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Daniel GerberSchicksalstage am Fuße der Pyramiden

tuv«Es sieht für die nähere Zukunft ¾gyptens nicht gut aus.

Man wird sich auf mehrere Jahre unruhiger Entwicklung,

auf Labilität einstellen müssen. Und was in ¾gypten

geschieht, ist oft prägend für andere arabische Länder.

Meine Hoffnung ist schwach, dass das alles nicht in eine alte

oder neue Art von Autokratie [unumschränkte Alleinherrschaft]

mündet.» Erich Gysling, ehemaliger Leiter der «Tagesschau»,

Journalist und ausgewiesener Nahost-Kenner,

in «Der Sonntag», Nr. 5, 2012

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Der Autor

Daniel Gerber ist freier Journalist und Redakteur (unter ande-rem für die Berner Zeitung, Radio 32 und Livenet.ch) sowieBuch-Autor (Esoterik – die unerfüllte Suche, Fünfzehn Dollar fürein Leben, Mir blieben nur Gebet und Tränen). Er ist verheiratetmit Irene und wohnt in der Nähe von Bern. Für den BrunnenVerlag und dessen Buchaufträge besuchte er bereits den Su-dan (Afrika), den Gazastreifen (Israel/Palästina), Pakistan undnun ¾gypten.

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Daniel Gerber

Der «arabische Frühling»:

Schicksalstageam Fuße derPyramiden

Sie nennen es den «arabischen Frühling».Sie feiern die Revolution in Kairo und den Sturz

Mubaraks. Aber kommen jetzt wirklich Demokratieund Menschenrechte? Oder wird gerade die letzte

Stunde der ägyptischen Christen eingeleitet?

In Zusammenarbeit mit«Christian Solidarity International»

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über www.dnb.de abrufbar.

� 2012 Brunnen Verlag Basel

Umschlaggestaltung: Spoon Design, Olaf Johannson, LanggçnsFotos Umschlag: Dudarev Mikhail, Kryzhov / Shutterstock.com

Fotos Innenteil: Daniel GerberSatz: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel

Druck: Aalexx, GroßburgwedelPrinted in Germany

ISBN 978-3-7655-4162-9

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P Inhalt p

Intro: Vom Regen in die Traufe? .............................. 7

1. Imbaba – Schock inmitten der Revolution................ 11

2. Von Drogenhändlern entführt ................................. 15

3. Am Puls der Revolution –Freiheit und Schreckgespenster am Nil .................... 33

4. Selbst der «Pharao» konnte nicht helfen ................... 57

5. Messi dürfte nicht für ¾gypten spielen .................... 73

6. Der Schweizer Mose: ein Grandseigneur ................. 81

7. «Ich mçchte meine Schwester zurück!» ................... 97

8. Die einzige echte CSI interveniert ........................... 107

9. Hannah – die verlorene Tochter............................... 123

10. «Das waren keine ¾gypter!» .................................... 143

11. Kämpfer auf der Straße:Wenn Muslime Kreuze tragen ................................. 151

12. «Wer Christen als Feinde darstellt, ist selbst einUngläubiger!» ......................................................... 179

13. Wer einmal vom Nilwasser getrunken hat …........... 187

14. «Lege eine Rose auf mein Grab» .............................. 191

15. Bürger zweiter Klasse –Chronologie des Drucks auf die Kopten................... 193

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P Intro pVom Regen in die Traufe?

Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Funke ins Pulverfassfliegen würde. Bei Mubaraks erneutem Wahlbetrug Ende desJahres 2010 war schließlich der Moment gekommen: Aber-mals standen die Oppositionsparteien mit beinahe leerenHänden da, während der «Pharao» mit einer scheinbar über-wältigenden Mehrheit im Amt bestätigt wurde und seine Par-tei 420 der 508 Sitze errang. Nicht einmal ein Drittel der be-fragten ¾gypter glaubte, dass es dabei mit rechten Dingenzugegangen sei, berichtete das US-Meinungsforschungsinsti-tut «Gallup».

«Mir war im November 2010 klar, dass nun etwas passie-ren würde», sagte mir Dr. Samir Fadel Ibrahim, der Wahl-beobachter ausbildet und sich in ¾gypten seit vielen Jahrenum Demokratie bemüht. «Bereits am 10. Januar 2011 war dieLage nicht mehr unter Kontrolle.» Die Menschen waren essatt, von einer Partei geknechtet zu werden. Dass aber einederart erschütternde Revolution im Anzug war, damit hatteIbrahim nicht gerechnet.

Kaum jemand getraute sich vor Jahresfrist auch nur aus-zumalen, dass Husni Mubarak sich innerhalb von weniger alseinem Monat dem Druck der Straße würde beugen müssenund abtreten würde. Seine harte, korrupte Hand war unbe-liebt, und ebenso gefürchtet und verhasst waren die Geheim-und Sicherheitsdienste. Diese Wahlfarcen versetzten die Bür-

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ger schon seit Jahren in Wut, doch ein Ventil dafür konntelange nicht gefunden werden.

Während in westlichen Werbespots atemberaubende Bil-der nahelegten, dass das Paradies auf Erden am Roten Meerin ¾gypten zu finden sei, lebten viele Bewohner des einst be-deutenden Reiches stets mit einem wachsamen Blick über dieSchulter; insbesondere wenn sie einer der religiçsen Minder-heiten im Land angehçrten.

Bereits in den letzten Jahrzehnten wurden diese Minder-heiten mehr und mehr aus dem çffentlichen Leben hinaus-gedrängt. So hatten die christlichen Kopten, obwohl sie rundzehn Prozent der Bevçlkerung stellen, kaum entscheidendePosten in Politik, Polizei, Armee, Sicherheitsdienst, Sport,Universitäten und Schulen inne. Jetzt, nach den ersten freienWahlen seit Jahrzehnten, deutet alles darauf hin, dass sie diegroßen Verlierer sein werden. Der überwältigende Sieg der ra-dikalen Kräfte, insbesondere der Muslimbrüder und der Sala-fisten, nimmt ihnen die Luft zum Atmen. Kaum war das alteSystem zum Erliegen gekommen, schnellte die Anzahl ent-führter junger Koptinnen in die Hçhe. Drahtzieher sind unteranderem genau die Kräfte, die sich auch auf politischer Ebenein den Wahlen vom 28. November 2011 bis 4. Januar 2012durchgesetzt haben.

