 kölner orte

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Das Atelier: 1960-1962Fast 100 Besucher drängten sich am 26. März 1960 vorbei an ausgestellten Bildern und Partituren das Treppenhaus hinauf, bis ins Dachgeschoss der Lintgasse 28. Der Andrang veranlasste den Besitzer des Hauses, ein Gut-achten durch einen Statiker anfertigen zu lassen. Dieser ermittelte eine zulässige Per-sonenanzahl von nur insgesamt 75 Personen für beide Deckenebenen des ausgebauten Daches, um die Sicherheit des Hauses zu ge-währleisten.

Das Programm auf der Einladung zum Eröffnungsabend des Ateliers lautete: Mu-sik – Texte – Malerei – Architektur. So wur-den zum Beispiel die Texte zu Bildern eines schizophrenen, traumatisierten Soldaten verlesen. Die Komposition Variations I, für beliebige Art und Anzahl von Instrumenten

des amerikanischen Komponisten John Cage fand hier Gehör. Cage wurde später selbst zur festen Größe im Atelier und seine Expe-rimente mit klanglichen Zufallsoperationen beeinflussten die folgenden Programme im Atelier. Auch Karlheinz Stockhausen war am Eröffnungsabend anwesend. Er war für das Elektronische Studio des WDR in Köln tätig und seine Werke zählen heute zu den wichtigsten des 20. Jahrhunderts. Während der Eröffnung gab es Schmalzbrote und Ge-tränke, die die Initiatorin Mary Bauermeister durch den Verkauf ihrer Arbeiten finanzierte. Im Nebenraum lagen Matratzen als Über-nachtungsmöglichkeit bereit.

Als der WDR einige Monate später für das Programm des Weltmusikfestes einige Künstler ablehnte, fanden diese in der Lint-

gasse eine Plattform für ihre avantgardis-tischen Ideen. Die zeitgleich zum Weltmu-sikfest organisierten Abende wurden später als Contre-Festival bezeichnet. Unter den Abgelehnten war auch Nam June Paik. Er versetzte das Publikum im Atelier zunächst mit klassischen Werken am Klavier in eine gewohnte, angenehme Stimmung, bevor er schlagartig mit Kopf und Fäusten auf die Klaviatur einschlug und so neue, ungewohn-te Klänge erzeugte. Es folgten weitere solcher kontroverser und experimenteller Program-me, die sowohl durch wohlwollende als auch durch negative Kritik an Aufmerksamkeit gewannen. Obwohl das Atelier später vor allem durch die musikalischen Veranstaltun-gen bekannt wurde, waren auch die interme-dial gestalteten Ausstellungen im Atelier neu– und einzigartig.

Prä-Fluxus?Die Künstler, die sich in der Lintgasse ver-sammelten, prägten nachhaltig eine Bewe-gung in der Kunst, die erst 1962 in New York durch den amerikanischen Künstler George Maciunas mit dem Begriff Fluxus (lat. flie-ßen/strömen) eine Bezeichnung bekam. Im Fluxus sollte der Kunst durch intermediale Aktionen, die oft auch grenzüberschreitend waren, der elitäre Status genommen werden. Kunst sollte wieder näher an das Leben und somit an den Menschen rücken. Fluxus als Aktionskunst erinnert an ein Happening und knüpft an die Leitidee des Dada an, bei der das Kunstwerk negiert wird. Im Vorder-grund steht bei Fluxus ein Gedanke, der auch die Veranstaltungen in der Lintgasse aus-machte: Die schöpferische Idee.

25kölner orte

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26 Artishocke

Null22eins Artishocke e.v.

Super HeroesVon Helden und Hausschuhen

Sailor moon /// kirsten PiePenbring

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27Artishocke

WonderWoman /// ZenA bAlA

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28 Artishocke

CatWoman /// stePhAnie PersonnAZ

artiShoCke e.v.

AlessAndro de MAtteis, AnnA-soPhiA luMPe, AnnA stroh,

MArie luise hofstetter, MiriAM bArZynski, robin Von gestern,

nAdine MAgner, sAskiA rAuchMAnn, Anne-sArAh fiebig.

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29Artishocke

SUperman /// leo Pellegrino

Sie sind die Helden unserer Kindheit. Der starke Superman, der mys-teriöse Fledermausmann, die smarte Sailor Moon. Getrieben von ihrem Heldenruhm und Glanz schlüpften wir schon im Kindesalter allzu gern in die Rolle unserer Lieblingsidole, um unserem Alltag ein wenig Zauber zu verleihen. Doch fragten wir uns als kleiner Einstein schon: musste Wonderwoman nie aufs Klo? Ging Batman regelmäßig in Fitnessstudio? Wer bewies jemals Sailor Moon ihre Weiblichkeit? Und hatte Catwoman Respekt vor Hunden? In dieser Ausgabe bieten wir der Zauberkraft unser null22eins-Illustratoren einen Spielplatz, den Superhelden etwas von ihrer Unantastbarkeit zu nehmen und dem Leser – hoffentlich – im Sinne der Nostalgie ein Schmunzeln auf die Lippen zu zaubern. Denn wer gibt nicht zu, dass das alte Batman-kostüm in Kindergröße 164 nicht immer noch im Kleiderschrank hängt, nur weil die Erinnerung daran einfach zu schön ist?

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Gemeinsame Atmosphären

30 Musik

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Ein Raum, eingenommen vom Schall ihrer Musik. In der Mitte eine Insel aus analogen Synthesizern, einer elektronisch präparier-ten Ukulele und E-Drums, bedient von den Musikern Caroline Kox, Fridolin Körner und Antonio De Luca. Ihre Blicke treffen sich, wandern zu ihren Händen, zum Publikum, dann treffen sie sich erneut. Wenn es gut läuft, bleibt die Zeit stehen und die Masse um sie herum ist für einen Moment gefesselt. Manchmal ruhig und bedächtig, ein anderes Mal schnell und laut. Aber immer bedingt von der Stimmung des Raumes, des Publi-kums und der drei untereinander. Atmo-sphäre wahrnehmen und erzeugen. Das ist ihre Art zusammen zu musizieren.

