1 DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur ......Einstrickmuster aus hauchdünnen Gold-...
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DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 04.02.2014 Redaktion: Karin Beindorff 19.15 – 20.00 Uhr
Allahs vergessene Kinder
Goranen im Kososvo
Von Elke Windisch
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Musik (an sehr vielen Stellen im gesamten Manuskrip t) / Atmo
O-Ton serbisch Bedrana Nuhi
Sprecherin 1
Das war immer etwas Besonderes. Viele Menschen waren da. Es war wunderschön.
Drei Tage haben wir gefeiert…
Wir haben unsere Festtracht angezogen. Es gibt eine speziell für Mädchen. Damit
zeigen wir uns den Leuten, knüpfen Bekanntschaften, lernen dabei auch junge Männer
kennen.
Autorin:
Bedrana Nuhis Augen glänzen, wenn sie vom Đurđev dan erzählt. Dem Frühlingsfest.
Vor fünfzehn Jahren war sie das letzte Mal selbst mit dabei. Heute ist ihr nicht nach
feiern zumute. Mit der Berliner S-Bahn schaffen Bedrana und ihr Ehemann, Sadat Nuhi,
ihre paar Habseligkeiten in eine neue Bleibe, ein Wohnheim. Wieder einmal.
Atmo : Goranische Live-Musik
Autorin:
Seit vierzehn Jahren ist die Familie Nuhi auf der Flucht. Sie sind Goranen. Slawische
Muslime aus dem Kosovo. Strandgut des Krieges von 1999.
Atmo : Musik geht weiter
Ansage:
Allahs vergessene Kinder
Goranen im Kosovo
Ein Feature von Elke Windisch
Atmo : Musik / Bach
Autorin
20. 000 Seelen zählt das Volk der Goranen noch. Herkunft wie Eigenname sind
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umstritten. Das serbische Góra bedeutet „Berg“, das bulgarische Gorá „Wald“.
Goranisch ähnelt beiden Sprachen. Gesprochen wird es nur noch im Grenzgebiet
zwischen Albanien, Mazedonien und dem Kosovo. Im Šar planina: Aus dichtem
Nadelwald am Fuß wachsen seine Berge in den Himmel. Das Gebiet um den 2.400 m
hohen Koritnik ist Nationalpark. Siebzehn Dörfer mit goranischer Bevölkerung kleben an
seinen Hängen wie Adlernester. Auch das Doppel-Dorf Rapča. Bedrana ist in Gornja
Rapča geboren, dem Oberdorf, ihr Mann Sadat in Donja Rapča, dem Unterdorf.
Atmo : Festwiese, Getümmel, Händler preist seine Waren an. Feuerholz hacken
Autorin
Ein Wildbach fließt durch beide Dörfer. Er entspringt am Koritnik. An seinem Fuß feiern
die Goranen Anfang Mai das Wiedererwachen der Natur. Auf dem Balkan seit grauer
Vorzeit das Fest der Feste. Den Menschen heilig, lange bevor sie Christen oder
Muslime wurden.
Machtlos gegen die Tradition, deuteten Imame und Popen das heidnische Frühlingsfest
um. Die der Serbisch-Orthodoxen Kirche zum Đurđev dan: dem Tag Heiligen Georg.
Unter diesem Namen feiern es aber auch die muslimischen Goranen.
Atmo geht weiter
Autorin
Als Bedrana und Sadat Nuhi vor 15 Jahren zum letzten Mal dabei waren, schlachteten
die Einwohner von Rapča eigene Schafe, geröstet am eigenen Spieß. Über der Glut
eigener Feuer. Jetzt delektieren sie sich an Fastfood vom Elektro-Grill fliegender
Händler. Die meisten führen im Nebensortiment Krimskrams made in China.
Nichts für Bedranas Vater: Bejtullah Murati. Ein hagerer kleiner Mann Anfang sechzig,
der lange in Deutschland gearbeitet hat. Das Ersparte genügte zu Hause für ein kleines
Glück. Für eine Autowerkstatt unten in Dragaš, der sechs Kilometer entfernten
Kreisstadt, und für ein Haus in Gornja Rapča.
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O-Ton serbisch Bejtullah Murati
Sprecher 1
Früher war das anders, früher haben wir hier drei Tage gefeiert. Mit richtiger Musik,
Tamburine. Sogar die Nacht durch. Das ist jetzt vorbei.
Das dauert jetzt bloß noch drei, vier Stunden und ist eher wie ein Jahrmarkt: laute Musik
aus der Konserve, kaum noch normale Gespräche. Meine Frau und ich gehen da nicht
mehr hin. Die Bräuche ändern sich, aber nicht nur sie. Nichts ist mehr so, wie es einmal
war.
Autorin
Vor dem Krieg 1999 lebten in Gornja Rapča fast 3.000 Menschen. Jetzt sind es gerade
noch knapp 500.
O-Ton serbisch Bejtullah Murati
Sprecher 1
Es sind nur noch Ältere hier. Die Jungen sind alle im Ausland. Jetzt zum Đurđev dan
sind sie zwar hier auf Besuch, aber kommen Sie mal in einem Monat wieder, dann ist
niemand mehr da. Hier geblieben sind nur die, die über sechzig sind. Und Gott sei Dank,
dass wenigstens die geblieben sind. Denn eigentlich kann man hier nicht existieren.
O-Ton serbisch Hanka und Bejtullah Murati
Sprecherin 2 Hanka
Töchter, Söhne, Schwiegertöchter, Schwiegersöhne, Enkel, alle sind sie weg
inzwischen.