Seit etlichen Jahren interviewe ich in verschiedenen Län-dern Kopten aus allen wirtschaftlichen Schichten und von un-terschiedlichster Prägung, vom freikirchlich orientiertenChristen bis hin zum orthodoxen Bischof. Übereinstimmendberichten sie von harscher werdender Unterdrückung unddass zunehmend koptische Mädchen entführt werden. Ihnen,den Benachteiligten, ist dieses Buch gewidmet, der christli-chen Minderheit, die eine lange Geschichte, eine schier uner-trägliche Gegenwart und eine vçllig ungewisse Zukunft hat.

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Mancherorts fabulierte man im Fall der Muslimbrüder illuso-risch-beschwichtigend von «gemäßigten Islamisten», die ange-sichts der Würde ihrer neuen ¾mter immer pragmatischer wer-den und eine tiefe Liebe zur Toleranz entdecken werden, umTouristen und ausländische Investoren nicht zu verschrecken.Die Geschichte widerlegt solche Annahmen ebenso nachhaltigwie die Realität, denn schon denken neben den Salafisten auchdie Muslimbrüder laut darüber nach, die Dschizya-Steuer ein-zuführen, eine zusätzliche Steuer für Nicht-Muslime. Also eineKopfsteuer für Bürger zweiter Klasse.

Medhat Klada, ein koptisch-schweizerischer Autor, mitdem ich die ägyptische Revolution beobachtete, befürchtetebereits wenige Wochen nach Mubaraks Fall, dass nun dieMuslimbrüder an die Macht gelangen würden. Seine Ein-schätzung hat sich längst als richtig erwiesen.

Für kurze Zeit hatten die Christen ungleich mehr Freiheit alsfrüher, sie konnten offen ihre Rechte einfordern. Im Oktoberaber und im November wurden koptische Kundgebungen ange-griffen, und es ist nicht auszuschließen, dass ein Exodus derägyptischen Christenheit einsetzen wird, ähnlich wie im Irak,der – wie ¾gypten auch – einst eine christliche Nation war.

Jetzt gewinnen die «Rechtgläubigen» erheblichen Einflussund haben schon «wichtige» politische Ziele geortet, etwadass getrennte Frauen- und Männerstrände eingeführt sowieBikinis als nicht schicklich verboten werden sollen und dasskein Wein mehr ausgeschenkt werden darf. In aller Offenheithaben erste strenggläubige Politiker bereits erklärt, dass De-mokratie Ketzerei gegenüber dem Islam sei.

Während der gefallene Pharao noch im Gefängnis auf dieFortsetzung seines Prozesses wartet, hat ¾gypten gewählt.Ob die Christen damit vom Regen in die Traufe kommen,steht noch nicht fest, ist aber zu befürchten.

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P 1 pImbaba – Schock inmitten

der RevolutionKairo, 8. Mai 2011

Längst erwartet und dennoch überraschend tritt der Fahrerauf die Bremse, das Taxi hält mitten auf der breiten, staubigenStraße. Hastig drückt Medhat Klada dem nervçsen Fahrer einpaar zerknitterte Pfund-Scheine in die Hand, und schon ste-hen wir auf der Fahrbahn, während der Chauffeur eilig eine180-Grad-Wende vollführt und sich aus dem Staub macht.

Die dreispurige Strecke führt durch das hektische, raue Im-baba, einen der weltweit grçßten Slums. In den herunter-gekommenen sandbraunen Wohnblçcken in Kairos Armen-viertel hausen selbst auf den Treppenabsätzen zwischen denStockwerken Familien auf Kartons und Decken. Autowracksverrotten neben den von Müllbergen gesäumten Gehsteigen.

Vor uns liegt ein weiträumig abgeriegeltes Gebiet: Strammstehen Soldaten Schuh an Schuh. Grimmige Blicke stechenunter den tief ins Gesicht gezogenen hellbraunen Stahlhel-men hervor, die Hände umklammern schussbereite automati-sche Gewehre.

«Niemals werden die mich durchlassen», schießt es mirdurch den Kopf, denn hinter den Militärs spielen sich Szenenab, die man nicht gerne çffentlich macht, und meine Ge-sichtszüge weisen mich eindeutig als Westler aus, der auchnoch mit Laptop- und Kameratasche ausgerüstet ist. In Ge-danken sehe ich mich bereits abgeführt, in Abschiebehaftund des Landes verwiesen. Doch schon sind wir durch eine

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der spärlichen Lücken zwischen den uns musternden Sicher-heitskräften hindurchgeschlüpft und hasten durch die abge-sperrte Zone, die noch vor wenigen Stunden ein Schlachtfeldgewesen ist. Mit eckigen Panzerwagen stehen weitere Ein-satzkommandos der Polizei und der Armee bereit.

Hinter dem Menschengürtel steht die Kirche, mit verkohl-ten Außenmauern. Die stickige Luft ist mit Brandgeruchdurchmischt. Ich schieße ein paar Bilder – zu lange haltenwir uns aber nicht unter den Argusaugen des Militärs auf.

Je näher wir dem Eingang kommen, desto lauter dringt einschmerzvolles Wehklagen an unsere Ohren. Schon stehen wirvor der Pforte, an der eine gestikulierende Menge aufgeheiztdas Massaker der unheilvollen Nacht debattiert. Nichts weni-ger als eine Katastrophe ist über die St.-Mina-Kirche herein-gebrochen.

Die verbrannten Türrahmen schimmern matt. Der Zugangzur Kirche wird von Christen kontrolliert. Noch immer schei-nen die Mauern die Hitze des nächtlichen Feuers in den Saalim Erdgeschoss abzugeben. Die Überreste der Bänke sind be-reits in eine Ecke geräumt, Gemälde und Bücher wurden ver-nichtet. Ein verformter, nutzlos gewordener Ventilator hängtan der Decke, weinende Menschen irren durch die Trümmer.Ihre leidgeprüften Gesichter zeigen das Unverständnis überden Schrecken, der einmal mehr die Herzen der Kopten tieferschüttert hat. «Hier ist unser Wachmann gestorben», sagtein übernächtigter Mittfünfziger mit müder Stimme.