Vom Wohnzimmer in die WeltAngefangen haben sie Anfang 2011, als Anto-nio, der vorher schon einige Jahre lang Film-musik komponierte, eine Konzertanfrage aus Essen erhielt. Er sagte zu und meldete noch einen Freund an: Fridolin, der zu Jugendzei-ten mit Rap angefangen hatte, sich nun aber mit elektronischer Musik ausprobierte. Also trafen sie sich im Wohnzimmer von Caroline und Antonio, um sich auf das Konzert vorzu-bereiten. „Damals stand hier noch das elekt-ronische Schlagzeug eines Freundes, der sich zu dieser Zeit im Ausland befand. Irgend-wann – wir waren schon aktiv am Musizieren – nahm Caroline einen Stick in die Hand und trommelte vor sich hin. Wir schauten sie an, wie sie telefonierte und trotzdem perfekt im Takt spielte. In diesem Moment wurde uns bewusst, dass wir nun zu dritt weitermachen würden“, erinnert sich Antonio. Nach dem Konzert in Essen machten sie weiter, probten regelmäßig. Bald folgten erste Auftritte in Bars wie dem King Georg in Köln oder dem Single Club in Düsseldorf. Auch in Musiker-kreisen wurde ihr Name öfter genannt und die Nachfrage nach ihrer repetitiven Musik wuchs: Sie veröffentlichten 2011 eine Vinyl für „hug me, heimlich“, 2013 ein Tape über Camp Magnetics und spielten weitere Kon-zerte, unter anderem in Istanbul. Dort haben sie einiges für sich mitnehmen können: „Das Schöne beim Musizieren ist, dass man über-all diese Art von Menschen kennenlernt, die keinen Bock mehr haben und etwas Gutes auf

die Beine stellen; Leute, die Dinge tun. Ein gutes Beispiel ist unsere Reise nach Istanbul, organisiert von der Baustelle Kalk in Köln. Dort wurden wir sehr freundlich aufgenom-men, trafen viele interessante Menschen, die uns von ihrem dortigen Leben und den Pro-blemen, die nun ja auch in aller Munde sind, berichtet haben“, erklärt Fridolin und Caroli-ne fügt hinzu „Genau das ist das Schöne. Wir machen Musik und kommen damit rum. Das ist viel wertvoller als Geld. Darum wollen wir uns auch an niemanden binden, der uns dann sagt, wie wir zu spielen haben. Ich den-ke, das würde nicht funktionieren.“

Spiritueller BassDieses Jahr haben die drei ein ganz besonde-res Erlebnis: Sie spielen anlässlich der Kölner Musiknacht auf der Klais-Orgel der Trinita-tiskirche. Sie werden beweisen, dass dieses alte Kircheninstrument nicht nur für Ave Maria geeignet ist, sondern auch für die Mu-sik von Colorist: „Das, was der Bass im Club ist, war Jahrhunderte lang die Orgel in der Kirche. Man kann bei der Orgel stetig den Klang verändern, ähnlich wie beim Synthe-sizer.“ Den Kontrast in der extra dem Raum angepassten Komposition bieten Samples aus den so genannten Bass-Wars. Das sind Veranstaltungen, bei denen Autos mit einem enormen Soundsystem ausgestattet werden, um über den Schall die Windschutzscheibe zum Platzen zu bringen. Der Bass klingt da-bei wie ein lautes Blubbern. In der Kompo-sition für die Musiknacht verbinden sie ihn mit den Klängen der Orgel, um eine außer-gewöhnliche und spirituelle Atmosphäre zu schaffen. Wie das Publikum darauf reagie-ren wird ist ungewiss, aber Caroline sieht das locker: „Man muss es sich so vorstellen: Wir backen einen Kuchen und schauen dann, ob er den Leuten schmeckt.“ Kostprobe am 14. September. TexT /// saskia RauchMann

FOTO /// TOBias FRöhlich

WeiTere inFOs ///

www.ccccOlORisT.de

www.sOundclOud.cOM/ccccOlORisT

www.FaceBOOk.cOM/ccccOlORisT

Musik 31

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radikal translation sind Akiko Ahrendt und Lluisa Espigolé. Das Duo versteht sich als Interpreten-Partnerschaft, die radikal übersetzt, in-terpretiert und spielt. Neben dem mehr und weniger traditionellen Spiel mit Geige und Klavier nutzen sie den Konzertraum auch ohne das erlernte Holzinstrument. Und zwar mit batterie- und strombe-triebenen Erweiterungen für Performance, Szene und Installation. Sie haben Premieren im Programm, aber auch Musik, die nicht zum ersten Mal gespielt wird, sondern zum zweiten, dritten oder vielleicht hundertsten Mal: Stücke, die es wert sind, noch einmal neu übersetzt zu werden, wie beim Festival 8Brücken oder am 1. September im Filmforum des Museum Ludwig zu erleben war.

Radikal heißt: an die Wurzel gehend – in Bezug auf die Ideen, den Arbeitsprozess und die Umsetzung.

halblaut – aber nicht leise. Akustische Musik muss nicht leise sein. Im Herzen Kölns treffen funkige Gitarrenriffs untermauert von treiben-den Beats auf soulige Stimmen. Eine Mischung die mitreißt und nicht mehr loslässt. Ob dezentes Mitwippen oder ausgelassenes Tanzen – ein Stillstehen ist kaum möglich. Und das ausnahmslos. Klassiker neu interpretiert – in Wohnzimmeratmosphäre auf hohem Niveau. Vielfältig arrangiert und genreübergreifend – jeder Song eine Über-raschung. Das ist der bescheidene Anspruch. Interpretiert auf halb-laut Art. Aber eben nicht nur leise.

Im Buchprojekt „Beyond Plastic“ des Kölner Grafik-Designers Alex Ketzer dreht sich alles um Vinyl-Labels, die mit Herzblut und Leiden-schaft elektronische Musik auf „schwarzes Gold“ pressen. Das Buch möchte die Leser auf eine Reise mitnehmen, die sie vom Produzie-ren eines Tracks über Mastering, Presswerk und Vertrieb bis hin zum Plattenladen führt. Ungekürzte Interviews und Fotostrecken geben einen Einblick in persönliche, authentische und charmant geschilder-te Erlebnisse der Labelmacher. Abgerundet wird das Buch durch eine CD-Compilation mit Musik der beteiligten Labels. Bis Ende Septem-ber kann man auf der Crowdfunding-Plattform Startnext Fan und Supporter werden und sich exklusive »Dankeschöns« sichern.

Radikal TRanslaTion

HalblauT

beyond PlasTic

GeiGe | Klavier | Strom

nicht leiSe

ein mixtape in Buchform

Hier erhalten Musiker eine Plattform, sich zu präsentieren. Die Talente unterstützen ihren Auftritt und helfen, diese Seite zu produzieren. Interesse? E-Mail an: [email protected]

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weitere infos /// www.Startnext.de/BeyondplaStic

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Musik in kÖln

32 anzeiGen

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37anzeiGen

one in a GooGolPleXSpace pop

Das Kölner Quartett steht für energiegeladenen Gitarren- und Synthie-Pop und für eine Mischung aus verträumten und opti-mistischen Songs mit kosmischem Charakter. Ehrlich, authen-tisch und spritzig. Der Bandname ist ein Zitat aus dem Film Zu-rück in die Zukunft III. Doch auch die Songs selbst sind zum Teil inspiriert von Science-Fiction und der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Wenn es aber mal nicht um Sterne und Galaxien geht, dann um die großen wie kleinen Dinge des irdischen Lebens: um Liebe, Kuchen, die Pubertät, Wassermelonen, Tanzen, Lagerfeuer und den Sommer.