Autorin
sagt Hanka, Bejtullahs Frau
Sprecher 1 Bejtullah :
Weg sind sie, dabei fehlen sie uns jetzt. Als wir jünger waren, haben wir sie nicht
gebraucht. Und jetzt sind sie nicht da. Leider. In unserem Dorf sind 80 Prozent über
sechzig. Und die meisten davon allein. Ganz allein. Es gibt hier kein Altenheim…. Wir
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haben zwar zwei Ärzte unten in Dragaš. Und die kommen auch, wenn man sie braucht.
Sogar zum Hausbesuch. Aber dann muss man ihnen Geld geben.
Sprecherin 2 Hanka :
Und viele haben kein Geld.
Sprecher 1 Bejtullah :
Sie haben kein Geld, auch wenn sie ein bisschen Rente bekommen. 160 Euro im
Monat, wer über 65 ist. Aber mindestens die Hälfte, vielleicht auch mehr, lebt ganz für
sich allein. Vor allem Frauen. Den meisten sind den die Männer weggestorben. Ganz
plötzlich. Heute siehst du ihn noch und morgen ist er tot. Frauen leben länger, sie sind
zäher. Aber dafür mutterseelenallein.
Im Krieg sind auch viele Jüngere gestorben. Wegen des übermächtigen Drucks.
Sprecherin 2 Hanka :
Ja, ja welche unter 50. Alte Männer gibt es kaum noch.
Atmo
Autorin
Verwaist sind die Orte, wo die erwachsenen Männer sich über die wichtigsten
Angelegenheiten ihres Dorfes berieten. Die Bank im Schatten vor der Moschee und das
Café gegenüber. Gähnende Leere auch im Gemischtwarenladen, den der Wirt nebenbei
betreibt…
Hohe Mauern aus Feldsteinen schützen die Häuser vor zudringlichen Blicken. Nur die
Tore geben Auskunft über den sozialen Status der Bewohner: Schmiedeeiserne wie das
von Bejtullah und Hanka Murati lassen auf bescheidenen Wohlstand schließen. Die
meisten Tore sind geschlossen. Laute dringen nur gedämpft nach außen. Und keiner
davon deutet auf ein Dorf hin.
Keine Kuh muht, kein Schaf blökt. Nicht einmal Hühner gackern in Rapča. Die Dörfler
schaffen es nicht mehr zu Ställen und Schobern auf den Bergwiesen des Koritnik.
Hüfthoher Schnee liegt im Winter auf dem Weg, Lawinen sausen bis in die Dörfer nieder
und begraben unter sich ganze Familien seit der Wald an den Hängen 2012
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niederbrannte. Der Wald sei Baulöwen aus der Hauptstadt Priština im Wege gewesen,
heißt es im Dorf. Ihr Business-Projekt: ein Einkaufszentrum. Mitten im Nationalpark. Wer
braucht das, fragen sich Bejtullah und Hanka Murati.
O-Töne serbisch Hanka und Bejtullah Murati
Sprecherin 2, Sprecher 1
Bejtullah :
Nicht nur bei uns, auch in den anderen Dörfern ist es schlimm. Zum Teil noch
schlimmer. Wenn das so weitergeht: in zwei, drei Genrationen wird hier niemand mehr
leben. Die Türen der Häuser werden mit Brettern vernagelt sein. Und vielleicht kommen
ein paar für zwei Wochen zum Urlaub. Denn wir haben hier vielleicht noch fünfzehn
junge Leute. Höchstens.
Hanka :
Eher weniger.
Bejtullah :
Nur meine Generation ist noch hier.
Atmo 6 : Schwere Schritte im Hof von Bejtullah, Spatzen, Schritte Holztreppe, Hanka
breitet ihre Aussteuer auf dem Wohnzimmertisch aus
Autorin:
So hatten sich die Muratis ihren Lebensabend nicht vorgestellt, als sie vor 30 Jahren mit
dem Hausbau begannen. Geräumiger Hof mit Blumenrabatten und Sommerküche.
Geflieste Wohnküche im Erdgeschoss, die gute Stube im ersten. Schlafzimmer im
zweiten und im dritten Stock, die Mansarde ausbaufähig. Die beiden Söhne sollten,
wenn sie erwachsen sind, mit ihren Familien einziehen.
Denn die Töchter gehen früh aus dem Haus. Ausgestattet mit allem, was eine Hausfrau
braucht: Kleidung, Bett- und Tischwäsche. Feinstes Leinenzeug. Selbst gesponnen und
gewebt. Mit Hohlsäumen und kunstvoll bestickt. Den Kopfputz zieren Goldmünzen,
sogar Wollstrümpfe für die Arbeit sind kleine Kunstwerke. Der Hingucker:
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Einstrickmuster aus hauchdünnen Gold- und Silberfäden, filigran wie Schneekristalle
unter dem Elektronenmikroskop.
O-Ton serbisch Hanka Murati
Sprecherin 2
Das ist die Tracht der Goraninnen. Daran arbeitet man jahrelang. Alle steuern etwas
dazu bei. Da wird gewebt, genäht gestickt. Stiefel, Strümpfe, Kragen. Das macht die
Braut für sich selbst, für ihre Schwiegermutter und die Schwägerinnen. Das wird alles im
Haus der Braut gemacht. Und am Morgen der Hochzeit in das Haus des Bräutigams
gebracht.
Jetzt macht das kaum noch jemand. Alle sind fort, tragen Jeans. Pluderhosen zieht
niemand mehr an.
Autorin:
Gerade achtzehn geworden, heiratete die Tochter Bedrana 1997 ihren Sadat.
O-Ton serbisch Hanka Murati
Sprecherin 2
Zwei Jahre lang haben wir uns auf die Hochzeit vorbereitet. Bei uns ist das so üblich,
dass ein Mädchen eine Aussteuer mitbekommt.
Lassen Sie Ihren Kaffee nicht kalt werden.
Atmo Kaffeetassen-Geklimper
Autorin:
Hanka hat ihn in den guten Mokkatassen serviert, die sie in der Schleiflack-Vitrine
aufbewahrt. Tassen, die schon vor den Eltern von Sadat standen, als die um Bedranas
Hand anhielten.
