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142 Landesjugendamt Mitteilungen Themen: Übergang Schule - Beruf Rechtsradikale Rockmusik Skinheads ISSN 0937-7123

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142 Landesjugendamt

Mitteilungen

Themen: Übergang Schule - BerufRechtsradikale RockmusikSkinheads

ISSN 0937-7123

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Herausgegeben vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe - Landesjugendamt und Westf. Schulen -

Verantwortlich: Landesverwaltungsdirektor Hans Joachim StahlGestaltung: Mechthild VerhoevenFoto Titelseite: Ferdinand Jendrejewski

Münster, im März 2000ISSN 0937-7123

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Die Mitteilungen des Landesjugendamtes finden Sieauch im Internet. Ab Nr. 138 wird die Publikationsreiheals Acrobat-Datei (pdf) und in einem universellen Text-verarbeitungsformat (rtf) im Internet-Service des Lan-desjugendamtes angeboten.

Mitteilungen des Landesjugendamtes im Internet:http://www.lwl.org/lja/mit.htm

Landesjugendamt im Internet:http://www.lwl.org/lja

Beiträge bitte in Schriftform und gleichzeitig auf PC-kompatiblen Datenträgern in gängigen Textformaten.Autoren bitte Angaben zur Person.

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Mitteilungen LJA WL 142/2000

Inhaltsverzeichnis

Landesrat a. D. Günter Happe 75 5

Übergang Schule - Beruf

Neue Lernorte im Übergang von der Schule in den Beruf 7Freiwilligendienste auf dem PrüfstandThomas Rauschenbach

Rechte Jugendszene

Rechtsradikale Rock-Musik - Bilanz und Information 27Oder: Alter Wein in neuen Schläuchen?Hartmut M. Griese

Der beschwerliche Weg der Skinheads von Liverpool über 49Hoyerswerda ins HeuteEckart Müller-Bachmann

Jugendschutz

Gewaltprävention ab Nabelschnur 61Neue Aufgaben für Kinder- und JugendärzteJürgen Schmetz

Medien

Markus Köster: 67Jugend, Wohlfahrtsstaat und Gesellschaft im WandelHans Joachim Stahl

Wolfgang Gernert / Karl Janssen (Hg.): 67Agenda 21 für die JugendMathias Alsleben

C. Wolfgang Müller: 68Sozialpädagogisches BrevierWolfgang Gernert

Hans-Georg Tegethoff: 68Soziale Gruppen und IndividualisierungStefan Opitz

Achim Schröder / Ulrike Leonhardt: 69Jugendkulturen und AdoleszenzAngela Schmidt

Woge e. V. / Institut für Soziale Arbeit e. V. (Hrsg.): 71Handbuch der sozialen Arbeit mit FlüchtlingskindernBeate Rotering

Herbert E. Colla / Thomas Gabriel / Spencer Millham / Stefan Müller-Teusler / 72

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Inhaltsverzeichnis 5

Mitteilungen LJA WL 142/2000

Michael Winter:Handbuch Heimerziehung und Pflegekinderwesen in EuropaHandbook Residental and Foster Care in EuropeMichael Streitz

Dietrich Kühn: 73Reform der öffentlichen VerwaltungKlaus Bethlehem

Kerstin Petersen: 74Neuorientierung im JugendamtKatrin Leimert

Walter Schellhorn (Hg.): 74SGB VIII: Kinder- und JugendhilfeHans Joachim Stahl

Johannes Münder: 75Familien- und JugendhilferechtBand 1: FamilienrechtKlaus Bethlehem

Johannes Münder / Peter Ottenberg: 75Der JugendhilfeausschussHans Joachim Stahl

Wolfgang Reinhard: 75Geschichte der StaatsgewaltHans Joachim Stahl

PLOETZLexikon der deutschen Geschichte 76PLOETZ: 50 Jahre DeutschlandDer Kleine PLOETZHans Joachim Stahl

Nietzsche 77Nietzsche für AnfängerFriedrich Nietzsche: Philosophie als KunstHans Joachim Stahl

Eugen Biser / Ferdinand Hahn / Michael Langer (Hrsg.): 78Der Glaube der ChristenHans Joachim Stahl

Andreas Malycha: 79Die SEDHans Joachim Stahl

Brockhaus “Mensch - Natur - Technik” 79Hans Joachim Stahl

Kath. Sozialethische Arbeitsstelle, Hamm/Kath. Landesarbeitsgemeinschaft 79Kinder- und Jugendschutz NW, Münster/Arbeitsgruppe Soziale Arbeit interaktivder Universität GH Essen (Hg.):CD-ROM: ich bin ichHans Joachim Stahl

Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften:BPS-Aktuell Dezember 1999 und Januar 2000 81Sonderinfo Dezember 1999 und Januar 2000 85

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Termine 3

Mitteilungen LJA WL 142/2000

Termine

05.04. - 07.04.2000 Fachtagung für kommunale JugendhilfeplanerInnen in NRWJugendhilfeplanerInnen in Nordrhein-WestfalenJugendhof Rheinland, Königswinter

05.04. - 07.04.2000 Konzeptionsentwicklung - Die Qualität der Arbeit überprüfbar machenPädagogische MitarbeiterInnen aus TageseinrichtungenJugendhof Vlotho

06.04.2000 Bereitschaftspflegefamilien - Allzeit bereit? Vorübergehende Betreuung von Kin-dern in KrisensituationenMitarbeiterInnen und Leitungskräfte öffentlicher und freier Träger der JugendhilfeFranz-Hitze-Haus, Münster

10.04. - 12.04.2000 Ein gemeinsam entwickeltes Hilfsangebot - Kooperation zwischen Kindertagesein-richtung, Allgemeinem Sozialen Dienst und ErziehungshilfePädagogische Fachkräfte aus Tageseinrichtungen, FachberaterInnen, Fachkräfte des All-gemeinen Sozialen Dienstes und Diensten und Einrichtungen der ErziehungshilfeKolping-Bildungsstätte Coesfeld

06.06.2000 Arbeitstagung für LeiterInnen und leitende MitarbeiterInnen der Jugendämter inWestfalen-LippeLeiterInnen und leitende MitarbeiterInnen der Jugendämter in Westfalen-LippeLandeshaus, Münster

12.04.2000 Abschlussveranstaltung zum Modellprojekt “Flexibilisierung erzieherischer Hilfen ineinem Sozialraum als gemeinsame Zielsetzung des öffentlichen und der freien Trä-ger”Leitungskräfte und MitarbeiterInnen von Jugendämtern und freien Trägern aus dem BereichErzieherische HilfenBürgerhaus Telgte

03.05. - 05.05.2000 Verhaltensauffälligkeiten - der Hinweis auf problematische Lebenssituationen (1.Seminarblock)Pädagogische MitarbeiterInnen aus TageseinrichtungenHeimvolkshochschule Sorpesee, Sundern-Langenscheid

03.05. - 05.05.2000 Qualifizierungsbaustein: SelbstmanagementASD-KoordinatorInnen, ASD-TeamsprecherInnen, ASD-TeamleiterInnenKath. Landvolkshochschule “Schorlemer Alst”, Warendorf

08.05. - 09.05.2000 Neue Ansätze für die Offene Arbeit im ländlichen RaumHauptamtliche MitarbeiterInnen in der Jugendarbeit im ländlichen BereichJugendhof Vlotho

08.05. - 12.05.2000 Gemeinsame Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern - Langzeit-fortbildung mit Zertifizierung (1. Seminarblock)Pädagogische MitarbeiterInnen aus Tageseinrichtungen, die integrativ arbeitenWestf. Berufskolleg/Fachschulen Hamm

08.05. - 10.05.2000 “Fit im Konflikt” - Tagung der FachberaterInnen von Westfälischen PflegefamilienFachberaterInnen der Westf. Pflegefamilien (Westf. Erziehungsstellen und Sozialpädagogi-sche Pflegestellen)Landhotel “Gut Meier-Gresshoff”, Oelde

15.05. - 16.05.2000 Stadtteilorientiert planen, strukturieren, arbeiten - Seminar ProjektmanagementMitarbeiterInnen von öffentlichen und freien TrägernLandhotel “Meier-Gresshoff”, Oelde

15.05. - 16.05.2000 Qualitätsentwicklung, Qualitätssicherung und Selbstevaluation in der Kinder- undJugendarbeit - Abschlusstagung des ModellprojektesHauptamtliche MitarbeiterInnen aus der Offenen Kinder- und JugendarbeitJugendhof Vlotho

16.05. - 17.05.2000 Die Aufsichtspflicht - Bestandteil eines ganzheitlichen Förderauftrages(Region Ostwestfalen-Lippe)Sozialpädagogische FachkräfteJugendhof Vlotho

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Mitteilungen LJA WL 142/2000

17.05. - 19.05.2000 Abenteuerspielplätze für das 21. JahrhundertMitarbeiterInnen von Abenteuer- und Bauspielplätzen, Kinderbauernhöfen und anderen päd-agogisch betreuten SpielplätzenKolpinghaus International, Köln

18.05.2000 Fachtagung für Leitungskräfte in Allgemeinen Sozialen DienstenLeitende MitarbeiterInnen im Allgemeinen Sozialen DienstJugendgästehaus “Aasee”, Münster

22.05. - 24.05.2000 Kinder zwischen den Kulturen (1. Seminarblock)Pädagogische MitarbeiterInnen aus Tageseinrichtungen, die mit Migrantenkindern arbeitenbzw. sich auf diese Arbeit vorbereitenJugendhof Vlotho

24.05. - 26.05.2000 Kind und Computer - Der Einzug des Virtuellen in die TageseinrichtungPädagogische MitarbeiterInnen aus TageseinrichtungenHaus Ortlohn, Iserlohn

24.05. - 26.05.2000 Die Arbeit mit den Biografien der Kinder und Jugendlichen vor dem Hintergrund dereigenen Biografie (Einführungslehrgang)Pädagogische MitarbeiterInnen aus Diensten und Einrichtungen der erzieherischen HilfenBernard-Otte-Haus, Hopsten

29.05. - 31.05.12000 Anleiten von Berufspraktikantinnen und Berufspraktikanten(1. Seminarblock)MitarbeiterInnen aus Tageseinrichtungen, die Berufspraktikant(inn)en anleiten oder in näch-ster Zeit anleiten werdenHaus Ortlohn, Iserlohn

29.05. - 31.05.2000 Qualifizierungsbaustein: Erfolgreiche Fallarbeit - case-management und Lebens-weltbezugLeitende MitarbeiterInnen in Allgemeinen Sozialen Diensten, KoordinatorInnen und Team-sprecherInnenFranz-Hitze-Haus, Münster

29.05. - 31.05.2000 Aktuelle Fragen des Vormundschafts-, Pflegschafts- und BeistandschaftsrechtsMitarbeiterInnen, die mit Aufgaben der Vormundschaft, Pflegschaft und Beistandschaftbefasst sindJugendhaus Hardehausen, Warburg

05.06. - 07.06.2000 Die nichtfreigestellte Leiterin - Aufgaben und SelbstkonzeptLeitungskräfte in der GruppenarbeitHaus Ortlohn, Iserlohn

06.06.2000 Arbeitstagung für LeiterInnen und leitende MitarbeiterInnen der Jugendämter inWestfalen-LippeLeiterInnen und leitende MitarbeiterInnen der Jugendämter in Westfalen-LippeLandeshaus, Münster

14.06. -16.06.2000 Tageseinrichtung und Grundschule - Vernetzung von Lebens- und LernortenSozialpädagogische Fachkräfte aus Tageseinrichtungen, GrundschulpädagogInnen, Fachbe-raterInnenHaus Ortlohn, Iserlohn

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Landesrat a. D. Günter Happe 75 5

Mitteilungen LJA WL 142/2000

Landesrat a. D. Dr. Günter Happe 75

Der frühere Leiter des LWL-Landesjugendamtes Dr. Günter Happe vollendete am 09.02.2000sein 75. Lebensjahr. Im Ennepe-Ruhr-Kreis geboren, war der Jubilar nach dem Abitur amGymnasium in Schwelm zunächst pflichtgemäß im Arbeitsdienst und wurde als Fallschirmjä-ger verwundet. 1946 - 1950 folgte das Jura-Studium an der Universität Köln, das Zweite Juri-stische Staatsexamen 1953 und die Promotion 1954. Nach Ernennung zum Landesassessorin der Abteilung Jugendwohlfahrt des Landschaftsverbandes Rheinland wurde er Landesver-waltungsrat und 1962 Landesoberverwaltungsrat. 1966 wählte ihn die Landschaftsversamm-lung Westfalen-Lippe als Landesrat zum Leiter des Landesjugendamtes Westfalen-Lippe unddamit zum Nachfolger der bis dahin tätigen Landesrätin Ellen Scheuner.Dr. Happe erwarb sich schon bald in der Jugendhilfe-Fachwelt einen guten Namen. BeimDeutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge wurde er zum Mitglied des Fachaus-schusses "Jugend und Familie" berufen, dessen langjähriger Vorsitzender er später wurde. Ergehörte sowohl dem Hauptausschuss als auch dem Vorstand des Deutschen Vereins an underhielt 1998 für seine Verdienste um dieses Fachgremium die Ehrenplakette, das ist diehöchste Auszeichnung des Deutschen Vereins. Auch bei der Arbeitsgemeinschaft für Erzie-hungshilfe war er im Beirat aktiv. Ehrenamtlich leitete er den Verwaltungsrat des Diözesan-Caritas-Verbandes Münster und engagierte sich in der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe(Bonn).

