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1. SITZUNG AM 12.04.2010

Probleme der italienischen Etymologie

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Themenübersicht

WISSENSCHAFTSGESCHICHTE 19.04.10 Die vorwissenschaftliche Etymologie

(Antike bis 18. Jahrhundert) 26.04.10 Die Etablierung der Etymologie als

wissenschaftliche Disziplin im 19. Jahrhundert

03.05.10 Die italienische Etymologie des 20. Jahrhunderts

10.05.10 Die italienische Etymologie des 20. und 21. Jahrhunderts

17.05.10 Etymologische Großprojekte – Max Pfisters Lessico etimologico italiano

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Themenübersicht

FALLSTUDIEN 31.05.10 Die Entstehung lexikalischer Einheiten: die

Wortbildung und semantische Begriffsschöpfung

07.06.10 Die Entstehung lexikalischer Einheiten: die Entlehnung

14.06.10 Vorrömischer Substrateinfluss im Italienischen sowie in den italienischen Dialekten

21.06.10 Das Problem der Dubletten: lateinischer Erb- und Lehnwortschatz

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Themenübersicht

FALLSTUDIEN 28.06.10 Germanischer Superstrateinfluss

im Italienischen 05.07.10 Der Einfluss von Kulturadstraten

im ItalienischenLEISTUNGSKONTROLLE (je nach

Studiengang) 12.07.10 Allgemeine Wiederholung 19.07.10 Abschlussklausur

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Themenübersicht

HEUTIGE SITZUNG 12.04.10 Allgemeine Einführung – Faktoren des

etymologischen Arbeitens(1) Der Etymologiebegriff(2) Aufgabe der Etymologie(3) Voraussetzungen des etymologischen Arbeitens

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Der Etymologiebegriff6

Die Etymologie (gr. ἔτυμος étymos ‚wahrhaftig‘, ‚wirklich‘, ‚echt‘ und -logie) wird als Wissenschaftszweig der historischen Linguistik zugeordnet.

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DIE METHODIK ETYMOLOGISCHER FORSCHUNG ANHAND GESAMTROMANISCHER BEISPIELE

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Allgemeine Einleitung

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Aufgaben und Voraussetzungen

Der Wortschatz einer Sprache setzt sich aus drei Teilen zusammen Erbwörter Innersprachliche Derivate (Ableitungen und

Zusammensetzungen) Lehnwörter

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Aufgabe der Etymologie…

Bestimmung der drei Elemente einer gegebenen Sprache

Vergleich der Erbwörter mit den Wörtern verwandter Sprachen und Dialekte

Zurückverfolgung der formalen und inhaltlichen Entwicklung bis in die Ausgangssprache

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Aufgabe der Etymologie…

Identifizierung von Ableitungen hinsichtlich ihrer Bestandteile Ihres Wortstammes und der Formantien (Suffixe, Präfixe)

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Aufgabe der Etymologie…

Erkennung und Beurteilung von Lehnwörtern nach phonetischen und chronologischen Gesichtspunkten

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Aufgabe der Etymologie…

Für die Beurteilung soziokultureller Hintergründe, welche die Entlehnung ermöglichten, ist es das Alter von Lehnwörtern zu bestimmen.

Hinweise ergeben die Erstbelege oder auch phonetische Merkmale des Lehnwortes

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Die Etymologie: Kunst oder Wissenschaft?

Leo Spitzer [1925]: „Finde Etymologien, suche sie nicht! […]. Und wie das Kunstwerk, so trägt jede etymologische Arbeit ihre Eigengesetzlichkeit in sich – es gibt kein Schema, das sich in allen Fällen treffsicher anwenden läßt. Aus dem Grundsatz ‚jedes Wort hat seine eigene Geschichte‘ folgt der andere: ‚jede wortgeschichtliche Untersuchung ist auf eigene Art zu führen‘. Die etymologische Untersuchung muß sich elastisch ihrem Gegenstand anpassen. Jeder Rigorismus ist vin Übel.“

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Bedingungen etymologischer Forschung

1. Umfangreiche Materialsammlung, die im Idealfall alle erreichbaren Belege umfasst. Alle historisch fassbaren Dokumente der

Schriftsprachen und der Dialekte Nur auf einer breiten Materialbasis ist in Zeit und