O-Ton serbisch Bejtullah Murati
Sprecher 1
1995 haben wir die Heirat verabredet. Auch das ist bei uns so üblich. Die Eltern geben
einander ihr Wort, wenn die Kinder sich lieben. Sie sind also zu uns gekommen….. Und
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dann haben wir sie verheiratet. 1997 war das. Um ehrlich zu sein: Ich war ein bisschen
dagegen. Denn sie war noch so jung. Aber was sollte ich machen? Schließlich hat sie
mich gefragt. Zum Glück. Sie hätte eines nachts fortgehen können, und das war es
dann. Es gibt solche Beispiele. Aber unsere Kinder sind zum Glück gut geraten.
Autorin:
Als gut geraten galt auch der Bräutigam. Sieben Jahre älter als Bedrana,
Verkehrspolizist, berufsbegleitend studierte Sadat noch Jura.
Jahre später und inzwischen in Berlin erinnern die beiden sich an jede Einzelheit ihres
Kennenlernens:
O-Ton serbisch Sadat Nuhi
Sprecher 2
Der Korso abends ist bei uns eine feste Einrichtung. Gut, unser Dorf ist nicht groß.
Damals waren wir zwei-dreitausend. Alle kennen sich. Aber beim Korso lernt sich die
Jugend besser kennen. Neunzig Prozent aller Ehen fangen bei uns mit dem Korso an…
Die Mädchen gehen dabei die Dorfstraße auf und ab, die jungen Männer stehen am
Rand und sehen zu. Und wenn einem eine gefällt, dann passt man sie irgendwann ab
und sagt ihr: Du gefällst mir mehr als alle anderen. Willst du mein Mädchen werden?
O-Ton serbisch Bedrana Nuhi
Sprecherin 1
Es hat dann zwei drei Jahre gedauert, bis ich mich getraut habe, meine Eltern zu fragen,
ob ich ihn heiraten darf.
Schrecklich war das! Ich habe mich so geniert. Wie bringe ich ihnen das bei. ... Sie
haben mir gesagt, du bist noch so jung, überleg dir das gut. Aber ich wollte. Und da
haben sie gesagt. Gut. Wenn das Dein Wille ist.
Autorin:
In den Goranen-Dörfern ging es noch friedlich zu, als Bedrana und Sadat 1997
heirateten. Doch in Priština brodelte es bereits. Bald darauf auch in Prizren, wo Sadat
den Verkehr regelte.
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Das Kosovo glich mehr und mehr einem Dampfkessel mit Überdruck. Der Uralt-Konflikt
der Ethnien eskalierte.
Atmo : Kosovo-Denkmal Vögel, Amsel, Wind
Autorin:
Hier begann er. Auf einer Hochebene nördlich von Priština. Dem Kosovo polje. Zu
Deutsch: Amselfeld.
Wiege eines serbischen Großreichs, vor dem im Mittelalter sogar Byzanz, damals
unangefochtene Führungmacht auf dem Balkan, zitterte. Bis die Osmanen kamen. 1389
standen sie auf dem Amselfeld und zwangen Serbenfürst Lazar zum Kampf.
Heute steht dort ein Denkmal. Kopie eines mittelalterlichen Wehrturms. Darauf in Stein
gemeißelt die Worte, mit denen Lazar seine Truppen in die Schlacht geschickt haben
soll.
Atmo : Schritte Besucher, Musik
O-Ton serbisch Besucher
Sprecher 3
Wer Serbe ist und serbischen Blutes
Von serbischem Schrot und serbischem Korn
Doch fernblieb dem Kampf um das Kosovo
Soll bleiben unfruchtbar gleich einem Stein
Nicht Sohn noch Tochter sollen ihm sein
Seiner Hände Saat soll niemals gedeih‘n
Weißes Brot ihn nicht nähren und nicht dunkler Wein
Fluch seiner Sippe ewig und immerdar.
Musik
Autorin:
Nach dem heutigen, dem gregorianischen Kalender, trafen die Heere am 28. Juni
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aufeinander. Am Vidov dan. Dem Tag des Heiligen Veit. Ihn halten die Serben für
besonders wundermächtig. Doch die Schlacht ging verloren. Der Balkan wurde für fast
500 Jahre türkisch.
Um die eroberten Gebiete auf Dauer halten zu können, siedelte die Hohe Pforte dort
massenhaft Muslime an. Im Kosovo vor allem Albaner.
Doch Tausende Serben pilgern seither am Vidov dan zum Schlachtfeld. Zur Kapelle mit
den Reliquien: Den Gebeinen der Gefallenen. Die Serbisch-Orthodoxe Kirche hatte sie
gleich nach der Schlacht heiliggesprochen und zu Märtyrern erklärt. Verblutet für den
rechten Glauben und die christliche Zivilisation. Ein Mythos, der die militärisch
Unterlegenen postum zu moralisch Überlegenen adeln sollte.
Nationalisten schmückten den Mythos mit immer neuen Details aus. Auch Slobodan
Milošević. Seit 1989 Präsident Jugoslawiens hielt er am Vidov dan des selben Jahres,
zum 600. Jahrestag der Schlacht, vor dem Denkmal seine großserbische Brandrede. Es
war das Totenlied für den Vielvölkerstaat Jugoslawien. Ethnische und religiöse Konflikte
eskalierten zum Bürgerkrieg. 1998 auch im Kosovo.
Die ethnischen Minderheiten standen dort auf Seiten Serbiens. Auch die muslimischen.