Das zentrale Verdienst des Jubilars ist sein Engagement für eine zeitgerechte Rechts-grundlage der Jugendhilfe. Die Reform dieses Rechts vom Jugendwohlfahrtsgesetz zumKinder- und Jugendhilfegesetz als 8. Buch des Sozialgesetzbuches hat ihn mehr als 25 Jahrebeschäftigt und lässt ihn auch heute noch nicht los. Federführend koordiniert und kommentierter das Jugendhilferecht zusammen mit anderen Juristen. Das Werk Jans/Happe/Saurbier:"Kinder- und Jugendhilferecht" wurde zum bekanntesten Kommentar für die Praxis derJugendhilfe und Gerichte. Seine Wiederwahl 1978 beim LWL stand außer jeder Frage. Mehrals 23 Jahre hat er bis 1989 leitend die Geschicke des Landesjugendamtes bestimmt, das1999 seinen 75. Geburtstag begehen konnte. Seine Themenschwerpunkte waren hier sowohldie Fürsorgeerziehung als auch die Freiwillige Erziehungshilfe, die Fortbildung sozialpäd-agogischer Fachkräfte, das Pflegekinderwesen und die Hilfen für Familien.

Unsere Glückwünsche für eine gute Gesundheit und die Verwirklichung seiner weiterenVorhaben begleiteten ihn an seinem Ehrentag mit vielen Kollegen vom Landschaftsverband.

Wolfgang Gernert

Dr. Günter Happe (rechts) mit seinem Nachfolger Prof. Gernert am Ellen-Scheuner-Weg in Münster

Foto: Ferdinand Jendrejewski

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Rechtsradikale Rock-Musik - Bilanz und Informationen ... 27

Mitteilungen LJA WL 142/2000

Hartmut M. Griese

Rechtsradikale Rock-Musik - Bilanz und Informationen

Oder: Alter Wein in neuen Schläuchen?

Hinführung zum Thema - Pressemeldungen und Fragen

Wer aufmerksam überregionale Tageszeitungen liest, stößt dort immer wieder auf Meldungenüber rechtsradikal-gewalttätige Übergriffe und Überfälle auf Asylbewerberheime, „Ausländer“oder Obdachlose, bei denen der „Rock von Rechts“, der „Nazi-, Skinhead- oder Rechtsrock“ -so wird angenommen bzw. behauptet - eine gleichsam auslösende bzw. katalysatorischeFunktion gehabt hat. Erst kürzlich wurde anläßlich einer Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftungim Oktober 1999 in Berlin die These formuliert (vgl. FR vom 23.10.1999), daß der „rechts-extremen Musikszene ... bei Gewalttaten gegen Ausländer eine Initialzündung zukomme“.

Erste Meldungen dieser Art tauchten Anfang der 90er Jahre - im Gefolge und im Kontext derBrandanschläge von Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen auf, z.B.: „Skinhead-Musikstachelt zu Gewalt an ... die Texte haben es in sich“ (WK vom 24.10.1992); „Blut und Ehre,Mord und Totschlag ... Sie heißen Störkraft, Radikahl oder Volkszorn und sie sind wie die‘Fanzines’ (Fan-Magazine, H.G.) namens Schlachtruf, Nordwind oder ‘Kraft durch Froide’Bindemittel der Szene: die Skinhead-Bands“ (FAZ vom 4.9.1992); „Glatzen singen vonAusländerhaß“ (WK vom 27.10.1992) oder „Die Rockbands der Skinheads: Botschaft desHasses. Rund 50 rassistische Gruppen in Deutschland ... Ermittlungen laufen bereits gegendie Bands ‘Radikahl’, ‘Tonstörung’ sowie ‘Störkraft’“ (DIE WELT vom 28.12.1992) und „Devo-tionalien aus Gewalt, Blut und Knochen. Rechts-Rock bildet Basis für ein faschistoidesDenken der Jugend“ (NMZ 1/93).Aktuelle Meldungen lauten z.B.: „Neonazis rekrutieren Nachwuchs in Musikszene ... ‘DieEntwicklung ist beunruhigend’, räumte Bartling (Innenminister von Nds., H.G.) ein. DieRechtsextremisten rekrutieren ihren Nachwuchs vor allem in der Skinhead-Musikszene mitihren aggressiven, fremdenfeindlichen und antisemitischen Texten“ (HAZ vom 22.5.1999). Neuund erwähnenswert daran ist: „Ein Gitarrist der Marke ‘Bürgerschreck’, ein wilder, aggressiverSound, Texte, die auf Gesellschaftskritik zielen - solcherart Musik(er) waren bis in die 80erJahre per se politisch links einzuordnen. Doch dann begannen rechte Glatzen den musika-lischen Sozialprotest radikal umzudeuten. Ein Markt mit Ton- und Printmedien für die rechteJugendszene entstand“ (GRÜNINGER / LINDEMANN 1994, S. 58).

Was ist das für ein gesellschaftliches Phänomen (so der neutrale wissenssoziologischeBegriff), die rechtsradikale Rock-Musik (oft auch als „Nazi-Rock“, „Oi!-Punk“, „Rechtsrock“oder „Skinhead-Rock“ bezeichnet), die mich als Jugendforscher und Rock-Fan seit etlichenJahren interessiert, vor allem aber politisch beunruhigt und pädagogisch bewegt: Wie kannman das neue Phänomen adäquat beschreiben und erklären (die wissenschaftlich-theoreti-sche Aufgabe) und kann/soll/muß man (sozial)pädagogisch und/oder politisch und/oderjuristisch dagegen vorgehen - und wenn ja, wie?

In den haßerfüllten und gebrülltenTexten, untermalt von Elektro-Gitarren und einem hartenBeat des Schlagzeugs und von „Sieg Heil! Sieg Heil!“-Geschrei begleitet, ist die häßlich-menschenverachtende Fratze des Nationalsozialismus wiedergekehrt: „Laß die Messer

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Mitteilungen LJA WL 142/2000

flutschen in den Judenleib“, „Wir kämpfen für unser deutsches Vaterland! Wir in Solingen ...wir in Rostock“; „Ein Eier-Tritt, dann liegt er auf der Matte. Er blutet ausm Schädel, dochbewegt sich noch, dann tret ich nochmal rein, mit meinem 14-Loch, immer auf’n Kopf“. (1)Im Internet läßt sich vieles, z.B. im „Thule-Netz“, über die rechte (Musik)-Szene finden. Derverurteilte Bandleader von „Kraftschlag“ wird z.B. demnächst im „Verlag Mehr Wissen“ inDüsseldorf-Langenfeld arbeiten, der u.a. „Musik aus der rechten Szene“ vertreibt und ein-schlägige national(sozial)istisch-rassistische Bücher editiert (z.B. Titel wie „Die Vernichtungdes Germanentums“, „Der Völkermord an den Deutschen“, „Die natürliche Ordnung und ihreFeinde“, „Menschen und Unmenschen“, „Deutschlands Schicksal aus deutscher Sicht“) undauch das Buch „Skinhead Rock. Eine notwendige Klarstellung über nonkonforme Musik“ (!)von Torsten LEMMER (1994) herausgegeben hat. LEMMER (geb. 1970) ist „laut Verfassungs-chutz ‘der einflußreichste und umsatzstärkste Produzent und Vertreiber rechtsextremistischerSkinhead-Musik in Deutschland’“ und Hintergrundorganisator der rechten Szene (zu TorstenLEMMER als rechte Symbol- und Frontfigur informiert NEITZERT 1995).BAACKE (1999, S. 84), ein absoluter Kenner der Jugend- und Musikszene, meint, derRechtsrock sei „das Bindemittel, das diese Gruppen (der rechten Jugend-Szene, H.G.)zusammenhält ... nicht allein das Gedankengewirr und auch nicht bloß der Alkohol. Als Kittfür die Binnenstabilität und als Ferment für die Wirkung nach außen dienen die ‘deutschen’,rechtsextremistischen Skinhead-Bands, die als ‘Rock von Rechts’ von sich reden gemachthaben“. Über die Musik, speziell und konkret bei den Konzerten und über die Infos über Bandsund Musik in den Fanzines, entstehen die Kontakte, wird zwischen den informellen Gruppenkommuniziert und werden Erfahrungen ausgetauscht. Der Rechtsrock scheint für vieleursächlich unpolitisch-diffus orientierte junge Menschen mit Hang zu maskulinen Gebahren(Saufen, Gewalt, Sexismus) (ein wesentliches) Einstiegsmedium in die rechte Szene zu sein.Diese Strategie wird von der organisierten Rechten seit Jahren verfolgt. Nicht zuletzt hatLEMMER, ehemals Manager der wohl berüchtigsten und einflußreichsten Rechts-Rock-Band„Störkraft“, dieses Vorgehen in seinem Buch (1994) ausdrücklich empfohlen: Mittels der„nonkonformen rechten Musik“ mit deutsch(national)en Texten und Botschaften die jungenMenschen, vor allem die Männer, mit rechtem Gedankengut und Ideen anzulocken und überdie „Heimatliebe in musikalischer Form“ zu infiltrieren, dann sei „ein moderner Sieg greifbar“.

Lange Zeit war dieses Thema in der Politik, in der öffentlichen Diskussion und auch in derWissenschaft und Forschung größtenteils tabuisiert. In fast allen einschlägigen Publikationen(z.B. „Diskurs“ von 1998 - Literaturreport des DJI zu „Jugend und Rechtsextremismus inDeutschland“) sucht man vergeblich im Schlagwortregister die Begriffe „Rechtsrock“, „Nazi-Rock“, „Skinhead“ und auch „Musik“ wird nicht erwähnt; das Thema bzw. Phänomen scheintnicht zu existieren, obwohl ANNAS / CHRISTOPH bereits 1994 (S. 7) meinten, daß „musizie-rende Nazis mehr und mehr Normalität geworden sind“. Auch im „Kursbuch Jugendkultur“(1997) findet man wohl Abhandlungen über „Punk“, „Skinhead“, „Hools“, „Heavy Metal-Kultur“etc., aber nicht speziell zur rechten Rockszene. Im eher akademischen „Handbuch Jugendund Musik“ (BAACKE 1998) stößt man neben Vorurteilen wie „Jugendmusik ist laut, wild,exzessiv, nervig und schnell, also gar nichts für Erwachsene oder Pädagogen“ (welches Bildder Erwachsenen oder Pädagogen liegt hier vor? - NOLTEERNSTING, S. 275) durchaus aufviel lesenswertes (über die Geschichte des Rock, über diverse aktuelle Musikstile wie „Punk“,„Heavy Metal“, „Grunge“ usw.), sucht aber vergebens nach der Stilrichtung Rechts-, Nazi-,Skinhead-Rock.

Anfang der 90er Jahre gab es (nach deutscher Einheit und Brandanschlägen; vgl. oben) einekurze, meist oberflächliche mediale und auch wissenschaftliche Debatte um das Thema. Deranfänglichen Dramatisierung folgte alsbald die Tabuisierung - so ist das oft mit (der Karrierevon) „sozialen Problemen“. Ende der 90er Jahre, so mein Eindruck, mehren sich sowohl diePressemeldungen als auch die wissenschaftlichen Publikationen zum Thema. Es ist Zeit für Bilanzen und Reflexionen. Nach den Presseberichten (vgl. oben) und ersten Impressionen zum Thema tauchen Fragenauf (die aber nicht vorschnell beantwortet werden - können):° Was ist das eigentlich - „rechtsradikale Rock-Musik“?

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Rechtsradikale Rock-Musik - Bilanz und Informationen ... 29

Mitteilungen LJA WL 142/2000

° Woher kommt diese Musik? Wer und was „steckt dahinter“? ° Wer macht und vertreibt, wer hört und wer kauft diese Musik?° Welchen Stellenwert und welche Funktion hat der „Rechtsrock“ innerhalb der „braunen

Szene“ bzw. in den „rechten Jugend(sub)kultur(en)“?° Welchen Anteil hat diese Musik an rechtsextremen Aktionen und Überfällen?° Wie „gefährlich“ ist diese Musik für ihre meist jugendlichen Konsumenten?° Warum hat der Nazi/Rechtsrock für ostdeutsche Jugendliche eine scheinbar be-

sondere Attraktivität und Anziehungskraft?° Handelt es sich beim Rechtsrock um ein historisch-kulturell-gesellschaftlich kurz-,

mittel- oder gar langfristiges Phänomen?° Was kann/soll/muß pädagogisch, politisch, juristisch unternommen werden?

Fragen lassen sich viele formulieren; exakte Antworten oder gar präzises Wissen haben wirwenig. BAACKE (1999, S. 101f) konstatiert am Ende seiner Analyse lapidar: „Es bleiben vieleFragen“ und möglich sind bestenfalls „reflektierte Behauptungen, deren empirische Über-prüfung und Gültigkeit nicht nur wegen ständig wechselnder Zeitfälle, sondern auch ausGründen einer großen Unübersichtlichkeit im gesamten Gefüge jugendkultureller Bewegungendahinsteht“. Die Analyse von „Rechtsrock“ und seinen Wirkungen ist deswegen erschwert, weil minde-stens zwei Analyseebenen bzw. Themenkomplexe tangiert sind, nämlich Musik einerseitsund politische Orientierung andererseits, und zusätzlich Aspekte der Jugend(-situation und-sozialisation) sowie der politischen Kultur (Gewalt, Rechtskonservatismus) und der Einflußder Medien nicht vernachlässigt werden dürfen. Damit hätten wir bereits fünf Analysedimensio-nen.Ich möchte daher in diesem Beitrag nur versuchen, einige Fragen so weit wie möglich auf derGrundlage vorhandener Literatur (vgl. vor allem den aktuellen Reader zum Thema von BAAk-KE / FARIN / LAUFFER 1999) thesenartig zu beantworten, wobei „thesenartig“ impliziert, daßdies vorläufiger Natur ist.Auch werde ich auf einschlägige Begriffsdiskussionen/definitionen verzichten (rechtsradikaleoder rechtsextreme Rockmusik, Rechtsrock, Skinhead-Rock, Nazi-Rock, rechte Musik,nonkonforme Rockmusik, Oi!-Musik, Skin-Punk usw.) und auch bei den jugendsoziologischenTermini peer group, Szene, Clique, Gang, subkulturelles Milieu, Jugend(sub)kultur(en) usw.und in bezug auf den Gewaltbegriff nicht differenzieren (vgl. zu letzteren Themen GRIESE1999), da ich diesen Aufsatz vor allem als aktuelle Information und bilanzierenden Überblicküber die rechte Musikszene in Deutschland, nicht so sehr als akademischen Beitrag zurBegriffsdiskussion und analytischen Schärfe verstehe.