Auf einer Bank sitzt der Priester in seiner schwarzen Kutte.Medhat, der schweizerisch-ägyptische Autor, setzt sich zuihm, hçrt zu, spendet Trost und fragt nach dem Hergang desnächtlichen Grauens. Etliche Augenzeugen schildern das Ge-schehen: Ein Mob von Muslimen salafistischer Prägung hat inder Nacht gewütet. Eine Gruppe von Männern mit langen

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Bärten und weißen Gewändern war vor der Kirche aufmar-schiert. Etliche Christen hatten sich zum Beten versammelt,als die Rotte ausfällig wurde. Bald stellten sich zahlreicheKopten vor ihr Gotteshaus, um es zu schützen. Schüsse fielen,um sie davon abzubringen. Irgendwann griffen die Männeran, die zwar nicht aus dem Viertel stammten, die aber Zulaufvon jungen Muslimen erhielten und Jubel von den Balkonenernteten.

«Sie sind in die Kirche eingedrungen. Auf unseren Wach-mann wurde mit Messern eingestochen und dann geschos-sen. Militär und Polizei kamen dazu, schritten aber nicht ein.Sie schauten nur zu und ließen die Meute gewähren», sagt einAugenzeuge. «Bei den Militärs sah ich einen Kopten. Ihmliefen Tränen die Wangen hinunter, aber er konnte nichtstun. Er musste mitansehen, wie seine Gemeinschaft überrolltwird.»

Ein fundamentalistischer Befehlshaber des Militärs soll da-bei einem der Terroristen wohlwollend auf die Schulter ge-klopft haben. Nicht nur konnte die Meute die St.-Mina-Kircheungestçrt angreifen und mit Molotow-Cocktails anzünden,sie konnte auch ungehindert zwei Kilometer weiter zur Jung-frau-Maria-Kirche laufen und auch diese in Brand stecken.

Die Aussagen verdichten sich und lassen folgende Ursachefür die Attacke erkennen, wie sie später auch in der interna-tionalen Presse wiedergegeben wurde: Unter den Salafistenging das Gerücht um, dass in der Kirche eine Frau festgehaltenwurde, die vom Christentum zum Islam konvertiert war. Siewollte aus ihrer Ehe mit einem Kopten entkommen, da siemittlerweile einen Muslim liebte. Die Kopten bestritten dies,und die Polizei würde später die Anschuldigung nicht bestäti-gen kçnnen. Das Resultat des Angriffs: Fünfzehn Menschenstarben, 230 wurden verletzt.

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Ein koptischer Zeuge schüttelt den Kopf und sagt dann lei-se: «Wir kämpfen nicht mit Waffen, wir haben unseren Glau-ben.»

Die Kirche hat mehrere Säle, die wegen der Enge des kleinenGrundstücks übereinander gebaut sind. Ein junger Kopte be-gleitet mich durch das Bauwerk. Die Treppe zum ersten Stockist mit Leuten überfüllt, wir quetschen uns dennoch durch dieweinende Menge. Es wird noch heißer und lauter, wir hçrenwehmütige Gesänge, die den Schmerz von qualvollen Jahr-hunderten durch die verrußte Kirche trägt. Der erste Saal istvollgestopft, und so drängeln wir uns noch eine Etage hçher.Hier gelangen wir auf die Empore, von der aus man den Kir-chenraum überblicken kann. Priester in weißen Gewändernleiten einen Gottesdienst, der Leiden und Trauer ausdrückt,hinter ihnen ist eine von den Flammen gezeichnete Wandpechschwarzer Zeuge des nächtlichen Brandes. Die Fenstersind in allen Stockwerken zerborsten.

Noch ein Geschoss hçher, in einem dritten Versammlungs-raum, lesen wir an der verkohlten Wand einen Schriftzug inarabischer Sprache: «Am Ende wird alles gut.» Jemand ausder Kirche hatte diesen Satz kurz nach dem Horror in derHoffnung auf eine bessere Zukunft an die geschundeneMauer geschrieben.

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P 2 pVon Drogenhändlern entführt

Das Schlachtermesser funkelt bedrohlich im vom Smog ge-trübten Sonnenlicht. Der Halbstarke fuchtelt damit energischund gleichwohl ziellos durch die Luft. Sein weißes, blutver-schmiertes Hemd lässt wenig Gutes erahnen. Dann ver-schwindet er wieder hinter dem wuchtigen sandfarbenenHäuserblock. Und das am helllichten Tag auf dem Gehsteig,inmitten Dutzender Passanten.

Unser Taxi nähert sich der Stelle, wo sich gerade diese ge-spenstische Szene abgespielt hat. Nicht von ungefähr meidenselbst die nervenstarken, im Stahlbad des über alle Ufer tre-tenden Verkehrs der Stadt Kairo gedrillten Taxifahrer diesegebeutelte Gegend im Nordosten des Molochs. Hier hat dasGesetz der Straße die gebieterischen Anordnungen des Muba-rak-Regimes verdrängt. Manche der Seitengassen sind unpas-sierbar, weil staubige Abfallhaufen mitten auf der Fahrbahnden trostlosen Weg versperren.

Doch der Spuk ist noch nicht vorbei. Nun kommt der Kerlwieder um die Ecke gerannt, im Schlepptau ein zweiter,ebenfalls schwer gezeichneter Typ. Die Hände mit blutigenBandagen eingebunden, hetzen sie den Bürgersteig entlang.Ihre Blicke sind wild und rastlos. Erschrockene Passantenweichen zur Seite. «Es kçnnten Killer sein», bemerkt MedhatKlada. «Die Regierung kümmert sich nicht um diese Ge-gend.»

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Kaum sind die beiden zwielichtigen Gestalten davon-gehuscht, geht auf dem Trottoir das Leben bereits wieder nor-mal weiter. Schicke junge Muslima schlendern durch die Ge-gend, in eng anliegenden Kleidern, üppig geschminkt, mitkitschigem Kettenschmuck verziert und mit knallbuntenKopftüchern in pink, violett und allem, was das Farbenspek-trum sonst noch hergibt. Eher selten fügen sich vollverschlei-erte Frauen in die Szenerie.