Angst trieb sie um. Angst vor einem Albaner-Staat, der sie zu Bürgern zweiter Klasse
degradieren würde. So, wie es die Albaner in Jugoslawien gewesen waren. Tito hatte
dem zu Serbien gehörenden Kosovo zwar Autonomie gewährt. Formell. Doch hinter den
Kulissen zog Belgrad dort weiter die Fäden. Der Grund: Latente
Sezessionsbestrebungen der albanischen Bevölkerungsmehrheit, deren Erfolg man
verhindern wollte. Bei der Vergabe von Ämtern und damit von Pfründen wurden deshalb
Serben und kleine Volksgruppen – darunter die Goranen - überproportional versorgt. Sie
dankten es mit Loyalität. Ihr Konflikt mit den Albanern spitzte sich dadurch zu. Die
Architekten der Teile-und-Herrsche-Politik in Belgrad schürten ihn zunächst noch. Er sei
steuerbar, glaubten sie. Als sie die Reißleine ziehen wollten, hatte er bereits eine
Eigendynamik entfaltet, die nicht mehr zu stoppen war.
Musik
Autorin
Sadat Nuhi hatte seine Frau Bedrana und Elmen, den Sohn, der ihnen inzwischen
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geboren worden war, schon im Sommer 1998 nach Belgrad gebracht, im Winter folgte
er ihnen.
O-Ton serbisch Sadat Nuhi,
Sprecher 2:
Ich konnte ja niemandem beweisen, dass ich keinem was getan hatte. Und dann kamen
Bewaffnete. Die wollten Rache. Wofür und warum, weiß ich bis heute nicht.
Autorin
Sadat trug als Verkehrspolizist nicht mal eine Waffe. Doch eine Behörde wie die Polizei
war eine staatliche Einrichtung. Aus Sicht der Albaner eine serbische. Eine feindliche,
sagt Sadats Schwiegervater Bejtullah Murati.
O-Ton serbisch Bejtullah Murati
Sprecher 1
Niemand geht einfach so aus der Gegend weg, wo er zu Hause ist. Aber, wenn du diese
Gegend hier verlässt, musst du wirklich einen ernsten Grund haben. Oder mehrere.
Sadat hat ja versucht hierzubleiben. Er ist zwei-drei Mal unten in Prizren gewesen. Aber
seine Stelle hatte da schon jemand anders. Sinnlos, hat er gesagt.
Atmo : Lastwagen parkt mit angelassenem Motor, Männerstimmen, Spatzen tschilpen
Autorin
Im Herbst 1998 kamen albanische Paramilitärs der UÇK - der sogenannten
Befreiungsarmee des Kosovo - ins Dorf und beschlagnahmten Häuser der
„Serbenfreunde“. Auch das der Familie Nuhi. Sadat drohten sie mit Blutrache. In der
Nacht holten er und andere „Kollaborateure“ die Skier aus dem Schuppen.
O-Ton serbisch Sadat Nuhi
Sprecher 2:
Wir sind dann über die Berge geflüchtet. Über 20 Stunden zu Fuß. Die Grenze zu
Serbien hatten die Albaner blockiert. Deshalb mussten wir über Mazedonien. Wir sind
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bis Skopje und dann weiter zur Grenze zwischen Mazedonien und Serbien. Immer zu
Fuß. Nur kleine Strecken mit dem Taxi.
Autorin:
Doch auch in Belgrad fanden sie keine Ruhe
O-Ton serbisch Sadat Nuhi
Sprecher 2:
Da gab es dann dauernd Proteste. Und darunter litten nicht nur die Albaner. Denn uns
haben sie auch für Albaner gehalten. Wegen unserer Namen. Obwohl ich auch für
Serbien gekämpft habe. Das hat sie aber nicht interessiert. Sie haben immer gesagt: Ihr
seid Schiptari.
Autorin:
Schiptari, das ist die serbische Verballhornung von skipitare, der Eigenbezeichnung der
Albaner. Und ein böses Schimpfwort.
O-Ton serbisch Sadat Nuhi
Sprecher 2:
Sie, die Serben, haben uns nie akzeptiert. Bis heute nicht.
Atmo
Autorin:
Im März 1999 bombardierte die NATO Belgrad, um Präsident Milošević in die Knie zu
zwingen. Im Juni rückten die ersten UNO-Blauhelme ins Kosovo ein. Kfor heißt die
NATO-geführte Schutztruppe. Mit Mandat der Vereinten Nationen sollte sie Albaner und
Serben zum Frieden zwingen.
Doch unter ihren Augen attackierte die albanische UÇK das Schlachtendenkmal auf
dem Amselfeld mit Sprengstoff und schwerer Artillerie. Auch das Morden in den
Goranen-Dörfern ging weiter. Als die Kfor-Soldaten das Gebiet sechs Wochen nach
Beginn der Mission unter ihre Kontrolle brachten, zählte allein das Dorf Rapča fünfzehn
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Tote, erzählt Bejtullah Murati.
O-Ton serbisch Bejtullah Murati
Sprecher 1
Wir konnten unser Dorf nicht schützen. Klar, manche hatten ein Jagdgewehr mit 15-20
Schuss Munition. Aber was wollen Sie damit gegen Bewaffnete ausrichten? Da haben
Sie keine Chance.
Und wohin sollten wir gehen? Es fuhren ja nicht mal Busse. Und selbst wenn: Wer kein
Albanisch konnte, wäre nicht mal bis Prizren gekommen. Und wenn irgendjemand auf
sie geschossen hätte, wenn auch nur mit Schrot, und das Ziel dabei um mehr als einen
Meter verfehlt hätte: Die Hölle wäre hier los gewesen.
Atmo : Wanduhr
O-Ton serbisch Bejtullah Murati
Sprecher 1
Wir konnten daher nur den Provokationen ausweichen. Denn die kamen Tag und Nacht.
Wir haben einfach still gehalten.
Welchen Sinn macht es, immer nur Opfer zu sein?
