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NZZ am Sonntag 19. Oktober 2014 Bildung Ab wann sollen Kinder Fremdsprachen lernen? Und welche soll in den Schulen zuerst kommen? Die politische Debatte und wissenschaftliche Hintergründe Aufruhr im Land der vielen Sprachen SONJA RUCKSTUHL

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NZZamSonntag 19. Oktober 2014

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2 NZZamSonntag 19. Oktober 2014Bildung

Hoch über den Wolken,irgendwo zwischenKa-nada und der Schweiz,hat er eine Notiz ge-macht. Und damit denhelvetischen Sprach-frieden zu Grabe getra-

gen. Er, das ist Ernst Buschor, Erzie-hungsdirektor im Kanton Zürich von1995 bis 2003. Er wird gemeinhin ge-nannt, wenn man nach der Ursache fürden Sprachenstreit fragt, der die Schweizseit bald zwei Jahrzehnten bald mehr,bald weniger beschäftigt.Buschor befand sich 1996 auf dem

Rückflug von einem internationalen bil-dungspolitischenKongress. Europa aller-dings war dort kein Thema gewesen. DieBegründung: «We are not interested inthe museum of the world», wie ein süd-koreanischer Delegierter auf denHinweisBuschors auf wichtige europäische Ent-wicklungen sagte. «Europawar rückstän-dig», erinnert sich Buschor. Englisch undInformatik hatten einen geringen Stel-lenwert, die Bildungspolitik war intro-vertiert und konservativ.Auf besagtemRückflug also skizzierte

Buschor auf einem Blatt Papier das Bildeiner modernen Schule mit Computernim Klassenzimmer und vor allem: mitEnglischunterricht ab der ersten Primar-schulklasse. Zurück in Zürich,wies er sei-ne Mitarbeiter an, ein solches Schulpro-jekt zu lancieren –mit der Idee, es späterverbindlich einzuführen. Ein Jahr späterpräsentierte Zürich das Schulprojekt 21.Es brach ein Gewitter der Entrüstung

los über dem Zürcher Reformturbo, wieer es nie vorausgesehen hatte. «Man istmir beinahe an den Kopf gesprungen.»Der damalige Präsident der Erziehungs-direktorenkonferenz (EDK), der BernerPeter Schmid, kritisierte das Vorpreschenseines Zürcher Amtskollegen als Affrontfür die Romands. Und die Genfer Bil-dungsministerin Martine BrunschwigGraf sah das Ende des Frühfranzösisch inder Deutschschweiz, noch bevor es rich-tig eingeführt wordenwar: «Ich befürch-tete, dass die Einführung des Englisch in

EineFragespaltetdasLandWelcheFremdsprache soll zuerst gelehrtwerden?AndieserFrage reiben sichPolitiker, Fachleute, Sprachregionen seitJahrzehnten.AmAnfangdesSchweizer SprachenstreitsstandenZürcherSchulreformpläne, amEndekönnteer zueinernationalenAbstimmung führen.VonRenéDonzé

der Primarschule früher oder später zurDiskussion über die beiden Fremdspra-chen führt», sagt sie heute. «Und ich gingdavon aus, dass wir Romands dabei amEnde verlieren würden.» Sie sollte nichtganz unrecht haben.

Welschewaren zuerstDabei hatten die Kantone damals geradeerst den Fremdsprachenunterricht eini-germassen koordiniert. Langewar dieserweitgehend der höheren Bildung vorbe-halten gewesen. In den 1960er Jahrenkames dann zu ersten Schulversuchen inder Primarschule. Erste Kantone, etwadas Wallis, führten Anfang der 1970erJahre das Obligatorium ein. Flächen-deckend wurden die frühen Fremdspra-

sprache automatisch eine zweite Landes-sprache gemeint – nicht etwa Englisch»,sagt Zemp.Der Weg schien also in den neunziger

Jahren definitiv frei für eine nationaleSprachenstrategie, als der Zürcher Regie-rungsrat Buschor mit seinem Früheng-lisch den Frieden störte. Auch andereKantone, vorab aus der Ost- und Inner-schweiz, unterstützten die Frühenglisch-förderung und bestritten die Kohäsions-gefährdung. Französisch statt Englischan der Primarschule schien, vorab auswirtschaftlicher Sicht, durchaus auchseine Logik zu haben. Unterstütztwurdeder Zürcher Schulversuch denn auch ausWirtschaftskreisen.

Der Kampf der KantoneImWissen darum, dass Zürich ein Signalaussendet, welches die zweite Landes-sprache an der Primarschule gefährdenkönnte, versuchte die EDKdas Frühfran-zösisch zu retten. 1998 gab sie die Emp-fehlung ab, mit dem Englisch obligato-risch erst ab der 7. Klasse zu beginnen.Doch Zürich liess sich nicht beirren: «Wirhätten das Frühenglisch auch im Allein-gang eingeführt», sagt Buschor. An derdenkwürdigen Plenarversammlung derErziehungsdirektoren im Jahr 2000 inMontreux kam es zu hitzigen Diskussio-nen zwischen den Befürwortern vonEnglisch und jenen einer zweiten Lan-dessprache an der Primarschule. Docheine Einigung scheiterte an den schierunvereinbaren Haltungen Zürichs undderWestschweizer Kantone.Erst 2004 konnten sich die Erzie-

hungsdirektoren zumModell 3/5 durch-ringen: einem Kompromiss, mit demzwei Fremdsprachen auf die Primarstufeverlegt wurden. Die erste Fremdsprachewird spätestens in der dritten Klasse, diezweite in der fünften Klasse eingeführt.Mit diesemKompromiss konnten die Er-ziehungsdirektoren auch verhindern,dass sich der Bund in den Sprachenstreiteinmischt. Dort hatte eine parlamenta-rische Initiative von Didier Berberat imNationalrat bereits 2001 eine Mehrheit

BS

BL

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AG ZH

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TG

AIAR

SG

2. Landessprache / Englisch

Französisch ab dem 3. SchuljahrEnglisch ab dem 5. Schuljahr

Deutsch ab dem 3. SchuljahrEnglisch ab dem 5. Schuljahr

Englisch / 2. Landessprache

Englisch ab dem 3. Schuljahr (ZH: 2. SJ)Französisch ab dem 5. Schuljahr

Englisch ab dem 3. SchuljahrFranzösisch ab dem 6. (AG)oder 7. SJ (AI, UR)

Besondere Lösungen

GR: D., I. oder Romanisch ab dem 3. SJ,E ab dem 5. SJ

TI: F ab dem 3. SJ,D ab dem 7. SJ, E ab dem 8. SJ

3./5./7. Schuljahr =7./9./11. Schuljahr nach Harmos

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SZ

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FR

VD

JU

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LU

Stand der Umsetzung des Fremdsprachenunterrichts in der Primarschule

Beschränkte Koordination

Quelle: «Ich lerne Sprachen», Informationsbroschüre der Erziehungsdirektorenkonferenz 2013

Sprachunterricht der alten Schule im Sprachlabor. (1. 3. 1999)

chen 1975 zumThema. Dann empfahl dieEDKdenKantonen denUnterricht ab der4. oder 5. Klasse. Dabei ging es nicht nurum eine Vorverlegung der Sprachver-mittlung, sondern auch umderen didak-tische Optimierung, bessere Lehrmittelund Ausbildung der Lehrer. In der West-schweiz, dem Tessin und den zweispra-chigenKantonenwurde der Empfehlungrasch Folge geleistet. Die Deutsch-schweiz hinkte hinterher. In mehrerenKantonen blockierten Volksinitiativendas Frühfranzösisch, die jedoch dannverworfen wurden (Thurgau und Zürich1988, St. Gallen 1989).Der Siegeszug der Fremdsprachenwar

für die Sprachminderheiten ein Erfolg:«Das frühe Lernen einer zweiten Landes-

sprache ist auch ein Zeichen der Zuwen-dung zur anderssprachigen Bevölkerungder Schweiz», sagt Brunschwig Graf. Essei auch eine Frage der nationalen Kohä-sion. Die Nachkriegsgenerationen dies-und jenseits der Saane sollten einanderbesser verstehen lernen.Auch der Schweizerische Lehrerverein

(SLV)machte sich damals für Frühfremd-sprachen stark. «Die Lehrerinnen undLehrer erkannten schon früh den Wertvon Fremdsprachen in der Bildung derKinder und Jugendlichen. Damitwerdenihre Berufsperspektivenmassiv verbes-sert», sagt Beat Zemp, Präsident des SLV-Nachfolgeverbandes LCH (DachverbandLehrerinnen und Lehrer Schweiz). «Undselbstverständlichwarmit früher Fremd-

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Nächster Infoanlass:

Mo 27.10.2014 in Olten

www.fhnw.ch/wirtschaft/infoanlass

gefunden, wonach als zweite Spracheeine Amtssprache gelehrt werden soll.

Im Sprachenkompromiss einigten sichdie Deutschschweizer Kantone nahe derSprachgrenze darauf,mit Französisch zubeginnen, jene weiter östlich mit Eng-lisch. Die Romandie beginntmit Deutschund lehrt Englisch als zweite Fremdspra-che. Am Ende sollten alle Schüler in bei-den Sprachen dieselben Grundkompe-tenzen erreichen. «Das war ein politi-scher Kompromiss und kein pädagogi-sches Konzept», sagt Buschor. Auch da-gegenwurden in fünf KantonenVolksin-itiativen lanciert: Diesmal nicht explizitgegen Frühfranzösisch, sondern gegenzwei Fremdsprachen an der Primarschu-le. Unterstützt wurden sie auch aus Leh-

rerkreisen, die eine Überforderung derKinder befürchteten. Und doch wurdendiese Initiativen 2006 in den KantonenSchaffhausen, Thurgau, Zug und Zürichabgelehnt, in Luzern wurde das Begeh-ren daraufhinwieder zurückgezogen.

Lehrplan 21 fördert OppositionDasModell 3/5 ist heuteweitgehendum-gesetzt, steht aber auf wackligen Beinen(Grafik). Bereits vonAnfang an nichtmit-getragen hat es der KantonAppenzell In-nerrhoden, der Französisch auf die Ober-stufe verbannte undmit Englisch in derdritten Primarklasse beginnt. Uri hatItalienisch ab der fünften, aber bloss alsWahlpflichtfach, und Französisch ab derOberstufe. Der Aargau beginnt mit Fran-

zösisch erst in der sechsten Klasse, dieVorverlegung auf die fünfte ist vorgese-henmit der Einführung des Lehrplans 21.