Ursprünglich nutzte Sänger Sebastian den Bandnamen für des-sen Soloprojekt. Nach der erfolgreichen Umstrukturierung in eine vollständige Band im Frühjahr 2011 wurde eifrig an neuen Songs geschrieben. 2012 erschien ihr Debütalbum „What Is Your Name?“

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bunt, kreativ, vielfältig – ein Zoo aus Musik, kunst, lesungen, Theater, konzerten u.v.m.: seit vier Jahren belebt die Zoo-schänke ehrenfeld –

ohne blick auf alter oder Herkunft – und geschmacklich neben cocktails und gängigen Getränken auch mit dem extra hergestellten Zoo-bier.

weitere infos ///

venloer StraSSe 434, 50825 Köln

www.zoo-SchaenKe.de

Zoo-scHänkeanzeiGe

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sei ein hund und bell!

TexT /// britta wanderer

FoTos /// alessandro de matteis,

madame rossi

34 porträt

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die schwarzen locken sind zusammengebundenen. der muskulöse Tanzkörper lässt sich nur erahnen: Reut shemesh ist Choreographin aus israel. sie liebt Köln und ihre Arbeit – am meisten aber das leben.

Schon im Treppenhaus erklingt lautes Glo-ckenspiel. Reut Shemesh öffnet die Tür einer Wohnung direkt neben einer Kirche, die zur Messe ruft. Es gibt eine große gemütliche Kü-che mit drei Uhren, von denen jedoch keine die richtige Zeit anzeigt. Reut, die kleiner ist, als man erwartet, lädt zum Gespräch auf den Balkon, der auf den Hinterhof zeigt. Dort kann man trotz der vorherrschenden Hitze gut atmen. Während des Gespräches klingelt ab und an ihr Handy. Sie entschuldigt sich höflich und spricht am Telefon konzentriert aber kurz in verschiedenen Sprachen.

Got to danceNach der Entscheidung, die Unterhaltung auf Deutsch zu führen, erzählt sie ungezwungen, ehrlich und mit starker Ruhe von sich. In ei-nem kleinen Dorf in der Nähe von Tel Aviv mit drei Geschwistern aufgewachsen, hat sie früh gemerkt, dass sie ihre scheinbar unend-liche Energie über körperliche Bewegung abbauen und positiv verwenden kann. Wenn Reut diese Energie hinunterschlucken muss, wird sie traurig, sagt sie. In ihrer Familie gab es zunehmend Schwierigkeiten, aufgrund derer sich ihre Eltern letztlich trennten und just zu dieser Zeit – sie war zwölf Jahre alt – sprach sie eine Tanzlehrerin an. Dann be-gann eine wunderbare Zeit: „Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wenn ich nicht diese Möglichkeit bekommen hätte. Ich wäre

aber wahrscheinlich heute kein so positiver Mensch“, sagt sie mit glitzernden Augen. Die Tanzschule wurde ihr zweites Zuhause und zu einer zweiten Familie. Hier konnte sie all ihre Energie ausleben und wurde dafür an-erkannt.

Plötzlich hört man unter dem Balkon Stimmen – Nachbarn sind auf der Terrasse, sie grillen Fleisch. Lautes Klackern von Bier-flaschen schallt herauf.

body says noMit 24 und als etablierte Choreographin zog sie in die Niederlande: „Wenn ich die Augen schloss, wusste ich genau, wie meine Karriere in Israel weitergegangen wäre.“ Das reichte ihr nicht mehr.

In Amsterdam lebte sie ein Jahr – ein Jahr in dem ihr Körper sie allerdings zum ersten Mal zu einer Auszeit zwang. „In Amsterdam ist von allem zu viel.“ Sie bewegt die Hände hektisch und sieht nahezu erdrückt aus: „Zu viele Touristen, zu viele Drogen, zu viel Ar-beit und kein Ausgleich. Alle wollten etwas von mir und mein Körper machte nicht mehr mit. Ich hatte einen Zusammenbruch, ob-wohl ich doch immer so stark gewesen war.“ Doch sie hörte auf diesen lauten Hilfeschrei ihres Körpers und wusste: „Das ist nicht der richtige Ort für mich, hier sollte ich nicht bleiben.“ Den Worten folgten Taten. Reut ging weiter.

RestartKöln hatte sie schon über ein Tanzfestival kennengelernt und einige Kontakte geknüpft. Der Liebe wegen wagte sie nun erneut den großen Schritt in ein anderes Land. Sie fühlte sich sofort wohl und willkommen unter den Kölnern, schnell hatte sie auch beruflich Er-folg: „Als israelische Choreographin ist man hier auch etwas Besonderes. Das und dass ich verschiedene Erfahrungen aus Israel und den Niederlanden mitgebracht habe, erleich-terten sicherlich den Start.“ Das Gefühl „hier bin ich und hier möchte ich bleiben“ erkoren Köln als neue Wahlheimat aus – ein Zuhause ist ihr sehr wichtig: „Ich bin ein Künstler, der eine Basis braucht, um von dort aus wachsen zu können.“

„Go for it“Als Choreographin mag Reut es, Chef zu sein. Denn sie kann Tänzer nahezu in der Minute einordnen, in der sie ihr Studio be-treten. „Ich kann sofort sehen, was der Tän-zer braucht und wie ich mit ihm umgehen muss, im normalen Leben ist das leider nicht so.“ Daher habe sie spaßeshalber auch schon überlegt, alle Menschen erst einmal ins Stu-dio einzuladen, um dann erst Freundschaf-ten aufzubauen.

Reut ist bekannt für ihre besondere Hand-schrift in den Tanzstücken – das ist nicht im-mer leicht zu lehren. Ihr Stil ist dem Tanzbe-

35porträt

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reich Contemporary (zeitgenössischer Tanz) zuzuordnen, das steht für eine Mischung aus klassischen und modernen Tanzelementen – sehr emotional und individuell interpre-tierbar. Die typischen Körperbewegungen in ihren Stücken sind so klar und theatralisch, dass auch ein ungeübter Zuschauer eine Bot-schaft oder ein Thema verstehen kann. Fast gebärdengleich bewegen sich die Tänzer, oft-mals sich schüttelnd, mit ausdrucksstarken Gesten und immer mit starkem Blick.