Atmo : Wanduhr
O-Ton serbisch Bejtullah Murati
Sprecher 1
Die Albaner hatten einen Plan. Wenn ich den recht durchschaut habe, dann wollten sie
uns aus unseren Häusern vertreiben. Nach Mazedonien. So für einen Monat in etwa,
damit sie hier dann tun können, was sie wollen. Die waren auf Revanche aus. Für sie
waren wir und die Serben ein und dasselbe.
Autorin:
Die ersten deutschen Blauhelme tauchten am 13. August 1999 in Rapča auf. Ein paar
Tage später auch ein türkisches UN-Kontingent, sagt Bejtullah Murati.
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O-Ton serbisch Bejtullah Murati
Sprecher 1
Den Deutschen war nicht ganz wohl dabei. Zumindest in der Nacht galt für sie offenbar:
Nichts sehen, nichts hören. Die Türken haben mehr Härte gegenüber den Albanern
gezeigt. Und die haben sich dann langsam zurückgezogen. Viel ausrichten im Ernstfall
hätten die UNO-Soldaten sowieso nicht können. Das waren insgesamt höchsten 50
Mann.
Für alle goranischen Dörfer.
Autorin:
Die Provokationen, sagt Bejtullah, hätten erst vor zwei Jahren aufgehört.
Atmo : Wohnheim Rogmitzstraße, Berlin
Autorin:
Tochter Bedrana und ihr Mann Sadat waren da schon in Deutschland, in Hamburg und
inzwischen zu viert. Noch in Belgrad war der zweite Sohn zur Welt gekommen: Eldin.
Inzwischen neun, spricht er akzentfrei Deutsch und ist Klassensprecher. Elmen, sein
großer Bruder, gewinnt Preise bei Mathe-Olympiaden, Vater Sadat besucht derweil
einen Deutschkurs.
O-Ton serbisch Sadat Nuhi
Sprecher 2
Damit ich hier nicht untätig herumsitze und grüble, arbeite ich in einer Kirche als
Hausmeister. Das mache ich unentgeltlich. Das hält man ja nicht aus, immer nur hier
herumzusitzen.
Autorin:
Hausmeister in einer Kirche? Als Muslim?
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O-Ton serbisch Sadat Nuhi
Sprecher 2
Auch eine Kirche ist für mich ein Gottes Haus. Es gibt sowieso nur einen Gott.
Autorin:
Bedrana lässt sich zur Altenpflegerin ausbilden. Im Praktikum ist sie so erfolgreich, dass
der Betreiber der Einrichtung sie sofort einstellen würde, wenn er dürfte. Darf aber nicht.
Ohne Asyl oder Duldung keine Arbeitserlaubnis.
Doch die Chancen für dauerhafte Papiere stehen schlecht. Als Familie Nuhi nach
Deutschland kam, liefen die Massen-Abschiebungen von Kosovo-Flüchtlingen schon.
Sadat und Bedrana stehen inzwischen auch auf der Liste.
O-Ton serbisch Sadat Nuhi
Sprecher 2
Ich wäre froh, wenn Deutschland uns Papiere geben würde, dass wir bleiben können.
Hier leben können.
Frei von Angst vor der Rückkehr ins Kosovo oder nach Serbien.
Atmo : Wohnheim Rogmitzstraße, Berlin
Autorin:
Die Familie hofft auf ein Wunder.
O-Ton serbisch Bedrana Nuhi
Sprecherin 1
Wenn wir doch endlich zur Ruhe kämen! Uns eine Wohnung suchen könnten. Wie
normale Menschen ausgehen könnten. Denn wir sind seit dreizehn, nein vierzehn
Jahren auf der Flucht und wissen nicht, was mit uns wird.
Kinder begreifen manche Dinge nicht. Auch unsere Probleme nicht. In Belgrad hatten
sie sich gerade eingewöhnt, Freunde gefunden. In Hamburg mussten sie sich dann
wieder eingewöhnen. In der Schule und im Kindergarten. Alles war in Ordnung, bis die
Polizei kam. Um halb vier morgens. Sie hat uns nach Berlin gebracht. Dort sollten wir
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die Prüfung des Asylantrags abwarten. Und hier sind wir jetzt auch schon zwei Jahre.
Autorin:
Mehrmals täglich telefonieren Bedranas Eltern in dem Goranen-Dorf mit den Kindern
und Enkeln im fernen Berlin.
Atmo Hanka und Bejtullah beim Skypen
Autorin:
Die Telefonate per Internet kosten zwölf Euro monatlich. Viel Geld hier in den Goranen-
Dörfern. Bejtullah und Hanka haben mailen und skypen gelernt.
Ein weiterer Sohn lebt in Hamburg, der andere in Österreich. Ihre Computer haben eine
Webcam. Die Großeltern wollen sehen wie die Enkel groß werden.
O-Ton Bejtullah Murati
Sprecher 1 :
Gott sei Dank, der Westen hat sie aufgenommen. Da kommen sie zurecht. Und das hat
sie gerettet.
Autorin:
Eldin, den jüngsten, kennen sie nur von Fotos. In Berlin, im Wohnheim, steht keine
Camera. Bedrana und Sadat spielen den Eltern zu Hause heile Welt vor. Kein Wort über
die drohende Abschiebung. Nichts zu den Selbstmordversuchen von Sadat, der sich für
einen Versager hält.
Atmo : Veranda Buzoli
Autorin
Versagt habe nicht Sadat, sondern Europa, sagt Džafer Buzoli, ein Rom. Der 32-Jährige
ist seit 2002 Beauftragter der Gesellschaft für bedrohte Völker im Kosovo. Und daher
auch oft in den Dörfern der Goranen.
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O-Ton serbisch Džafer Buzoli
Sprecher 3
Ich glaube, dass es mit der Repatriierung einzelner Familien ins Kosovo sehr
problematisch ist. Was wird mit denen, die irgendwie an den Kriegshandlungen beteiligt
waren? Mit denen, die gesundheitliche Probleme haben? Mit den Minderheiten.