Ein erster empirischer Zugang zum Thema

Einige empirisch abgesicherte Daten und Fakten zur allgemeinen Orientierung will ichvorausschicken (vgl. u.a. die Materialien von FARIN 1999, S. 176ff):

° Im Dezember 1998 gelangt FARIN auf der Basis jahrelanger Recherchen zur Aufli-stung von 90 „rechten Bands (Deutschland)“ sowie zu 35 bei uns bekannten „interna-tionalen“ Rechtsrock-Bands;

° Bezogen auf die Texte (Inhalte, „Themenpräferenzen“) rangiert das Thema „Gewalt“ vor„Frauen“, „Alkohol“, „Linke/Chaoten/Punks“, „Deutschland-Hymnen“ und „Auslän-der/Schwarze“, was schon auf eine Art Zweiteilung in eindeutig politische und eher„fun“-Themen hinweist;

° „Pure Spaß-Texte“ sind häufiger als „Deutschland- und NS-Hymnen“;

° Bei den „Feindbildern“ stehen „Ausländer“, „Linke“ und „Kriminelle“ vor „Politik(er)“ und

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Mitteilungen LJA WL 142/2000

„Polizei/Justiz/VS“; explizit genannt werden am häufigsten „Türken“, dann „Asylan-ten“, „Schwarze“ und „Juden“;

° Das „Feindbild ‘Ausländer’“ gründet sich auf die zugeschriebenen Merkmale „Krimina-lität“, „Rasse“, „Schmarotzertum“ und „nehmen uns die Frauen weg“;

° Bei „Selbststilisierung“ bzw. beim Selbstbild rangiert der „Krieger/Kämpfer“ weit vordem „Opfer/Märtyrer“ und vor dem „Working-class-Angehörigen“.

Weiter listet FARIN (ebd., S. 191ff) etwa 550 „Rechtsrock-Veröffentlichungen auf“, davon etwaein knappes Drittel als „jugendgefährdend“ indiziert und davon 30 beschlagnahmte, generellverbotene und eingezogene Produktionen. Ferner nennt er ein Dutzend „indizierte Sampler“ -überwiegend von 1997/98.

Eigene ad-hoc-Umfragen aus dem Jahr 1995 bei Studierenden der Pädagogik (N=112), die alsjungerwachsene Vermittler zwischen Jugend(sub)kultur(en), Alltagswissen und wissen-schaftlichem Wissen zu kennzeichnen sind und bei Berufsschullehrern (N=67, 45 beant-worteten die offenen Fragen nach „Wissen und Informationen“ und „Assoziationen undMeinungen“ zum Thema), die tagtäglich als Pädagogen mit den potentiellen oder realenKonsumenten bzw. Fans des Rechtsrock zu tun haben, erbrachten:

° daß es einige wenige „Experten“, fast durchwegs junge Männer, in Sachen Rechts-rock gibt (etwa 15 der befragten Studierenden, 5 der Lehrer);

° daß Berufsschullehrer außer der Kenntnis der „Böhsen Onkelz“ (acht von 45, zweinannten noch „Störkraft“) so gut wie keine Ahnung von dem Thema haben; vielemachten falsche Angaben und nannten z.B. „HipHop“, „Techno“, „Tote Hosen“ oder„Ice-T“;

° daß viele Studierende (etwa die Hälfte) ein relativ gutes bis diffuses Wissen über denRechtsrock haben und auch etliche Bands kannten: So nannten 85 die „BöhsenOnkelz“; „Störkaft“ wurde 50 mal, „Endstufe“ 14 und „Skrewdriver“ als bekanntesteinternationale (englische) Band wurde 9 mal notiert;

° daß etwa ein Viertel der Studierenden (30) kaum oder gar kein Wissen und auchkeine Meinung zum Thema „Nazi-Rock/Rechts-Rock/Skinhead-Rock“ (das war diebegriffliche Vorgabe) hatten;

° daß dasVerhältnis von Wissen zu Nicht-Wissen (in bezug auf Rechtsrock) bei denMännern etwa 2:1 und bei den Frauen 1:5 lautet; von den 17 Studierenden, die überkeinerlei Wissen, Informationen oder Meinungen verfügen, waren 14 weiblichenGeschlechts; d.h.

° daß Männer bzw. männliche Jugendliche eine wesentlich größere Nähe und Affinitätzum Thema Rechtsrock haben;

° daß Titel und Textpassagen fast nur von den „Böhsen Onkelz“ bekannt waren; dasLied „Hakenkreuz“ (von „Radikahl“) wurde von Studierenden 3 x genannt;

° daß „Assoziationen und Meinungen“ durchwegs negativ waren, d.h. niemand hat sichoffen als „Rechtsrock-Fan“ geoutet - allerdings gab es bei den Studenten (Experten)„antirassistische“ bzw. „linke“ „Onkelz-Fans“.

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Ferner gilt als belegt:

° Der Rechtsrock hat verschiedene Vorläufer, die bis in die 60er Jahre zurückgehenund sich vor allem in der Musik der Einwanderer nach Großbritannien („Reggae“ -zuerst 1968 - und „Ska“ der schwarzen „Rude Boys“ und der weißen „Mods“, ausderen Synthese die ersten Skinheads hervorgingen), in der sog. „OI!-Musik“ derweißen englischen Randgruppen („die zweite Skinheadbewegung“), in der „Skinmusikder Punk-Szene“ (vgl. dazu die Selbstdarstellung der Sharps, in: Looking Sharp o.J.),im „Heavy-Metal“-Sound, im „Hardcore“ der 80er Jahre und - bezogen auf Deutschland- in der „Neuen Deutschen Welle“ finden lassen.

° Die vielzitierten Skinheads und ihre Musik entstammen der „proletarischen Subkulturim Umfeld englischer Großstädte“ und „waren zunächst nicht faschistisch orientiert.Vielmehr bestand zwischen ihnen und der in England ansässigen jamaikanischenReggaekultur sogar eine eigentümliche Verbindung“ (GÜNTHER 1994). Erst in den70er Jahren drangen mehr rassistische und chauvenistische Inhalte in die englischeSkinheadszene ein.

° In Deutschland ist der Rechtsrock in erster Linie mit der Band „Böhse Onkelz“verbunden, die sich 1979 als „No-name-Punkband“ gründete, 1984 mit ihrem (1986indizierten) Album „Der nette Mann“ (mit dem „Deutschlandlied“) den Durchbruch inder Szene schafften, heute die „Kultband“ schlechthin sind (obwohl sie sich mehrfachund eindeutig öffentlich und bei Konzerten von der rechten Szene, ihren Werten undParolen distanziert haben) und auch mit Abstand die meisten Alben bzw. CDsverkauft haben (z.B. 1993 „Heilige Lieder“ über 500 000 mal verkauft und Platz 5 inden deutschen Popcharts - gegenwärtig spielt/singt die Band eher jugendalltags-nahen mehrdeutigen sexistischen und allgemein schockierenden Bürgerschreck-Heavy-Metal-Rock).

° Mittlerweile hat der Rechtsrock, wie fast alle jugend(sub)kulturellen Stile, z.B. auchdie Skinheads (Nazi-Skins, Glatzen, Oi!-Skins, Redskins, Sharps usw.), bestimmtePhasen durchlaufen und/bzw. sich weiter ausdifferenziert, so daß nicht von einerhomogenen oder gar geschlossenen Szene gesprochen werden kann.

° Wenn Musikhören die liebste Freiteitbeschäftigung im Jugendalter ist und wenn dieMehrzahl der jungen Menschen harte und laute Rockmusik bevorzugt, diese Rock-musik aber mittlerweile (wie die Jugendkultur selbst) in verschiedene Stile undRichtungen auseinandergetriftet ist (so daß man auch nur noch von Jugendkulturenim Plural reden kann), dann trifft der Rechtsrock auf diffuse gewaltbereite und rechts-lastige Szenen, die sich ihm gegenüber tendenziell geöffnet und quasi auf diese Artvon Musik gewartet haben. Das heißt aber, die rechten bzw. gewaltbereiten Szenenund Cliquen (und die rechten Parteien und Organisationen) sind historisch dasprimäre, nicht der Rechtsrock.

° Der Rechtsrock, eine harte (Schlagzeug, Beat), schnelle (Tempo, Rhytmus), überlau-te (Wahrnehmung, Sinne), einfache (Anspruch, Kognition), ideologische (Texte,Botschaften) Musik traf und trifft auf fruchtbaren Boden (Stichworte: Jugend, Identi-tätsprobleme, Unübersichtlichkeiten, Affekte, familiäre und/oder schulische Konflikte,drohende oder existierende Arbeitslosigkeit, sexuelle und Beziehungsprobleme,Gruppengefühl, Alkohol, fehlende Anerkennung und Sicherheit, Gewaltakzeptanz,nationale und fremdenfeindliche Ideologien in und aus der „Mitte der Gesellschaft“).

° „Anfang 1989 existierten bereits rund 20 Bands, etwa gleich viele Fanzines, einDutzend (Casetten-)Mailorder und mit Rock-o-Rama ein eigenes Rechtsrock-Label

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mit weltweitem Vertriebsnetz. Auch Konzerte und Partys gab es reichlich, allerdingsin zumeist kleinem, privatem Rahmen, 30 bis 200 Leute, vom Verfassungsschutz nurselten registriert und von der Polizei allenfalls wegen der damit verbundenen Ruhe-störung vorzeitig beendet. Doch noch im gleichen Jahr sollte sich vieles ändern ... DieMaueröffnung schuf also unmittelbar einen neuen Markt für rechtsradikale Kultur-produkte - je provokanter, platter, radikaler, desto besser. Die Folge: Dutzende vonBands und Vertriebsnetzen entstanden und fanden im Osten dankbare Abnehmer -drei Jahre lang quasi unbehelligt von den kaum noch existenten oder sehr kooperati-ven Staatsorganen“ (FARIN 1999, S. 26). Rechtsrock ist „Kampfmittel und Waffe imRingen um die deutsche Seele“ der Jugend (so bezeichnete schon HIMMLER 1934die Musik; zitiert nach FARIN ebd., S. 12).

° Vor allem Anfang der 90er Jahre, nach der deutschen Einheit und den menschenver-achtenden Überfällen auf Asylbewerberheime, erlangte diese Rockvariante sowohlwachsende Beliebtheit bei jungen Menschen (Männern) als auch wachsende Beach-tung und Resonanz in der politisch-medialen Diskussion. Das Erscheinungsbild derrechten Szene hatte sich schlagartig gewandelt. Im Mittelpunkt stand nunmehr eineHeavy-Metal-Musik mit deutschen Texten, von „Unter-Dreizigjährigen“ für Jugendlicheproduziert. Erst im letzten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts erlangte die rechte Szene- im Deutschland nach der „Wende“ - einen spezifischen jugendkulturellen Hinter-grund in Form des Rechtsrocks mit seinen Symbolen, Konzerten, Fanzines und demErscheinungsbild der Skinheadszene. Und zur Skinheadszene gehören auch Gewalt,Glatze, Männlichkeitskulte und vor allem Alkohol. Die ehemals „schwarze“ Herkunftder Skinkultur war längst verdrängt.

° Es gibt weder ein geschlossenes rechts-konservatives Milieu noch eine homogenerechte (Jugend)Szene oder gar eine einheitliche rechtsradikale Rock-Musik. Dennschon bald nach Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen wurden Fanzines undKonzerte verboten, Bands, ihre Manager und Organisatoren juristisch bestraft, Liederihrer Texte wegen auf den Index gesetzt (vgl. die Begründung der Indizierungsanträgegegenüber rechtsradikalen Rockgruppen bei STAHL 1998: Aufstachelung zumRassenhaß, Verherrlichung von Gewalt, Propagierung „neofaschistischer und unsitt-licher Inhalte“, Volksverhetzung und Verbreitung von Propagandamittel verfassungs-widriger Organisationen).

° Die erste Repressions- und Verfolgungswelle des Staats 1993/94 traf die noch relativhomogene Szene unvorbereitet, verunsicherte sie und ließ sie sich vorübergehendzurückziehen. FARIN (1999, S. 27) berichtet davon, daß „über 90 Rechtsrock-P-roduktionen und rechte Fanzines“ in dieser Zeit indiziert und mehrere Bandmitgliederverhaftet wurden. Danach veränderte sich das offizielle Erscheinungsbild des Rechts-rock, d.h. die Texte wurden - nach Einholung juristischer Ratschläge - geschickt vonallzu heftigen und schockierendenTermini gereinigt, die Text-Botschaften wurdendurchdachter und „professioneller“; es kam zu Talkshow-Auftritten (Sat-I) einschlägi-ger Protagonisten des Rechtsrock und zu raffiniert verpackten Distanzierungen vonGewalt und Rassismus - vor allem bei der Szeneband Nr. 1 „Störkraft“ und ihremSänger Jörg Petritsch. Konzerte, das identifikatorische Herzstück der rechtenJugendszene, sind heute in der Regel verboten und finden, als Feiern aller möglichenArt getarnt, heimlich, d.h. nur kurzfristig angekündigt, in abgelegenen Gasthöfen oderSälen statt. Allerdings wurden „100 solcher Konzerte plus etwa 60 Balladen- undLiedermacherabende mit 25 bis 1500 Besuchern ... 1998 bundesweit bekannt -doppelt so viele wie in den Jahren vor der Verbotswelle“ (ebd., S. 34).