„Ich bin Vater und Mutter für meine Tän-zer, sie können mir vertrauen und ich sorge für sie. Sie müssen sich nicht um die Choreo-graphie kümmern, das ist mein Part, aber sie müssen sich um ihren Körper kümmern und das respektiere ich sehr. Ich zeige ihnen die Bewegungen. Dabei geht es nicht darum, ob die Hand jetzt ein wenig weiter oben ist oder nicht, das liegt bei ihnen. Aber wenn ich sage, sei ein Hund, dann musst du ein Hund sein und bellen.“ Sie unterstreicht das Gesagte mit Grimassen und ausladenden Gesten und ver-fällt dabei plötzlich ins Englische.

Kritiken von außen begegnet Reut mit der Bereitschaft zum Dialog und dem weisen Satz eines Freundes: „Hör niemals auf jemanden,

mit dem du nicht Sex gehabt hast oder der zu deiner Familie gehört“.

„something very strong happens”Gerne arbeitet sie auch mit Menschen mit den verschiedensten Hintergründen zusam-men, wie besonders eines ihrer letzten Stücke zeigte: Für das multikulturelle Kölner Som-merblut-Festival sprach sie Russinnen im Alter von 60 bis 75 Jahren von der jüdischen Gemeinde in Chorweiler an und lud sie ein, in ihrem Stück zu tanzen. Es entstand eine fruchtbare Zusammenarbeit, bei der Reut mit Freude viele Kompromisse eingegangen ist. Reut nennt die Laientänzerinnen liebe-voll die „alten Damen“ und bat sie, mit ihren Körpern aus ihrem Leben zu erzählen. Plötz-lich lacht sie laut und zieht ihre Nase dabei kraus: „Das war eine Herausforderung, denn manchmal sagten sie zu einer Bewegung, das machen wir nicht, das sieht hässlich aus!“ Endprodukt war „Rita‘s first solo“ – ein stol-zer ehrenvoller Tanz von mutigen Frauen, die mit Freude auf der Bühne standen und den Abend genossen.

Ihr nächstes Projekt in Köln hat im De-zember Premiere: „The Version’s Voice“ er-

36 porträt

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WeiTere inFos ///

www.facebook.com/reut.shemesh16

www.reutshemesh.com

öffnet einen Tanztausch mit drei Frauen, die sich mit der Frauenrolle als Opfer auseinan-dersetzen.

Im Frühjahr 2014 wird zudem eine span-nende Zusammenarbeit namens „ABALU-LU“ mit dem Akrobatenduo „Overhead Pro-ject“ auf die Bühne gebracht, das Szenen aus der Kindheit körperlich nachempfindet.

Reut bleibt bewegt. Momentan baut sie eine feste Tanzcompany auf, fängt im Herbst ein Studium an der Kunsthochschule für Me-dien an und träumt leidenschaftlich davon, einmal ein Stück mit und in der Oper Köln inszenieren zu können.

„Aber nach allem, Reut, was ist dir das wichtigste im Leben?“ – „Love!“

porträt 37

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Lässt man in der Stadt den Blick aufwärts schweifen und betrachtet die Balkone seiner Mitmenschen genauer, fallen einem sofort Unterschiede auf. Neben eindeutig baulichen und größenspezifischen Differenzen liegen die Unterschiede offensichtlich in variations-reicher Ausgestaltung durch die Nutzer. Hier und da ein Balkon voller Pflanzenpracht, seien es Geranien oder die Ergänzung des Speiseplans durch selbst gezogene Tomaten und Küchenkräuter. Eine Etage darüber ein Ensemble aus Plastiksitzgruppe, dem dieb-stahlsicheren Fahrrad und Pfandflaschen zu deren Entsorgung noch niemand Elan hatte. Auf der anderen Straßenseite suggerieren Terrakottasonne und Amphoren aus dem Versandhandel, dass man sich irgendwo in dem Klischee der toskanischen Provinz und nicht mitten in Köln befindet. Schon wenige Meter Straße bilden einen Querschnitt durch unterschiedlichste Nutzungsgewohnheiten. Ich hab den Besten!Anna-Sophia (30) liebt ihren Ehrenfelder Balkon, welcher als einer der wenigen in ihrem Hinterhof komplett begrünt ist. Ihre Pflanzen dienen ihr nicht nur als reine Au-genweide, sondern schirmen sie auch vor Blicken der Nachbarn ab. Sie kann hier unge-stört am Laptop arbeiten oder ihren Morgen-kaffee genießen. Einzig der Straßenlärm stört gelegentlich, der Gürtel ist nicht weit. Doch zum Ausgleich kann sie dort manchmal auch dem Querflötenspiel eines Nachbarn lau-schen, das durch den Hinterhof schallt. An-na-Sophia ist stolz auf ihre grüne Oase: „Ich hab den Besten!“.

BALKONIAZwischen urbanem Nutzraum

und urbanem Eskapismus

38 Zwischenraum

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TEXT /// JOnas mattusch

FoTos /// anDi wahLe

Platz ist in der kleinsten HütteBeziehungsweise auf der kleinsten Feuerlei-ter, die für Anne (24) als Balkonersatz dient. Die weniger als einen Quadratmeter große Fläche ist ebenfalls begrünt, natürlich im entsprechenden Maßstab. Den weiten Blick über einen Nippeser Hinterhof nutzt sie, um hier den Tag zu begrüßen oder um abends nach der Arbeit zu entspannen. Ihren Balkon kommentieren Gäste meistens mit dem Wort „süß“. Während Anne auf ihrem Balkon liest, schielt sie manchmal neidisch auf die Dach-terrasse der Nachbarn und wünscht sich, die Feuerleiter würde bis dort hinführen.

Zwerge dominierenWeniger Pflanzen als ganz andere Bewohner kann man auf einem Balkon in Leverkusen antreffen. Jasmin (30) sammelt nämlich Gar-tenzwerge. Jeden Monat schenkt ihr Mann, Olaf, ihr einen neuen. Ihren Gatten hat sie auf ihrem Balkon kennengelernt. Er half beim PVC-Verlegen, doch als sie ihn zu einer Arbeitspause auf den Balkon einlud, kamen die beiden ins Gespräch. Aus Rücksicht auf die moralischen Empfindungen ihrer Nach-barn stehen manche Gartenzwerge so, dass man sie von unten nicht direkt sehen kann. Ihre Zwerge beschäftigen sich nicht, wie man vermuten könnte, mit der Erzförderung oder dem Halten kleiner Petroleumlampen. Die muntere Zwergenschar kann man entblößt oder bei Domina-Spielchen beobachten.