Viele offizielle Politiker in Deutschland machen sich keine Gedanken um die
Minderheiten. Sie nehmen nicht einmal wahr, dass wir hier sind. Die machen Dienst
nach Vorschrift.
Wir haben mit ansehen müssen, wie Politiker aus Deutschland kamen und hier nur mit
den Offiziellen geredet haben. Sie wollten nicht einmal eine Roma-Familie besuchen,
um sich ein eigenes Bild zu machen. Von dem Leben, dass die Roma und andere
Minderheiten nach der Rückkehr hier erwartet. Von der Realität …
Und die ist so, dass viele hier nicht bleiben. Die gehen wieder zurück nach Europa. In
einen anderen Staat. Dann kommen sie wieder hierher und dann gehen sie wieder.
Atmo : Hof Bajramija, gedämpfte Unterhaltung
Autorin:
Auch Goranen werden es immer wieder versuchen.
Jasmin Bajramija ist Sadats Cousin, Vater dreier Kinder. Er ist inzwischen wieder zu
Hause, arbeitet als Lehrer, seine Frau putzt in der Schule. Zusammen verdienen sie rd.
500 Euro. Im Kosovo ein gutes Einkommen. Trotzdem spielt Jasmin Bajramija auf
Hochzeiten oder spaltet Holz. Er muss das Geld zurückzahlen, das er sich bei der
Verwandtschaft für die Flucht, den Schleuser, geborgt hat.
2002 versuchte er es allein nach Österreich. Ende 2006 mit Familie. Auf der Ladefläche
eines Lasters. 8000 Euro verlangten die Schlepper. „Los, runter“, hieß es zehn
Kilometer vor Klagenfurt in Kärnten. Bei Schneesturm und Minusgraden. Zwei Jahre
klagte Jasmin Bajramija sich mit seinem Asylbegehren durch die Instanzen. Vergeblich.
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O-Ton serbisch Jasmin Bajramija
Sprecher 4
Der Negativbescheid wurde so begründet: Die Bedingungen im Kosovo sind sehr gut.
Die Aussichten auf Beschäftigung sind gut. Die medizinische Versorgung ist gut, die
politische Situation so, dass es keine Sicherheitsprobleme gibt.
O-Ton serbisch Kamber Kamberi
Sprecher 3
Wenn ich sage, dass 60 Prozent keine Arbeit haben, dann ist das die reine Wahrheit.
Und von den Frauen haben vielleicht zwei, nein ein Prozent Arbeit. Goraninnen wie
Albanerinnen.
Atmo : Hof Kamberi: gedämpfte Unterhaltung, Kaffee wird serviert, Schritte entfernen
sich
Autorin:
Kamber Kamberi ist im Landratsamt in Dragaš Direktor für Jugend, Sport und Tourismus
und Chef des Dorfparlaments in Gornja Rapča
O-Ton serbisch Kamber Kamberi
Sprecher 3
Ich kenne kein Volk, das arbeitsamer ist. Und anständiger als die Goranen. Die
verhungern lieber als dass sie ihre Stromrechnung nicht bezahlen. Und wir sind
integrationswillig, offen für Fremdes
Wir werden aber nur dann eine Perspektive haben, wenn das Kosovo eine Perspektive
hat. Je näher wir Europa sind, desto besser unsere Perspektive.
Autorin
Blühende Landschaften auf der Brandrodung am Berg? Machbar in weniger als einem
Menschenalter, glaubt Kamberi.
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O-Ton serbisch Kamber Kamberi
Sprecher 3
Wir arbeiten an einem strategischen Vorhaben. Es geht dabei um Tourismus. Um
sanften, ökologischen und um Kulturtourismus. Das ist das langfristige Entwicklungsziel
für unsere Region. Unsere Chance. Ich hoffe, dass wir etwas daraus machen können.
Atmo : Dorf am Mittag: Stimmengewirr, Hoftor wird geöffnet und wieder geschlossen,
Haustür knarrt
Autorin:
Als Schweiz des westlichen Balkans verkauft sich das Šar planina im Westen.
Investoren wagten sich bisher nur auf die mazedonische Seite des Gebirges. Kamberis
Verhandlungen mit der UNDP, der UN-Unterorganisation für Entwicklung, treten auf der
Stelle. Und viele im Dorf stehen dem Vorhaben und Europas Krisenmanagement für die
Region eher skeptisch gegenüber. Auch Našit Nuhi, der Bruder von Sadat.
O-Ton serbisch Našit Nuhi
Sprecher 4
Das Verhältnis zwischen den beiden großen Völkern auf dem Balkan – zwischen Serben
und Albanern – ist nicht geregelt. Und das wird in der Zukunft zu neuen Konflikten
führen. Denn das Problem liegt auf der Hand: Teilung des Territoriums. Derzeit ist keiner
mit dem zufrieden, was er bekommen hat. Beider Ansprüche sind größer. Das ist
Zündstoff. Ob der Konflikt erneut eskaliert, wird auch vom Verhalten der Großmächte
abhängen. Wenn sie mal für den einen, mal für den anderen Partei ergreifen, kommt es
zu neuen Auseinandersetzungen. Zum Krieg.
Musik
O-Ton serbisch Našit Nuhi
Sprecher 4
Obwohl wir die gleichen Interessen hatten, haben die Serben kein Verständnis dafür,
dass wir Muslime sind. Und hier im Kosovo haben wir mit den Albanern das Problem,
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dass wir ihre Sprache nicht sprechen. Wenn wir nach Serbien gehen, halten die uns dort
für Albaner. Und hier im Kosovo werfen die Albaner uns mit den Serben in einen Topf.