Wir steigen aus, warten auf unsere Kontaktperson undmustern den heruntergekommenen Stadtteil. Der Schuhput-zer, vermutlich ein Sudanese, sitzt auf einem Klappstuhl aufdem Bürgersteig, sein Werkzeug liegt in den kleinen Fächerneiner abgenutzten Holzbox, die gleichzeitig als Fußschemelfür seine Kundschaft dient. Emsig wienert der Schwarzafri-kaner Medhats Schuhe, während sich ein Autofahrer einenParkplatz zu erkämpfen versucht. Als menschliche Einpark-hilfe winkt der Putzer den rückwärts fahrenden Wagen inseine Richtung, auch wenn ihm dadurch die dunklen Schwa-den, die der Auspuff aus der altersschwachen Karosse spuckt,mitten ins Gesicht stoßen.

Dann bewegt sich das Auto vorwärts, ein Fruchtsaftver-käufer dirigiert nun aus seiner Diele heraus gestenreich dieRichtung, während der Straßenarbeiter bereits wieder mit ei-nem Tuch Medhats schwarzes Schuhwerk malträtiert.

Erbarmungslos brennt die Sonne in die übervçlkerten,trostlosen Häuserschluchten hinein, und wuselige Gesellenverkaufen lauwarme Getränke aus vergilbten Kisten, wäh-rend sich Heerscharen von Fliegen an überreifen Früchten güt-lich tun. Allüberall liegen zerschlissene Kartons auf dem Bo-den, unbeachtet, zertreten.

Gleich um die Ecke befindet sich ein Sackbahnhof. Sol-daten in khaki-braunen Uniformen warten mit gelangweil-

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ten Blicken an diesem scheinbar zeitlosen Ort, manche lie-gen auf den unappetitlich schmutzigen steinernen Bänkenund warten auf einen Zug, der – «Inschallah» («so Allahwill») – irgendwann metallisch-jammernd über die Geleisegeächzt kommt.

Und dann stehen zwei Männer vor uns. Ein frçhlicherMittvierziger namens Saleh, in einer leuchtendgrauen Galabi-ja, dem traditionellen knçchellangen Männergewand ¾gyp-tens. Neben ihm ein junger, aufgeweckter ¾gypter mitschmaler Brille und einer mit Papier vollgestopften Klarsicht-mappe. Zu viert quetschen wir uns ins vermutlich engste Taxivon Kairo. «Excuse me, boss, you have a message!», murmeltvon Zeit zu Zeit eine Stimme. Es ist der SMS-Ton von SalehsMobiltelefon.

Nach einer kurzen Fahrt verlässt der Wagen die staubigeHauptachse, holpert über eine unbefestigte Nebenstraße undzieht eine braune Staubfahne hinter sich her. Ringsherumwerden hier in hemmungsloser Bauwut verwahrlost aus-sehende Steinklçtze aus dem Boden gestampft. Der ächzende«fahrende Briefkasten» hält vor einem solchen tristen Ge-bäude direkt vor der Tür. Wir schlüpfen durch diese hindurchund kommen ins Treppenhaus, wo gleich in der ersten Eckeeine ausgemergelte Katze ihren zappelnden Nachwuchs ge-biert. Über eine schmutzige Stiege erreichen wir bald diekarge Wohnung der Familie.

Ein abgetretener Teppich liegt auf dem nackten Zementbo-den. Die eilig hochgezogenen Wände bestehen nur aus ver-schieden getçnten roten Backsteinen. Weder innen noch au-ßen schützt ein Verputz die nackten Mauern. Hier wohntVater Saleh mit seiner Familie, die von Armut und harter Ar-beit gezeichnet ist. Erst seit zwei Wochen ist Tochter Mariemwieder in Freiheit.

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Obwohl sie ausgebeutet und misshandelt werden, gehtvon diesen Menschen eine große Würde aus.

Wir sitzen auf abgewetzten Sofas und Sesseln und schlür-fen siedend heißen Tee.

«Ich fuhr zu einem Gottesdienst», erinnert sich Mariem an je-nen unheilvollen Morgen, es war der 4. März 2011; ein Frei-tag, was in ¾gypten gleichbedeutend mit dem europäischenSonntag ist.

Der Schrecken begann um neun Uhr morgens, durch diezuerst harmlos erscheinende Begegnung mit einem kleinenMädchen. Mariem war gerade mit ein paar Nachbarinnen ineiner Kirche, die etwa zehn Gehminuten von ihrem Zuhauseentfernt ist. Für viele junge Christinnen ist die Kirche ein Le-bensmittelpunkt, da der überwiegende Teil ihrer Gegend vonstrenggläubigen Muslimen bewohnt wird und die Kontaktemit den Anwohnern sich auf ein Minimum beschränken.

Außerdem hatte sie noch einen weiteren Grund, die Kircheaufzusuchen: «Ich bin verlobt. Wir haben abgemacht, dasswir heiraten, und an diesem Tag wollten wir in der Kirchedie entsprechenden Dokumente abholen. Ich wollte beten,und später wollten wir den Priester treffen.»

Der Verlobte war aber noch nicht da, und der erste vonzwei Gottesdiensten war gerade zu Ende. Mariem wolltekurz zur Toilette gehen. Leise erzählt sie: «Plçtzlich stand einkleines Mädchen vor mir. Es sagte, dass mich meine Ver-wandten hinter der Kirche treffen wollen. Ich wurde miss-trauisch und hatte etwas Angst.» Dann war das Kind wiederweg. Mit mulmigem Gefühl schaute Mariem dennoch nach,ob da tatsächlich jemand Bekanntes auf sie wartete.

Hinter der Kirche führte eine Straße vorbei, auf der einschwarzer Jeep stand. Mariem sah niemanden, bekam es mit

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der Angst zu tun und wollte unverzüglich zurückgehen.Plçtzlich sprangen in diesem Augenblick drei maskierte Män-ner aus dem Geländewagen heraus, alles ging viel zu schnell,und ehe die Unglückliche einen klaren Gedanken fassenkonnte, hatte sie zeitweise bereits das Bewusstsein verloren.«Ein Spray zischte in mein Gesicht, und alles verschwamm.»Sie wurde in den Wagen gezerrt, der umgehend davonschossund in die unüberblickbare Blechlawine der überfüllten Stra-ßen eintauchte.

Vater Saleh, Mutter Bichita und die beiden kleinen Schwes-tern Damina (13) und Ranya (11) kleben an Mariems Lippenund sind froh, dass sie wieder da ist. Sie hçren die Geschichtenicht zum ersten Mal, außerdem wurden sie bald selbst Teildes kräfteraubenden Geschehens, wurden hineingezogen indie finsteren Machenschaften der abgrundtiefen Unterweltder grçßten Metropole des Kontinents.