° Heute kann gesagt werden (vgl. DOLLASE 1999, S. 106), daß innerhalb der 12- bis18 jährigen Jugendlichen nur ein sehr geringer Prozentsatz (1,6 %) sich als

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Rechtsrock-Fans outet und daß gegenwärtig vor allem und immer noch die „BöhsenOnkelz“ mit Abstand am beliebtesten sind, gefolgt von „Störkraft“ und neuerdings„Rammstein“, wobei außer „Störkraft“ die beiden anderen Bands sich schon desöfteren öffentlich von rechts-nationalistischen Ideen distanziert haben und „Ramm-stein“ aus Ost-Berlin, die vor allem in den USA sehr großen Erfolg und viele Fanshaben, eher der neuen „Dark-Wave“- (Sadomasochismus und Inzest) oder „Heavy-Metal-Performance“-Musikszene zugerechnet werden muß.

° Die polizeilich-juristischen Zu- und Eingriffe haben die rechte Jugend-Musik-Szenesowie die Musik selbst verändert: Beides differenzierte sich aus und wurde deswegenschwieriger pädagogisch und politisch-juristisch handhabbar, da die Grenzen zumehrheitsfähigen populistischen Aussagen und Stammtischparolen der Nationalkon-servativen immer fließender wurden.

° Im Kontext dieses Text- und Musik-Diversifizierungsprozesses in der rechten Szene

etablierte sich eine neue Variante des eo ipso konservativ-heimatlichen deutschenVolksliedes, nämlich die mit Gitarre begleiteten Balladen sog. „rechter Liedermacher“mit eindeutig nationalchauvenistischen Texten, allen voran der neue Star dieserSzene für ältere Anhänger einer Ideologie der Ungleichheit und des Herrenmenschen,Frank Rennicke - bürgerlich-adrettes Aussehen mit Schwiegersohn-Appeal in-begriffen.

° Ein weiteres aktuelles Phänomen sind die offiziell entschärften und geglätteten Light-Produktionen der ungeschminkten Life-Songs, die dann wieder eher unter demLadentisch als Demo-Tape zu erhalten sind, und die Tatsache, daß seit der Re-pressionsphase immer mehr CDs im Ausland produziert werden (z.B. in Polen,Tschechien, Dänemark etc., wo andere Gesetze herrschen). So wird z.B. für eine CDmit dem Satz geworben: „Es wurden die intelligenteren Varianten der Texte gewählt,um diverse Klippen der deutschen Rechtssprechung zu umschiffen“ (zitiert nachFARIN 1999, S. 37).

Zusammenfassung: Die rechte Szene hat mittlerweile versierte jurististische Berater, benutzt neueste Techniken(z.B. Internet, vgl. unten) zur Verbreitung von Musik und Texten und hat gelernt, auf Re-pressionen zu reagieren. Daher kann durchaus von einer „zweiten (dritten?) Generation“ desRechtsrock in Deutschland seit etwa Mitte der 90er Jahre gesprochen werden. Waren die 80erJahre noch - verkürzt formuliert - von relativ unpolitischen Texten, in denen es primär um Sex,Alkohol, Fußball und Randale in einer männlich-derben Spaßkultur ging, gekennzeichnet,wurde es ab der „Wende“ in den Texten bzw. Botschaften eindeutig politischer, d.h. na-tionaler, rassistischer, fremdenfeindlicher. „Nicht mehr die individuelle Lust zu saufen, sich zuprügeln, herumzuprollen, gegen Ordnungsnormen zu verstoßen (also die klassischen Skin-merkmale, H.G.), steht im Vordergrund, sondern ein politisches Ziel, eine ‘nationale’ Aufgabe,die Disziplin erfordert ... Agit Prop statt Funny Sounds ... Der Straßenrebell von einst ist zumLandsknecht mutiert“ (FARIN 1999, S. 40f). Die Entwicklung geht von einer Action-and-fun-Kultur der Skins über eine nationale Bewegung zur „Rettung von Volk und Vaterland“ schließ-lich hin zu einer pluralistisch-professionellen rechten Polit-Szene. Dieser Prozeß ist amdeutlichsten am Wandel der Texte im Rechtsrock nachvollziehbar. Gegenwärtig, Ende der90er Jahre, existieren unterschiedliche Varianten des Rechtsrock nebeneinander. DieBotschaften sind dabei relativ unterschiedlich, wenn auch dem gleichen nationalen, rassisti-schen und gewaltverherrlichenden Dunstkreis verhaftet: Deutschland und Vaterland (neuer-dings auch Europa); Disziplin, Ehre und Treue; Kampf, Sieg, Helden- und Soldatentum;Kameradschaft und verschworene Gemeinschaft; Haß und Gewalt; Hetze und Jagd aufMinderheiten und Randgruppen („Ausländer“, „Linke“ bzw. „Zecken“, „Drogenabhängige“,„Kriminelle“); Krieg, Tod und Sterben; Revisionismus, NS-Nostalgie und Verehrung derNazizeit und ihrer Führer; Sexismus und Männlichkeitswahn; Antisemitismus und Fremden-feindlichkeit; Opferbereitschaft und Märtyrertum; „law and order“; Germanenkult und neue alteGötter.

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Hinsichtlich des Hauptmerkmals „Ausländerhaß“ tauchen in den Texten, idealtypisch betrach-tet (vgl. FARIN 1999, S. 61ff), „immer wieder vier zentrale Argumentationsmuster auf“: a) „‘Ausländer’ sind kriminell, vor allem als Dealer und Zuhälter“; b) „‘Ausländer’ bedrohen unsere Frauen“; c) „‘Ausländer’ leben von Staat und Wirtschaft bevorzugt, auf unsere Kosten“;d) „‘Ausländer’ nehmen uns die Arbeitsplätze weg“.

Die Nähe zu Wahlkampfparolen nicht nur rechtsnationaler Parteien und zu mehrheitsfähigenStammtischbehauptungen ist nicht von der Hand zu weisen. Daß dieses „(Ausländer)Bild“ insich höchst widersprüchlich ist, stört indessen bei einer „Feindbild-Konstruktion“ wenig (z.B.wer „Arbeitsplätze wegnimmt“, lebt nicht „auf unsere Kosten“). Die „Fans“ des Rechtsrock lassen sich von ihren Motiven her einteilen in

a) ideologisch überzeugte Rassisten, „Ausländer“-Feinde und Nationalisten, für welchedie Texte eine hohe Relevanz haben;

b) in „Heavy-Metal-Freaks“, die fast ausschließlich an der Musik Interesse zeigen unddie Texte oft ablehnen (ich kenne z.B. Studenten, die klar in dieses Muster passen)und

c) eine eher diffuse Gruppe, die mit mehreren Stilen experimentiert oder „stillos“ lebtund für die die Texte zwar interessant, aber nicht bindend sind und welche Rechts-rock neben anderen Sounds konsumieren.

Nur für die erste Gruppe ist der Rechtsrock als Ganzes - Setting, Sound und Texte - identi-tätsstiftend und ideologisch verbindend und verbindlich.

Meinungen und Kontroversen - Thesen zum Thema

Im Folgenden will ich an Hand der wesentlichen Variablen bzw. Begriffe im Themenkontext dieunterschiedlichen Perspektiven benennen, unter denen der Rechts-Rock problematisiertwerden kann. Dabei soll deutlich werden, daß im Einzelfall jede Perspektive berücksichtigtwerden sollte, wenn man sich der Realität des gesellschaftlichen Phänomens „Rechts-Rock“annähernd will.

° Jugend: „Es ist heute nicht vorhersehbar, ob diese rechtsradikale Orientierung, diesich auch über rechte Rockmusik ausdrückt, nur ein kurz- oder mittelfristiges Phäno-men darstellt. Einiges deutet jedenfalls darauf hin, daß es sich dabei für viele Jugend-liche nur um ein Übergangsstadium handelt, das Funktion und Bedeutung erhält ineiner Lebensphase, da die Verbindung zwischen Herkunftsmilieu und politischerOrientierung nicht sonderlich gefestigt erscheint. Mag die Szene sich hartnäckighalten: Im Leben des (und seltener der) einzelnen spielt zumindest die hardcore-Variante des Rechtsextremismus eine Rolle von begrenzter Dauer“ (LAUFFER 1999,S. 5).Die rechte Rockmusik scheint in das Vakuum von sinnleeren Freiräumen und fehlen-den oder weggebrochenen Freizeitmöglichkeiten (gerade im Osten) einzusickern,zumal die wachsende Individualisierung und Pluralisierung der Gesellschaft undJugend ein Bedürfnis nach Gemeinschaft (Solidarität), nach Überschaubarkeit(Eindeutigkeit), nach festen Milieus (Gruppen) und klaren Werten (Ideologien) weckenund stärken, dieses aber nicht befriedigen (können). Rechtsrock beruht auf „Ab-grenzung und Provokation. Der Rückgriff auf nationalistische und rechtsextremeInhalte erscheint als die Wahl des effektivsten Mittels gegenüber der heutigenGeneration von Vätern, Müttern und Pädagogen ... Ästhetische Praxis wird ersetztdurch reales Handeln“ (GÜNTHER 1994).

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° Enteignung linker Traditionen: Durch die Bindung an den Rechtsrock hat sich die„rechte Ideologie von ihrem verstaubten, bloß rückwärts gewandten Image für Jugend-liche befreit. Als außerparlamentarische Jugendkultur hat sie sich mit einem jugend-spezifischen Phänomen, das traditionell eher mit linken Ideologien verbunden war,verbunden“ (LAUFFER 1999, S. 8). „Auf der einen Seite nämlich nutzen rechts-orientierte Jugendliche heute alle Zeichen, die früher eher ‘kritischen’ Jugendkulturenzugehörten. Sie haben ihre Embleme, fordern ein ‘alternatives Leben’, entwickelnspezifische Rituale und vor allem: Sie suchen in ganz besonderer Weise ihre eigenenTexte und ihre eigene Musik, um sich vom ‘main stream’ der Masse ebenso ab-zusetzen wie vom eher linksorientierten HipHop oder von der automatisierten Techno-Musik, die als gehaltlos abgelehnt wird“ (BAACKE 1999, S. 92). „Die gegenkulturellenFunktionszusammenhänge von Provokation, Abgrenzung und Identität funktionierenplötzlich wieder, aber in einem verkehrten Sinne“ (GÜNTHER 1994). „Endgültig istwohl von der idealistischen Konstruktion Abschied zu nehmen, daß alle Rock- undPopmusik - sowohl deren Musikstile als auch deren textliche Inhalte - irgendeine Artvon linker Dissidenz, irgendeine linke Konnotation in sich bergen würden. Auch diebisher gültige Formel, daß sich alle populären Musikspiel- und Musikstilarten ... ausDekontextualisierungen schwarzer (und somit antirassistischer) Musik ableitenlassen, trifft nicht mehr zu“ (MÜLLER-BACHMANN 1999).Die Rockmusik hat ihr traditionell linkes Image verloren; die kulturellen Modernisierun-gen haben auch zur Entmächtigung und Enteignung der bisherigen Inhalte und Idealeder Jugend(sub)kulturen geführt, so daß Freiräume für deviante Alternativen geschaf-fen wurden. Der Rechtsrock hat in diesem Sinne die Rock- und Popmusik revolutio-niert und die klassischen Rock-Fans gehörig irritiert. Der „identitätsstiftende Konsens,Rockmusik sei per se politisch progressiv“ wurde aufgekündigt. „Rechtsrock säkulari-sierte diesen Jungbrunnen, zerstörte den Mythos von der unzerbrechlichen Einheitvon Rockmusik und Rebellion“ (FARIN). Das Unmögliche war Wirklichkeit geworden:Rockmusik mit (volks-) deutschen und rassistischen Texten. „Die jugendkulturellenMilieus haben ihre Unschuld verloren, oft auch ihren Charme“ (BAACKE 1999, S.102). Ein Tabu wurde quasi gebrochen - und Tabubrüche bzw. Provokationen sind fürjunge Menschen in bestimmten psycho-sozialen Situationen durchaus attraktiv. Rock und Pop - und vor allem Rechtsrock - sind also mehr als reine Musik; sie sindIdeologie („Sag’ mir, was Du hörst, und ich sag’ Dir, wer Du bist“), sind identitäts-stiftendes, ein Lebensgefühl und Überzeugungen ausdrückendes Musik- und Text-Medium, ein ver-bindendes und ab/ausgrenzendes Mittel gegenüber der Erwachse-nenwelt und anderen Jugendgruppen/szenen.

° Konzerte: „Es sind vor allem die rechtsextremistischen Bands, die auf einer symbo-lischen Ebene (weil ‘reale Plätze’ schwer auffindbar sind) ihre Kontexte schaffen, instrukturlosen Räumen, die von den Bands gestaltet, durchwärmt und damit vomrechtsradikalen Handlungswillen erreicht und aufgeheizt werden. Es sind nämlich dieSkinhead-Konzerte, die als wichtigste Treffpunkte mit Gleichgesinnten aus anderenRegionen fungieren. Deren Zahl ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen“,nämlich bei den Bands seit 1992 „von 22 auf 55“ (BAACKE 1999, S. 97ff), bei denKonzerten von 17 auf 71 im Jahr 1996 (Angaben vom Verfassungschutz).Daß der Rechtsradikalismus und mit ihm der Rechtsrock/ruck in Ostdeutschland aufeinen fruchtbaren Boden trafen, erklärt BAACKE (ebd.) mit den dort entstandenen„sozialen Leerräumen“ (Schließung bzw. kommerzielle Ersetzung der bisherigenFreizeit- und Trefforte), mit der Erosion der Milieubindungen, mit Arbeitslosigkeit undfehlenden Lehrstellen sowie mit dem damit einhergehenden Sinnverlust der Jugend-phase als schulisch-lernende Vorbereitungszeit. Der „Rock von rechts“ und seineSymbole und Botschaften liefern dann genau ein viables (passend-anschlußfähiges)Angebot, vor allem wenn familiäre Bindungen und schulische Erfolge, soziale Akzep-tanz und Zukunftsperspektiven fehlen. Zwar sind „mehrere hundert Musik-CDs ... auf

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dem Markt (und) jedes Jahr kommen zwischen 50 und 100 neue CDs hinzu. (Aber)die Konzerte konstituieren die zentralen Treff- und Organisationspunkte“.