Nunwittert die Opposition gegen zweiFremdsprachen an der Primarschule er-neut Morgenluft. Im Windschatten derDebatte über den neuen Lehrplan 21 fürdie Deutschschweizer Kantone wurdenin mehreren Kantonen Vorstösse undInitiativen lanciert, die das Fremdspra-chenkonzept infrage stellen: ImThurgauund in Schaffhausen hat sich das Parla-ment bereits gegen Frühfranzösisch aus-gesprochen, in Nidwaldenwar es die Re-gierung. In den Kantonen Bern, Obwal-den und Solothurn sindVorstösse imPar-lament gescheitert. Doch längst sind esnichtmehr bloss konservative politische

Kreise, die den Sprachenkompromisshinterfragen, auchVertreter anderer Par-teien undFachleute tragen die Kritikmit.

Sekundiert werden sie zunehmendaus der Lehrerschaft. Selbst der natio-nale Verband, einst Kämpfer für den frü-hen Sprachunterricht, warnt vor einemScheitern. Unprofessionell und halbher-zig seien die Fremdsprachen in vielenKantonen eingeführt worden, sagt LCH-Präsident Beat Zemp. «Die Politik hates verpasst, die nötigen Rahmenbedin-gungen für einen erfolgreichen Fremd-sprachenunterricht zu schaffen.» DiewenigenWochenlektionen, welche denFremdsprachen zugestanden werden,reichen nicht aus für erfolgreiches frühesSprachenlernen. Die Lehrerschaft mo-niert, dass zuwenig Ressourcen für einenseriösen Sprachunterricht in kleinenLerngruppen zur Verfügung gestellt wer-den. Aus dem geplanten spielerischenSpracherwerb mit Hören und Sprechenwurde ein benotetes Fach, dasmancher-orts promotionsrelevant ist.

2015wird entscheidend seinNun steht die Schweiz erneut vor der Fra-ge, ob eine nationale Sprachenstrategiegefunden werden kann. Die Erziehungs-direktoren werden im Oktober um eineLösung ringen, mit der die Koordinationdes Sprachenunterrichts gerettet oderneu aufgegleist werden kann. Die Zeitdrängt: Nächstes Jahr müssen sie Bilanzablegen darüber, ob ihnen die Harmoni-sierung des Schulwesens gelungen ist.

Bereits jetzt aber wird auf Bundes-ebene darüber diskutiert, denUnterrichteiner zweiten Landessprache in der Pri-marschule im Sprachengesetz festzu-schreiben. Die Bildungskommission desNationalrates will im Winter über eineentsprechende Initiative entscheiden.Auch Bundesrat Alain Berset hat ange-kündigt, der Bund werde im Notfall ein-schreiten. Ein solcher Schiedsspruch ausBern würde für die DeutschschweizerKantone bedeuten, dass sie mit Franzö-sisch beginnenmüssten, sollten sie sichauf eine Frühfremdsprache beschrän-ken. Französisch zuerst würde auchder LCH unterstützen, und Englisch alsWahlpflichtfach ab der 5. Klasse. Damitwäre Buschors Vision nach rund 20 Jah-ren definitiv auf dem Boden der helve-tischen Realität gelandet. Allerdings istgegen ein solches Gesetz das Referen-dum absehbar, und damit eine nationaleVolksabstimmung zur Sprachenfrage –etwas, das vorab in derwelschen Schweizungute Gefühle weckt.

Die ehemalige Genfer Erziehungsdirek-torin kämpfte gegen das VorpreschenZürichsmit dem Frühenglisch.

Martine Brunschwig Graf

DiePolitik hat esverpasst, die nötigenRahmenbedingungenfür einen erfolg-reichenFremd-sprachenunterrichtzu schaffen.Beat Zemp, Präsident LehrerverbandSchweiz

jeannottat
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NZZamSonntag 19. Oktober 2014 5Bildung

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Managementprogramme derManagementprogramme derHBM UnternehmerschuleHBM Unternehmerschule

•Management von Wachstum in•Management von Wachstum inTechnologieunternehmen (TU-HSG)Technologieunternehmen (TU-HSG)8 Modulwochen8 ModulwochenStart: 18. Mai 2015 | Ende: 28. Okt. 2016Start: 18. Mai 2015 | Ende: 28. Okt. 2016

• Das Advanced Management Program• Das Advanced Management Program(AMP-HSG) der Universität St.Gallen(AMP-HSG) der Universität St.Gallen4 Modulwochen4 ModulwochenStart: 18. Mai 2015 | Ende: 28. Okt. 2016Start: 18. Mai 2015 | Ende: 28. Okt. 2016

Informationsanlass:

Dienstag, 18. November 2014

Hotel Radisson Blu, Flughafen Zürich, 18:00 Uhr

Anmeldung: [email protected]

Gerne beraten wir Sie in einem persönlichen Gespräch!

Nadja Barthel, ProgrammleiterinTel. 071-224 7501E-Mail: [email protected]

www.unternehmerschule.unisg.ch

NZZ amSonntag:Wollen wir uns aufDeutsch oder auf Französisch unterhal-ten?

Anne-Catherine Lyon: Sie könnenIhre Fragen auf Deutsch stellen.Wennes Ihnen nichts ausmacht, werde ich aufFranzösisch antworten.Wie wichtigDeutschkenntnisse sind, weiss ich auseigener Erfahrung, denn ich beherrschedie Sprache nicht sehr gut.

Sprechen Sie nicht gerne Deutsch?Nein. Ich lernte Ende der 1970er,

Anfang 1980er Deutsch. Damals war derUnterrichtsstil rigide und überhauptnicht an der Kommunikation orientiert.Der Anspruchwar ein perfektesDeutsch. Dasmachte auf uns SchülerEindruck.Wer nicht zu dieser Perfek-tion fähig war, lernte nichts. ZumGlückhat sich das verändert. Der Sprachunter-richt hat sich geöffnet. Heute lieben dieKinder den Deutschunterricht, weil siedie Sprache unter anderem über Liederund Poesie ungezwungen erlernen.

Aber Sie lernten ebenfalls bereits Deutschauf der Primarstufe?Ja, damals wurde ab der fünften

Klasse Deutsch unterrichtet. Das galtaber nicht für alle, da imKantonWaadtzu dieser Zeit schon vor Ende der Pri-marschule prägymnasiale Klassen gebil-det wurden und nur deren Schüler aufPrimarstufe Deutsch lernten. Heutelernen alle Kinder ab der dritten KlasseDeutsch. Deutschwirdwie diemeistenFächermit Noten bewertet und zählt fürden Übergang ins Gymnasiummit Fran-zösisch undMathe zu den drei entschei-denden Fächern.

Finden Sie diese starke Gewichtung desDeutschen gut?Auf jeden Fall, ich habemich sogar

persönlich dafür eingesetzt. Das ist zwaranspruchsvoll für die Schüler, aber not-wendig. Darum enttäuscht esmich, dasseinige Deutschschweizer Kantone demFranzösischen nicht den gleichen Stel-lenwert geben und es auf Primarstufeabschaffenwollen. Damit riskierenwirden nationalen Zusammenhalt.

Warum ist das wichtig für den nationalenZusammenhalt? Vor wenigen Jahrzehn-ten noch war Französischunterricht vonuntergeordneter Bedeutung an Deutsch-schweizer Schulen und das Deutsch nochweniger etabliert an Schulen der franzö-sischsprachigen Schweiz. Trotzdem fieldas Land nicht auseinander.Esmagnoch keinen obligatorischen

Sprachunterricht gegebenhaben, dafürexistierte ein intensiver Austausch zwi-schen den Sprachregionen – und auch

ein stärkeres Gefühl des Zusammenhalts.DasWelschlandjahrwar eine starke Tra-dition der Deutschschweizer. Auch dieRomands verbrachten gerne ein Jahr inder Deutschschweiz. Die Förderung desSprachaustauschs istmir deshalbwichtig– obwohl er den Sprachunterricht nichtersetzen kann. Er kann jedoch seine kul-turelle Dimension verstärken.

Warum hat sich das verändert?Da bin ich überfragt. Vielleicht gibt es

heutemehr Druck, gleich nach derSchule weiterzumachenmit Studiumoder Lehre? Auf jeden Fall gab es frühereinen stärkeren Austausch. Ich binimmer erstaunt, wie selbstverständlichmeine älteren Deutschschweizer Kolle-gen in der interkantonalen Konferenzder Bildungsdirektoren Französischbeherrschen. Irgendwann scheint es daeinen Bruch gegeben zu haben.

In der Romandie hat Deutsch eher nochan Bedeutung gewonnen. Sprechen dieJungen heute besser Deutsch?Auf jeden Fall. Meine Nichten und

Neffen etwa lieben Deutsch. Einer vonihnen, er ist achtzehn Jahre alt, hatsoeben ein Jahr in Zürich verbracht. Erkam bilingue zurück – er hat ohne gros-sen Effort Schweizerdeutsch gelernt.Zuvor hat er die zweisprachigeMaturagemacht. Und er hatte schon von kleinauf einen entspannten UmgangmitDeutsch. Bei unswar der Deutschunter-richt noch viel verkrampfter. Dochumdieses Niveau zu erreichen,musstemein Neffe früh beginnen. Das Glückhatte ich nicht. Ich bin zwar zweispra-chig aufgewachsen, weil meineMutter-sprache Englisch ist. Deutsch kam beimir aber zu kurz. Vonmeiner Biografiehermüsste ich sagen: Lassenwir das

Deutsch fallen und konzentrieren unsauf Englisch. Doch das wäre falsch.