Lichtung in der Einflugschneise Gabor (35) dreht seine Zigarette und greift nach dem Feuerzeug auf dem Tisch vor ihm. Sein mitten in Kastanienkronen gelegener Balkon in Mülheim beherbergt alles, was er hier braucht: Einen Tisch, zwei Stühle, Aschenbecher und Stauraum. Abends sitzt er hier gerne mit Freunden. Ansonsten hängt hier die Wäsche oder das Flaschenpfand la-gert zwischen, bis es sich lohnt es weg zu bringen.

Mit oder ohne Der Eindruck von außen sagt nicht zwangs-läufig etwas über den Lebensentwurf aus, der sich hinter Blumenkübel und Plastikstuhl verbirgt. Jeder schafft sich seinen Lebens-raum. Die große Gemeinsamkeit ist, dass jeder auf seinem Balkon einen Ort der Ruhe in mitten des hektischen Stadtlebens findet.

Nicht umsonst verfügen etwa 55 Prozent der deutschen Haushalte über einen Balkon oder eine Terrasse. Die Frage, die offen bleibt, ist, ob die anderen 45 Prozent der Bevölke-rung ein schlechteres, weil balkonfreies Le-ben führen.

39Zwischenraum

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30 Musik

Was zeichnet die Arbeit eines Schauspielers aus? Anna (Studentin, 27) probiert es herauszufinden und Sophia (Schauspielerin, 30) begleitet sie.

Spielt sie noch?

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Anna: Die Idee für das Projekt entsteht bei einem Gespräch über Selbsteinschät-zung und unbekannte Talente, die in jedem schlummern. Ich bin fasziniert von dem Gedanken, etwas auszuprobieren, um an meine Grenzen zu stoßen. Ich bin ein sehr unsicherer Mensch, stelle alles in Frage und mache mir grundsätzlich viele Gedanken. Was habe ich alles verpasst und unversucht gelassen, aus Angst davor mein Gesicht zu verlieren? Diese Unsicherheit steht mir stän-dig im Weg. Jetzt gilt es sie zu bekämpfen! Wo kann ich das besser als auf der Bühne? Schauspieler – auf mich wirken diese Men-schen unheimlich selbstbewusst. Doch wel-cher Druck lastet auf ihnen? Wie viel Zeit opfern sie? Was ist das für ein Gefühl, auf der Bühne zu stehen und Kritik in jeglicher Form zu bekommen? Ich stelle mich der Herausfor-derung. Ein typisches Vorsprechen wird für mich inszeniert. Ich habe drei Wochen Zeit mir einen Monolog von zwei bis fünf Mi-nuten auszusuchen, zu erarbeiten und dann ausgebildeten Schauspielern vorzutragen.

Sophia: Mein erstes Vorsprechen ist neun Jahre her. Seitdem habe ich noch einige ge-habt, eine Schauspielausbildung absolviert und arbeite nun als Schauspielerin. Die Auf-regung ist trotzdem noch immer präsent und regelmäßig werde ich gefragt, ob ich einen Beruf erlernt habe, denn letztendlich sind es doch Freude, Spieltrieb und Gefüh-le, die mich auf der Bühne leiten. Das Vor-urteil, dass Schauspiel nur Spaß macht und ein Schauspieler sich einfach auf die Bühne stellt und macht, ist leider weit verbreitet. Mir gefällt Annas Idee, sich selbst einem Vorspre-chen zu unterziehen. Ich werde sie zusammen mit meinem Kollegen Steven prüfen und mit ihr arbeiten. Ein neues Gefühl für mich, auf der anderen Seite zu sitzen. Ich frage mich, ob ich tatsächlich einen Vorteil durch mei-ne Ausbildung habe. Kann ich ihre Leistung einschätzen? Kann ich ihr helfen? Würde ich

es anders machen? Und was, wenn sie einen glänzenden Monolog abliefert? Heißt das, dass meine Ausbildung sinnlos war? Mein innerer Zweifler schaltet sich ein. In diesem Beruf kommt es wohl so häufig wie in keinem anderen vor, dass man seine eigene Leistung infrage stellt. Die Frage nach der Notwendig-keit, dem Können, der Ausstrahlung – das alles sind unmessbare Werte, die sich von einem Moment auf den anderen ändern kön-nen. Ich beneide Anna nicht um ihre Aufge-regtheit, aber um die Tatsache, dass für sie nicht ihre Zukunft von diesem Vorsprechen abhängt, wie sie das für viele Spielwillige tut.

Anna: Schon wenige Tage später bekomme ich Panik und bereue diese verrückte Idee. Doch es gibt kein Zurück! Ich muss einen passenden Text finden. Schnell artet diese scheinbar simple Aufgabe in völliges Chaos aus. Oh Gott, was wähle ich nur aus? Klas-sisch, modern oder doch selbstgeschrieben?

41TheaTer

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Der Tag ist da!

Sophia: Wir treffen uns um 13 Uhr, Anna hat 20 Minuten Zeit, sich vorzubereiten, dann geht es los. Es ist ein Dialog mit einem ima-ginären Partner. Sie hat einige Requisiten in das Spiel eingeplant. Ich sehe ihre Augen nicht, sie blickt zu Boden und anhand ihres bedrückten Tones wird klar, dass es sich in ihrer Interpretation um eine traurige Szene handelt. Anna ist fertig. Ich erinnere mich nicht an den Inhalt. Ich habe aufmerksam zugehört und Notizen gemacht, aber wenn ich die Szene zusammenfassen sollte, wäre es mir unmöglich. Ich habe Angst ungerecht zu sein. Steven und ich schicken Anna raus und besprechen uns. Zu meiner Erleich-terung bestätigt er meine Wahrnehmung.

Anna: Vor lauter Aufregung komme ich nicht in die Rolle rein, doch beruhigen kann ich mich nicht. Zu spät, die Zeit ist abgelau-fen. Jetzt geht es los. Ich stelle mich und mein Stück vor, dann fange ich an. Mein ganzer Körper zittert während ich spiele. Es fühlt sich nicht gut an. Ich bin unkonzentriert und weiß nicht, wo ich hinschauen soll. Hoffent-lich ist es schnell vorbei! Nach meiner Vor-führung werde ich rausgeschickt. Ich bin sau-er auf mich selbst. Voll verhauen!!!