° Vernetzung der Szene: Gegenwärtig existieren etwa 30 Vertriebsorganisationen vonrechtsradikalen CDs und Fanzines, überwiegend im Ausland (in den nahen Grenzlän-dern) stationiert. Der Blick allein auf die Einzelphänomene der rechtsextremistischenJugendszene ist daher verfehlt. Entscheidend ist dieses Verbundsystem von Rock-Bands, Konzerten, Vertrieben und Fanzines, das angesichts sozio-kultureller Des-orientierung und Ortlosigkeit „symbolische Verdichtungspunkte“ schafft, von denenaus der Rechtsextremismus unter jungen Menschen diffundieren kann. Die ver-bindende Kraft dieses Symbolsystems, der symbolische Kitt, das emotionaleBindemittel, ist der Rechtsrock, der dadurch mehr ist als nur Musik, mehr ist als einjugendgemäßes subkulturelles Unterhaltungssegment, nämlich, so BAACKE (1999,S. 101), die „zentrale, zunehmend transnationale Organisationsform demokratiefeind-licher Impulse“.Aber der Versuch der organisierten rechten Szene, den Rechtsrock für ihre Inter-essen zu instrumentalisieren oder mittels des Skinrocks die Jugendlichen anzuspre-chen, scheint nur selten zu gelingen, da echte Skins resistent gegenüber Organisa-tionen sind und rechte (vor allem ältere) Funktionäre oftmals eine Abneigung gegen-über Rockmusik hegen. Gegenwärtig versuchen vor allem die sog. „Hammerskins“(die eindeutig rassistische elitäre kleine Gruppe) und die „Blood & Honour-Bewegung“(von Ian Stuart gegründet, nationalsozialistischer Bandleader und Sänger von„Skrewdriver“, durch einen Autounfall 1993 verstorben, oftmals heute kultisch verehrt)über mehrere Bands und den Vertrieb von Fanzines ideologischen Einfluß auf dieHeavy-Metal- und Rock-Szene zu nehmen und um dort ihr Gedankensystem „an denMann zu bringen“. Die „Blood-and-Honour-Bewegung“ geht davon aus, daß „Musikdas ideale Mittel (ist), Jugendlichen den Nationalsozialismus näherzubringen, besserals dies in politischen Veranstaltungen gemacht werden kann; damit kann Ideologietransportiert werden“ (zitiert nach HUNDSEDER 1999, S. 25), denn „Skinmusik istdas wesentliche identitätsstiftende Mittel der Szene ... Obwohl viele Konzerteverboten werden, steigt ihre Anzahl. Über 100 waren es im letzten Jahr, und auch dieBesucher werden mehr. 1500 Teilnehmer sind keine Seltenheit“, meint HUNDSEDER(ebd.). Auch ARBEITER (1993) kommt zu dem Ergebnis, daß die „rechtsextremisti-sche Rockmusik“ ein wesentliches „Einstiegsmedium in die Szene“ darstellt und das„zentrale Verständigungsmittel“ ist.

° Internet: Nicht zu unterschätzen ist die systematische und planvolle Nutzung der„neuen Techniken“, insbesondere des Internet, durch die rechtsorganisierte Szeneseit etwa Mitte der 90er Jahre, welche es ihr u.U. ermöglicht, „vom gesellschaftlichenAbseits ins Zentrum des technischen Fortschritts“ (LEGRUM 1999, S. 160ff) und vorallem der Gesellschaft vorzudringen. Dabei ist davon auszugehen, daß „eine Zensurbestimmter Bereiche des Internet (vor allem, wenn sie aus dem Ausland eingespeistwerden, H.G.) unmöglich ist. Bei dem heutigen Grad der internationalen Vernetzung,ist eine übergeordnete Kontrolle technisch und gesellschaftlich nicht realisierbar“(SCHAPER 1996, S. 21). Sowohl die aus den USA stammenden „Hammerskins“ mit ihrem „rassistischen undzum Teil nationalsozialistischen Weltbild“ als auch die „Blood-and-Honour-Bewegung“aus England („gemäßigter“, aber einflußreicher) nutzen diese bisher unbekannteMöglichkeit, auf ihre Ideologien, Botschaften und das Medium des Rechtsrock in„modernster“ und viele junge Menschen faszinierender Art hinzuweisen. „DeutscheHammerskins betreiben schon seit 1997 eine Seite ‘Germany’s first nationalsocialistWebsite - Kampf für Rasse und Nation’“, um, so einer der Betreiber, „so etwas wieeine Gegenöffentlichkeit zu schaffen“ (HUNDSEDER 1999, S. 26). „Zum ersten Malsteht der Szene ein Instrument zur Verfügung, mit dem sie in der Lage ist, mit relativ

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geringem Kostenaufwand einen hohen Verbreitungsgrad zu erreichen“ (SCHAPER1996, S. 167), so daß das Internet heute „ein sehr wichtiger Zweig für die rechteMusikszene geworden ist ... um ihre bisherigen im Untergrund und abseits derGesellschaft wahrgenommenen Publikations- und Vertriebswege praktisch mitten ineine der Zukunftstechnologien ... zu setzen“ (ebd., S. 170). Von daher lassen sichgegenwärtig auch schwer Prognosen über den Wandel der Szene, die Erreichbarkeitder Fans und die zukünftigen Wirkungen aufstellen.

° Wandel der Szene: Die aktuelle Anti-Drogen-Strategie („Nationalisten gegen Drogen“)offenbart, das meint zumindest der beste Kenner der Szene, Klaus FARIN, daß „sichdas Selbstbild der Rechtsrocker im Laufe der letzten zehn Jahre vom Rebellen gegendie Obrigkeit in das eines staatstragenden Spießers gewandelt hat. Ihre Feindbildersind weitgehend mit denen des konservativen Mainstream identisch: Drogenabhängi-ge wie Drogendealer, Einwanderer und Asylsuchende, Punks und Homosexuelle,Obdachlose und (manchmal sogar deutsche) Arbeitslose, die ‘uns’, den Steuerzah-lern, auf der Tasche liegen. Die ‘nonkonforme Musik’ (Torsten Lemmer) vertont längstmit Ausnahme weniger provokativer Spitzen nicht mehr als die Schlagzeilen derBoulevardpresse, ihre Grundhaltung ist die des Kleinbürgers, der sich eine ordentli-chere, besser aufgeräumte, männlichere Gesellschaft ohne Fremde, Kritiker undProblemgruppen wünscht“ (ebd., S. 77). Wenn dem so ist, dann bewegt sich der Rechtsrock, insbesondere, was seine Inhalteund Botschaften betrifft, vom Rand der Gesellschaft in Richtung Zentrum. Dafür sindden Bands alle populistischen Mittel recht, z.B. auch die Vertonung von WilhelmBUSCHs ironischem Vers über den Juden (es sei nur angemerkt: einer der bestenFreunde von BUSCH war Jude! Wilhelm BUSCH hat alle Bevölkerungsgruppenkarikiert, lächerlich gemacht und vorgeführt; vgl. zu Wilhelm BUSCH meine BroschüreGRIESE 1996): „Und der Jud’ mit krummer Nase, krummer Fers’ und krummer Hos’,schlängelt sich zur hohen Börse, tiefverderbt und seelenlos ... Augen schwarz undSeele grau, Hut nach hinten, Miene schlau ... So ist Schmulchen Schnievelbeiner -Schöner ist doch unsereiner“ (von „Saccara“, die auch antichristliche - „Das Gewand“- und militaristische Lieder „zum Besten geben“ wie z.B. „Stalingrad“ oder „Land-sknechte der neuen Zeit“ - „zu jeder Schandtat bereit“).

° Die „Fans“: Nicht zuletzt auf Grund der Medienberichte sowie der staatlichen Re-pressionen sind Bands wie „Störkraft“, „Endstufe“, „Radikahl“, „Werwolf“, „Volks-zorn“, “Kraftschlag“, „Schlachtruf“, „Brutal Attack“, „Endsieg“ oder die englischen(Kult)Bands „Skrewdriver“, „No Remorse“ (die „Böhsen Onkelz“ sowieso - sie laufenquasi als Kultband „außer Konkurrenz“) heute bei vielen Jugendlichen bekannt,obwohl nur wenige von ihnen (vgl. oben) wirkliche „Fans“ der Bands oder Anhängerder Texte sind. Rechtsrock gilt als schick, weil anrüchig, als spannend, weil verboten,als „in“, weil von erwachsenen Normen abweichend. Der typische „Fan“ bzw. Konsu-ment von Rechtsrock ist „weiß, männlich und unter dreißig Jahren ... Skinheadsstellen entgegen der öffentlichen Wahrnehmung nur einen Teil der Musiker, Händlerund Anhängerschar dar“ (FARIN 1999, S. 78). An dieser Stelle muß auch nochmaldarauf hingewiesen werden (weil die Medienberichte etwas anderes suggerieren), daßdie Skinhead-Szene in sich äußerst heterogen und vielschichtig ist, daß es neben„Glatzen“, unpolitischen und „rechten Skins“ (nicht jede Glatze ist national(istisch),rassistisch und/oder fremdenfeindlich) „Sharps“ („Skinhead against racial prejudice“),„Oi!-Skins“ (neutrale Musikfans) und „Redskins“ (linke Skins) gibt und daß nicht jederSkin ziellos und endlos säuft, brutal, dumpf, gewalttätig und glatzköpfig ist. Die Musikist das Verbindende (manchmal aber auch trennende - was die Texte betrifft) undmanchmal auch das „Einstiegsmedium in die Szene“, das „zentrale Verständigungs-medium“, das „Sinnfragen“ thematisiert und „diffus vorhandene Meinungen innerhalbder Skinhead-Szene“ aufgreift und geschickt „in Liedtexten verarbeitet“ (GRÜNINGER/ LINDEMANN 1993, S. 40). Bei (verbotenen) Life-Konzerten einschlägiger Bands„dabei (gewesen) zu sein“, ist das Szene-Erlebnis schlechthin und wirkt in der peergroup - insbesondere bei gesellschaftlichen „loosern“ - anerkennend und statuserhö-

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hend.

° Wirkung: Rechte Rockmusik zu kennen bzw. zu hören, heißt nicht, Mitglied derrechten Szene oder gar durch die Musik bzw. ihre Texte gefährdet zu sein. Aber IanSTUART, Begründer der bekanntesten und berüchtigsten internationalen Rechtsrock-bzw. Naziband „Skrewdriver“ „hat klar erkannt, welches aufputschende PotentialRockmusik hat und wie man mit Gitarre und Gesang aus jungen Fans Gesinnungs-genossen machen kann“, um „die Revolution des weißen Mannes voranzutreiben“,meint z.B. KARTHEE (1993, S. 104f). „Diese Musik ist ein Mittel zur Anbindung, einWeg, um junge Leute an die Bewegung heranzubringen. Sie ist eine Art Einführung,und es funktioniert. Jedesmal nach einem Konzert gibt es eine Flut von Angriffen aufAusländer“ (Tony ROBSON von dem antifaschistischen Londoner Magazin ‘Search-light’). Und Paul BURNLEY, der Sänger der ähnlich bekannten englischen Nazi-Band„No Remorse“ (Keine Reue), auch als ultrarechter „Rattenfänger“ der Szene bekannt,sagt: „Rockmusik ist ein sehr wichtiges Werkzeug, um die Wahrheit und unsereBotschaft über den Nationalsozialismus zu verbreiten“ (beides zitiert nach ebd., S.107). Auch geben jugendliche Gewalttäter in Polizeiprotokollen an, daß die Musik, vorallem bei und nach Konzerten, und der Alkohol sie „aufgeputscht“ hätten.

Entscheidend ist m.E. aber eher die „Stufe der Intensität“ in der alltäglichen Beschäf-tigung mit der Musik und der Grad der Identifikation mit Gruppen und Text(passagen).Die „Wirkung rechter Rockmusik hängt von der Situation, vom Umfeld der Konsumen-ten ab“ (DOLLASE 1999, S. 108). So kann bei entsprechenden Voraussetzungen dasHören von Rechtsrock durchaus „Entspannung, Feierabendstimmung oder Tanzver-gnügen“ bedeuten. Stehen allerdings als Motive eher „Tabubruch“, „symbolischeErsatzbefriedigung“, „vorübergehende Fehlanpassungen“ im familiären und/oderschulischen Kontext, Streben nach Akzeptanz in einer Problemgruppe, Desorientie-rung und Desintegration im Vordergrund, kann eine Gefährdung durch das intensiveHören von Rechtsrock, vor allem innerhalb einer ideologisch rechtsstehenden peergroup, nicht von der Hand gewiesen werden. Nach wie vor gilt aber in bezug auf dieWirkung (vgl. die Kontroverse in der Medien-Gewalt-Wirkungsforschung): „Es istunklar, inwiefern die Existenz rechtsextremer Rockgruppen als Einflugschneise inrechtsextremes Gedankengut fungieren kann bzw. wie durch deren Existenz dieVerfügbarkeit rechtsextremen Gedankenguts in einer Gesellschaft aktuell gehaltenwird“ (ebd., S. 113). Gesichert scheint mir die Aussage, daß der Rechtsrock (ähnlich wie die Gewaltdar-stellungen im Fernsehen) die Wirkung eines Katalysators hat, der einen Prozeß bzw.eine vorliegende Disposition verstärkt, verstärken kann, aber nicht ursächlich denProzeß oder die Disposition determiniert. Es kommt entscheidend darauf an, wer(Persönlichkeit, Identität), wann (Intensität, Dauer, Alter), mit wem (Situation, allein,peer group), warum (Motive, psychische Disposition) und wieso (biographischeFaktoren und Erfahrungen) Rechtsrock hört. Im Grunde genommen ist die komplexeund daher konmplizierte Antwort auf die Frage nach der Wirkung von Rechtsrock ineinen theoretischen Kontext eingebettet, der die Bereiche „Sozialisation“, „Medien-wirkungsforschung“, „Musikwissenschaft“ und „Rechtsextremismusforschung“ umfaßt(vgl. dazu MÖLLER 1999, S. 118ff).