Genau das schlägt Patrick Aebischer,Rektor der ETH Lausanne, ja vor: Mansolle in der ganzen Schweiz Englisch alserste Fremdsprache unterrichten.Herr Aebischer wünscht sich, dass

alle Schüler eine zweite Landesspracheund Englisch lernen. Bei der Reihen-folge ist er wohl etwas fest von seinerRolle als Präsident einer internationalanerkannten Hochschule geprägt, woEnglisch in der Tat eine grosse Rollespielt. Dabei zeigen Studien, dass nichtEnglisch als Erstes für den Erfolg ent-scheidend ist, sondern eine zweite Lan-

Anne-Catherine Lyon

Die 51-jährige Staatsrätin ist seit zwölfJahren Vorsteherin des Departementsfür Bildung, Jugend und Kultur desKantonsWaadt und ist Mitglied der SP.Ihr Studium der Rechtswissenschaftenhat sie in Lausanne und Brüssel absol-viert. Sie präsidiert die Konferenz derBildungsdirektoren der französischenund italienischen Schweiz (CIIP) sowiedie Schweizerische Universitäts-konferenz (SUK). Ihre Mutter ist Britin,ihr Vater ist Schweizer. Anne-CatherineLyon ist perfekt bilingue in Englischund Französisch. Hochdeutsch ver-steht sie sehr gut, sie spricht es jedochnicht gerne. (brk.)

Wer inder SchweizKarrieremachenwill,beherrschtmitVorteilzwei Landessprachen.

«Fürunsistdasschmerzhaft»DieRomands sehendieKritikderDeutschschweizer amFrühfranzösischauchals ZeichendesDesinteresses an ihrer SpracheundKultur, sagtdiePräsidentinderWestschweizerBildungsdirektoren

dessprache.Wer in der Schweiz in Poli-tik oderWirtschaft Karrieremachenwill, beherrschtmit Vorteil zwei Lan-dessprachen. Englisch kommt erst andritter Stelle.

Aber nationaler Zusammenhalt funktio-niert auch ohne Sprache. Italienisch zumBeispiel wird kaum von Deutschschwei-zern gesprochen. Und trotzdem würdeniemand behaupten, die Tessiner gehör-ten nicht zur Schweiz.Das ist nicht der Punkt. Sprachpolitik

hat auch eine symbolische Dimension.Wenn ein Landesteil kein Interesse hat,die Sprache des anderen Landesteilszu lernen und seine Kultur zu kennen,dann bedeutet das eine Distanzierung.

Genau den Eindruck haben vieleDeutschschweizer: dass die Aufregungder Romands um das Frühfranzösischeher symbolischer Natur ist. Sie fühlensich vor den Kopf gestossen.Ja, für uns ist das schmerzhaft. 75

Prozent des Landes sind deutschspra-chig und 22 Prozent französischspra-chig.Wirmüssen damit leben, dass wireineMinderheit sind, die immerwiederbei eidgenössischen Abstimmungenüberstimmtwird. Zusammenlebenheisst ja nicht nur, nebeneinanderwohnen. Die Schweiz wird alsWillens-nation bezeichnet – da geht es auch umSymbolik. Sich zur anderen Landesspra-che zu bekennen, ist ein starkes Symbol.Ichmachemir Sorgen, dass wir uns von-einander distanzieren. Es braucht einBekenntnis zur nationalen Einheit. Soein Bekenntnis ist das Französisch inden Deutschschweizer Primarschulen– wie das Deutsch bei uns.

Ist es nicht egal, ob man früher oderspäter mit dem Französischunterrichtbeginnt, solange am Ende der Schulzeitalle die gleichen Kompetenzen haben?Nein, das glaube ich nicht. Es ist

erwiesen, dassman vertiefter lernt, jefrüherman damit beginnt.

Neuere Studien zeigen, dass Kinder, diebereits im Primarschulalter eine Spracheerlernen, keinen nennenswerten Vor-sprung gegenüber Schülern haben, dieerst in der Oberstufe damit anfangen.Aber das ist doch lächerlich – nach

dieser Logik brauchteman ja gar nichtsmehr zu lernen, bis zur Oberstufe.Mathe, Deutsch: Dann könntenwirmitallem erst auf der Oberstufe beginnen.Nein, ich glaube, diese Studien sindtendenziös und habenwissenschaftlichwenigWert.Interview: Katharina Bracher,René Donzé

Bildungsdirektorin Anne-Catherine Lyon. (Lausanne, 19. 10. 14)

CÉD

RICWIDMER

jeannottat
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NZZamSonntag 19. Oktober 2014 7Bildung

Als Elira Zejnullahu nachLehrabschluss eineStelle suchte, erlebtesie nur Frust. Die ge­lernte Kauffrau schei­terte «mindestens fünf­mal» daran, dass sie

kaumFranzösisch sprach – «mehr als Ni­veau A1 erreichte ich nicht, untersteSchublade», gibt sie zu. Zum Glückschickte ihre Arbeitslosenberaterin sie inein mehrmonatiges Welschlandprakti­kum, bezahlt von der Arbeitslosenkasse.Von da an ging es aufwärts.

Die SchweizerWirtschaft hat ein gros­ses Interesse daran, dass ihreMitarbeiterauch Fremdsprachen wie Englisch oderFranzösisch, beziehungsweise Deutschin der Romandie, sprechen. EinGrund istdie Exportwirtschaft: In kaum einemLand trägt sie so viel zum Bruttoinland­produkt bei wie in der Schweiz – jederzweite Franken wird im Ausland ver­dient. Diese internationale Anbindungwird in Zukunft noch enger, sagt JürgZellweger vom Arbeitgeberverband.«Doch dank ihrer Mehrsprachigkeit hatdie Schweizer Wirtschaft im globalisier­tenWettbewerb gute Karten.»

Was das ökonomisch bedeutet, hat imRahmen des Nationalen Forschungspro­grammsNFP 56die Studie LEAPder Uni­versität Genf ermittelt. Rund zehn Pro­zent des Bruttoinlandproduktes ver­dankt die Schweiz den Fremdsprachen­kompetenzen der Mitarbeitenden. Be­sonders hoch ist dieseWertschöpfung inDienstleistungsunternehmenundder In­formatik, aber auch der Transport­, derChemie­ und der Maschinenindustrie.Dabei verkehren nicht nur Sales­Managermehrsprachig, sondern auch Einkäuferund – weniger erstaunlich – Mitgliederder Direktionen.

Berufsbranchen sind sich einigFremdsprachen zu beherrschen, lohntsich auch für die Betroffenen selber. DieWahrscheinlichkeit, entlassen zu wer­den, ist für sie halb so gross wie für Per­sonen ohne ausreichendes Französischoder Englisch. Und auch der Lohn ist hö­her: Personenmit guten Fremdsprachen­kenntnissen verdienen je nach Spracheund Geschlecht 14 bis 25 Prozentmehr.

Trotz der ökonomischen Bedeutungder Fremdsprachen hält sich der Arbeit­geberverband im Sprachenstreit zurück.Offen ist auch die Haltung des Wirt­schaftsdachverbands Economiesuisse:Der Fremdsprachenentscheidmüsse denKantonen überlassenwerden. Allerdings

sei eine Fremdsprache an der Primar­schule genug, weil sonst Mathematikund die Muttersprache vernachlässigtwürden, sagte Stefan Vannoni von Eco­nomiesuisse kürzlich. Deutlicher äusser­te sich der Direktor des Gewerbever­bands, Hans­Ulrich Bigler: Er plädiertfürs Frühfranzösisch, weil diese Sprachewichtig sei fürs Gewerbe.

Dezidiert fürs Frühfranzösisch sindauch die Trägerverbände von Berufs­lehrenmit einer Fremdsprache. Zu ihnenzählen Swissmemmit AusbildungenwieAutomatiker oder Elektroniker, Gastro­suisse oder die für die kaufmännischeGrundbildung zuständige Konferenz derkaufmännischen Ausbildungs­ und Prü­fungsbranchen (SKKAB). Auf Anfrage der«NZZ am Sonntag» sprechen sich neunVerbände für Französisch als ersteFremdsprache an der Schule aus und

In denmeisten Berufslehrenwird keineFremdsprache unterrichtet. Von rund150 beruflichen Grundbildungenbieten nur 38 Englisch oder Franzö­sisch an. Der Anteil der Lernendenmiteiner Fremdsprache ist dennochbedeutend höher; dankMassenbe­rufenwie der kaufmännischen Grund­bildung oder demDetailhandel sowieder Berufsmaturität lernt ziemlichgenau jeder zweite Lehrling Englischoder Französisch (104 796 von 210 394im Schuljahr 2012/13).

Berufslehre

DieHälfte lernt eineFremdsprache

Warum führen viele Berufslehrenden Fremdsprachenunterricht derVolksschule nicht fort, obwohl dasBerufsbildungsgesetz dies eigentlichvorschreibt? Fehlende Zeit, lautetdie häufigste Antwort, zumal derberufskundliche Unterricht immeranspruchsvoller werde. Kritiker etwavon Avenir Suisse entgegnen, dass dieBerufsverbände damit die Arbeits­marktperspektiven der jungen Erwach­senen schmälern. «Die Fremdsprachensind eine Schwäche der Berufsbil­

dung», gibt Jürg Zellweger vomArbeit­geberverband offen zu, «hiermüssenwir uns verbessern.»

Abhilfe verspricht das Konzept desbilingualen Unterrichtes, bei demdie Fremdsprache im Rahmen derBerufskunde geübtwird und damitstundenplanneutral eingeführtwerden kann. Die angehenden Köchebeispielsweise arbeiten so. Doch ohneAbstriche an den berufskundlichenInhalten geht es auch hier nicht.Daniel Fleischmann

ImBerufsleben istEnglischwichtig.Trotzdemwill dasGewerbe, dassFranzösischersteFremdspracheist. DahinterstecktmehralsstaatspolitischeÜberzeugung.VonDanielFleischmann

Französischzuerst

So viel mehr Lohn verdienen Personenmit Fremdsprachenkenntnissen jenach Sprache und Geschlecht.

14 –25%

kein einziger für Englisch – und das, ob­wohl in ihren beruflichen Grundbildun­genmeistens Englisch unterrichtetwird.

Diesen Widerspruch erklärt ArthurGlättli von Swissmem: «Wegen der Ex­portorientierung von Grossfirmen undimmer mehr auch der kleinen undmitt­leren Unternehmen hat Englisch die

grössere Bedeutung. Aber in den Primar­schulen muss eine Landessprache alserste Fremdsprache unterrichtetwerden.Aus staatspolitischer Sicht kommt keineandere Position infrage.» Praktischwort­gleich die Stellungnahme von Gastro­suisse: «Aus Gründen des nationalen Zu­sammenhalts und gegenseitigen kultu­rellen Verständnisses sind wir klar füreine Landessprache als erste Fremdspra­che. Allerdings ist Englisch – gerade iminternationalen Tourismus – von grössterBedeutung.»