«Als ich wieder aufwachte, lag ich in einem dunklen Zim-mer. Es gab kein Licht, kein Fenster, keine Mçbel, keinenStuhl – einfach nichts.» Wie ein Gefängnis sei der beklem-mende Ort gewesen. In die Tür war ein kleines Fenster einge-baut, dessen drei Gitterstäbe den Raum endgültig zum Verliesmachten. Und noch etwas realisierte Mariem: Sie war nichtalleine, sie teilte dieses «Loch» mit fünfzehn anderen Frauen.

«Sie weinten und schrien. Ich konnte selbst an nichts den-ken, sondern einfach nur heulen. All die Mädchen waren hartgeschlagen worden. Das Erste, was mir dann in den Sinn kam,war zu beten, dass Gott mir hilft.»

Keine der jungen Frauen wusste, wo sich der traurige Ortbefand. Und was ihre Leidensgenossinnen ihr berichteten,konnte verheerender kaum sein: «Wir sind alle entführt wor-den, und sie wollen uns dazu zwingen, Drogen zu vertreibenund muslimische Männer zu heiraten.»

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Dieser Schock saß tief: «Ich konnte gar nicht mehr reden,sondern nur weiterweinen. Meine Tränen tropften auf denBoden. Ich war wie gelähmt und wollte einfach weg.»

Um nicht erkannt zu werden, maskierten sich die Entfüh-rer, wann immer sie in den Raum kamen. Sie bellten in einemgroben Befehlston herum. Hatten sie das Gefühl, dass ihnendie Entführten nicht zuhçrten, setzte es sofort Prügel. Diefinsteren Gesellen sprachen mit einem südägyptischen Ak-zent, und anhand der Dialekte erkannte Mariem, dass auchdie Zimmerkameradinnen aus verschiedenen Gegenden¾gyptens stammten.

Auch wurden die Festgehaltenen dazu gezwungen, diemuslimischen Gebete zu verrichten. «Ich sagte, dass ich dieseGebete nicht verstehe, und ich fragte, warum ich mit ihnenbeten solle. Da schlugen sie mir ins Gesicht und in den Bauch,bis ich von selber auf die Knie niederging. Als ich noch einmaldeutlich sagte, dass ich das nicht machen kann, langten sie er-neut übel zu.»

Die Tage schlichen mit quälender Langsamkeit dahin, undsie glichen sich wie ein Sandkorn dem anderen. Meist lagenoder saßen die Mädchen in diesem engen Raum. Eine Toilettestand nicht zur Verfügung, stattdessen hatten die Typen einenkleinen Tank in den Raum gestellt – als Ort für die Notdurftder fünfzehn Gefangenen. Der Boden war nicht einmal miteinem Teppich ausgestattet, und so schmerzte das nächtlicheLiegen mit der Zeit so sehr, dass Mariem zwischendurch sit-zend an die Wand gelehnt schlief. «Wer versucht zu fliehen,wird umgehend erschossen!», drohte einer dieser abgebrüh-ten Banditen. Freilich machte dieser Befehl angesichts derLage keinen großen Sinn.

Bald verdichtete sich Mariems Bild von den Übeltätern.Dieses Fundamentalisten-Nest mischte vorwiegend im Dro-

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genhandel mit, um mit dem Erlçs Waffen zu erwerben. Alsweiterer «Arbeitszweig» entpuppte sich das Erpressen horren-der Lçsegelder für die Entführungsopfer, die, wie Mariembald herausfand, in erster Linie junge Christinnen waren. Zu-dem vermuteten die Entführten, dass manchmal eine weitereFrau im Zimmer war, um sie zu belauschen.

Der dunkle, bestialisch stinkende Raum, die Enge, dieSchläge – all das lastete schwer auf den Schultern der erbar-mungswürdigen Gefangenen. Doch die maskierten Raubeinemachten einen «Verbesserungsvorschlag»: «Sie sagten uns,dass sich unsere Lage deutlich bessern würde, wenn wir fürsie Drogen an ihre Kundschaft austragen würden. Hätte iches getan, hätte ich ein wenig Freiheit gehabt. Ich hätte nachdraußen gehen und dieses Zimmer für kurze Zeit verlassenkçnnen.»

An eine Flucht wäre allerdings auch dann nicht zu denkengewesen: Jemand wäre ihr sicher gefolgt und hätte sie beob-achtet. Wegrennen wäre also keine Option gewesen. Da-durch, dass die eigentlichen Dealer die Mädchen die Drecks-arbeit des Verteilens machen ließen, wollten sie verhindern,dass sie selbst mit dem Stoff erwischt wurden.

Die Entführer lockten auch mit dem Versprechen, dass Ko-operierende nicht mehr verprügelt würden und in ein besseresZimmer wechseln kçnnten. Auch würden sie Essen erhalten,das zumindest ein wenig genießbarer war als das miserable«Mahl», das ihnen vorgesetzt wurde.

Mariem lehnte den Drogenschmuggel stets ab – eine Hal-tung, die übel bestraft wurde. «Meine Hände, Arme und Au-gen waren blau und schwarz von den Schlägen.»

Einige Mädchen willigten schließlich vorübergehend einund bestätigten hinterher, dass sie auf der Straße beschattetworden waren, damit sie ja keine «Dummheiten» begehen

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würden. Auch stellten sie auf diesem Weg fest, dass sich ihrejämmerliche Bleibe offenbar etwas außerhalb und südlich vonKairo befand.

Eine wenn auch schwache moralische Unterstützung er-hielten Mariem und ihre unfreiwilligen Kameradinnen ausdem Kreise der Kriminellen. Eine junge Frau, die mit diesenLeuten zusammenlebte, warnte sie insgeheim davor, sich alsDrogenkuriere missbrauchen zu lassen. «Tut das nicht, es istzu gefährlich!», flüsterte sie jeweils, wenn sie heimlich zu denMädchen hineinschlüpfte. «Ich will nicht, dass ihr ein Lebenführen müsst, wie ich eines habe. Es ist ein bitterer Weg, denich selbst nicht gehen will!»

«Warum sagst du das?», flüsterte die zuerst verdutzte Ma-riem einmal zurück.

«Ich konnte nicht ablehnen, weil sie drohten, meine Fami-lie zu ermorden.»