Raum die Vitalität eines Wortes feststellbar

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Bedingungen etymologischer Forschung

2. Genaue Kenntnis der lautlichen Entwicklungen in den Schriftsprachen wie auch in den Dialekten, die ermöglicht, Wortstamm und Wortbildungselemente zu erkennen

und zu interpretieren und Erbwörter von Lehnwörtern zu trennen

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Bedingungen etymologischer Forschung

3. Sachkenntnisse und Vorstellungskraft, die erlauben, von der Wortdefinition aus die Verbindung mit der außersprachlichen Realität herzustellen. Dabei sind vor allem bei Bezeichnungen von Geräten,

Techniken, Tieren und Pflanzen Fachkenntnisse erforderlich, auch um eventuell vorkommende Metaphern oder Übertragungen interpretieren zu können.

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Bedingungen etymologischer Forschung

4. Verschiedendlich hilft erst eine vertiefte Kenntnis der untersuchten Sprache oder des betroffenen Dialekts, ein Lexem in seinen soziokulturellen Kontext einzuordnen und soziolinguistische Komponenten oder konnotative Elemente zu erfassen.

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Bedingungen etymologischer Forschung

5. Ohne Findigkeit und Phantasie können keine Etymologien entdeckt werden. Viele etymologische Wörterbücher sind individuelle

Einzelleistungen Max Leopold Wager hatte große Bedenken gegenüber

Teamarbeit

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Wichtige Tätigkeiten etymologischer Forschung

Datierung und Feststellen der ErstbelegeÜberprüfen der Erstbelege in ihrem Kontext

und Eruierung ihrer BedeutungSprachgeographische Interpretation

dialektaler Formen

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Faktoren wissenschaftlicher Etymologie

Lautliche, morphologische und morphosyntaktische Gegebenheiten Lautliche Entwicklung

Diez [1853]: „Im gegensatze zur unkritischen methode unterwirft sich die kritische schlechthin den von der lautlehre aufgefundenen principien und regeln, ohne einen fußbreit davon abzugehen, sofern nicht klare thatsächliche ausnahmen dazu nöthigen…“

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Die Rekonstruktion der romanischen Ursprache

Meyer-Lübke: Die lateinische Sprache [1888]Hugo Schuchardt, Vokalismus des

Vulgärlateins [1866-1868] Seit dem 1. Jh. n. Chr. Indizien für einen Wandel des

lat. Vokalismus in Inschriften, z.B. ĭ statt ē: rĭgna statt rēgna mĭnsis statt mēnsis prĭndere statt prēndere

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Erscheinungsformen und Phasen des Lateinischen

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Die Rekonstruktion der romanischen Ursprache

Übergang vom Quantitätensystem zum Qualitätensystem Der roman. Vokalismus geht auf offene und

geschlossene Vokale des Vulgärlateinischen zurück: vlat. [e] (< klat. ĭ, ē, oe) wird in freier und betonter

Stellung zu afrz. [éj] (> nfrz. wa): klat. tēla > vlat. *tela > afrz. teile > nfrz. Toile

vlat. [] (< klat. ĕ, ae) wird in freier und betonter Stellung zu afrz./nfrz. [jé]: klat. pĕdĕ(m) > afrz. piet > nfrz. pied

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Der vlat. Vokalismus (das sog. italische Vokalsystem)

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Konsonantismus: die intervok. Plosiva

Lat. intervokalisches [-p-] entwickelt sich zu: > frz. [-v-] săpĕre > savoir

rĕcĭpĕre > recevoir

> sp. [--] săpĕre > saberrĕcĭpĕre > recibir

> it. [-p-], [-v-] săpĕre > sapererĕcĭpere > ricevere

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Erb- oder Lehnwort?