Bei den kaufmännischenBerufen äus­sert man sich uneinheitlicher. Banken­vertreter Matthias Wirth etwa sieht guteGründe sowohl für eine zweite Landes­sprache wie auch für Englisch als ersteFremdsprache in der Volksschule.Wich­tig sei, dass ein gutes Niveau erreichtwerde. Eindeutiger Roland Hohl, Ge­schäftsleiter der SKKAB: Er zieht wegender unterschiedlichen Ansprüche derkaufmännischen Branchen das Franzö­sisch als Erstsprache vor.

Englisch auf demVormarschDie Präferenz der Wirtschaftsverbändefür das Französische ist erstaunlich. Imtäglichen Gebrauch liegen die Landes­sprachen zwar noch vorne (Grafik). Dochder Stellenmarktmonitor der UniversitätZürich zeigt, dass Englisch anWichtigkeitgewonnen hat. Wurden in den achtzigerJahren noch in rund 15 Prozent der Aus­schreibungen Englischkenntnisse ver­langt, sind es heute fast 30 Prozent. Fran­zösischkenntnisse werden seit Jahren inrund 17 Prozent der Stelleninserate ver­langt. Gemäss der LEAP-Untersuchung

wird Englischwährend 12 Prozent der Ar­beitszeit genutzt, Französisch während7 Prozent.

Trotzdem behält das Französischedank den Beziehungen vieler Firmen indie Romandie seine hoheBedeutung. Ge­rade weil das Englische auf dem Vor­marsch ist, brauche es gute Schulbildungin der zweiten Landessprache, heisst es.Jobfirmen wie Randstad Schweiz oderUniversal­Job berichten, es sei mittler­weile viel leichter, eine Stelle zu beset­zen, wenn Englisch­ und nicht Franzö­sischkenntnisse verlangt werden.

Die Mehrheit der angefragten Bran­chenverbände istmit den Sprachkompe­tenzen der Berufsanfänger einigermas­

Deutsch

Englisch

51,6%

Lesebeispiel:35,9% der in derDeutschschweizBefragten brauchenFranzösischpraktisch täglich,während 29,9% derin der französischenSchweiz Befragtenpraktisch täglichDeutsch brauchen.

35,9%

29,9% 17,9%

51,8%

18,6%

33,8%

27,5%

11,8%

Französisch Italienisch

Tägliche Anwendung von Fremdsprachen in der Berufswelt

Landessprachen haben Priorität

Quelle: Studie Langues étrangères dans l’activité professionnelle (LEAP), Universtität Genf

sen zufrieden. Seine Branche verfügeüber keine breit abgestützten Signale,dass die Eintretenden in eine Banklehreüber zu wenig Fremdsprachenkenntnis­se verfügen, sagt zum Beispiel Banken­vertreterMatthiasWirth.

Bei Pharmasuisse, dem Verband derPharma­Assistenten, ist man «teilweisezufrieden». Man beobachte aber nebenindividuellenUnterschieden auch grosseregionale Unterschiede. Auch Callnet,derVerbandderFachleuteKundendialog,macht diese Beobachtung: «Bei einigenSchulabgängern sind nur gerade die nö­tigen Basiskenntnisse vorhanden.» Amkritischsten äusserte sich der Ausbil­dungsverbund Aprentas, der Chemie­und Pharmatechnologen ausbildet: «DieNiveaus sind sehr unterschiedlich, teil­weise sind die Englischkenntnisse aufüberraschend tiefemNiveau.»

Diese Antworten machen auch deut­lich, dass sich die Berufsbildung ver­gleichbare sprachliche Fertigkeiten derLehrbeginnerwünscht. Diemeisten Ver­bände begrüssen darumdie imLehrplan21 angestrebte Harmonisierung. Klar istaber auch, dass selbst einheitlicheLektionentafeln wenig ausrichten kön­nen gegen unterschiedlich gute Lehreroder unterschiedlich motivierte undbegabte Schüler. Das weiss auch EliraZejnullahu. In der Westschweiz ange­kommen,war die junge Kauffrau endlichmotiviert, Französisch zu lernen, undbekam Freude daran. Schliesslich fandsie auch Arbeit: Heute ist sie in einerExportfirma für die Kontakte in die fran­kofoneWelt zuständig.

Wer Fremdsprachen beherrscht, hat auf demArbeitsmarkt die besseren Karten: Kellnerin serviert Kaffee in Zürich. (7. April 2014)

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8 NZZamSonntag 19. Oktober 2014Bildung

Am Anfang des Früh­sprachen­Booms stehteine theoretische Ab­handlung. Der deutsch­amerikanische Neuro­loge Eric Lennebergpostulierte 1967 in ei­

nem Aufsatz die Hypothese der «kri­tischen Periode». Diese besagt, dassSpracherwerb nur innerhalb eines be­grenzten Zeitfensters in der Kindheiterfolgreich ist. Danach ist das Erlerneneiner Sprache erschwert, wenn nicht garverunmöglicht. Einen Beleg glaubtenzeitgenössische Forscher in einemschweren Fall von Kindsmisshandlungaus dem Jahr 1970 gefunden zu haben:Genie, ein Mädchen von 13 Jahren, wur­de in Los Angeles von den Behördenschwer misshandelt und verwahrlost imHaus ihrer Eltern gefunden. Der Vaterhatte Genie als Säugling in einen Raumeingeschlossen, wo sie jahrelang ent­weder auf einer Kinder­Toilette festge­schnallt oder an ein Bett gefesselt vorsich hin vegetierte. Neben allen körper­lichen und psychischen Folgen diesesMartyriums hatte das Mädchen nie ge­lernt, sich verbal zu verständigen. Trotzgrossen Anstrengungen ihrer späterenPflegeeltern und von Pädagogen gelanges Genie nie, richtig sprechen zu lernen.

JüngereKinder erlerneneineZweitsprachenicht zwingendbesserals ältere, darin sind sichdieForschereinig. TrotzdemhatbessereKarten,wer schon frühund intensivmit einerFremdsprache inKontaktkommt.VonKatharinaBracher

Jefrüher,destobesser?

Der Fall Genie bestärkte LennebergsHypothese von der kritischen Periode:Verpasst man besagtes Zeitfenster in derKindheit, ist die Chance, eine Sprache zuerlernen,womöglich für immer verpasst.

Überholtes ParadigmaObwohl empirische Belege für Lenne­bergs Hypothese von der Wissenschaftfehlten, vermochte sie eine regelrechteFrühsprachen­Welle auszulösen. IhrenAnfang nahmdiese in Amerika,wo ganzeGenerationen von ehrgeizigen Eltern undLehrern nach dem Motto «Je früher, des­to besser» die Kinder in Fremdsprachenunterrichteten. Mit etwas Verspätungkam das Paradigma in den 1990ern auchin der mehrsprachigen Schweiz an. Nichtnur Elternforen und pädagogische Fach­kreise, sondern die ganze Bildungs­ undSprachpolitik des Landes richtet sichseit vielen Jahren danach. Die Schwei­

zerische Konferenz der kantonalenErziehungsdirektoren stützte 2004 ihreFremdsprachen­Strategie auf die Hypo­these der kritischen Phase. Kinder sollenschon in der dritten Primarschulklassemit der ersten Fremdsprache beginnen,heisst es im Papier.

Doch aus wissenschaftlicher Sicht istdas Paradigma der kritischen Lernphaselängst überholt. Nach der anfänglichenEuphorie bringt die Forschung heute fastausnahmslos Studien hervor, die einenVorteil des Frühsprachen­Erwerbs eherinfrage stellen. «Es existiert bis heutekeine wirklich ernstzunehmende Studie,die zeigt, dass man früher beginnenmuss mit dem Fremdsprachenunter­richt, umeine bessere Sprachkompetenzzu erreichen», sagt Raphael Berthele,Direktor des Instituts für Mehrsprachig­keit in Freiburg. Berthele hat kürzlichden Forschungsstand zum Thema Früh­sprachen­Förderung im Auftrag der kan­tonalen Erziehungsdirektoren zusam­mengetragen. «Aus empirischer Sichterscheint die Annahme einer kritischenPeriode immer wenigerwahrscheinlich»,heisst es im Fazit des Literaturüber­blicks. Lennebergs Hypothese habe sichauf den natürlichen Spracherwerb be­zogen und sei von seinen Anhängernfälschlicherweise auf den Sprachunter­

dauert es laut einer Studie, bis Jugend-liche, die kein Frühenglisch hatten,ihren Rückstand aufgeholt haben.

6Monate

ILLUSTRATION:ANDREACAPREZ

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Die Fernfachhochschule Schweiz bietetab 2015 als erste Fachhochschule eindual aufgebautes Bachelor-Studium(PiBS) in Informatik an, das Berufspraxisvollständig ins Studium integriert.Unternehmen erhalten die Chance, hoch-qualifizierten IT-Nachwuchs inhouseauszubilden.

Der Fachkräftemangel ist weiterhin das do-minierende Thema in Wirtschaft und Poli-tik. Insbesondere für die ICT-Branche sehendie jüngsten Prognosen der Berufsverbändedüster aus. Mit einem neuartigen Konzeptwill die Fernfachhochschule Schweiz (FFHS)das IT-Studium attraktiver machen und nochstärker auf die Bedürfnisse der Berufsweltausrichten. Zielgruppe des PraxisintegriertenBachelor-Studiums (PiBS) sind gymnasialeMaturanden, die kein rein theoretisches Studi-um anstreben. Ihnen ermöglicht das PiBS dendirekten Einstieg in die Arbeitswelt ohne aufeinen Hochschulabschluss zu verzichten.

Post und Swisscombieten Ausbildungsplätze

PiBS basiert auf der Kooperation zwischenUnternehmen, Studierenden und Hochschule.Die Studierenden sammeln zwei bis drei Tagepro Woche Praxiserfahrung im Unternehmen,während der restlichen Zeit absolvieren siedas reguläre Bachelor-Studium. Curriculumund praktischer Einsatz werden aufeinanderabgestimmt, um die enge Verzahnung vonTheorie und Praxis zu gewährleisten.