Ich wälze Bücher und hoffe, dass mich eine Rolle anspricht. Doch alles schweigt. Wahr-scheinlich suche ich zu krampfhaft. Eine Woche später erinnere ich mich plötzlich an die Rolle der Mascha aus Tschechows „Die Möwe“. Das ist es! Etwas verbindet mich mit dieser Person. Ich hoffe, das ist ein gutes Zei-chen. Die Zeit drängt. Nur noch eine Woche und ich kann mich für keinen Auftritt Ma-schas entscheiden. Ganz zu schweigen davon, wie ich es spielen soll. Endlich finde ich einen Dialog zwischen ihr und einem Schriftsteller. Dabei habe ich ein gutes Gefühl. Eine star-ke Frau, die über sich selbst spricht. Klingt doch gut! Ohne Vorgaben versuche ich den Text zu bearbeiten. Kann ich was kürzen? Ändern? Streichen? Ich versuche es. Wie-der packt mich die Panik. Ich werde mich lächerlich machen! Alles absagen? Das wäre noch peinlicher. Der Text sitzt überraschend schnell. Nur wie spiele ich ihn? Ich warte bis die Wohnung leer ist, setzte mich in die Küche und spreche ein wenig mit mir selbst. Wie lächerlich! Wenn jetzt einer reinkommt, hält er mich für verrückt. Die nächsten Tage träume ich den Text, spreche ihn unter der Dusche, schweife beim Ausgehen ab und er-wische mich immer wieder dabei, wie ich den Monolog durchgehe. Meine Freunde fragen sich, ob es mir in letzter Zeit nicht gut gehe. Ich sei ständig abwesend. Natürlich geht es mir nicht gut, ich werde mich zur Witzfigur machen!

Sophia: Wir glauben beide, dass sie es besser kann und rufen sie wieder herein. Sie soll die Szene noch einmal spielen, ohne Schwere, mit mehr Aufmerksamkeit für das, was ist. Die Requisiten dürfen benutzt werden, aber nur, wenn ihr tatsächlich danach ist. Aber vor allem soll sie ihren Partner sehen – was der Schauspieler sieht, das sieht der Zu-schauer. Anna wirkt irritiert, lässt sich noch einmal erklären, was für eine Emotion ge-wünscht ist. An ihrer Frage sehe ich, dass hier ein wichtiger Punkt ist, den ich gelernt habe: keine Emotion auf eine Szene aufhäufen! Ja, eine Szene ist traurig, der Inhalt, der verhan-delt wird, ist traurig, das heißt jedoch nicht, dass die Figur sich traurig verhält. So wie wir Menschen oft versuchen Traurigkeit und an-dere Empfindungen zu verdecken, so tun es die Figuren auch. Figuren erwachen dadurch zum Leben, dass wir sie wie real existieren-de Menschen behandeln. Der Schauspieler versucht nicht einen Charakter zu spielen, sondern zu sein. Dafür beobachten wir täg-lich Menschen, nehmen Bewegungen auf, Reaktionen, Stimmfärbungen. Wir lernen andere Menschen zu lesen und das Gelesene mit unseren Körpern und Stimmen nieder-zuschreiben.

42 TheaTer

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Sophia: Wir sehen Mascha das zweite Mal und ich bekomme Gänsehaut. Sie lebt! Schon durch diese kurzen Anweisungen und Erklä-rungen scheint Anna wie ausgewechselt. Sie benutzt ihren Körper, schirmt ihn nicht ab. Sie spielt mit der Sprache, spricht die Sätze tatsächlich, sagt sie nicht auf. Steven lacht, als sie statt wie geplant aus dem Glas zu trin-ken, einen Schluck aus der Flasche nimmt. Auf einmal handelt es sich um eine echte Un-terhaltung zwischen Mascha und ihrem Be-kannten. Ich fühle Stolz. Stolz darüber, dass Anna das gerade gezeigt hat und darüber, dass Steven und ich fühlten, was dort auf der Bühne fehlte, dass wir gelernt haben eine Sze-ne mithilfe verschiedener Techniken zu ver-ändern. Anna strahlt. Sie scheint erleichtert zu sein. Noch zwei Mal spielt sie die Szene, immer wieder mit kleinen Veränderungen. Manchmal verfällt sie in alte Muster. Aber am Ende ist klar: sie hat heute etwas mitneh-men können.

Anna: Dieses Projekt hat mir persönlich sehr viel gegeben. Ich musste mich mit meiner eigenen Person befassen, nach einer passen-

den Rolle suchen und sie selbst spüren. Es ist sehr interessant, wie viel in mir selbst steckt und noch vollkommen unerforscht ist. Das Gefühl des Versagens, mich und alle anderen zu enttäuschen, musste ich lernen abzustel-len. Ich bin definitiv nach diesem Projekt um einige Zentimeter gewachsen und hoffe, dass sich dieses neue Gefühl der Selbstsicherheit und Selbstwahrnehmung positiv auf meine Persönlichkeit und mein Umfeld auswirkt.

Sophia: Ich bin froh darüber, das Projekt gemacht zu haben. Es hat mir bestätigt, dass Schauspiel mehr ist als Text auswendig zu ler-nen und auf einer Bühne zu stehen. Anna hat hart gearbeitet und besitzt eine Begabung. Aber der Unterschied zu uns ausgebildeten Schauspielern liegt darin, zu lernen, Kli-schees aufzubrechen, zu wissen, dass man auf der Bühne besser nichts weiß und seinen Körper bis ins Detail zu kennen. Dann kön-nen wir uns selbst beim Spiel noch überra-schen und somit auch die Zuschauer.

Anna: Nachdem ich reingerufen werde, ma-che ich mich auf das Schlimmste gefasst. In den Gesichtern sehe ich alles andere als Be-geisterung. Als erstes wird mein fehlender Kontakt zum Zuschauer und dem imaginä-ren Partner kritisiert. Ich sei zu sehr darauf fixiert, die Rolle traurig zu spielen. Sie wol-len eine andere Emotion sehen. Ich soll es wiederholen. Oh Gott, was wollen die jetzt von mir? Ich werfe alles um und versuche die Mascha zu spielen, die ich in der Situation wäre. Schon nach ein paar Sekunden merke ich den Unterschied. Ich bin nicht nervös, ich spiele spontan, ich sitze anders, ich werfe mein Konzept vollkommen um, trinke aus der Flasche und sage Sätze auf Russisch. Ich handle nach Impuls. Es fühlt sich toll an. Ich will nicht aufhören. Die Gesichter der Schauspieler ändern sich. Sie lachen und klatschen. Das Gefühl ist unbeschreiblich. Sie finden mich gut! Ich merke, dass sie ge-nauso überrascht sind wie ich. Was ist hier eben passiert? War ich das wirklich? Ich bin über mich selbst erstaunt und dankbar für die Chance und die Tipps, die ich mitneh-men kann.