Lat. apis (Akk. apem)Lat. Diminutiv apĭcŭla(m), *apicla > *apecla

Frz. abeille Okz. abelha Sp. abeja Pg. abelha It. ape, pecchia

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Faktoren wissenschaftlicher Etymologie

Lautliche Entwicklung Der Konflikt zwischen den Anhängern und Gegnern

der Lautgesetze hat der etymologischen Forschung hinsichtlich ihrer Weiterentwicklung zunächst geschadet

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Faktoren wissenschaftlicher Etymologie

Lat. apicula(m) führt nicht automatisch zu frz. abeille, d.h. die Abweichung muss erklärt und begründet werden. Vgl. sp. abeja, pg. abelha, kat. abella (vgl. it./tosk.

pecchia) Lat. apis / Akk. apem > afrz. ef. Weitere mfr. Formen waren avette und mouche à miel

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Faktoren wissenschaftlicher Etymologie

Etymologie und lautliche Entwickung am Beispel von frz. abeille Nfrz. abeille (vgl. lat. apicula „Bienchen“) kann mittels

lautlicher Kriterien als okzitanisches Lehnwort identifiziert werden (< abelha) Cf. mfrz. aveille intervokal. [p] wird im Norden der Galloromania nicht

nur bis zur Stufe [b] sonorisiert (wie im Okzitanischen), sondern (gesetzmäßig) bis zur Spirantisierungsstufe [v].

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Afrz. Formen für „Biene“

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Die Etymologie von abeille in frz. Wb.

DDM = A. Dauzat, J. Dubois, H. Mitterand, Nouveau dictionnaire étymologique et historique, Paris 1964.

Picoche = J. Picoche, Nouveau dictionnaire étymologique du français, Paris 1971.

BlWbg = O. Bloch, W. von Wartburg, Nouveau dictionnaire étymologique de la langue française, Paris 51968 (11932).

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APIS und APICULA35

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Interpretation

Zunächst „lautgesetzliche Entwickung“ in Nordfrankreich: Lat. Akk. apem > ef, é; Pl. apes > és (phonetisch

schwaches Wort), bisweilen auch wés Vgl. lat. aucellus „Vogel“ > ézé (Pl. ézés) (lautliche

Ähnlichkeit mit és „Bienen“) Ungenauigkeit insbes. in syntaktischen

Konstruktionen wie le vol des és vs. le vol d‘ezés

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Interpretation

wés „Wespe“ (< lat. vespa) vs. és/wés „Bienen“ (Homophonie)

In einigen Gegenden Nordfrankreichs wurde és unter dem Einfluss von wep (< lat. vespa) zu ep, insbes. in der Gegend um Paris;

guêpe (< lat. vespa x fränk. wespa) Verstärkung oder Ersetzung von é, és, éf, ép etc.

durch mouche („Fliege“) oder mouchette („kleine Fliege“)

mouche à miel

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Zur Etymologie der frz. Bezeichnungen für „Biene“

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Zur Etymologie der frz. Bezeichnungen für „Biene“

avette < vlat. *apitta (?) essaim < lat. examen essette < Abl. von es (-ette) mouche < lat. mŭsca mouchette < Abl. von mouche

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Die lautliche und semantische Entwicklung von lat. ĕxāmĕn

ĕxāmĕn, -ĭnĭs (n) (< indoeur. *eks-ag-smen „das Heraustreiben“) → examinare „die Waage

ins Gleichgewicht bringen“ → examinatio „Prüfung“ → examinator „Prüfer“

Schwarm (z.B. ĕxāmĕn apium „Bienenschwarm“)

„Schar“, „Haufen“, „Menge“ das Zünglein an der Waage

(eigentlich: „das Heraustreiben aus der Ruhelage“)

Metonymie: „Prüfung“ Mlat. „Urteil“, „Gottesurteil“

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Erbwort: mündliches Kontinuum

ĕxāmĕnsciame [ame]

essaim [es ̃]

enjambre [eambre]

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Die lautliche und semantische Entwicklung von lat. ĕxāmĕn

Lat. ĕxāmĕn „Bienenschwarm“ > frz. essaim [es̃] (essaim d‘abeilles „Bienenschwarm“)

→ essaimer „(aus)schwärmen“, „sich zerstreuen“, „Niederlassungen gründen“

> it. sciame [ame] „Bienenschwarm“ → sciamare „(aus)schwärmen“

> sp. enjambre [eambre] „Bienenschwarm“, (fig.) „große Menge“ → enjambrar „schwärmen“, „schwärmende Bienen einfangen“

> kat. eixam „Bienenschwarm“ > okz. eisa „Bienenschwarm“ > pg. enxame „Bienenschwarm“

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Buchwort: Entlehnung aus schriftlich überlieferten Texten

examenEXAMEN

esame examenexamen

[]

[eze]

[]

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Dubletten

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Die Darstellung im REW (31935)

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Die Erstdatierung von Erb- und Lehnwörtern

frz. essaim [1160] vs. frz. examen [1307]sp. enjambre [1335] vs. sp. examen [1438] it. sciame [frühes 14. Jh.] vs. it. esame [1. isolierter

Beleg 1306; allgem. gebräuchlich seit dem 18. Jh.]