Deshalb ist anzunehmen, dass sie ebenfalls eine Christinwar. Die meisten ägyptischen Christen haben am Handgelenkein kleines Kreuz tätowiert – bei ihr konnte Mariem abernicht erkennen, ob ihre Vermutung stimmte, da die Frau eineBurka mit langen ¾rmeln trug.

Wenn sie erzählt, beugt sich Mariem leicht nach vorne undspricht von dem Schrecken, der sie bis vor wenigen Tagenheimgesucht hat. Ihre beiden braungebrannten kleinenSchwestern schauen immer wieder mit großen Augen undeinem Kichern in die Runde. Mit wohlwollender Neugier ru-hen ihre Blicke manchmal auf uns, manchmal auf Mariem.Vermutlich auch, weil sich selten ein Europäer in diese Ge-gend verirrt. Und der hier interessiert sich auch noch für ihrErgehen! Christen zählen hier bei den meisten wenig. Siewerden nur hauchdünn am äußersten Rande akzeptiert und

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werden dann und wann auch über diesen Rand hinaus-gedrängt.

Während Mariem in Gefangenschaft vor sich hin schmach-tete, kämpfte ihre Familie um sie. Rasch war ihr Verschwin-den bemerkt worden. Der Schwiegervater stand an jenemFreitag plçtzlich in der Tür und fragte, wo Mariem ist.

«Bei ihrem Verlobten in der Kirche», erhielt er zur Antwort.«Nein, dort ist sie nicht!»Mariems Mutter wurde misstrauisch, zumal auch ihre Be-

gleiterinnen erklärten, dass Mariem nicht mehr bei ihnen sei.Nachdem mit vorrückender Zeit auch der Verlobte auf-getaucht war, um sie zu suchen, kullerten ihr Tränen aus denAugen, und sie schrie: «Wo ist meine Tochter?» Denn dass sieeinfach irgendwo herumlungerte, sah ihr nicht ähnlich.

Währenddessen erlebte Mariem etwas Übernatürliches. «Ichsah zwei weiße Tauben, und zwischen ihnen war Maria. Alsich diese Erscheinung sah, wusste ich, dass ich diese Gefan-genschaft überstehen würde. Dieses Erlebnis machte mirMut, und jedes Mal, wenn die Entführer kamen und michzum islamischen Gebet aufforderten, zum Übertritt zum Is-lam oder zum Dealen, sagte ich entschieden: ‹Nein!› Dennich wäre lieber tot, als dass ich keine Christin mehr wäre.»

Dies tat sie, obwohl sie sah, dass die wenigen Mädchen,die schließlich den täglichen Schmerz nicht mehr ertrugenund ihm entflohen, indem sie wiederholt Drogen auslieferten,tatsächlich ein minimal besseres Leben führen konnten. Siewurden in ein anderes Zimmer gebracht, in dem es hell war.Auch wurde ihnen besseres Essen vorgesetzt. Zwischendurchwurden diese Mädchen in Mariems Zimmer vorgeführt: Sietrugen bessere Kleider, und die Kerle forderten von den Ge-peinigten, es ihnen gleichzutun.

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Selbstredend war es für Mariem unmçglich, mit ihrer Fa-milie Kontakt aufzunehmen. Gleich bei der Verschleppungwar ihr das Handy abgenommen worden. Kurze Zeit, nach-dem sie gekidnappt worden war, sahen die Entführer, dassihr Cousin sie erreichen wollte. «Grob wurde mir eine Pistolean den Kopf gesetzt und gefordert: ‹Wenn du nicht sagst, waswir dir jetzt diktieren, erschießen wir dich!›» Um der Dro-hung Nachdruck zu verleihen, wurde die Waffe durchgela-den. «Du sagst jetzt, dass du Muslimin werden und einenMuslim heiraten willst.» Mariem stammelte diese von ihr ver-langten Worte, dann legten die Entführer auf und schaltetendas Gerät ab.

Ihre Familie nahm diese Worte nicht ernst, sagt Mutter Bi-chita. «Ich weiß, dass sie an Jesus glaubt, und mir war klar,dass ich meine Tochter finden musste.»

Irgendwann kam dann ein Anruf an den Vater, dessen Num-mer in Mariems Handy unter «Papa» gespeichert war.

Vater Saleh nahm den Anruf entgegen und fragte den Mannam Telefon: «Wie heißt du?»

«Ich bin Mohammed.»«Was willst du?»«Ich habe deine Tochter, ich will sie heiraten!»«Das geht in Ordnung. Komm zu mir, und ich werde dich

sie heiraten lassen.»Selbstverständlich ließ sich der Entführer nicht darauf ein.Ihr Vater, ein Tagelçhner, mietete dann mit dem wenigen

Geld, das gerade vorhanden war, ein Auto samt Fahrer, uman verschiedenen Orten in Kairo und ab und zu in ganz ¾gyp-ten nach seiner Tochter zu suchen. Er wollte einfach jedemkleinsten Hinweis nachgehen. Denn manchmal erwähntendie Entführer, dass Mariem nun in dieser oder jener Ortschaft

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sei – auch wenn sie in Tat und Wahrheit immer im gleichenHaus gefangen gehalten wurde. Dies wusste ihr Vater freilichnicht. Er klammerte sich an jeden Strohhalm, und das geradeverdiente Geld wurde umgehend in die Suche nach seiner ge-liebten Tochter gesteckt.

Tage später folgte der nächste Anruf. Wieder fragte Saleh,wer am Apparat sei.

«Ich bin Zacharia», sagte die Stimme. «Deine Tochter istbei mir, und ich will ein Lçsegeld. Hast du welches?»

«Nein, aber ich leihe mir Geld und bringe es.» Die Familietat alles, um Mariem wiederzubekommen.

Die Mutter weinte jeden Tag bitterlich. «35 Tage konnteich nicht schlafen, und mein Mann auch nicht. Er suchte ruhe-los überall, doch wir fanden sie nicht. Wir beteten jedenAbend und vergossen Tränen. So lagen wir, die ganze Familie,nachts im gleichen Bett, auch die beiden verbliebenen Tçch-ter.» Jeden Freitag gingen die vier in die Kirche und flehtenauch dort Gott an, dass er ihre geliebte Tochter zurückbringenmçge. Die ganze koptische Gemeinschaft nahm Anteil.