Die neuere Medienwirkungsforschung fragt auch nicht mehr in erster Linie nach denInhalten (Texte) und Formen (Sound, Präsentation) der Medien und deren Wirkung,sondern schaut auf den Rezipienten, seinen „Sozialisationskontext“, seine biographi-sche (Rezeptions-) Situation, seine Alltagsgestaltung und Zukunftsperspektiven.MÖLLER fragt daher auch theoriekonsequent: „Was für Rezeptionssituationen liegenvor? In welchem Lebenskontext erhält Rechtsrock Relevanz? Welche Nutzungs-erwartungen werden mit ihm verbunden? Und: Gibt es bezüglich solcher Sachverhalte

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geschlechtsspezifische Differenzen?“ (ebd., S. 121). Musikkonsum ist ein „ganzheitli-cher Prozeß ... der u.a. Körper, Emotion, Kognition und Spiritualität anspricht“ undin bestimmten biographischen und sozio-psychischen Situationen stattfindet - mitoder ohne Alkohol z.B., dessen Einfluß auf die Wahrnehmung und Wirkung derMusik unbestritten ist. „Reine Textanalysen (führen daher) nicht weiter“- ohne Text-analyse geht es aber m.E. auch nicht, will man das Zusammenwirken aller Faktorenerahnen.

Erst die Analyse der komplexen und komplizierten Interdependenzen von sozialisato-rischen Alltagserfahrungen jugendlicher Rezipienten wäre ein Schlüssel zur Beant-wortung der Frage nach den möglichen (kurzfristigen, mittel- und/oder langfristigen)Wirkungen der rechten Rockmusik. MÖLLER (ebd., S. 122f) faßt die Diskussion umdie (potentiellen) Wirkungen von Rechtsrock an Hand eigener Studien in „fünf Punk-ten“ zusammen:

„Erstens: Rechtsrockkonsum hat in keinem der untersuchten Fälle rechtsextremkonturierten Gewalthandelns unmittelbar gewaltauslösende Wirkung.

Zweitens: Selbst bei ‘eingefleischten’ Rechtsextremen ... ist Rechtsrock zwar einepräferierte, aber nur unter anderen - vor allem Heavy Metal - rezipierte Musikart;

Drittens: Die Texte von rechten Rocksongs sind für die Jugendlichen manchmalgleichrangig mit der Melodie, für die Gesamtgruppe insgesamt aber weniger attraktivals der musikalische Klang, der Rhytmus, das Tempo, die Lautstärke ... die Stim-mungslagen (Alkohol! H.G.), somatische Reaktionen und Assoziationen.

Viertens: Rechtsrock erhält seine Bedeutung ... aus dem jugendkulturellen Zu-sammenhang, den er neben Stilmitteln wie Kleidung, Frisur etc. mitproduziert.

Fünftens: Rechtsrock mag einen Attraktionspunkt für Cliquen- und Szenezugehörig-keit bilden und Stabilisierungsfunktionen für die Szene und die Teile des darüberbezogenen politischen Orientierungssystems erfüllen - ein grundlegender Verursa-chungsfaktor von Wendungen des Denkens und Verhaltens nach rechtsaußen ist ernicht. Bestimmte Familien-, Schul- und Cliquenerfahrungen erweisen sich in dieserHinsicht als weitaus schwergewichtiger“.

Dies entspricht m.E. auch dem gegenwärtigen Erkenntnisstand in der Medien-Wirkungs-Forschung, wobei ich dem (meist exzessiven) Alkoholmißbrauch undseinem Einfluß auf Wahrnehmung und Wirkung des Rechtsrocks und der Gruppeeine besonders dominante Rolle zuschreiben würde.

° Geschlecht: MÖLLER (1999, S. 127ff) weist noch auf einen wichtigen Aspekt hin, dernicht unterschlagen werden sollte. Der Rechtsrock - und hier kommen Texte zumTragen - transportiert geschlechtsspezifische (Verhaltens)Stile, d.h. ein typisches„Männer- und Frauenbild“, das feste und eindeutige Orientierungsmuster für Identitä-ten zur Verfügung stellt. Dies sind die Propagierung einer „maskulinen Kämpfernatur“,von Soldatentum und „Gewaltbereitschaft“, kurzum: „Männlichkeit“ und „Männer-mythen“ auf der einen Seite; ein Frauen(leit)bild „zwischen ‘Heiliger’ und ’Hure’“(zwischen „Maria“ und „Eva“), zwischen männerabhängigem Sexualobjekt („Fickhen-nen“) und „deutschem Mädel“ oder „Kampfgefährtin“ („Skingirl“ bzw. „Renee“) auf deranderen Seite. An dieser Stelle kann darauf verwiesen werden, daß in der rechtenSzene „nur“ etwa jedes 8. Mitglied (12,7 % in einer Skinhead-Studie von Heitmann1997 - andere Autoren vermuten noch geringere Anteile) weiblichen Geschlechts ist.Gerade über das Angebot an eindeutigen Männer- und Frauenbildern in seinen Texten

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und Gebahren bietet der Rechtsrock entscheidende „Mosaiksteinchen im Kontextjugendlicher Identitätsbildung“ an, symbolträchtige und stilbildende „Bilder vonMännlichkeit und Weiblichkeit sowie vom Geschlechterverhältnis“, die wesentlich (!)zur rechten Jugendkultur gehören. MÖLLER (ebd., S. 139) sieht daher auch im„Maskulinitätsmuster der Gewalt, das hier nur auf eine spezifische Weise politischüberhöht bedient wird“, den „Kern“ der rechten Szene und „in der Perpetuierung undideologischen Beweihräucherung einer violenzzentrierten Maskulinitätsvorstellung“ die„Gefahr für eine demokratisch ausgerichtete politische Sozialisation“ der jungenGeneration.

° Antisemitismus: Ein besonderes und besonders wichtiges Thema ist der „Antise-mitismus im Rechtsrock“, zu dem vor allem ERB (1999) etliche Studien vorgelegt hat.So ist z.B. der Antisemitismus allgemein bei Erwachsenen im Westen Deutschlands(16 %) höher als im Osten (6 %); dagegen verkehrt sich das Verhältnis bei denJugendlichen, wobei antisemistische Einstellungen in der ostdeutschen Jugend von1990 bis 1996 (!) stark zugenommen haben. „Antisemitische Einstellungen sind in derAlterskohorte nicht gleichmäßig vorhanden; Geschlecht, Bildung und politischeOrientierung differenzieren das Bild erheblich. Junge Männer äußern diese Meinunghäufiger als junge Frauen, Abiturienten und Studenten sind toleranter, währendBerufsschüler und junge Berufstätige eine Problemgruppe bilden“ (ebd., S. 145). DerAntisemitismus hat im Rechtsextremismus, so ERB (ebd., S. 149), „die Funktioneiner ‘Theorie’. Er kann Machtverhältnisse ‘erklären’, die ‘wahren Hintergründe derBonner Judenrepublik’ entlarven. Damit wird der Antisemitismus abstrakt und gewinntan Reichweite, er ist unabhängig von der Anwesenheit oder vom tatsächlichenVerhalten der Juden“. Im Rechtsrock, ERB nennt ihn „Nazi-Rock“, findet man einenganzen „Komplex des Vernichtungsantisemitismus“, d.h. eindeutige und vielfältigeAufrufe zum Judenmord, auch - in der neuheidnischen Variante - eine offene Bekämp-fung des Christentums wegen dessen „jüdisch-orientalischen (= ‘fremdländischen,artfremden’) Wurzeln“. Dies gipfelt in verbrecherischen und inhumanen Aufforderungenzum Massenmord:

„Er ist kein Mensch, er ist ein Jud’. Drum denk nicht nach und schlag ihn tot“;„Auschwitz, Dachau, Buchenwald; da machen wir die Juden aufs neue kalt“;„Wetzt die langen Messer auf dem Bürgersteig,laß die Meser flutschen in den Judenleib“;„Mit dem Waschen haben wir keine Sorgen,Juden sind als Seife geboren“

oder in der Verbreitung der „Auschwitzlüge“:

„Die Vergasung der Juden ist nun endlich widerlegt“.

° Zukunft/Prognose: Ob die „Markenzeichen“ des Rechtsrock, der überlaute Beat,seine musikalisch-handwerklichen Mängel, seine technisch schlechten Musiker, seingrölender Saufgesang, seine kaum verständlichen Texte (aber eindeutigen Bot-schaften) usw. einer weiteren Verbreitung dienlich (vgl. Punk) oder eher schädlichsind, kann abschließend nicht gesagt werden. Sicher ist eher, daß die bisherigengeringen Werbe- und Vertriebsmöglichkeiten (vgl. aber den Wandel durch Nutzungder neuen Techniken), die Kriminalisierung der Szene und der Boykott der Senderund TV-Anstalten einen maßgeblichen Anteil an der doch eher geringen Verbreitungunter Jugendlichen haben. Vor allem scheint es aber so zu sein, daß weitere ein-deutige Merkmale des aktuellen Rechtsrock, z.B. sein geringer Humor- und Spaß-charakter, seine dumpfen Appelle an eine klebrige Gemeinschaft, seine Verklärungder jüngsten Vergangenheit, seine Inkompetenz zum Erzählen von sensiblen Storiesdem zunehmenden Individualisierungsstreben immer größer werdenden Teile der (vor

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allem älteren, weiblichen und besser gebildeteren) Jugend und der gegenwarts-orientierten Spaßkulturen schlicht und einfach entgegenstehen. „Der Rechtsrockkennt keine Individualität“ (FARIN) und bleibt daher auf Dauer gesehen für diemeisten jungen Menschen nur langweiliger und kollektivistischer „Message-Rock“ohne große psychische Wirkung. Für die Individualisierungs-, Rationalisierungs- undEinheits-Verlierer kann er aber - nach wie vor und vielleicht mehr denn je - einirrational-affektives Phaszinosum sein, das sich als eine Art musikalische Einstiegs-droge in die gewalttätige rechte Szene anbietet. Die Attraktivität des „Rechts-Rock“ist - gegenwärtig und zukünftig wohl noch mehr - ein looser-Phänomen.

Ausblick und die Frage nach den Konsequenzen

Abschließend taucht natürlich die Frage auf (vgl. oben), wie kann man Rechtsrockwissenschaftlich-objektiv „bewerten“ (falls man objektiv bewerten kann!?) und was kannpädagogisch (oder politisch) dagegen getan werden? Beim Studium der einschlägigenLiteratur fällt auf, daß fast alle Autoren sich von einer biographisch bedingten Subjektivitätin der Analyse und im Einschätzen des Rechtsrocks nicht freimachen können; sie argumen-tieren, zumindest implizit, oft auch explizit, immer auch normativ. Es ist zu vermuten, daß diemeisten Autoren entweder die klassische Rockmusik und ihre links-kritischen Dimensionenund Traditionen vor Augen haben, wenn sie sich (kritisch) mit Rechtsrock befassen und/odersich gegenüber der Rockmusik allgemein (sowie gegenüber devianten Jugendsubkultureninsgesamt) - bildungsbürgerlich motiviert - eher distanziert bis ablehnend verhalten. FARIN(1999, S. 174: „Materialien“), der wohl beste Kenner jugendkultureller Musikszenen und vorallem der Skinheadkultur, gelangt zum Zwecke einer „differenzierten Bewertung“ des Rechts-rocks zu „sieben für die rechtsradikale Subkultur bedeutenden Analysemerkmalen“, die ichübernehme, kurz benenne und Stichworte zur Orientierung liefere:

° „Nationalsozialistisch“ („Sieg Heil“, Hakenkreuz, Judenhaß, Hitlerverehrung);° „Revisionistisch“ (Rückgabe der Ostgebiete, Rehabilitation der Wehrmacht); ° „Rassistisch“ (Fixpunkt „weiße Rasse“, gegen Ausländer, Juden, Schwarze);° „Nationalistisch“ (Glorifizierung Deutschlands, Kampf für Deutschland);° „Militaristisch“ (Kriegerhymnen, Soldatentum als wahres Mannestum);° „Odins Krieger“ („germanisch-keltisch“, contra Christentum und Kirche);° „Skinheads“ (Skinheadkultur - Saufen, Spaß, Maskulinität, Gewalt).

Interessant erscheint mir auch die Erkenntnis von FARIN (1995, S. 6), daß der Rechtsrock„erst 1992 ins Blickfeld der (Medien-)Öffentlichkeit geriet“, daß zuvor allein „Der nette Mann“(von nebenan) von den „Böhsen Onkelz“ auf dem Index stand und erst die brutalen Vorfälle inHoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen zur medialen Aufmerksamkeit und dadurch zur„Verbotswelle“ führten, wodurch der Rechtsrock erst zum Politikum und öffentlichen Diskurs-thema wurde. Aber die „Mehrzahl der 1992/93 indizierten Tonträger stammte bereits aus den80er Jahren“ und kam bei der „Suche nach Sündenböcken“ vor dem Hintergrund der vor allemdie deutsche globalisierte Wirtschaft beunruhigenden internationalen Empörung über dierassistisch-fremdenfeindlichen Gewalttaten gelegen, hatte man so doch dafür eine schnelleKausalerklärung (die sich als falsch erwiesen hat) zur Hand. „Daß ‘Rechtsrock’ zum Medien-thema wurde, hat nichts mit dem realen Problemdruck zu tun“, schon eher mit der „Kon-kurrenz auf dem Medienmarkt“ (ebd., S. 7). „Wirklichkeit“, das wissen wir spätestens seit deraktuellen Erkenntnistheorie des „Konstruktivismus“ ist ein sprachliches „soziales Konstrukt“,an dem maßgeblich die Medien beteiligt sind (vgl. auch “Die gesellschaftliche Konstruktionder Wirklichkeit“).