43TheaTer

TEXT /// aNNa sTrOh, aNNa-sOphia LuMpe

FOTOS /// aLessaNdrO de MaTTeis

DANK /// sTeveN reiNerT

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Gute Ideen in die Tat umsetzen: Das beweist ein ehrenamtliches Filmteam – ohne Barrieren im Kopf

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Musik

Von Der STraSSeFast fünf Jahre liegt eine Aktion eines Jour-nalisten zurück, die ein drängendes Problem in Deutschland erstmals genauer beleuch-tete: Günter Wallraff begab sich im Winter 2008/2009 auf die Straßen Kölns und lebte als Obdachloser. Dabei lernte er die Men-schen hinter dem von Vorurteilen geprägten Schicksal kennen und erhielt tiefe Einblicke in schwierige Lebensumstände. Eine Film-figur namens Conrad Cooper teilt diese Erfahrungen. „Getarnt“ als erfolgreicher Geschäftsmann, mit Anzug, Krawatte und Aktenkoffer, bewegt er sich durch das Ban-kenviertel seiner Stadt. Dadurch spielt er für sich, aber auch für die vorverurteilende Gesellschaft, seine wahren Probleme in den Hintergrund. Er ist arbeits- und obdachlos und auf dem steinigen Weg, das zu ändern.

Der Film „The Case of Conrad Cooper“ möchte, dass Obdachlose gesehen werden, und das Thema im Herbst 2013 neu in den Fokus der Öffentlichkeit rücken. Denn die Geschichten hinter den oft ungepflegten Na-menlosen, die jedem tagtäglich auf der Stra-ße begegnen, belegen vor allem eines: Armut und Obdachlosigkeit können schneller zu-

TexT /// RobeRt FilgneR

FoTos /// ConRad Moods

The Case of Conrad Cooper

schlagen als gedacht und es trifft mehr Men-schen als vermutet: Alleine im vergangenen Jahr gab es mehr als 280.000 Obdachlose in Deutschland, das heißt offiziell „Wohnungs-lose“. Von diesen lebten 24.000 ohne jegliche Unterkunft auf der Straße, obwohl diese Zah-len nur als Schätzung gelten, da es für diesen Bereich deutschlandweit keine feste Statistik gibt. Für Köln nennen Zahlen aus dem Jahre 2011 etwas mehr als 5.600 Menschen ohne Obdach. Das sind erschreckend hohe Zahlen für ein Land mit sozialen Sicherungssyste-men. Doch Obdachlose sind mehr als eine Zahl aus der Statistik. Es sind Menschen mit Persönlichkeit und Vorgeschichte. Um Men-schen wie Conrad Cooper ein Gesicht zu ge-ben, soll dieser Film unter dem Motto „Make Art – Make a Difference“ im Oktober gedreht werden.

Und die Filmemacher bedienen sich ei-ner Sache ähnlich wie einst Günter Wallraff: Sie zeigen die Realität. Für den Dreh werden echte Obdachlose von der Straße geholt und bekommen Statistenrollen mit richtigem Ar-beitsvertrag und einem Gehalt. Alle anderen Arbeiten für den Film sind ehrenamtlich. Dennoch gibt es Kosten, wie z.B. die Tech-nik, Versicherungen, Mieten für Drehorte und die Postproduktion, die trotz aller Hel-fer bezahlt werden müssen. Daher sucht das internationale Team noch fleißige Spender. Es konnten schon viele ehrenamtliche Hel-fer und Talente gewonnen werden, darun-ter Ted Willams, amerikanisches Youtube-Phänomen und einst selbst obdachlos. Und weiterhin ambitionierte Künstler aus den Bereichen Fotografie, Graffiti-Art und Mu-sik sowie verschiedene Firmen, zum Beispiel die Kölner Kommunikationsagentur smartin advertising, die verschiedene Werbemittel für das gesamte Projekt entwickelt. Sie alle haben eines gemeinsam: Sie wollen Conrad Cooper sichtbar machen. Wer sich engagie-ren möchte, kann gern Kontakt zum Team aufnehmen.

FilM 45

WeiTere inFos ///

www.theCaseoFConRadCoopeR.CoM

www.FaCebook.CoM/

theCaseoFConRadCoopeRdeutsChland

spenden unteR: www.staRtneXt.de

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PuPPenhaftesauf seide

fotografische inszenierungen

TexT /// René DenzeR

46 WeRkschau

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Die Szenerie hat etwas morbides: Auf dem Boden liegt ein Frauenkörper. Arme und Kopf fehlen. Der Rest ist in ein helles Kleid gehüllt. Eine Tasche liegt scheinbar achtlos zu Füßen des Körpers, daneben eine Maske. In schwarz-weiß getaucht erinnert die Foto-grafie an ein Verbrechen aus einem Edgar-Wallace-Krimi. Ein anderes Bild wirkt fröh-licher. Es zeigt einen VW-Bus mit Fotos an den Wänden, Urlaubsstimmung macht sich breit. Scheinbar abseits findet sich auch hier eine Maske. In das Bild ragen Frauenbeine. Die Füße stecken in gelben Schuhen. Ein Überbleibsel der „Zersägten Jungfrau“ aus dem Zaubertrick des britischen Illusionisten P.T. Selbit? Wenn es nach Katja Rohsmanith geht, könnte dies der Fall sein. „Jeder kann in meinen Arbeiten seine eigene Geschich-te finden“, sagt sie. Deswegen halte sie ihre Fotos „relativ“ neutral, obwohl viel Persön-liches in ihnen steckt. Stimmungen, Emo-tionen, Urängste, Tod und Schmerz in An-lehnung an ganz präsente gesellschaftliche Themen sind es, die Fotokünstlerin in ihren Inszenierungen meist leicht puppenhaft fest-hält. Ziel ist es, menschliche Abgründe und die Ambivalenz allem Zwischenmenschli-

WeiTere infos ///

WWW.katja-Rohsmanith.De

chen zu zeigen – auf groteske, kritische, aber auch auf humorvolle und ironische Weise. Zur Fotografie ist die 35-Jährige im Jahr 2009 gekommen. Zuvor hat sie gemalt und einige Semester Freie Kunst an der Universität zu Siegen studiert. Doch erst beim Fotogra-fieren kann sie ihrer Kreativität freien Lauf lassen. Bei ihren Arbeiten übernimmt sie den aktiven sowie passiven Part. Das bedeutet, sie steht sowohl hinter als auch vor der Kamera. Warum? ,,Weil ich genau weiß, was ich will“, sagt sie. Sich selbst muss sie die Geschichte zu der Szenerie, die sie im Foto festhalten möchte, nicht erklären. Und da es sich dabei eben auch um persönliche Dinge handelt, ,,ist es mit mir am praktischsten“. Bei ihren Fotografien, die sie vorzugsweise auf Sei-de gedruckt präsentiert, handelt es sich um minutiös erarbeitete Inszenierungen, mit langen Vorplanungen. ,,Meine Ideen sammel ich alle in einem schwarzen Büchlein“, er-zählt die gelernte Show-Tänzerin. Wenn das Konzept steht, werden Outfit und Make-up ausgesucht. Die sind genauso wohl überlegt, wie die Orte für das Shooting. Von der Idee bis zur Umsetzung vergehen daher ,,Ewigkei-ten“, sagt Katja Rohsmanith. 