Für Unternehmen ist das PiBS eine Chance,hochqualifizierte Nachwuchskräfte im eige-nen Betrieb auszubilden. Dies erhoffen sichauch die Post und PostFinance, die mit derFFHS den PiBS-Studiengang Informatik mit-entwickelt haben. Pierre Marville, Leiter Be-rufsbildung bei der Post: «Die Post beschäf-tigt allein auf dem Gebiet der Informatik rund

1500 Mitarbeitende. Die nächsten Jahre wer-den eine Herausforderung, da der Markt anguten Fachkräften allgemein angespannterwird. Um unseren zukünftigen Bedarf auf al-len Bildungsniveaus zu decken, kommt unsdas PiBS deshalb sehr entgegen.» Neben ITPost und PostFinance wird auch SwisscomPiBS-Ausbildungsplätze anbieten. Der ers-te PiBS-Studiengang startet im Herbst 2015,dauert acht Semester und wird mit dem eid-genössisch anerkannten Bachelor of Sciencein Informatik abgeschlossen.Mehr Infos auf www.ffhs.ch/pibs

«Fachkräftemangel proaktiv begegnen»Frau Bouron, was hat die FFHS bewegt, einneues Studienmodell zu entwickeln?

Die Studiengänge an der FFHS sind alle praxis-orientiert ausgerichtet. Hinter dem PiBS stecktdie Idee, noch einen Schritt weiter zu gehen undStudium und Beruf noch stärker miteinanderzu verzahnen. Die Debatte um den Fachkräfte-mangel im MINT-Bereich gab schliesslich denAusschlag. Denn wir sind überzeugt, dass einengerer Bezug zur Praxis den Jugendlichen denZugang zum sonst eher abstrakten Studium In-formatik erleichtert. Auf der anderen Seite ist esfür Unternehmen eine Möglichkeit, dem Fach-kräftemangel proaktiv zu begegnen.

Welche Unternehmen sprechen Sie primäran?

Vor allem Unternehmen, die bereits eine be-triebliche Struktur für Berufsausbildung aufwei-sen, denn dies ermöglicht die Betreuung derStudierenden ohne grossen Zusatzaufwand.Sie sollten auch in der Lage sein, den Studie-renden eine breite Palette an IT-Aktivitäten mitverschiedenen Aufgaben anzubieten. Und ichbetone nochmals: Angesprochen sind alle Un-ternehmen, die sich proaktiv gegen den Fach-kräftemangel in der IT wappnen möchten.

Wie profitieren Unternehmen, diePiBS-Ausbildungsplätze anbieten?

Kurz und knapp: Sie bilden hochqualifizierteFachkräfte aus, die exakt ihren Bedürfnissenentsprechen. Der Aufwand von teuren Trainee-und Assimilationsprogrammen verschwindet.Nehmen wir als Beispiel ein Unternehmen, dasSpezialisten im relativ jungen Berufsfeld DataScientist sucht. Experten mit diesem Profilsind extrem umworben und rar. Web und Data

Science ist eine Kernkompetenz der FFHS undkann als Vertiefung gewählt werden. Mit demPiBS bildet das Unternehmen quasi seine eige-nen Data Scientists aus.

Wechseln wir die Perspektive. Wieso solltesich ein junger Maturand bzw. eine jungeMaturandin für das PiBS entscheiden?

Viele Gymnasiasten suchen eine Alternativezu einem rein wissenschaftlich-theoretischenHochschulstudium. Bisher blieben nur we-nige Möglichkeiten, direkt ab Matura in einAusbildungsprogramm eines Unternehmenseinzusteigen. Diese beinhalten jedoch keinenHochschulabschluss. PiBS bietet beides, denanerkannten FH-Abschluss sowie relevante Be-rufserfahrung. Bessere Perspektiven auf demArbeitsmarkt sind kaum möglich.

Kontakt

Anja BouronCorporate RelationsFernfachhochschule Schweiz (FFHS)Zürich, Bern, Basel, Brig+41 (0)27 922 39 [email protected], www.ffhs.ch/pibs

Das erste praxisintegrierte IT-Studium der Schweiz

Anja Bouron ist Corporate Relations Manageran der FFHS und als Projektleiterin PiBS-Ansprechperson für interessierte Unternehmen.

P U B L I R E P O R T A G E

richt imKlassenzimmer übertragenwor-den, erklärt die Linguistin Simone Pfen-ninger von der Universität Zürich (sieheInterview). Dabei finde der Zweitspra-chen-Erwerb in einem natürlichen Um-feld statt – dem sprichwörtlichen Sprach-bad des Alltags. Der Fremdsprachen-unterricht im Schulzimmer finde jedochunter ganz anderen Bedingungen statt.«Früher hat die Wissenschaft beim Al-tersfaktor nicht systematisch zwischendem natürlichen Zweitsprachen-Erwerbund dem Fremdsprachenunterricht un-terschieden», sagt Pfenninger. Heutewisseman jedoch, dass dieseUnterschei-dung wichtig sei, um den Effekt desFrühsprachen-Lernens methodisch kor-rekt zu erforschen.

Die Anglistin Pfenninger hat vor kur-zem die erste Schweizer Langzeitstudiezum Thema Frühenglisch publiziert. Da-bei hat sie die Englischkompetenzen von13-jährigen Zürcher Schülern im erstenund im letzten Oberstufenjahr getestet –die einen hatten bereits seit der Primar-schule Englischunterricht, die anderenhatten erst vor einem halben Jahr damitbegonnen. DieWissenschafterin ging derFrage nach, ob die späteren Lerner dazuin der Lage waren, ihren Rückstand auf-zuholen. «Trotz fünf Jahre Vorsprungschnitten die Schüler, die Frühenglischhatten, nicht besser ab», stellt Pfenningerfest. Die «Spätlerner» hatten ihren Rück-stand also nur innerhalb von sechs Mo-naten aufgeholt. Beim Lösen von gram-matikalischen Aufgaben waren sie sogarleicht im Vorteil.

Jüngere sind doch imVorteilAusserdem zeigten die beiden GruppenunterschiedlicheHerangehensweisen beider Lösung der Aufgaben. «Frühlernertendieren dazu, die Sprachen zumixen»,stellt Pfenninger fest. Sie hätten allge-mein einen unbefangenerenUmgangmitder Sprache, etwa, indem sie gerne freierfundene Pluralformen verwendetenoder bei den Zeitformen einfach auspro-

bierten, bis der Satz ungefähr passe.Schwach ausgeprägte Vorteile für die«Frühlerner» entdeckte dieWissenschaf-terin nur in Bezug auf die Aussprache.Schüler, die bereits in der PrimarschuleEnglisch hatten, kamen besser zurechtmit der korrekten Aussprache. Gemässfrüheren linguistischen Studien liegt dasoptimale Alter, um die Laute einerFremdsprache optimal zu erlernen, nochviel tiefer.Wer bereits zwischen fünf undsieben Jahren erstmals mit einer Zweit-sprache konfrontiert wird, habe guteAussichten, eines Tages akzentfrei zusprechen, heisst es dort.

Berthele hält selbst diese geringenVorteile der «Frühlerner» für wissen-schaftlich wenig haltbar. «Hingegen gibt

Kinder lassen sichnicht so schnellentmutigenvonLernschwierigkeitenwie Jugendliche

Simone Pfenninger,Linguistin in Zürich.

NZZ am Sonntag: Ihre Untersuchungzeigt, dass Schüler, die bereits in derPrimarschule Englisch hatten, die Spra-che nicht besser beherrschen als Schüler,die erst auf der Oberstufe damit begin-nen. Lässt sich das Resultat auch aufandere Sprachen übertragen?

Simone Pfenninger:Nurbedingt. Englisch kann mantatsächlich auf die Oberstufeverschieben, da es eine Spra-che mit hohem sozialemund wirtschaftlichem Prestigeist, die auch den SchweizerAlltag prägt. Das hat einenpositiven Einfluss auf denSpracherwerb. Französisch hatdiesen Sympathiebonus nicht.Wenn eine Fremd-sprache auf der Primar-stufe unterrichtet

Spracherwerb

«EnglischkannmanaufdieOberstufeverschieben»

werden soll, dann Französisch, aller-dings nicht, ohne die Lektionenzahl proWoche zu erhöhen.

Sie haben sich in Ihrer Studie auf Gym-nasiasten beschränkt. Hätten die Resul-tate auf Sekundarschulstufe gleich

ausgesehen?Das ist nicht sicher. Die

Gymnasiasten sind jedochleistungsstarke, hochmoti-vierte Jugendliche. Wenn sieüber so einen langen Zeitraumkeinen nennenswerten Vor-teil aus dem Frühenglisch

ziehen, dann ist mutmasslichdavon auszugehen, dass auch

Sekundarschüler nicht wesentlich vomFrühenglisch profitieren.

Dann könnte man also aus pädagogischerSicht auf Sprachenunterricht in derPrimarschule verzichten?

Ich spreche mich nicht per se gegenden Frühsprachen-Unterricht aus,sondern gegen dessen qualitative undquantitative Umsetzung. Die Tatsache,dass die Spätlerner in meiner Unter-suchung schnell aufgeholt haben, hatunter anderem damit zu tun, dass siein ihrer Muttersprache bereits gefes-tigter sind als Primarschüler, die mitFrühenglisch beginnen. Das heisst,Spätlerner können schon auf einenGrundstock an systematischem Wissenzurückgreifen, den sie für den Erwerbeiner Zweitsprache einsetzen können.Interview: Katharina Bracher

es sehr wohl Unterschiede zwischen derMotivation von jüngeren und älteren Ler-nenden», sagt Berthele. Aus der Sprach-forschung wisse man zum Beispiel, dasssich Kinder nicht so schnell entmutigenlassen von Lernschwierigkeiten wie Ju-gendliche oder Erwachsene. «Kindersind deshalb motivierter, eine Fremd-sprache zu erlernen. Was sich auch aufden Lernerfolg auswirkt», erklärt er.