Bei den folgenden Überlegungen und Vorschlägen, was (sozial)pädagogisch-jugendschütze-risch oder auch politisch und juristisch gegen emotionalisierende und manipulierende na-tionalistische und chauvenistische menschenfeindliche Botschaften und kriminelle Verstößegegen Grundgesetz und Menschenrechte getan werden kann und muß, sollte immer berück-

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sichtigt und reflektiert werden, was Avi PRIMOR, Israelischer Botschafter, gesagt hat:

„Deutschland ist wie ein geheilter Alkoholiker, der eben vorsichtiger mit Alkohol sein muß als andere Menschen, die nie Alkoholiker waren“.

JENAL (1993, S. 48) stellt diesbezüglich die beiden zentralen Fragen: „Läßt sich Haß verbieten?“ und „Reicht Aufklärung ... aus?“.

Beide Fragen können m.E. wohl mit „nein, aber ... “ beantwortet werden, denn es tauchensofort neue Fragen auf: Kann man Demokratie über Verbote verteidigen? und Erreicht man über Aufklärung emotionale Tiefenschichten der Persönlichkeit?

Üblicherweise setzen (Sozial)Pädagogik, Jugendarbeit und politische Bildung

a) in erster Linie auf „Aufklärung“ (die kognitive wissensvermittelnde Variante einerStrategie gegen „rechts“ bzw. „rechte Ideologie“), Aufklärung über Gewalt und ihreVerursachungen, über Faschismus und Nationalismus, deren Symbole, Botschaftenund Folgen, über Geschichtsfälschungen - „Auschwitzlüge“ etc. - über Vorurteile undFeindbilder;

b) auf methodisch angeleitete diskursive Streitgespräche (die Dialog- bzw. Diskurs-Variante) über offene Fragen wie Notwendigkeiten und Probleme von Verboten bzw.Indizierungen, über Aus-Wirkungen des Rechts-Rock, über Hintergründe und Wandelder Szene mit dem Ziel einer kritisch-reflexiven Sensibilisierung gegenüber derrechten Rock-Musik und Szene;

c) und zuletzt natürlich auf „Prävention“ im Sozialisationsbereich, vor allem in derSchule(die jugendschützerische Variante gegenüber rechtslastiger fremdenfeind- lich-nationalistischer Ideologie).

DOLLASE (1999, S. 114ff) stellt am Ende seiner lerntheoretischen Analyse der „Wirkung“ von„Rock von Rechts“ dann auch die „Gretchen-Frage“: „Wie geht man mit der rechten Rockmusik um?“

und spricht „ein paar Gefährdungspunkte der pädagogischen Arbeit“ an, z.B.:

a) „Übermäßige Tabuisierung“ und „Verteufelung“ des „Rechts-Rocks“ - mit der Gefahreiner möglichen Erhöhung seiner Attraktivität;

b) „Gesprächsabbruch“ - Problem der Erhöhung der Attraktivität der rechten Szenedurch die Nicht-Anerkennung ihrer Funktion zur Alltagsgestaltung;

c) Nicht-Akzeptanz „‘normaler’ rechter Anschauungen (im Gegensatz zu „extremen undradikalen Formen“) im Raum der Rockmusikszenerie“ - Gefahr der Unmöglichkeiteines Dialogs durch Ab- und Ausgrenzung.

Ferner spricht sich DOLLASE für eine „Gegenkonditionierung“ aus (Umpolung ihrer Funktion,z.B. Rechts-Rock zur Entspannung oder als Thema für eine langweilige Klausur im Musik-unterricht). „Als günstigste Strategie, mit dem Phänomen rechtsextremer Rockmusikfertigzuwerden, muß allerdings die Einwirkung auf die Produzenten rechter Images vonRockmusik angesehen werden. Rechte Rockgruppen wollen auch Geld verdienen ... MedialeAktionen, auch Protestaktionen von jugendlichen Konsumenten, hätten in den Produktions-

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firmen die entscheidenden Adressaten, die etwas ändern könnten. Auch die Medien sind alsVerbündete sinnvoll“ (ebd., S. 115/16).

BAACKE (1999, S. 102) gelangt zu dem Ergebnis, daß „dies bedeutet, daß Pädagogen wiePolitiker zu einer ernsthaften Auseinandersetzung aufgefordert sind. Aufgabe der Pädagogenwar es von jeher, heimatlosen Jugendlichen bei ihren Suchbewegungen zu helfen und ihnenlebbare Orte anzubieten; Aufgabe der Politiker ist es, einen Staat und eine Lebensordnungzu ermöglichen, in denen ein sinnerfülltes, also befriedigendes und Anerkennung bringendesLeben möglich ist. Die ‘Herausforderung von Rechts’ macht allzu deutlich, daß hier nochAufgaben zu lösen und szenen-adäquate Konzepte entwickelt werden müssen, die mehr sindals eine good-will-Erklärung ratloser Pädagogen gegenüber Skins, die letztlich als Opfererscheinen. Die erforderlichen Maßnahmen dürfen sich freilich auch nicht in begrenztenpolizeilichen Maßnahmen und Eingriffen erschöpfen, zumal das Verbundsystem der rechtenSzene selbst übernational organisiert ist. Nötig sind konzertierte Aktionen, die der Faszina-tion, die ‘Rock von Rechts’ auf Teile der Jugendlichen ausübt, den nährenden Grund und diemotivierenden Gründe entziehen“. Wenn diese pädagogischen Allgemeinplätze („ernsthafte Auseinandsersetzung“, Hilfe bei„Suchbewegungen“), politischen Postulate (Sinnerfüllung und Anerkennung im Alltag er-möglichen) oder gar Leerformeln („konzertierte Aktion“) das Ergebnis einer Analyse desRechts-Rocks und der erforderlichen Reaktionen darauf von einem (dem) Experten (BAACKE)sind, heißt das dann etwa im Klartext: Pädagogik - idealistisch oder ratlos, Politik - ignorant oder strategielos!?

Generell setzen Pädagogen auf „Dialog statt Ausgrenzung“ (vgl. GRÜNINGER / LINDEMANN1994, S. 58ff), denn die „gesellschaftliche Ächtung einer gesamten Jugendkultur“ führtbekanntlich zur Ausgrenzung „und somit zu einer Verschärfung des Problems“ (ebd., S. 64).In den Konzepten einer „Erlebnis-Pädagogik“ und in der „niedrigschwelligen“ „akzeptierendenJugendarbeit“ (KRAFELD) sind für die Praxis geeignete (wenn auch enorm schwierige)pädagogische Modelle erarbeitet worden (vgl. exemplarisch dazu FUNK-HENNINGS / JÄGER1996, S. 194ff). Dabei werden die Betroffenen als Menschen (Subjekte) akzeptiert, nicht aberihre (rechten) Einstellungen und Verhaltensweisen. „Die kognitive politische Bildung mit ihrerabstrakten Behandlung von nationalsozialistischen und rechtsextremen Themen ... muß durcheine erlebnisorientierte Aufklärung ersetzt werden, die an die Selbsterfahrung der betreffendenJugendlichen anknüpft“ (ebd., S. 196). Als Anknüpfungspunkt für diese Methoden dient eine„Mobile Jugendarbeit“, eine Art „Streetwork als aufsuchende Sozialarbeit“, die junge Leuteim Alltag und in ihren Szenen zu erreichen versucht (sog. „Tresen-Pädagogik“).

Eine harte, d.h. ausgrenzende Methode, würde wahrscheinlich die diffuse rechte Jugend-Szene endgültig an den Rand der Gesellschaft und damit in die wartenden Hände derorganisierten rechten Demagogen drängen, wo ihnen die zuvor verwehrte Anerkennung undUnterstützung sicher ist. Ein Ignorieren, Weghören und Wegschauen kann auch kein ge-eignetes pädagogisches Mittel sein. „Was bleibt ist der Dialog“ (GRÜNINGER / LINDEMANN)- sofern grundsätzlich Dialogbereitschaft und -fähigkeit vorliegen. Ansonsten bleibt zuletzt nurdas Strafgesetzbuch, ein klares juristisches Vorgehen gegen Rechtsbrüche.

So hat z.B. das Niedersächsische Innenministerium das Lied „Hakenkreuz“ wie folgt be-wertet: „Die Hakenkreuzfahne, das Symbol des Nationalsozialismus, ist ein Kennzeicheneiner verfassungswidrigen Organisation, von deren Verwendung im § 86a StGB die Rede ist.Eine solche Verwendung kann auch durch Tonträger, wie Platten und Casetten, erfolgen,wenn hierauf NS-Symbole verherrlicht werden. Die Hakenkreuzfahnen kommen im Liedtextwiederholt vor. Soweit das Lied im Rahmen von Veranstaltungen vorgetragen wird, machensich Sänger bzw. Band wegen des ‘öffentlichen Verwendens’ solcher Kennzeichen (§86a Abs.1 Nr. 1 StGB) strafbar. Ebenfalls strafbar machen sich der Produzent und Verleger vonPlatten oder Casetten mit solchen Liedertexten, denn sie stellen mit der Produktion der

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Tonträger Kennzeichen einer verfassungswidrigen Organisation her bzw. verbreiten solcheKennzeichen“ (SKINHEADS, 1993, S. 22).

Andere Liedertexte erfüllen vor allem den Straftatbestand der „Volksverhetzung“ (§ 130 StGB),wie z.B. im „Doitschlandlied“ der „Brutalen Haie“ aus Erfurt:

„Wir wollen Deutschland sauber und reinwir wollen Deutschland nur für uns allein“

oder der „Gewaltverherrlichung“ (§ 131 StGB), z.B. im Liedtext der Band „Volksverhetzer“ ausSonneberg/Thüringen:

„Du hast ihn vor Dir liegen, hilflos und am BodenDa nimmst Du noch mal Anlauf und springst ihm in den Hoden“.

Auf genereller Ebene läßt sich hinsichtlich von Möglichkeiten und Chancen der pädagogi-schen Arbeit mit (diffus-rechtsorientierten) Jungendlichen schlußfolgern: „Die Autoren desBandes („Rock von Rechts II“, das gegenwärtig informativste Buch zum Thema, H.G.) sindder Auffassung, daß eine Initiative des Bundes und der Länder gestartet werden muß, umöffentliche kulturelle Räume für Jugendliche und Kinder zu schaffen, in denen sie unterpädagogischer Begleitung und Beratung Experimentierfelder für neue Erfahrungen in deraktuellen und in der zukünftigen Gesellschaft finden können. Der Umgang mit Kulturtechni-ken wie Theater, Spiel, aber auch die Einführung in den kompetenten Umgang mit den neuenMedien können hier von zentraler Bedeutung sein“ (LAUFFER 1999, S. 10).

Dahinter steht die Auffassung, daß eine für viele Heranwachsende frustrierende Gesellschaft„neue öffentliche Kommunikationsräume anbieten“ muß, wo der Frust der jungen Generationpädagogisch bearbeitet werden kann, wo ein „kompetenter und selbstbestimmter Umgang mitsich selbst und mit anderen und damit das Suchen und Finden eines eigenen Platzes indieser Gesellschaft gelernt werden kann“ (ebd.). Diese Gesellschaft benötigt im Interesseihrer Jugend - das wäre m.E. die allgemeinste Konsequenz - (sozial)pädagogisch gestalteteund kompetent angeleitete Übungsplätze zur Identitätsfindung. Aber das ist letztlich auchnichts Neues. Pädagogik und Politik haben, so mein Fazit, wohl ihre mehr oder wenigerbewährten allgemeinen Antworten auf den „alten Wein“ (Rechtsradikalismus, Nationalismus,Fremdenfeindlichkeit), nicht aber auf die „neuen Schläuche“ (die geschickte und viele jungeMenschen faszinierende und ansprechende Verpackung rechter Botschaften und Ideologienin einer reizvoll attraktiven Heavy-Metal-Rock-Musik-Variante).

Anmerkungen:

Nach Abfassung des Roh-Manuskriptes für einen Vortrag im Sommer 1999 erfuhr ich vomüberraschenden Tod des Kollegen Dieter BAACKE, der wohl wie kein anderer sich mit der hierzur Diskussion stehenden Thematik kompetent und kritsch auseinandergesetzt hat. Wirwerden seine Analysen und Ideen vermissen.1) Ich habe hier größtenteils davon abgesehen, einschlägige Textpassagen des Rechtsrockswiederzugeben. Eine entsprechende Auswahl findet sich in fast allen Publikationen zumThema, z.B. in den Beiträgen in RECHTE MUSIK (1995) oder BAACKE / FARIN / LAUFFER(1999). Ferner bin ich der Auffassung, daß die Texte bzw. Botschaften nur im Kontext derMusik und bestimmter Situationen (peer group, Alkohol, Dunkelheit) ihre „volle Wirkung“entfalten (können).

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Literatur (verwendete und thematisch ergänzende Publikationen)

ANNAS, Max und CHRISTOPH, Ralf (Hrsg): Neue Soundtracks für den Volksempfänger.Nazirock, Jugendkultur und rechter Mainstream. Berlin 1993. Darin u.a.:- WALTER, Klaus: Dicker Stefan, gutes Kind (über die „Böhsen Onkelz“);- NEVILL, Andrew: The Good, the Bad and the Skins (zur Geschichte der Skinheads);- ANNAS, Max: Diktatur und Alltag - Bilder aus der Heimat (zum Nazi-Rock);- GOTTSCHALK, Christian: Der Expertenstreit (Pressediskussionen).

