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Klinische Toxikologie II Evidence Based Medicine
SETAC Halle, 15.07.2009
Herbert DeselGiftinformationszentrum-Nord der Länder Bremen, Hamburg,
Niedersachsen und Schleswig-Holstein
Universitätsmedizin Göttingen - Georg-August-Universität
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Wissenschaftliche Grundlagen der Klinischen Toxikologie
Klinische Toxikologie ist sowohl ein Teilgebiet der Toxikologie
als auch ein Teilgebiet der klinischen Medizin.
Sie orientiert sich an Regeln, die für die gesamte klinische Medizin gelten
bei der Auswahl geeigneter Diagnose- und Therapieverfahren.
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Beispiel:
Giftentfernung vor Resorption nach
oraler Exposition (Primäre Giftentfernung)
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17 g Clomipramin oral
30j. Patientin mit depressiver Erkrankung Aufnahme in Klinik 14 Std. nach Einnahme leichte Bewusstseinstrübung Empfehlung GIZ-Nord: keine Giftentfernung
Herz-Kreislauf-Überwachung, NaHCO3
dennoch Magenspülung ca. 2 Std. späterOberarzt-Anweisung
ca. 10 g Tabletten, z. T. kaum verändert komplikationsloser Verlauf
GIZ-Nord-Fallbericht (1996):
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17 g Clomipramin oral
Bewertung: verzögerte Resorption durch stoffspezifische (antimuskarinerge) Wirkung
Die Giftentfernungsmaßnahme war: wirksam ! erfolgreich riskant ?
einzelner Patient alle Patienten
GIZ-Nord-Fallbericht 1 (1996):
- Wer heilt hat recht!
?
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Primäre Giftentfernung nach oraler Gift-AufnahmeMagenentleerung
Standardtherapie über 10 Jahrhunderte an Beinen aufhängen (n. Lewin 1920)
Auslösen von Erbrechen mechanisch pharmakologisch
Magenspülung
Gabe von Aktivkohle in wässriger Suspension
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Primäre Giftentfernung ist sehr oft wirksam
optische Kontrolle möglich wurde als immer sinnvoll erachtet,
solange noch Gift im Magen vermutet werden kann im Zweifel immer „rechtliche Indikation“ „pädagogische Indikation“
war Routinetherapie bei > 90 % aller oralen Ingestionsfälle
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GIZ-Nord-Fallbericht 2:
Acetylsalicylsäure-VergiftungPat. 61 J. männlich: Einlieferung in Klinik 10 Std. nach Aufnahme von
100 g Acetylsalicylsäure deutliche Bewusstseinseinschränkung, Schwitzen,
Hyperventilation Labor: Zeichen einer schweren metabolischen
Azidose (pH 7,20, normal: 7,35-7,45, BE -16) Empfehlung GIZ-Nord: Herz-Kreislauf-
Überwachung, NaHCO3-Gabe, keine Magenentleerung, Salicylat-Bestimmung im Serum
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GIZ-Nord-Fallbericht 2:
100 g Acetylsalicylsäure
Salicylatspiegel i.S. 12 h p.i.: 487 mg/l(therapeutischer Bereich bis 50 mg/l 300 mg/l)
Salicylatspiegel i.S. 15 h p.i.: 800 mg/l Salicylatspiegel i.S. 18 h p.i.: 1061 mg/l zur Vorbereitung einer Magenspülung
wurde Pat. intubiert Herzstillstand
Reanimation erfolglos: †
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GIZ-Nord-Studie zu Kindervergiftungen
Unter 100.000 Expositionsfällen bei Kindern in 7 Jahren (1996-2002)
42 lebensbedrohliche Vergiftungen darunter:
3 Fälle von Aspirationspneumonie, verursacht durch Giftentfernungsmaßnahmen
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Aspirationspneumonien im Kindesalter
Erbrechen nach Kohlegabe wegen Verschluckens einer Clenbuterol-Inhalationslösung (zuvor symptomlos, therapeutische Dosis)
Erbrechen nach Kohlegabe wegen Verschluckens unbekannter Dosis Carbamazepin(zuvor zunehmend eintrübend)
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Aspirationspneumonie im Kindesalter durch
Giftentfernung induziertes Erbrechen nach
intramuskulärer Verabreichung von Apomorphin wegen Verschluckens von paraffinischem Lampenöl(zuvor symptomlos)
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PGE (insb. Magenentleerung) ist sehr oft wirksam
optische Kontrolle möglich wurde als immer sinnvoll erachtet,
solange noch Gift im Magen vermutet werden kann im Zweifel immer „rechtliche Indikation“ „pädagogische Indikation“
verursacht schwere unerwünschte Arzneimittelwirkungen
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Zurück zu den wissenschaftlichen Grundlagen Klinischer Medizin: Klassische Methoden klinischer
Entscheidungsfindung bewährte Methoden, mit denen viel
Erfahrung besteht, sind geeigneter als neue Methoden besser, mit denen keine Erfahrung vorliegt (... das haben wir schon immer so gemacht ...) Therapie-“Schulen“ (deutsches „Chefarzt-System“) „Wer heilt hat recht“
Im Zweifelsfall ist etwas tun besser als nichts tun (... kein Risiko unterlassener Hilfeleistung)
kausal ist besser als symptomorientiert ...
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Klassische Methoden klinischer Entscheidungsfindung
„Kausal ist besser als symptomorientiert“: Es gibt ein plausibles theoretisches Konzept
(Beeinflussung einer Fehlfunktion auf physiologischer, zellulärer oder molekularer Ebene)
Es gibt direkte klinische Hinweise auf Wirksamkeit
große historische Bedeutung für wissenschaftliche Medizin!