Doch wie sieht es mit der vielzitiertenÜberforderung von schwachen Schülernaus, die mit zwei Fremdsprachen inder Primarschule überfordert sind?Man-che Vertreter aus der Schweizer Lehrer-schaft sprechen von bis zu 50 Prozent derSchüler, die überfordert seien mit demFrühsprachen-Unterricht. Eine Studie

der Pädagogischen Hochschule Luzernaus dem Jahr 2009 geht davon aus, dassmindestens jedes fünfte Kind in derPrimarschule überfordert ist mit demfrühen Fremdsprachenunterricht.

Sprachforscher Berthele mag sichnicht auf eine Zahl festlegen. «Das Pro-blem der Überforderung ist nicht seriöswissenschaftlich erforscht», sagt er. DieDefinition der «Überforderung» sei inden zitierten Studien den befragten Leh-rern oder den Schülern, die sich selbsteinschätzenmüssten, überlassen. Das seiweit entfernt von einer wissenschaftli-chen Vorgehensweise. «Wir müssen zu-erst exakt festlegen, was mit Überforde-rung gemeint ist», sagt Berthele. Sind dasSchüler, die generell wenig oder gar kei-nen Unterrichtsstoff aufnehmen? Meintman mit Überforderung, dass sich dieseschädlich auswirkt auf andere Fächer?Oder erleidet der Schüler selbst Schadendurch die Überforderung? All diese Fra-gen müsse man klären, um zu erfor-schen, ob die Schüler mit Frühsprachenüberfordert seien.

Die meisten Sprachwissenschaftersträuben sich dagegen, klar Stellung zumerneut aufgeflammten Sprachenstreit zubeziehen. Zu heikel ist die politische Si-tuation, zu emotional die Debatte. Zwarhat sich die aus heutiger Sicht pseudo-wissenschaftliche Behauptung, wer eineFremdsprache lernen wolle, müsse da-mit anfangen, solange das Hirn noch jungsei, längst widerlegt. Doch die Forscherwollen das nicht als Votum gegenFrühsprachen verstanden wissen. «Setztder Lernprozess früher ein, sind die ma-ximal erreichbaren Kompetenzen mög-licherweise höher, weil man mehrKontaktstunden mit der Sprache hatte»,lautet Bertheles Fazit. Wer bereits imKindesalter eine Fremdsprache lerne,habe damit aus wissenschaftlicher Sichteinen guten Boden für erfolgreichenSpracherwerb gelegt. Die Frage sei mehr,wie vielMehrsprachigkeit das SchweizerSchulsystem insgesamt vertrage.

jeannottat
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NZZamSonntag 19. Oktober 2014 11Bildung

Auf den gemein­samenAus­flügen ist das Eisgebrochen:Schülerinnenund Schüler derSekundarklassenaus Yverdon undOberwinterthur.(Winterthur,5. 9. 2014) W

ochenlanghabensich die 27 Schü-ler der Oberwin-terthurer SchuleLindberg auf dasTreffen mit denSchülern aus

Yverdon vorbereitet: Briefe geschrieben,in denen sie sich einander vorstellten,Telefonnummern ausgetauscht, eineNotration an Französisch-Wörtchen aus-wendig gelernt. Dann ist es so weit. Inweniger als drei Zugstunden treffen siein Yverdon auf «die Romands».

Eine aufregende Sache für die 14- bis16-Jährigen: Sie plaudernwild durchein-ander, einige kreischen durchs Zugabteil,andere kichern ununterbrochen. Die«Ruhe!»-Aufforderungen von Sek-Lehre-rin Regula Baumann verhallenmeist un-gehört im vollen Abteil. In Yverdon än-dert sich die Stimmung plötzlich. Kaumaus dem Zug ausgestiegen, bleiben dieOberwinterthurer erst einmal abrupt vorden Yverdonnois stehen.Wortlos.

«Es war ein Schock für sie», erinnertsich Baumann. Obwohl die 14- bis 16-Jäh-rigen darauf vorbereitet waren, dass dieSprache eine Barriere sein könnte,wurdeihnen nun zum ersten Mal richtig be-wusst: Romands sprechen eine andereSprache – was also sagen?

Hemmungen abbauenDas Zusammentreffen im Frühling warder erste Teil eines Austauschprojekts,das Baumannmit ihrem LehrerkollegenJonasWacker aus Oberwinterthur sowieDanielle Borkowsky undEstelle Leutholdaus Yverdon organisiert hatte. Währendje einer Woche – einmal in Yverdon undeinmal in Oberwinterthur – begleitetendie 54 Schülerinnen und Schüler ihrenAustauschpartner aus der anderenSprachregion in den Unterricht und ka-men in dessen Familie unter.

Die Absicht dahinter: «Sprachbarrie-ren abbauen», wie Baumann sagt. VieleDeutschschweizer Schüler hätten trotzjahrelangem Unterricht Mühe mit derfranzösischen Sprache. Am Unwillenalleine liege das nicht. «Sie haben Hem-mungen.» Ein ähnliches Bild zeigt sich imKantonWaadt. Laut Danielle Borkowsky,Lehrerin im Schulhaus Léon Michaud,ist der fehlende Kontakt zwischen den

FürvieleDeutschschweizerKinder ist die französischeSpracheabstraktund fremd.Abhilfe kanneinSchüleraustauschschaffen.DieKinder gewinnenMotivationundSelbstvertrauenund findenmanchmalneueFreunde.VonRebeccaWyss

DieMenschenhinterderFremdsprache

beiden Sprachgruppen der Grund: «Sokönnen sie den Stellenwert der Fremd-sprache nicht erkennen.»

ZumBeispiel AminRashwan: Er konn-te bis zum Schüleraustausch nicht sehrviel mit Französisch anfangen, wie ersagt. «Das änderte sich, als ich auf Naïmtraf.» Zweimal schon teilten die beidenJungs Schulbank, Freunde und Schlaf-zimmer — zuerst bei Naïm Ben Gaïed inYverdon, dann bei Amin in Oberwinter-thur. Auf die Nerven seien sie einandernie gefallen, sagt der 14-jährige Amin. ImGegenteil. «Ich habe sofort gemerkt, dasswir ähnlich ticken.»

Tatsächlichmögen beide Uni-Hockey,sie biken gerne, sie lachen über die glei-chenWitze und stammen aus ähnlichenFamilienverhältnissen: Amins Vater istÄgypter, jener von Naïm Tunesier, beideMütter sind Schweizerinnen. Währendder ganzen Austauschzeit wichen diebeiden Jungs einander nicht von der Sei-te. Weder im Unterricht noch auf demPausenplatz oder imPark beimMusikhö-ren mit Freunden. Sogar in der Zeit, inder sie einander nicht sahen, blieben sieständig per Whatsapp in Kontakt. Er seifroh, Amin kennengelernt zu haben, daseine Geschwister fast alle ausgezogenseien, sagt der 15-jährige Naïm. «Wennwir zusammen sind, ist erwie ein Bruderfürmich.»

Nicht alle nahmendas Zusammenseinmit dem Austauschpartner so ernst. Vorallem die Yverdonnois suchten immerwieder die Nähe zu ihren gleichsprachi-gen Schulfreunden, erzählt Amin. «Man-che meiner Kollegen mussten ständigihre Austauschpartner suchen. Wir hät-ten uns nie getraut, unseren Austausch-freunden davonzurennen.»

Romands lieben bauchfreiEs war nicht der einzige Unterschied.Mode, Schminke, Musik, überhaupt der«Style»,wie Amin sagt, habe oft zu redengegeben. Die Romands-Mädchen liebtenkurze Shirts und viel Schminke. «Die lie-fen nochmit freiem Bauch herum, wäh-rend wir schon lange eine Jacke angezo-gen hatten.» Die Romands wiederumverstanden nicht, weshalb ausgerechnetim hippen Zürich Hüfthosen noch nicht

FortsetzungSeite 13

FOTOS: SONJA RUCKSTUHL

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NZZamSonntag 19. Oktober 2014 13Bildung

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The monolingual and bilingual way at FGZ

Info-Anlass/Information EventZweisprachige AusbildungDienstag, 28. Oktober 2014, 18.30 Uhr, Zimmer 605

Bilingual Education ProgrammeTuesday, 28 October 2014, 6.30 pm, Room 605

Weitere Anlässe/Further events: www.fgz.ch

gegründet 1888

Der frühe Fremdsprachenunter-richt hat das Bedürfnis der jun-gen Leute nach Sprachkursennicht gebremst. Obwohl die

Schulabgänger heute bereits mindestenseine Fremdsprache ab der Primarschulegelernt haben, in vielen Kantonen sogarzwei, wollen sich viele nach ihrer Ausbil-dung sprachlich noch verbessern. DieTradition, nach der Lehre oder der Ma-tura Sprachschulen in England, USA oderKanada zu besuchen, hält ungebrochenan. 18- bis 27-Jährige decken nach wie vor80 Prozent des Marktes für Sprachreisenab. Für das laufende Jahr erwartet der of-fizielle Branchenverband der SchweizerSprachreiseveranstalter (Salta) stabile bisleicht steigende Buchungszahlen.

Die Nachfrage junger Erwachsenernach Kursen zur Erlangung von Diplo-men wie das Cambridge Certificate ofProficiency oder Diplôme d’études enlangue française – kurz Delf – ist ungebro-chen hoch. Sie stellen die wichtigstenProdukte auf dem Schweizer Markt derSprachkurs- und Sprachreisenanbieterdar. Ein Sprachdiplom wird oft von Ar-beitgebern verlangt, es ist aber auch Be-dingung für gewisse Studien. So ist bei-spielsweise das C1-Niveau in Französischund Englisch heute obligatorisch fürangehende Primarlehrer, damit sie dieSprache unterrichten dürfen.

Niveau ist nicht gestiegenNicht wesentlich gestiegen ist hingegendas sprachliche Niveau der Schulabgän-ger. Sie schneiden bei den Einstufungs-tests zu Beginn des Sprachaufenthaltsnicht höher ab als frühere Generationen,die erst in der Oberstufe Fremdsprachenlernten. «Im Gegenteil», konstatiertDominique van Bogaert, Direktor derAlpadia Language Schools in Montreux,wo überwiegend Deutschschweizer KV-Lehrlinge und Gymischüler ab 16 JahrenFranzösischkurse besuchen. «Von Jahrzu Jahr ist das Eintrittsniveau unsererSchüler eher niedriger.»