Alle zwei Tage kam nun ein Anruf. «Wir wollen 15.000ägyptische Pfund», forderten die Kriminellen – für die Familieeine unverschämte Summe. Zu diesem Zeitpunkt waren dasumgerechnet rund 2000 Euro. Bei einem solchen Drama wäreein derartiger Betrag in Mitteleuropa natürlich machbar. FürSaleh aber, wie für viele andere ¾gypter in dieser Gegend,war dies mehr als ein Jahreslohn – und dies gefordert von ei-ner Familie, die von der Hand in den Mund lebt und kaumetwas Nennenswertes auf der Seite hat. Dazu kam die Dro-hung: «Wenn du zur Polizei oder zum Geheimdienst gehst,tçten wir deine Tochter. Dann siehst du sie nie wieder.»

Großen Sinn hätte dies ohnehin nicht gemacht, das zeigenviele vergleichbare Fälle zur Genüge. Was die Entführer nicht

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wussten: Der Vater hatte natürlich längst auch das versuchtund war schon bei den Hütern des Gesetzes vorstellig gewor-den. Doch die forderten 10.000 Pfund, damit sie überhaupterst einen Finger rührten; wobei das Hauptengagement sichwohl auf das Einstecken des Geldes beschränkt hätte.

Langsam verringerten die Erpresser die geforderte Summe,sie verlangten nun 10.000 Pfund, so viel, wie die Polizei ein-streichen wollte, damit sie die Ermittlungen aufnimmt. DieEntführer hatten längst gemerkt, dass Mariem ihrem Glaubenauch unter erheblichem Druck nicht absagte, und so wolltensie zumindest Geld mit ihr verdienen.

«Ich zahle die Summe», versprach der Vater, als der nächsteAnruf kam.

«Hast du das Geld?»«Nein, aber ich werde es mir leihen und euch bringen!» –

Die Telefonate begannen sich zu gleichen.

Wir unterbrechen unsere Recherchegespräche und setzen unsan den Tisch nahe beim Fenster. Mutter Bichita hat den Tischgedeckt, es gibt warme Fladenbrote und zwei Sorten Frisch-käse. Das Mahl ist einfach und schmackhaft. Dazu wird war-mer Tee gereicht, und zur Feier des Tages machen Pepsi undSprite die Runde – etwas, das sich die Familie sonst eigentlichnicht leisten kann.

Alle paar Minuten ist ein Flugzeug zu hçren, das bei sei-nem Landeanflug über dem Viertel absinkt, um wenig späterauf einer der Pisten des «Cairo International Airport» auf-zusetzen. «Ich mag die Flieger», sagt Mariem mit leuchtendenAugen. «Ich mçchte auch einmal eine Flugreise machen.»

Damina und Ranya, die kleinen Schwestern, schauen sichmittlerweile auf meinem Laptop Bilder aus Pakistan an. Essind Aufnahmen von Frauen, die ¾hnliches erlebt hatten wie

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ihre Schwester. Die Solidarität der beiden Mädchen mitTeena und Maria aus Pakistan ist groß, denn auch die beidenjungen ¾gypterinnen erfuhren ebenfalls bereits in ihren jun-gen Jahren, was Leiden heißt.

Dann sind wir wieder mitten in Mariems Geschichte. Mitletzter Kraft hatte sich der Vater schließlich Lçsegeld für ihreFreigabe «pumpen» kçnnen. Vereinbart war die Übergabe inNordägypten. Saleh reiste mit Mariems Verlobtem hin. DasTelefon klingelte. Mariem war selbst am Apparat. Eine großeSache, mehr als dreißig Tage hatte Saleh ihre Stimme nichtmehr gehçrt. «Papa! Ich bin in einem Auto, weiß aber nicht,wohin wir fahren.»

Wie von den Entführern gefordert, steckte er die 10.000Pfund nun in eine Tasche und stellte diese diskret auf denGehsteig, dann gingen die beiden Männer weiter. Die Bandehatte gedroht: «Wenn wir euch bei der Tasche stehen sehen,erschießen wir euch.»

Aus der Ferne sahen sie, wie ein schwarzer Wagen amTrottoir hielt und die Tasche ins Fahrzeug holte. Mariem warnun laut den Entführern in einem anderen Auto auf demHeimweg.

«Ich konnte nichts sehen, da man mir die Augen verbundenhatte», erinnert sich Mariem. «Von abends um zehn Uhr bismorgens um vier fuhr der Jeep kreuz und quer durch Kairo.Ich wusste nur, dass er getçnte Scheiben hat und dass michniemand sehen würde. Geredet haben sie nicht mit mir.»

Kurz bevor sie aus dem Wagen gelassen wurde, erhielt siewieder eine heftige Ladung des Knock-out-Sprays ins Ge-sicht. Immer wieder hatten der Vater und ihr Verlobter – diemittlerweile aus Nordägypten zurückgekehrt waren – überall-hin telefoniert, nach Hause und auf das Handy von Mariem,

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wo sie denn nun sei. Endlich, endlich, morgens um vier Uhrder erlçsende Anruf. Er kam von den Entführern: «DeineTochter ist jetzt bei der Ramses-Station!»

Nach kurzer Zeit trafen die beiden Männer bei KairosHauptbahnhof ein. Tatsächlich hatten die Übeltäter Marieman dem Ort, der nach Pharao Ramses II. benannt ist, abge-laden. Das Mädchen hatte ein geschwollenes Gesicht. Hände,Arme und Beine hatten verschiedene Farben von den Schlä-gen; sie schwebte zwischen Leben und Tod. In hçchster Eilebrachten ihre beiden Fürsorger sie zum nächsten Arzt, derMedikamente und Salben verabreichte, zuerst aber Rçntgen-aufnahmen machte und feststellte, dass die Folter keine Brü-che hinterlassen hatte.

Weinend schloss die Mutter ihre Tochter in die Arme, di-cke Freudentränen kullerten auch den beiden kleinen Schwes-tern die Wangen hinunter. Die meisten Christen der Gegendvernahmen den freudigen Lärm und eilten herbei. Sie jubeltenmit, sprachen von einem Wunder und dankten Gott. Auch ei-nige Muslime aus der Nachbarschaft erschienen und gratulier-ten. Nach einem kleinen Fest schlief Mariem zwei volle Tagedurch. Die Strapazen und die Brutalität der Täter waren ihrextrem an die Substanz gegangen.