Paradebeispiel Erbrechen Auslösen nach oraler Exposition
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Wissenschafts-basierte Methode klinischer Entscheidungsfindung
(Quantitative) Nutzen-Risiko-Abwägung:
Wann nutzt eine Behandlung der Gesamtheit der Patienten mehr als sie schadet?
gemessen durch wissenschaftliche klinische Studien (Studien an Patienten) hoher Qualität ...
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Qualität Klinischer Studien I
„Endpunkte“ (Messparameter): Messung von 1. Letalität und Morbidität
(valide E., Studien hoher Qualität)
2. Surrogatparametern (z.B. entfernten Tablettenzahlen, Studien niedriger Qualität)
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„Goldstandard“ des Klinischen Studiendesigns: Randomisierte kontrollierte
Studie (RCT, randomized controlled trial):
Kontrollgruppe (unbehandelt, Placebo-Behandlung oder Standardbehandlung)
und Behandlungsgruppe streng zufällige Zuteilung von
Patienten / Probanden Arzneimittelstudien: oft Verblindung
(Arzt & Patient)
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Qualität Klinischer Studien II(Cochrane Collaboration)
Stufe 1: Systematische Überblicksarbeit (Meta-Analysen) über zahlreiche randomisiert-kontrollierte Studien
Stufe 2: randomisierte, kontrollierte Studie Stufe 3: methodisch gut konzipierte Studie,
ohne randomisierte Gruppenzuweisung Stufe 4a: klinischer Bericht (Kasuistik) Stufe 4b: Meinung von respektierten Experten,
basierend auf klinischen Erfahrungswerten, oder Berichte von Experten-Komitees
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Konzept der beweis-gestützen Medizin
Bewertung aller Studienergebnisse unter Berücksichtigung der Studienqualität
als Grundlagen zur die Erarbeitung von Behandlungsrichtlinien
Evidence Based Medicine (EBM)
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Randomisierte Studie zur Magenspülung
überraschend hohe Rate pulmonaler Komplikationen nach Magenspülungen
Komplikationen bei symptomatischen Vergiftungspatienten (Merigian et al . 1990)
0
4
8
12
16
Aspirationspneum...LungenödemeHypotonien Arrhythmien Krampfanfälle
Anteil (%,
Gesamtzahl = 94 + 112
)Magenentleerung + Kohle
nur Kohle
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Ergebnisse von 3 Studien (ca. 1000 Pat., um 1990)
Ein klinischer Vorteil von aktiven Magenentleerungsmaßnahmen für den Patienten war in keiner der Studien zu sichern
Magenspülung führte in bedeutsamer Häufigkeit zu vorwiegend pulmonalen Komplikationen
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Bewertung der Studien durch Klinisch-Toxikologische
Fachgesellschaften EAPCCT und AACT
Verabschiedung und Publikation von "Position Papers" zu den wichtigsten Verfahren der primären und sekundären Giftentfernung
Verbreitung (und Umsetzung) der Bewertungen vorwiegend durch Giftinformationszentren
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EAPCCT/AACT Allgemeine Einschätzung
Die wissenschaftliche Datenlage ist für keine Giftentfernungsmaßnahme ausreichend, um deren Wert anhand verlässlicher Kriterien (kontrollierte klinische Studien) sicher beurteilen zu können.
Alle Maßnahmen dürfen daher keine Routinemaßnahme (mehr) darstellen, sondern Vorteil und Risiko müssen in jedem Einzelfall bewertet werden.
bei Zweifel/Unkenntnis: keine Giftentfernung!
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Empfehlungen im Detail
Erbrechen nur bei toxischer Dosis innerhalb von 60 min nach Ingestion
Magenspülung nur bei lebensbedrohlicher Dosis innerhalb von 60 min nach Ingestion
Aktivkohle bei toxischer Dosis innerhalb von 60 min nach Ingestion
unter Beachtung der vielfältigen Kontraindikationen
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Spezifische Probleme der Klinischen Toxikologie
Klinische Studien sind nur methodisch sehr aufwändig durchzuführen
fast immer Notfallbehandlungen Kriterien zur Erzielung aussagekräftiger
Befunde müssen streng gestellt werdennur eine oder wenige Noxennur bestimmte Dosisbereicheu. a.
weitere methodische Probleme (Einwilligung, oft viele Zentren nötig)
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Qualität Klinischer Studien II Stufe 1: Systematische Überblicksarbeiten
(Meta-Analysen) über zahlreiche randomisiert-kontrollierte Studien.
Stufe 2: randomisierte, kontrollierte Studie Stufe 3: methodisch gut konzipierten Studien,
ohne randomisierte Gruppenzuweisung. Stufe 4a: klinische Berichte (Kasuistiken). Stufe 4b: Meinung respektierter Experten,
basierend auf klinischen Erfahrungswerten, oder Berichte von Experten-Komitees.
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Kasuistiken durch Nachverfolgung von Einzelfällen
durch GIZSammlung von Fallbeschreibungen bei
ausgewählten Beratungsfällen Mono-Intoxikationen mit klar bekannter
Dosisbesonders bei neuen Substanzen
per Rückruf (oft mehrfach) per schriftlichem Behandlungsbericht führt zum Überblick über spezifische
Vergiftungen (qualitativ: was passiert? quantitativ: bei welcher Dosis)
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Zusammenfassung
Die moderne klinische Medizin orientiert sich bei der Entscheidung für eine Therapieoption an Ergebnissen hochwertiger klinischer Studien (Evidence Based Medicine)
Nutzen und Risiken müssen abgewogen werden
Giftentfernungsmaßnahmen werden heute nur noch sehr selten angewandt