Elementar für den Fremdsprachen-erwerb seien die Schreib- und Lesekom-petenzen in der Muttersprache. DieseKenntnisse vereinfachen den Transfer indie neu zu erlernende Sprache. Docheben daran hapere es bei den Schulab-gängern. «Als Sprachkursanbieter müs-sen wir die Lehrmethoden und unsereRolle als Lehrer neu ausrichten, also ver-mehrt Lerncoaching, Motivationstrai-ning, individuelle Förderung anwenden.So lernen die Schüler tatsächlich auch dieSprache besser.»

Ungenügende Sprachkenntnisse beiSchulabgängern trotz Frühsprachen-unterricht stellt auch Michel Sägesser, Di-

rektor von Eurocentres, fest – und zwarsowohl bei den Schülern als auch bei denStellensuchenden: «Wir haben sogarSchwierigkeiten, junge Mitarbeiter mitausreichenden Fremdsprachenkenntnis-sen zu finden.»

Stützunterricht für SchülerIn Englisch schneiden die Jungen im Ver-gleich zum Französisch etwas besser ab.So ist es nicht mehr so einfach, Anfänger-kurse in Englisch zu füllen, wie eine Um-frage bei verschiedenen Sprachschulenzeigte. Michel Sägesser führt dies indeseher auf die Popkultur, den Umgang imInternet und die Globalisierung zurückals auf den frühen Englischunterricht inder Primarschule.

Das sieht Silvio Gardoni, ProjektleiterKommunikation bei der Migros Klub-schule, ähnlich: «Eher motivieren der ra-sante technologische Fortschritt, die Mo-bilität, der internationalisierte Arbeits-markt, das Interesse an Reisen und amKennenlernen von neuen Kulturen dazu,Fremdsprachen zu lernen.» Dies zeigeauch die steigende Nachfrage nach Kur-

AufpolierenundvertiefenTrotz frühemFremdsprachenunterrichtist dieNachfragenachprivatenKursengross.VonIsabellaSeemann

So hoch ist der Anteil der 18- bis27-Jährigen am SchweizerMarkt fürSprachreisen.

80%

sen in Sprachen wie Russisch, Japanischoder Arabisch.

Angeheizt hat der frühe Sprachunter-richt in den Schule vor allem auch denBedarf an Sprachkursen für Schüler. «DerFrühsprachenunterricht hat zu einer ver-grösserten Nachfrage nach Stützunter-richt geführt», sagt Roland Kriesi von Al-pha Sprachwelt in Zürich. Auch in dieserSprachschule am Zürichsee unterrichtenmeist Muttersprachler. «Da lernen siein wenigen Wochen weitaus mehr als ineinem halben Jahr an der Volksschule.»

Besonders fleissig gelernt wird in denSommerferien: Begehrt sind bei jüngerenSchülern mehrwöchige Sprachcamps.Ebenso beobachten die Sprachreisever-anstalter einen Trend zu mehrmaligen,dafür kürzeren Sprachaufenthalten. «El-tern investieren vermehrt in die Bildungihrer Kinder und ermöglichen ihremNachwuchs immer früher erste Aus-landserfahrungen», so Michel Sägesser.Und natürlich hoffen sie, dass die Söhneund Töchter im nächsten Schuljahr bes-sere Noten in den Fremdsprachen nachHause bringen.

angekommen waren. «Sie fanden unsaltmodisch, was wir natürlich anderssahen», so Amin. Überhaupt seien dieRomands lockerer drauf gewesen. «Undherzlicher», findet er. Mehrere Male habeer dies beobachten können. So auch beieinem gemeinsamen Ausflug in denKletterpark, als sich einer seiner Kollegenam Bein verletzt hat. «Sofort eilten allezur Hilfe und fragten auch lange danachnoch, wie es ihm gehe.»

Die Oberwinterthurer Lehrerin kenntdie Unterschiede, aber auch die Schwie-rigkeiten, die sich manchmal dadurch er-geben können. Seit mehr als zehn Jahrenführt Regula Baumann Sprachaustauschedurch. Sie weiss: «Es treffen Welten auf-einander.» Da treten Probleme auf, dieselbst für die Lehrkräfte schwierig zuverstehen sind.

Baumann erinnert sich gut an jenenAustausch mit Elsässer Schülern, beidem die Franzosen nur ungern mit ihrenAustauschpartnern zusammen waren.«Zuerst war nicht klar, was das eigentli-che Problem ist.» Nach etlichen Gesprä-chen stellte sich heraus, dass die Elsässersauer waren, weil die Schweizer sie nichtoffiziell in den Freundeskreis eingeführthatten. Bei ihnen ist es üblich, die Gästeden Freunden vorzustellen. In Oberwin-

terthur hingegen bringt man sich selb-ständig ein. Ein Missverständnis.

Auch die Yverdoner und Oberwinter-thurer Schüler brauchten Anlaufzeit. So-gar beim zweiten Mal in Oberwinterthurbeschränkte sich bei manchen der ersteKontakt aufs Händeschütteln. EinigeAustauschpaare standen danach wortlosnebeneinander oder gaben sich gar nichterst miteinander ab und alberten liebermit ihren Klassenfreunden herum.

Das Eis gebrochen haben Ausflüge — inden Kletterpark zum Beispiel. Dort hal-fen sie einander mit den Karabinern odersicherten einen Kameraden, währenddieser in luftigen Höhen nach der bestenRoute nach oben suchte. «Damit konntenwir den ersten Schock des Fremden mil-dern», sagt Baumann. Tatsächlich stan-den danach alle zusammen in grossenTrauben auf dem Pausenplatz, verarbei-teten gemeinsam das Erlebte, reihtenFranzösisch- oder Deutschwörter anein-ander, malten Bilder mit dem Zeigefingerin die Luft und lachten laut auf, wenndoch keiner verstand, was der anderemeinte. Wer konnte, der wich aufEnglisch aus oder warf einfach mal diegängigsten Fluchwörter in den Raum.Hauptsache, man sprach miteinander.

Überwindungmacht stolzSchwieriger war es im Unterricht. «DieFranzösischlektionen in Yverdon warenfrustrierend, ich verstand fast nichts»,erinnert sich Amin. Auch wegen der Leh-rer. Diese hätten keine Rücksicht genom-men und so schnell gesprochen, dass erkaum mitgekommen sei. Trotzdem be-kam Amin im Verlaufe des AustauschsFreude am Französisch, wie seine Mutterbeobachtete: «Eines Abends sprach meinSohn nur noch Französisch mit Naïm.Das überraschte mich sehr, da ich ihn da-vor noch nie so gehört hatte», sagt Jean-nette Bieri. «Meine Motivation im Fran-zösischunterricht ist grösser als vor demAustausch», sagt der 14-Jährige.

Das passt zur Beobachtung, die Bau-mann macht. «Die Jugendlichen erken-nen, dass es sich lohnt, eine Fremdspra-

EinesAbends sprachmeinSohnnurnochFranzösischmitNaïm.Dasüberraschtemich sehr.Mutter vonAustauschschüler Amin

Wo die Sprachenicht reicht,braucht esmanchmal Ges-ten: Austausch-schülerinnenwährend desUnterrichts.

DieMenschenhinter ...

FortsetzungvonSeite 11

Austauschprojekte

Lehrer kämpfenmitFinanzierung

Jährlich nehmen 15 000 Schüler aneinem Sprachaustausch innerhalb derLandesgrenzen teil. Neben der «chStiftung», die im Auftrag des Bundestätig ist, bieten viele Kantone Unter-stützung bei der Organisation vonKlassenwechseln, Klassenreisen oderLagern. Einige leisten einen Pauschal-betrag von 500 Franken für die Lehr-kraft sowie weiteren 30 Franken proSchülerpaar. Die «Pro Patria»-Stiftungbeteiligt sich mit bis zu 50 Prozent anden Kosten (maximal 2000 Fr.). Diessei zwar eine Anerkennung, sagt dieOberwinterthurer Lehrerin RegulaBaumann. «Weit kommt man damitaber nicht.» Für den Austausch inves-tierte sie unzählige ihrer freien Stun-den – unentgeltlich. Hinzu kommendie Hin- und Rückreise der 54 Schüler,die mehr als 3000 Franken kostet,sowie Ausgaben für gemeinsameAusflüge. Dieses Jahr hatte sie Glück:Die Kosten wurden zu einem grossenTeil von der Stadt Winterthur über-nommen. RebeccaWyss

che zu lernen, weil sie sich dann mit an-deren austauschen können. Auf einmalsehen sie in der Sprache nicht nur trocke-ne Grammatik, sondern Menschen.» Zu-dem gingen die Schüler viel selbstbe-wusster aus dem Projekt hervor. «ImNachhinein sind sie stolz darauf, dass siesich in einem ihnen fremden Landesteilgut geschlagen haben.» Stolz ist Amin,wie er sagt, aber auch einfach froh, neueFreunde gefunden zu haben. Er freuesich schon jetzt auf das erste Wiederse-hen nach dem offiziellen Austausch. «Ichbin gespannt, wie gut mein Französischbeim nächsten Treffen ist.»

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NZZamSonntag 19. Oktober 2014 15Bildung

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Ideen, Inspirationund Informationfür den Unterricht

Der Treffpunkt für BildungMesse Basel | 29. bis 31. Oktober 2014www.didacta-basel.ch

Mittwoch, 8 Uhr 50.Ein Dutzend putz-muntere Kindersitzt im Klassen-zimmer und redetdurcheinander –im Wortsinn: Die

Fünft- und Sechstklässler der TandemInternational Multilingual School (IMS)im Zürcher Seefeld wechseln fliessendzwischen Englisch undDeutsch. Richardpräsentiert eine Gruppenarbeit. Es gehtum Fundraising. «We have ... äh ... Wer-bung ...» – « ... advertising ...», hilft dieLehrerin. Als Klassenkameradin Carolinedran ist, schickt sie ihren Ausführungenentschuldigend voraus: «We didn’t havethat much time to prepare wegen Gymi-vorbereitung.» Diesen Sprachen-Mixhörtman öfter an diesemVormittag.Die Schüler müssen ihre Unterlagen

während des Präsentierens übersetzen.Wer sich auf Deutsch vorbereitet hat,muss jetzt englisch sprechen, undumge-kehrt. Die Mitschüler machen Notizen,ebenfalls in der jeweils anderen Sprache.Von den beiden anwesenden Lehrerin-nen spricht eine englisch, die anderedeutsch. In der Pädagogik nennt mandieses Modell «Translanguaging». Erst-mals verwendetwurde der Begriff in den1980er Jahren vomWaliser CenWilliams,andere Erziehungswissenschafter wieColin Baker und Ofelia García entwickel-ten den Ansatz weiter. Die Idee dahinterentstammt dem Familienalltag: Kinderverschiedensprachiger Eltern halten sichauch nicht an vorgegebene Zeitfensterfür die eine oder andere Sprache, son-dern springen dauernd zwischen ihnenhin und her. Die Fähigkeit dazu nenntman «Code Switching Skills».