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Beobachtungen auf lautlichem Gebiet

Lat. ĕxāmĕn > it. sciame: 1. Aphärese/Prokope von vortonigem e- 2. Palatalisierung des Nexus [ks] zu [] 3. Apokope von auslautendem -n

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Beobachtungen auf lautlichem Gebiet

Lat. ĕxāmĕn > sp. enjambre: 1. Epenthese von -n- 2. Palatalisierung des Nexus [ks] zu [] im

Altspanischen (enxamre [eamre]) und Velarisierung zu [] im Neuspanischen

3. Epenthese von -b- zwischen -mr- 3. Apokope von auslautendem -n

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Beobachtungen auf lautlichem Gebiet

Lat. ĕxāmĕn > frz. essaim: 1. Assibilierung des Nexus [ks] zu [s] 2. Palatalisierung von [ā] in offener Silbe zu [] 3. Nasalierung zu [] durch auslautendes [m] 4. Apokope von -en

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Allgemeine Gesetzmäßigkeit?

lat. ĕxa- lat. exalbare „weiß machen“

> it. scialbare vlat. *exaquare „ausspülen“ (parasynthetische Bildung von

aqua) > it. sciacquare > sp. enjuaguar (über asp. enxaguar)

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Literaturhinweise

H.-M. Gauger / W. Oesterreicher / R. Windisch: Einführung in die romanische Sprachwissenschaft. Darmstadt 1981, S. 99-133.

M. Pfister: Einführung in die romanische Etymologie. Darmstadt 1980, S. 26-47; 135-137.

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Faktoren etymologischen Arbeitens – gesamtromanischer Kontext

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Faktoren etymologischen Arbeitens

Morphosyntaktische Faktoren „In Einzelfällen sind nicht nur phonetische und

morphologische Gegebenheiten zu beachten, sondern auch morphosyntaktische Faktoren, die in einen chronologischen Rahmen passen müssen“ (Pfister, Einf. i. d. rom. Etymol., 1980, 47)

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Morphosyntaktische Faktoren

Beispiel Frz. fesse-mathieu „Wucherer“, „Geizhals“

Das Wort wurde im 16. Jh. als Verbalkompositum aufgefasst; vgl. fesser „den Hintern versohlen“;

Belegt bei Noël du Fail (ca. 1520-1591): „A Rennes on l‘eust appellé fesse-mathieu comme il dirait batteur de saint Mathieu, qu‘on croit avoir esté changeur“

FEW 6/I, 518: „daher kann der Ausdruck … nur bedeuten ‚hau den juden‘, womit einmal mehr der haß der christen früherer zeiten gegenüber wuchernden jüdischen geldverleihern zum durchbruch kommt“ [H.E. Keller]

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Morphosyntaktische Faktoren

Motivation der etymologischen Erklärung Matthäus war Zöllner Der Name wurde einem jüdischen Geldverleiher als

Spitzname gegeben Existenz analoger Bildungen

fesse-maille „geizig“ fesse-pinte „Trunkenbold“ fesse-cahier „Kopist“

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Morphosyntaktische Faktoren

Lindfors-Nordin (Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 36) hingegen interpretiert fesse-mathieu als Substantiv-Komposition: fesse-mathieu = Gürtel des Matthäus, da er auf

künstlerischen Darstellungen häufig mit einem vergoldeten Gürtel erscheint („Matthäus-Gürtel“).

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Morphosyntaktische Faktoren

Diese These wird von Ernst Gamillscheg in seinem Etymologischen Wörterbuch der französischen Sprache (21969) übernommen: „fesse steht für afrz. faisce (s. faisse) und bedeutet noch

im 16. Jh. ‚Gürtel‘; ‚Schärpe‘, am Gürtel wird im späten Mittelalter der Geldbeutel getragen; faisse Mathieu bedeutet also ‚Gürtel (mit dem Geldbeutel) des hl. Mathaeus‘. Der Ausdruck wird zum Symbol für St. Mathieu als Wucherer.“

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Morphosyntaktische Faktoren

Die etymologische Streitfrage kann nur nach morphosyntaktischen Kriterien entschieden werden: fesse-mathieu ist zum 1. Mal 1585 in Rennes belegt Ist im 16. Jh. Eine neugebildete

Wortzusammensetzung mittels Juxtaposition in der Funktion eines possessiven Genetivs noch möglich?