Katja Rohsmanith steht bei ihren inszenierungen nicht nur hinter, sondern auch vor der Kamera

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674 FMRadio selbstgemacht

Die Musik ist eine Reflexion der Zeit in der sie entsteht. Und demnach die Reflexion ihrer Menschen, die sie machen. Schon der Dichter Henry Longfellow bezeichnete Musik als ge-meinsame Sprache der Menschheit.

Das Team von radio674 verbindet diese Leidenschaft zur Musik. Der Wunsch der kreativen Köpfe war es, Raum zu schaffen, für jeden, der etwas zur musikalischen Be-gleitung des Alltags beitragen möchte. Als Medium ihrer Kommunikation wählten sie das Radio und gründeten im Januar dieses Jahres den Sender radio674 in beschaulichen Räumlichkeiten auf der Aachener Straße. Sie wollten ihrer Umgebung etwas Neues bieten, etwas Kreatives und Vielseitiges. Ohne Ein-grenzungen der Musikgenres, ohne Schran-ken und für jedermann zugänglich. „Die Radiowelt erschien uns eintönig“, so Presse-sprecherin Karina. „Wer etwas zu meckern

hätte, sollte zu uns kommen und eine eige-ne Sendung machen.“ Am 1. Juni 2013 ging das Projekt in die Startlöcher. Seitdem ist das Abendprogramm bestückt von facetten-reichen Angeboten. Neben einer Märchen-stunde, Talksendungen und Mitschnitten von Livekonzerten im oder außerhalb des Studios, bietet der kleine Sender zum Bei-spiel „High Scores“, eine Sendung, die sich mit Filmmusik beschäftigt. Auch Buchvor-stellungen und Kunstausstellungen sind Be-standteil des Programms. Tagsüber läuft Au-tomationsmusik, von Jazz bis Elektro.

„Wir sind Macher“Jeden vierten Sonntag im Monat lädt das Stu-dio zu einem Kaffeekränzchen in ihre Räum-lichkeiten auf der Aachener Straße 114 ein. Als ein „Tag der offenen Tür“ ist jeder an die-sem Nachmittag willkommen. „Der Star der

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Runde ist man natürlich, wenn man einen Kuchen mitbringt“, lächelt Karina, eigent-lich Schauspielerin, herzlich. Das Team ist so facettenreich wie ihre Musik. Von Künst-ler bis Anwalt sind die unterschiedlichsten Berufsfelder bei radio674 vertreten. Über 50 DJs waren bereits an der musikalischen Ver-führung beteiligt. Sie arbeiten ehrenamtlich für ihre Leidenschaft. Finanziert wird das Projekt durch großzügige Sponsoren, unter anderem der Club Bahnhof Ehrenfeld, oder Vereinsbeiträge. Mit ihrem Spenderverein organisiert der Sender auch Partys wie „674 meets CBE“ im August. Ihre Vorbilder? „Wir sind unser eigenes Vorbild“, verrät Karina, „wir wollen das perfekte Radio schaffen, mit dem wir optimal das größtmögliche Publi-kum erreichen können.“

Das gesetzte Ziel des Teams von radio674 ist es, einen 24/7 Programmablauf auf die Beine zu stellen und die Automationsmusik zu beschränken. Besonders für das Genre der Indie- und Rockmusik werden noch kreative Köpfe gesucht. Neugierige können über die Homepage www.674.fm/ oder unter www.fa-cebook.com/674.fm ihr Interesse bekunden, oder einfach mal selbst vorbeischauen. „Die können auch live strippen, wenn sie wollen“, lacht Karina in die Runde. Ein liberales Ra-dio – von jedermann – für jedermann, ein kommerziell unabhängiges Sprachrohr der Gesellschaft.

Auf SendungEs ist 20 Uhr, als null22eins zum Interview geladen wird. Die Abendsendung beginnt. Die Atmosphäre im Studio ist entspannt. Gut gelaunt beginnen Oliver/Mr. O (Immo-bilienkaufmann) und seine Kollegin Marina/Aquabel (Buchhändlerin) Musik aufzulegen. Ab und zu folgt eine Moderation, keine Wer-bung, keine Unterbrechungen. In ihren vier Wänden herrscht nur Raum und ein Herz für Musik.

TEXT /// Anne-sArAh Fiebig

FOTOs /// AnnA shApiro, eugen herber

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Die Idee der ökologischen Nachhaltigkeit ist schon richtig alt. Sie stammt aus der Forstwirtschaft vor über 150 Jahren. Nachhaltig wirtschaften macht in Bezug auf den Wald schon lange Sinn. In unseren Alltag ist das Thema besonders in Deutsch-land in den vergangenen Jahrzehnten ebenfalls gedrungen. Neben Recycling, Upcy-cling und aus Alt mach Neu, gibt es unzählige Wege, für sich und die nächsten Ge-nerationen verantwortlich zu handeln. Und für den eigenen Geldbeutel. Manchmal reichen schon ganz einfache Blicke zurück in nahliegende Zeiten, kombiniert mit einem modernen Wort dafür: Wir reparieren wieder! Im Dezember gemeinsam mit ein paar Porzern im Repair-Café des Bürgerzentrums Engelshof.

Die Welt des Kinos besteht aus großen Bildern voller Emotionen. Ob rührig, ans Herz gehend, ob gewaltig, beeindruckend oder schockierend: Filme haben die Kraft, Menschen zu bewegen. Diese Kunstform nutzt dabei den Mainstream ge-nauso wie die Nische. Als ein Nischenkino kann man das Off Broadway an der Zül-picher Straße bezeichnen. Und so verwundert es auch nicht, dass dort, inmitten des Uni-Viertels, ein wissenschaftlicher Ansatz das Kinopublikum begleitet. „Filmpsy-chologische Betrachtungen“ heißt die monatliche Filmreihe, bei der die Leinwand zum psychoanalytischen Stuhl wird. Winter ist Kinozeit. Daher betrachten wir die Experten der Psychoanalytische Arbeitsgemeinschaft Köln-Düsseldorf bei ihrem Kinovergnügen.

RepaRieRen mit Kaffee

#10ausblicK nachhaltig mal anders

Kino mal anders

emotionen betRachtet

Ausblick 51

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