Zweisprachig NotizenmachenAuf dieser Basis hat Sonya Maechler vorzehn Jahren die Tandem IMS gegründet.Sie fingmit 32 Schülern an. Im laufendenSemester 2014/15 sind es 182 an den dreiStandortenUetikon, Zollikon und ZürichSeefeld, die Altersspanne reicht von 12Monate bis 12 Jahre, also von der Krippebis zur 6. Primarklasse. Mindestens denhalben Tag lang werden die Code Swit-ching Skills geübt. Je nach familiäremHintergrund wechseln die Kinder zwi-schen zwei, drei oder sogar vier Spra-chen. Der immersive Unterricht oder das

VonSprachezuSprachehüpfenAnderPrivatschuleTandemIMS lernendieKinder, rasch zwischenSprachenzuwechseln. «Translanguaging» nenntsichdiesesModell.VonRegulaFreuler

Tandem Int. Multilingual School:Drei Standorte im Raum Zürich, 180Schüler. Angebot von Krippe bis Pri­marschule. Unterricht auf Deutsch undEnglisch nach Zürcher Lehrplan, freiesWechseln zwischen den Sprachen.Französisch ab dem Kindergarten.Schulgeld zwischen 13 340 Fr. und24 800 Fr. pro Jahr.

Terra Nova Int. Bilingual School:Zwei Standorte im Raum Zürich. Kin­dergarten bis Sekundarstufe. ZweiLehrer pro Klasse, je 2½ Tage Unter­richt auf Englisch und Deutsch. Frei­zeitkurse in Russisch und Chinesisch.Schulgeld auf allen Stufen: 26 000 Fr.pro Jahr, Schulmaterial und Mittags­tisch inbegriffen. Transport mit Schul­bus oder Schulschiff.

Lakeside School: Zwei Standorte inKüsnacht und Horgen (ZH). Waldspiel­gruppe und Pre­Kindergarten mit 275Schülern. Unterricht bis zur 6. Klasseauf Deutsch und Englisch gemässZürcher Lehrplan. Zusammenarbeitmit dem Freien Gymnasium Zürich.Zusatzangebote wie Freizeitkurse,Schulbusse und Ferienbetreuung.Kosten: 24 600 Fr. pro Schuljahr.

Swiss International School: 1400Schüler in zehn Niederlassungen derSchweiz. Alle Stufen vom Kindergartenbis Gymnasium. Unterricht aufDeutsch und Englisch mit mutter­sprachlichen Lehrern. Französisch alsFremdsprache. Mittagstisch undHausaufgabenhilfe. Schulgeld zwi­schen 23 000 Fr. (Kindergarten) und27 000 Fr. (Gymnasium). (ruf.)

sogenannte «Sprachbad» findet hier qua-si in verschiedenen Pools statt. «Für Kin-der ist das in der Regel kein Problem»,sagt Sonya Maechler. Da sie als Tochterenglischer Eltern in Vevey/Montreux auf-gewachsen ist, stammt sie selbst aus ei-nem multilingualen Umfeld. Die diplo-mierte Lehrerin studierte inOxford Edu-cation Management undMehrsprachig-keit. Verheiratet ist sie mit einemDeutschschweizer, mit den drei Söhnenspricht sie englisch.Einer davon sitzt heute in ihrer Klasse,

dieMaechlermitMiju Cha, einer Schwei-zerin mit koreanischenWurzeln, unter-richtet. Der Wechsel zwischen den Leh-rerinnen verläuft in einem lockeren Ping-pong. Jede bleibt konsequent in ihrerSprache. Nicht ganz so die Kinder. Einigesind noch nicht in der Lage dazu. Wäh-rend Schüler wie der zehnjährige Guy,Sohn deutschsprachiger Eltern, seit derKrippe an der Tandem IMS sind undmitenglischen Muttersprachlern mithaltenkönnen, sind andere erst seit ein paarMonaten hier.Pädagogisches Prinzip der Tandem

IMS ist nicht der klassische Wissens-transferwie an vielen öffentlichen Schu-len, sondern ein inhalts- und projektbe-zogenes. Heute steht «Mensch und Um-welt» auf dem Stundenplan, behandeltwerdenGesellschafts- undFamilien-Sys-teme, also auch arrangierte Ehe, Demo-kratie, Monarchie und mehr. Zuvor dis-kutierten sie, was die Kinder ammeisteninteressiert. Wie sich herausstellte, sinddas Wohltätigkeitsorganisationen. Auf-gabe der Klassewar es, eineWerbung fürein caritatives Projekt zu gestalten.Nun wird der erste Entwurf bespro-

chen. Die Kinder sprühen vor Ideen.Nicht nur die Sprachen gehen durchein-ander, sondern auch die Stimmen. Gele-gentlichmuss SonyaMaechler die beson-ders Eifrigen etwas zurückhalten. «Über-mut» steht auf einem Blatt Papier an der

ZweisprachigeSchulen

Wandunter demTitel «Wort derWoche».Und als das «Word of theWeek» danebensteht «compromise» – ein passendesMot-to für diesenMorgen.Die Tandem IMS zählt Schüler aus

über 25 Nationen. Bei der Mehrheit istmindestens ein Elternteil Schweizer, beimehr als jedem vierten sprechen beideEltern Deutsch. Das Interesse deutsch-sprachiger Eltern am immersiven Sprach-unterricht hat stark zugenommen. Siehaben die Zukunft im Blick und leistensich für erhöhte Berufschancen ihrerKinder in einer globalisierten Gesell-schaft jährlich bis zu 25000 FrankenSchulgebühren. Guy etwa kam als Drei-jähriger an die Tandem IMS. «IchmöchteArzt werden wie meine Eltern. Da mussman gut Englisch können.» Die elfjährigeRahel aus Rapperswil – auch sie ein Kindvon Deutschschweizern – ist seit einemJahr an der Tandem, vorher war sie ander Swiss International School (SIS).«Meine Eltern sind überzeugt, dass esmirdankfrühemZweisprachenunterrichtspäter am Gymi leichterfällt. Und auch,falls ich einmal einen Job ausüben sollte,wo die Menschen eine andere Sprachesprechen.»Sonya Maechler bestätigt: «Das Ziel

der meisten Eltern hier ist das Gymna-sium und später ein Studium.» Wie sie

unlängst an der 10-Jahres-Feier der Schu-le feststellte, gelang das bisher nahezu al-len Ehemaligen.

Nicht blossWörter büffelnDie Hoffnungen der Eltern werden vonvielen Studien auch in einem allgemei-neren Sinn gestützt. So wurde nachge-wiesen, dass Zweisprachigkeit die kogni-tiven Fähigkeiten nachhaltig beeinflusst.Zwei- oder mehrsprachige Kinder sindgeistig flexibler, auch bei sprachunab-hängigen Aufgaben. Studien zum Trans-languaging ergeben dasselbe. Zumeinenintegrieren Kinder, die nach dieser Me-thode unterrichtet werden, jede weitereneue Sprache in das vorhandene linguis-tische Repertoire. Zum anderen unter-stützt Translanguaging die Fähigkeit,komplexe Denkaufgaben zu lösen.Wichtig ist, dass früh damit begonnen

wird. Darum liegt Maechlers Fokus aufden Kleinen. «Sprache istmehr, als blossWörter zu lernen. Unsere Kinder hier sol-len eine emotionale Beziehung zu ande-ren Sprachen und Kulturen entwickeln.Das gelingt nur,wennman früh anfängt.»Bestes Beispiel dafür sei das häufig ge-hörte Argument, Kindermögen Englischlieber als Französisch. «Man sollte sichfragen, warum das so ist. Der Grund ist:Englisch ist omnipräsent, in der Wer-

bung, am Fernsehen. Dabei betreten wirkaum zwei Stunden von hier entferntden französischen und den italienischenSprachraum.Aber leiderwird das hierzu-lande viel zuwenig genutzt.»Kinder, sagt Maechler, können mit

Mehrsprachigkeit umgehen. Der sprin-gende Punkt sei die Vermittlung. «Fran-zösischwürde ich in den staatlichenKin-dergärten ganz spielerisch pflegen, zumBeispiel beim Basteln.» Wie viele Wo-chenstunden das dann genau sind, hältsie für zweitrangig, wichtig sind der frü-he Zeitpunkt und die Qualität dieserStunden. Die Erfahrung zeige ihr, dass sieauf dem richtigenWeg sei. Zu vorzeitigenSchulaustritten komme es nur selten.«Wennüberhaupt, dannweil wir zu gros-se Lernschwierigkeiten feststellen», sagtMaechler. «Unser Programm ist inten-siv.» Potenzielle Schüler müssen einigeSchnuppertage hier verbringen, bevorüber ihre Aufnahme entschiedenwird.Auf einem der Poster im Klassenzim-

mer ist eine «Wörtersortiermaschine»dargestellt: Sie sortiert Wortarten in ver-schiedene Körbe. Für manche Kinderläuft die Maschine eben zu schnell. Aberdie Motivation der Kinder an diesemMittwochmorgen in der Tandem IMS istspürbar gross, die Maschine eines Tagessouverän zu bedienen.

So viel betragenmaximal die jährlichenSchulgebühren für die TandemInternational Multilingual School.

25 000 Fr.

«We have äh . . . Werbung»: Tandem-Schüler beim Sprachenmixen. (Zürich, 17. 9. 14)

SONJA

RUCK

STUHL

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