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Morphosyntaktische Faktoren

Ist die Bildungsweise Subst. + Subst. statt Subst. + de + Subst. im 16. Jh. noch vital? Eher unwahrscheinlich.

Verbalkompositum

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Die ikonographische Darstellung des hl. Matthaeus in der Kunst

Geldbeutel

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Faktoren etymologischen Arbeitens

Semantische Faktoren Die Grundlage der wissenschaftlichen Etymologie

wurde durch die historische Lautlehre geschaffen.

Erst zum Beginn des 20. Jh. verstärkte Hinwendung zur Semantik: Wilhelm Meyer-Lübke: „Die erneuerte und verschärfte

Betrachtung der Wörter bringt es mit sich, daß auch ihrem Inhalt, der Wortbedeutung größere Aufmerksamkeit geschenkt wird.“ (German.-roman. Monatsschrift 1 [1909]).

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Semantische Faktoren

Alle Versuche, die Gesetzmäßigkeiten des Bedeutungswandels aufzuzeigen, scheiterten.

Dennoch gibt es gewisse Tendenzen… z.B. Oberbegriff wird zur Bezeichnung eines

Unterbegriffs Afrz. ble „Getreide“ bezeichnete ursprünglich den

Oberbegriff“ Je nach Anbaugebiet kann blé für die in einer Gegend

hauptsächlich angepflanzte Getreideart verwendet werden (blé = froment „Weizen“ [Palsgrave 1530]; Wall. blé = seigle „Roggen“) etc.

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Semantische Faktoren

klat. FRUMENTUM „Getreide“ „Weizen“ (= wichtigstes Brotgetreide) = klat. TRITICUM > fr. froment (blé tendre)

„Weizen“ > it. frumento „Weizen“ > kat. forment (oder blat)

„Weizen“ > asp. hormiento „Weizen“

(nsp. trigo < lat. triticum „Weizen“)

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Semantische Faktoren

Exkurs Frz. blé (afrz. blet) < fränk. blad (vgl. dt. Blatt)

oder kelt. *blato (blawd) „Mehl“ Kat. blat (s.o.)

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Die Getreidebezeichnungen im klassischen Latein

FRUMENTUM

„Getreide“

TRITICUM

„Weizen“

SECALE

„Roggen“

HORDEUM

„Gerste“

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Bedeutungsverengung

FRUMENTUM„Weizen“[„Getreide“]

TRITICUM

„Weizen“

SECALE

„Roggen“

HORDEUM

„Gerste“

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Die diatopische Differenzierung in der Romania

FRUMENTUM „Weizen“> frz. froment> it. frumento> kat. forment

TRITICUM „Weizen“> sp. trigo> pg. trigo

SECALE „Roggen“> frz. seigle> it. segala, segale

HORDEUM „Gerste“> frz. orge> kat./okz. ordi> it. orzo> rum. orz

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Die Fortsetzung lateinischer Getreidebezeichnung in den romanischen

Literatursprachen: TRITICUM „Weizen“

TRITICUM> trigo

FRUMENTUM> froment

FRUMENTUM> frumento

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Die Fortsetzung lateinischer Getreidebezeichnung in den romanischen Literatursprachen: SECALE

„Roggen“

SECALE> seigle

SECALE> segala/-e

*CENTENUM„hundertmalig“> centeno

Allgem. Glaube: für jedes gesäte Samenkorn gibt es 100 neue.

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Die Fortsetzung lateinischer Getreidebezeichnung in den romanischen

Literatursprachen: HORDEUM „Gerste“

HORDEUM> orzo

HORDEUM> orz

HORDEUM> orge

HORDEUM> ordi

cibada

Ursprüngliche Bedeutung „Gewicht“, später Übertragung auf die Gerste. Abl. von cebar „ein Tier füttern“ < lat. *CIBARE, Abl. von CIBUS „Nahrung“.