Musik
Autorin:
Našit Nuhi spürt es täglich, sagt er. Er ist einer der wenigen Goranen, die Arbeit bei
einer staatlichen Behörde gefunden haben. Unten in Prizren, wo sein Bruder Sadat vor
dem Krieg Verkehrspolizist war, nimmt er jetzt Fahrprüfungen ab. Die meisten Kollegen
sind Albaner, wenige Serben. Našit hält zu beiden Distanz.
O-Ton serbisch Našit Nuhi
Sprecher 4
Ich verstehe, dass sie ihre eigenen Probleme haben und die lösen müssen. Aber sie
begreifen nicht, dass sie gegenüber den Minderheiten Verpflichtungen haben. Und dass
auch für sie selbst kein demokratischer Fortschritt möglich ist, solange sie uns als Volk
nicht achten und unsere Rechte als Minderheit.
Die serbische Führung begreift wahrscheinlich, dass wir hier ihre Interessen vertreten
und versucht, uns ein bisschen entgegenzukommen. Aber die einfachen Serben nicht.
Denn ihnen hat man immer eingetrichtert, dass alles, was hier in dieser Region
muslimisch ist, mit der osmanischen Fremdherrschaft zu tun hat und deswegen
erniedrigt und missachtet werden muss.
Atmo : Zimmer, Gemurmel im Hintergrund
O-Ton serbisch Hatim Alizoti
Sprecher 3
Ein Stein ist nur dort schwer, wo er liegt, sagt ein goranisches Sprichwort. Und einen
Stein wegzuschieben, ist sehr schwer. Auch ein Gorane tut sich sehr schwer damit, von
hier wegzugehen. Hat er sich aber einmal dazu durchgerungen, tut er sich mit der
Rückkehr genau so schwer.
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Autorin:
Hatim Alizoti ist Lehrer an der Dorfschule. Der gleichen, in der er selbst vor fünfzig
Jahren zusammen mit Bedranas Eltern Lesen und Schreiben lernte. Der Lehrer ist der
einzige, dem Bejtullah und Hanka Murati ihre Sorgen um die Zukunft der Enkel
anvertrauen.
O-Töne serbisch Bejtullah und Hanka Murati
Sprecher 1, Sprecherin 2
Bejtullah:
Elmen und Eldin werden nicht hier leben wollen. Sie werden sich im Ausland eine
Wohnung kaufen. Sie werden dort eine Familie gründen. Hierher zurück wird es sie nicht
ziehen.
Hanka:
Es zieht sie schon.
Bejtullah:
Ja, ja , es zieht sie. Aber sie können nicht zurück.
Hanka:
Unsere Enkel sprechen deutsch. Elmen, Eldin und die Enkel von unseren Söhnen. Eldin
hat Goranisch vergessen.
Bejtullah:
Ja, vergessen.
Und Elmen, was soll aus dem hier werden? Wie soll er hier weiterkommen? Unsere
Schule hat doch nur vier Klassen…
Er müsste nach Prizren fahren. Da gibt es eine weiterführende Schule. Aber das ist eine
private. Irgendwas mit Business. Mit Englisch- und Türkisch-Unterricht. Er würde also
automatisch die Schule abbrechen müssen.
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Atmo : Markt Prizren, Stimmen fröhlicher türkischer Händler dominieren
Autorin:
Eltern und Großeltern könnten das Schulgeld nicht aufbringen. Für die Kinder der
türkischen Minderheit – in Prizren ein Drittel der Bevölkerung – zahlt notfalls die
Regierung in Ankara. Die Nachkommen jener, die blieben, als das Osmanische Reich
sich im 19. Jahrhundert vom Balkan zurückziehen musste, spielen eine Schlüsselrolle in
den Neo-Osmanismus-Plänen des türkischen Premier Recep Tayyip Erdoğan. Das Ziel:
Wiederherstellung des türkischen Einflusses in Südosteuropa. Mit friedlichen, mit
wirtschaftlichen Mitteln.
Die einstige Schutzmacht der Goranen dagegen befindet sich auf dem Rückzug.
O-Ton serbisch Fehim Sali
Sprecher 4
Serbien stand unter großem Druck, hat aber das Kosovo verraten.
Musik
Autorin:
Fehim Sali, der zweite Lehrer an der Dorfschule in Rapča, spielt auf das
Normalisierungsabkommen mit dem Kosovo an, zu dem die EU Serbien im Mai 2013
drängte. Als Gegenleistung für den Beginn von Verhandlungen über den EU-Beitritt
muss Belgrad alle Institutionen im Kosovo schließen. Zuschüsse für Bildung und
Gesundheit, wie sie die Serben-Exklave im Norden und die anderen Minderheiten bisher
bekamen, fallen dann auch weg.
Das werde eine neue Fluchtwelle in den Goranen-Dörfern auslösen, fürchtet Fehim Sali.
O-Ton serbisch Fehim Sali
Sprecher 4
Als ich 1999 angefangen habe, hier zu arbeiten, waren in jeder Klasse noch fünfzehn
bis achtzehn Schüler. Jetzt sind es zwei oder drei. Höchstens. In diesem Jahr werde ich
zum ersten Mal keine dritte Klasse haben…
23
Autorin
Auch Lehrer-Kollege Hatim Alizoti ist pessimistisch.
O-Ton serbisch Hatim Alizoti
Sprecher 3
Eines Tages wird es uns nicht mehr geben. Und dieser Berg wird verödet sein.
O-Ton serbisch Fehim Sali
Sprecher 4
Wir haben nichts gegen die Albaner oder gegen andere Völker. Aber ich will wie ein
Mensch leben. Gott hat mich dazu geschaffen, dass ich hier in diesem Gebiet lebe. Ich
will hier bleiben. Ich will nicht ins Ausland. …Wir wollen niemandem etwas schuldig sein
und nur hier anständig leben. In Sicherheit. Und die gibt es für uns nicht. Null… Jetzt
versucht man auch noch, uns den Mund zu stopfen.