Am Tag ihrer Freilassung kamen noch zwei oder drei an-dere Mädchen per Lçsegeld wieder frei.

Heute verlässt Mariem das Haus nicht mehr alleine. «Ich habeAngst und gehe nur noch mit Vater, Mutter oder meinem Ver-lobten nach draußen. Und ich denke immer an die Mädchen,die noch gefangen sind, und ich bete für sie.» Früher hattendie drei Schwestern in der Kirche mitgearbeitet, um dafür et-was Geld zu erhalten. Heute schicken die Eltern sie nichtmehr hin, wegen der Gefahr, unterwegs entführt zu werden.

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Die Polizei sei hierhergekommen, kurz nachdem sie ihreFreiheit wiedererlangt hatte. Die Uniformierten stellten Fra-gen, schienen sich aber nicht für die eigentliche Tat zu interes-sieren. «Eine junge Frau war tot aufgefunden worden, und diePolizei wollte wissen, ob ich die Tote bin oder ob ich nochlebe.»

Wütend auf Gott sei sie nicht, meint Mariem. «Ich sagtebereits während der Gefangenschaft zu ihm: ‹Lieber Gott,ich bin deine Tochter. Wenn es dein Wille ist, dass ich hiergefangen bin, dann akzeptiere ich das. Wenn es nicht vondir ist, dann bringe mich bitte nach Hause.›» ¾hnlicheWorte gingen Mariems Mutter über die Lippen: «Mein Gott,Mariem ist deine Tochter. Was du tust, ist gut für alle. DeinWille geschehe!»

Die Entführung habe die Familie nicht an ihrem Glaubenzweifeln lassen, sagt die Mutter: «Gott war bei uns, und erhat dieses Problem gelçst. Wir sind im Glauben gewachsen.An Gott halten wir fest, und wir bleiben ihm immer treu.»Gott habe ihr herausgeholfen, betont Mariem: «Ich bleibe im-mer bei ihm.»

Insgesamt hat die Familie sieben Kinder, die beiden ältestenTçchter sind in Südägypten verheiratet, gefolgt von zweiSçhnen und den drei Mädchen, die wir bei unserem Besuchantreffen.

Eigentlich hatte Mariem zu Ostern heiraten wollen. Aberalles Geld der Familie und noch weit mehr war in die Taschender Erpresser geflossen.

Mariem hält eine kleine Katze in ihren Armen. «Währendder 35 Tage, die ich weg war, ist sie nie nach Hause gekom-men, weil sie mich so vermisst hat.» Zärtlich streicht sie demhageren weißen Geschçpf durch das Fell. Das kleine Ding rä-kelt sich, lässt sich kraulen, genießt die Zuwendung. «Ich be-

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te, dass weniger koptische Mädchen entführt werden unddass diese Bedrohung ganz aufhçrt.»

Nach wie vor führen Fundamentalisten in Kairo und ande-ren Städten Häuser, in denen junge Koptinnen gefangen ge-halten werden. Manche versucht man zum Islam und ineine Ehe mit einem Muslim zu zwingen, andere werden alsProstituierte oder Drogenkuriere gehalten. Seit der ägyp-tischen Revolution wenden Terroristen mehr Gewalt gegenChristen an, sie nutzen die Zeit, in denen der Staat wenigerKontrolle ausübt. Auch früher gab es Übergriffe wie jenegegen Mariem: «Damals haben wir Kopten nur alle paarWochen einen solchen Fall registrieren müssen», bedauertMedhat Klada. «Seit der Revolution geschieht dies leidertäglich.»

In Mariems Gegend wurden zur gleichen Zeit FaridaNayeem Youssef (24), Amal Zakria Shawky (17), Heba AdelIskander (30) und viele weitere verschleppt. Heba ver-schwand, als sie ihren Sohn in den Kindergarten bringen woll-te, Farida wurde auf dem Heimweg entführt.

Dann stehen wir wieder auf der staubigen Fahrbahn. Zu Fußmarschieren wir vorbei an Siedlungsblçcken im Rohbau, vondenen aber einige Etagen mçglicherweise bereits bewohntsind. Übelriechende Kloaken säumen den Weg, da und dortsteht eine Palme, die von üppigen dunklen Rauchschwadenumwirbelt wird. Unsere Bemühungen, die allgegenwärtigenFliegen zu verscheuchen, sind wenig nachhaltig.

In welchem ¾gypten werden Mariem und ihre kleinenSchwestern groß werden? Sicher ist, sie werden in dem Landaufwachsen, von dem die Heilige Schrift sagt, dass es einst zu

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einem Friedensreich gehçren wird. Sicher ist aber auch, dasssie derzeit in einem Land leben, in dem dunkle fundamen-talistische Kräfte ihre Chance kommen sehen und vçllig ent-fesselt an die Macht drängen.

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Der Journalist Daniel Gerber lässt viele ehemalige Esoterik-Hardlinerzu Wort kommen. Leute, denen keine Praktik fremd und kein Grenz-bereich zu ungeheuer war und die sich voller Elan jede Art von «Ge-heimwissen» aneignen wollten. Leute, die ernsthaft suchten – die ei-nen nach Macht, die andern nach Liebe – und die sich im Laufe derJahre immer stärker von dunklen Kräften umgeben und auf die Ver-liererstraße gedrängt sahen. Was sie über ihre nie enden wollendeSuche, ihre Experimente, ihre negativen Erfahrungen und ihre im-mensen Enttäuschungen zu berichten haben, geht unter die Haut.

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Daniel Gerber:Mir blieben nur Gebet und Tränen208 Seiten, Taschenbuch, 12 x 19 cm

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Es klingt bizarr und ist doch für viele teils minderjährige Christinnenin Pakistan brutale Realität: Sie werden entführt und unter Todesdro-hungen gezwungen, ein Papier zu unterschreiben, auf dem steht,dass sie zum Islam konvertiert sind. Anschließend erfolgt dieZwangsheirat mit einem Muslim. Kaum vorstellbar, welche Nçtediese jungen Frauen und ihre Familien durchstehen. Und keiner hilftihnen außer ein paar mutigen pakistanischen christlichen Anwälten,die sich für die gepeinigten Frauen wehren. Und das unter Einsatz ih-res eigenen Lebens ... Der Journalist Daniel Gerber war in Pakistanund besuchte befreite Frauen wie auch ihre Helfer. Dies ist sein Buch.