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Bedeutungsverengung

lat. BĒSTĬA „Tier“, „Raubtier“ > fr. biche „Hirschkuh“ > it. biscia „Natter“ > sp. bicha „Schlange“ > pg. bicha „Schlange“, „Eidechse“,

„Wurm“

It./sp. bestia, frz. bête etc. sind spätere Entlehnungen aus der lat. Schriftsprache.

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Bedeutungsverbesserung: CABALLUS

CABALLUS vs. EQUUS (> )

chevalcaballocavallocavalho

Übernahme der Bedeutung von

EQUUS*

Fortsetzung der Wortform

*Das Wort EQUUS wurde im 6. Jh. nach Chr. aufgegeben

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Wortschwund und Bedeutungswandel

Oppositionen (männl. – weibl.) In klassischer Zeit

EQUUS – EQUA In nachklass. Zeit

CABALLUS – EQUA

Hat sich nur in Randgebieten der Romania erhalten

rum. iapălogud. ebbakat. eguasp. yegua

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Wortschwund und Bedeutungswandel

Oppositionen CABALLUS – EQUA (Spanien: caballo - yegua) CABALLUS – CABALLA (Italien: cavallo - cavalla) CABALLUS – IUMENTUM (Frankreich: cheval -

jument)

IUMENTUM „Lasttier“ → „Stute“

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Wortschwund und Bedeutungswandel

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Bedeutungsverbesserung

CASA DOMUS

duomocasa

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Sprache und Gesellschaft

„Frau“

FEMINA MULIER

1. Frau im Gegensatz zum männlichen Wesen (VIR, MASCULUS)

2. Tierweibchen (z.B. CANIS FEMINA)

Ehefrau im Gegensatz zu VIRGO„Jungfrau“

> it. femmina „Weibchen“> frz. femme „Frau“> sp. hembra „Weibchen“

> it. moglie „Ehefrau“> afrz. moillier „Ehefrau“> sp. mujer „Frau“ im Gegensatz zu „Mann“ „Ehefrau“

UXOR

> afrz. oissour „Ehefrau“> okz. oisor „Ehefrau“

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Sprache und Gesellschaft

Mit fortschreitender römischer Zivilisation wurde die Doppelbedeutung von „Frau“ und „Tierweibchen“ problematisch.

Im südlichen (ländlich geprägten) Italien (d.h. südlich der Linie Rom-Ancona) und in Sardinien ist die Doppelbedeutung bis heute erhalten geblieben.

Dies gilt auch für das Veneto.Die meisten Gebiete der Romania haben nur eine

der beiden Bedeutungen akzeptiert.

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Sprache und Gesellschaft

FEMINA

„Frau“ „Weibchen“

> frz. femme> altokz. femna> altkat. fembra

> it. femmina> sp. hembra> pg. fémea

Ergänzung der Lückea) durch Diminutivbildung: „Tierweibchen“ frz. femelle, okz. femela, kat. femellab) durch Ersatzwörter (mit Bedeutungswandel): „Frau“ it. donna, kat. dona (< DOMINA „Herrin“)

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Sprache und Gesellschaft

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Von der pejorativen Bezeichnung zur Standardbezeichnung: lat. TESTA

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Von der pejorativen Bezeichnung zur Standardbezeichnung

Lat. TESTA (TESTUM)

sp. tiesto

frz. têteit. testaasp. tiesta

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Die Bezeichnung des Kopfes: sprachliche Register im Lateinischen

CAPUT

TESTA TESTA

in Gallien und Italien

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Die Bezeichnung des Kopfes: sprachliche Register im Italienischen

testa capo (poet.)

zuccazucca

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Die Bezeichnung des Kopfes: sprachliche Register im Französischen

tête

citrouille

citrouille

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Die Bezeichnung des Kopfes: sprachliche Register im Lateinischen

CAPUT

CAPITIA (< Pl. von CAPITIUM„Kopföffnung einer Kutte“)

in Hispanien

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Die Bezeichnung des Kopfes: sprachliche Register im Spanischen

cabeza

cocococo

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Literaturhinweise

Andreas Michel, Italienische Sprachgeschichte. Hamburg 2005, S. 269.

Max Pfister, Einführung in die romanische Etymologie. Darmstadt 1980.

Gerhard Rohlfs, Romanische Sprachgeographie. München 1971.