Ich habe eine Zeitung in Goranisch herausgebracht. Aber nach der vierten Nummer
musste ich die einstellen. Obwohl da überhaupt nichts von Politik drin stand. Man hat
mir gesagt: Junge, wenn du hier weiter leben willst, mach den Laden zu.
Atmo
Autorin:
Wer ist „man“, will ich wissen. Fehim Sali lässt sich die Antwort erst nach mehrmaligem
Nachfragen und mit Angstschweiß auf der Stirn entlocken.
O-Ton serbisch Fehim Sali
Sprecher 4
Die Regierung des Kosovo. Genauer gesagt: Die Kanzlei für nationale Minderheiten.
Leute, die eigentlich die Goranen schützen müssten… und gegen uns arbeiten. Das
weiß jeder hier am Berg. Aber wenn Sie die Leute fragen, wird niemand den Mut haben,
Ihnen dazu ein Interview zu geben.
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Atmo : Telefon, niemand nimmt den Hörer ab
Autorin
Auch die Staatskanzlei kniff. Zwar hatte mir die zuständige Beamtin ein Gespräch fest
zugesagt. Doch am vereinbarten Tag war sie nicht erreichbar. Sie sei auf einer
Beerdigung gewesen, ließ sie später ausrichten.
Atmo : Ruf des Muezzin. Mit Vogelzwitscher, Bach und Hundegebell
Autorin
Weil die Politik versagt, suchen viele ihr Heil in der Religion. Im Islam. In einer radikalen
Spielart, wie sie in den Goranen-Dörfern bisher unbekannt war, sagt Bejtullah Murati.
O-Ton serbisch Bejtullah Murati
Sprecher 1
Das hat vor vier-fünf Jahren angefangen. Wir nennen sie Wahabiten. Ob sie wirklich
welche sind, wer weiß. Lange Haare und Bärte haben sie jedenfalls. So um die dreißig
Prozent. Sie feiern auch den Georgstag nicht mehr. So, als ob das nicht unser Fest
wäre. Es heißt jetzt, dass sei ein serbisches Fest. Ich bin 62 und ich habe das nie so
gesehen. Auch mein Vater nicht, soweit ich mich erinnern kann. Aber die spielen sich
jetzt als ganz fromme Muslime auf. Und machen viel Geschrei darum. Wer dahinter
steckt und warum, weiß Gott.
Atmo geht weiter. Muezzin
Autorin
Wann genau die Goranen zum Islam konvertierten und warum, ist umstritten. Es sei vor
sehr, sehr langer Zeit gewesen sagt der Imam: Haridžin Sedinić.
O-Ton Haridschin Sedinic
Sprecher 3
Das hier ist bereits die dritte Moschee in unserem Dorf. Die erste war nur aus rohen
25
Holzbalken, die zweite aus Feldsteinen und die dritte jetzt aus hartem Material, aus
Beton.
Atmo : Moschee innen
Autorin:
Sedinić ist 59, er ruft die Gläubigen in Gornja Rapča seit 17 Jahren zum Gebet und hat
noch im alten Jugoslawien seine Ausbildung erhalten. Im bosnischen Sarajevo. Kollege
und Nachfolger Fader Maloki, 26, hat schon in Saudi-Arabien und in Ägypten studiert.
O-Ton serbisch Fader Maloki
Sprecher 4
Religion ist kein Gespenst mehr, sie wird immer populärer, vor allem bei der Jugend.
Und unsere Moschee voller und voller. Die Menschen haben immer und zu allen Zeiten
eine Religion gebraucht. etwas, woran sie sich halten können. Auch der Kommunismus
war eigentlich eine Art Religion
Die Frage ist jetzt natürlich, inwieweit der Islam uns hilft, unsere nationale Identität zu
bewahren. Wir Goranen haben das seltene Glück, eine religiös homogene Nation zu
sein. Wir sind alle – fast alle – Muslime. In Ägypten und den arabischen Ländern ist das
anders. Der Islam spielt daher für unsere nationale Identität eine große Rolle. Nicht die
einzige, aber eine sehr wichtige.
Atmo: Moschee außen: Muezzin, Bach, Hund bellt, Vögel zwitschern
Autorin:
Eine wichtige Rolle. Für die nationale Emanzipiation? Oder für die Assimilierung? Bei
immer mehr Goranen steht im Ausweis in der Spalte „Volkszugehörigkeit“ Bosniake. Im
Osmanischen Reich Sammelbegriff für slawische Muslime auf dem Balkan und jetzt von
der Kosovo-Regierung recycelt. Wozu, fragen sich viele Goranen. Im Kosovo sind sie
die einzigen slawischen Muslime und schon jetzt eine der kleinsten Volksgruppen.
Gespalten können sie ihre Interessen noch schlechter durchsetzen als bisher.
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Doch Mahner finden kein Gehör. Bosniaken, sagt Lehrer Fehim Sali, hätten im
öffentlichen Dienst und bei der Vergabe von Staatsaufträgen deutlich bessere Karten als
Goranen. Das Verhängnis werde daher seinen Lauf nehmen.
O-Ton serbisch Fehim Sali
Sprecher 4
(Schreit:) Wir werden nicht mit Getöse verschwinden. Wir gehen leise und still. Aber
stilles Wasser höhlt die Ufer aus…
Absage:
Allahs vergessene Kinder
Goranen im Kosovo
Ein Feature von Elke Windisch
Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2014.
Es sprachen: An Kuohn, Therese Hämer, Susanne Flury, Hans-Gerd Kilbinger, Jochen
Langner, Valentin Stroh und Bruno Winzen
Ton und Technik: Ernst Hartmann und Jutta Stein
Regie: Matthias Kapohl
Redaktion: Karin Beindorff