ARBEITER, Ursula: Rechtsextremistische Rockmusik - Probleme für den Jugendschutz? In:ajs informationen 29/1993.

BAACKE, Dieter u.a.: Rock von rechts. Medienpädagogische Handreichungen. Bielefeld 1994.

BAACKE, Dieter (Hrsg): Handbuch Jugend und Musik. Opladen 1998. Darin:- NOLTEERNSTING, Elke: Die neue Musikszene: Von Techno bis Crossover.- BAACKE, Dieter, FARIN, Klaus, LAUFFER, Jürgen (Hrsg): Rock von Rechts II.

Milieus, Hintergründe und Materialien. Bielefeld-Berlin 1999. Darin:- BAACKE, Dieter: Ortlos - orientierungslos. Verschiebungen in jugendkulturellen

Milieus.- DOLLASE, Rainer: Welche Wirkung hat der Rock von Rechts?- ERB, Rainer: „Er ist kein Mensch, er ist ein Jud’“. Antisemitismus im Rechtsrock..- FARIN, Klaus: Reaktionäre Rebellen. Die Geschichte einer Provokation.- DERS.: Materialien.- LAUFFER, Jürgen: Ein Gespenst mit neuem Leben. Thesen zur rechten Jugendkul-

tur.- LEGRUM, Marcel: Vom gesellschaftlichen Abseits ins Zentrum des technischen

Fortschritts. Rechte Musik im Internet. - MÖLLER, Klaus: Harte Kerle - geile Weiber. Rechtsrockkonsum geschlechtsspezi-

fisch.

DISKURS: Literaturreport 1998: Jugend und Rechtsextremismus in Deutschland. Jugend undGesundheit in Deutschland. Hrsg. vom DJI. München 1999.

EBERWEIN, Markus und DREXLER, Josef: Skinheads in Deutschland. Augsburg 1995.

FARIN, Klaus und SEIDEL-PIELEN, Eberhard: Skinheads. München 1993.

FARIN, Klaus: Jugendkulturen zwischen Kommerz und Politik. Erfurt 1997.

DERS. (Hrsg): Die Skins. Mythos und Realität. Berlin 1997.

DERS.: Skinhead - A Way of Life. Eine Jugendbewegung stellt sich selbst dar. Hamburg 1996/ Berlin 1999.

DERS.: Buch der Erinnerungen. Die Fans der Böhsen Onkelz. Bad Tölz 1999.

FUNK-HENNINGS, Erika und JÄGER, Johannes: Rassismus, Musik und Gewalt. Ursachen -Entwicklungen - Folgerungen. Münster 1996.

GEISLER, Thilo und HEMPEL, Josefine: „Rechts-Rock“: Was ist das für eine Musik? In:Pädagogik 7/8/1993.

GRIESE, Hartmut M.: Sozialwissenschaftliche Jugendtheorien. Eine Einführung. Weinheim

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und Basel 1977/81/87.ders.: Jugend(sub)kultur(en) und Gewalt. Münster 1999 (erscheint demnächst).

GRÜNINGER, Christian und LINDEMANN, Frank: Sieg-Heil-Rock. Rechtsruck - Rechtsrock -Rechte Szene.. In: MEDIEN CONCRET: Jugendkulturen und ihre Medien. November 1994.

DIES.: „Oi“ und „Sieg Heil“ - Rechter Rock und rechte Szene. Eine differenzierte Analyse der„Skin-Kultur“. In: LJA LWL (Mitteilungen des Landesjugendamtes Westfalen-Lippe) 114/93.

GÜNTHER, Oliver: Utopie und „Überlebenskampf.“. „Rock von Rechts“: Abschied vom Mythosder „guten“ Gegenkultur. In: FR

HARTSCH, Edmund: „Danke für nichts“ - Böhse Onkelz. Franjkurt 1997.

HESSISCHE JUGEND 1/1999: Rechtsextremismus und ‘Rechte Jugendliche’.

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Torsten Lemmer.

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Rechtsradikale Rock-Musik - Bilanz und Informationen ... 47

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48 Hartmut M. Griese

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Eckart Müller-Bachmann

Der beschwerliche Weg der Skinheads von Liverpool über Hoyerswerda ins Heute

In der Diskussion um die Thematik der rechtsradikalen Jugendlichen und Brandsstifter, imVolksmund oft und schnell unter der Rubrik ”Skinheads” subsumiert, wird selten bis gar nichtauf die Wurzeln, die Vorläufer oder die Ideengeber dieser Jugendkultur eingegangen, ganz soals seien die Anhänger mehr oder minder aus dem Nichts bzw. der Tristesse ostdeutscherPlattenbausiedlungen entsprungen. Eine gründliche historische Analyse der Entstehungsgeschichte mit ihren sozialen, kulturellenund politischen Rahmenbedingungen zeigt, daß die Entwicklung der Jugendkultur derSkinheads in wesentlichen Zügen mit anderen Jugendkulturen – mit der der jamaikanischenRude Boys, der der britischen Mods und der des Punk – in Verbindung zu setzen ist. Ohnedie Befruchtung bzw. Abneigung/Ablehnung spezifischer Stile und Szenen untereinander istder Fortbestand einer Jugendkultur nicht denkbar. Die Skinheads, auf die hier explizit eingegangen wird, sind in ihren Anfängen Ende der 60erbeziehungsweise Ende der 70er Jahre eine typisch britische Jugendkultur gewesen, dieaufgrund sozialstruktureller, politischer und kultureller Verhältnisse Großbritanniens entstand.Mittlerweile existiert diese Jugendkultur in unterschiedlicher quantitativer und qualitativerAusprägung in allen Industrienationen der sogenannten "ersten" und "zweiten Welt". DieSkinheadbewegung hielt ihren Einzug in die westlichen Industrienationen zwischen 1978 und1980 (nach ihrer Renaissance im Zuge des sich ausbreitenden Punk-Stils in der MusikGroßbritanniens) und kam in den östlichen Mitte bis Ende der 80er Jahre auf. Dementsprechend handelt es sich bei der deutschen Jugendkultur desselben Namens umeine importierte, kopierte und zeitlich versetzt auftretende jugendkulturelle Artikulationsform,die in ihren Anfangsstadien kaum auf lokale deutsche Umstände reagierte, sondern haupt-sächlich britische Stile, Moden und Ideen nach Deutschland einführte. Nach einer erstenPhase der intensiven Aufnahme und Verarbeitung von Informationen, etablierten sich - anfänglich noch immer stark an britischen Mustern orientiert - relativ eigenständige Inhalte,die sich auf deutsche Verhältnisse bezogen.

Die britischen Ursprünge der Skinheads: Magische Antworten auf densozialen Wandel

"Skinhead, skinhead, over there, What´s it like to have no hair? Is it hot or is it cold? What´s it like to - BE BALD!" –Playground chant from the early seventies (zitiert nach Marshall 1991, S. 1).

Sozialstrukturelle Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg, wie etwa die Veränderung derWohn- und Arbeitssituation durch Stadtsanierung, damit einhergehend soziale und ethnischeDurchmischung der alten Arbeiterquartiere, die Differenzierung in hochqualifizierte undspezialisierte und andererseits in routinemäßig-unqualifizierte Jobs, sowie eine tendenzielleEntwertung der Ware Arbeitskraft, Rationalisierungsprozesse am Arbeitsplatz und derenAuswirkungen auf die Arbeitslosigkeit und die Auflösung lokaler Loyalitäten, Traditionen,Kommunikationsanlässe und -orte (vgl. Zimmer 1982, S. 39), waren für die "Kohäsion desproletarischen Lebenszusammenhanges" (Semmelroth 1982, S. 63) in Großbritannien

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Der beschwerliche Weg der Skinheads ... 49

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verantwortlich.

Derlei Modernisierungsschübe ließen die Arbeiterjugendlichen relativ pessimistisch in dieZukunft blicken, zudem fühlten sie sich in ihrer Lage eher isoliert, da die medial vermittelteJugendkultur nicht ihre Probleme und Bedürfnisse ansprach. Dieses Gefühl der Exklusion, dieRückkehr zu einem verstärkten "Wir/Die"-Bewußtsein, wurde von den Skinheads durch eineidealtypische Wiederbelebung traditioneller Formen kollektiver Solidarität (Die Idee derGemeinschaft) kompensiert (vgl. Clarke 1979, S. 171). Das Bedürfnis nach Gruppen-soli-darität, das sich bei den Skinheads mit aggressiven Inhalten artikulierte, entsprang demtraditionellen Inhalt der Arbeiter-Gemeinschaft als einem defensiv organisierten Kollektiv,dessen reale soziale Basis nicht mehr existierte, sondern von den Einflüssen der west-indischen Einwandererkultur umgeben war (vgl. Hebdige 1983, S. 56). Die Skinheads über-nahmen die Wertvorstellungen der parent-culture, deren Vorstellungen über kollektive Soli-darität, Männlichkeit, Außenseiter und andere Themen und schufen sich eine eigene Vor-stellung von Gemeinschaft, die die Grundlage ihres Stils bildete (vgl. Clarke 1979, S. 173). Diese Basis wurde durch eine zweite entscheidende Quelle des Skinhead-Stils, die Kultur derwestindischen Einwanderer, bereichert. Besonders Elemente aus der "Rude-Boy"-Subkulturder schwarzen delinquenten Jugendlichen wie Teile deren Kleidung, des Slangs und derMusik wurden von den Skinheads direkt übernommen, die mit den West-Indern in denörtlichen Jugendclubs und an der Straßenecke täglich zusammenkamen. Die Skinheadsinterpretierten den schwarzen Lebensstil als Ablehnung der dominanten Kultur, die Sprache,die Rituale und der Stil boten Orientierungsmodelle (vgl. Hebdige 1983, S. 55f; 1987, S. 45ff),die dem Gemeinschaftssinn der weißen Jugendlichen entsprachen. Diese Dialektik des Skinhead-Stils artikulierte sich sowohl im äußeren Erscheinungsbild, imSlang (jeder Skinhead hatte von Reggae-Schallplatten gelernt, eine jamaikanische Slangartzu kopieren) als auch im "paki-bashing", einem Verdrängungsprozeß, der neu auftretendeWidersprüche zwischen beiden Kulturen zu umgehen suchte. So mußten Pakistanis "für diebrutale Zuwendung schwarzer wie weißer Skinheads herhalten" (Hebdige 1983, S. 57) und dieFunktion des Sündenbockes für die Auswirkungen des Modernisierungsprozesses überneh-men, da westindische und "weiße" Kultur sich nur begrenzt miteinander identifizieren konn-ten. Der Stil der Skinheads reflektierte das Verlangen, die traditionellen Wertmaßstäbe dersozialen Gemeinschaft des Arbeiterwohnviertels zu konservieren beziehungsweise zuerneuern (vgl. Brake 1981, S. 91). Dieses geschah, indem man auf drei miteinander verbunde-nen Ebenen das Territorium verteidigte und kollektive Solidarität und Männlichkeit demon-strierte: Erstens schuf die Organisation in Gangs mit territorialer Zugehörigkeit zu besonderenWohngegenden mit ihren lokalen Bezugspunkten der Kneipe, Straßenecke oder des Fußball-platzes unter den Mitgliedern eine Lokalidentität mit lokalen Bezugspunkten der Gemein-schaft. Zweitens galt die Gewalt während und nach den Fußballspielen als Ausdrucksfeld fürdas, auf Kollektivität und Maskulinität ausgerichtete, Selbstbild der Skinheads, das männ-liches Verhalten mit physischer Härte gleichsetzte, die sich auch in den zahlreichen Attackenauf die vielseitigen Feindbilder der Skinheads äußerte. Kollektive Solidariät und gegenseitigeHilfeleistungen konnten am besten während Auseinander-setzungen mit gleichwertigen oderstärkeren Gegnern bewiesen werden. Und drittens ist die aggressive Abneigung gegenüberHomosexuellen und Hippies (als Sinnbilder für alle Gegner, die nicht den Maßstäben derSkinheads - im Hinblick auf das äußere Erscheinungsbild - entsprachen) "als Reaktion gegendie Auflösung traditionell verfügbarer Stereotypen von Männlichkeit" (Clarke 1979, S. 173f) zudeuten. Diese drei in Beziehung zueinander stehenden Elemente waren die Betätigungsfelder, durch

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50 Eckart Müller-Bachmann

1

Mannschaften wie Manchester United, Sunderland, Newcastle United und alle großen LondonerClubs bekamen von mehreren tausend Skinheads Unterstützung (vgl. Marshall 1991, S. 14).

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die die Skinheads versuchten, das Bild der traditionellen Arbeitergemeinschaft nachzuzeich-nen. Eine "magische" Antwort auf den sozialen Wandel ist dies insofern, da sie ohne mate-rielle und organisatorische Basis einer Gemeinschaft und deren informellen Mechanismensozialer Kontrolle vonstatten ging (vgl. Clarke 1979, S. 174) und somit eine hilflose Reaktionauf den wachsenden Mangel an Perspektiven darstellte. Doch indem die Skinheads mit denStilelementen der Schwarzen eine nicht mehr vorhandene Gemeinschaft wiedereinzusetzenund Widerstand gegen sozialstrukturelle Veränderungen zu leisten versuchten, die dieStruktur der traditionellen Gemeinschaft auf einer viel tieferen Ebene bedrohten (Mythos derKlassenlosigkeit, Verbürgerlichung, Zusammenbruch der Großfamilie, Ersetzung der Gemein-schaft durch das Private, vgl. Hebdige 1983, S. 56), waren ihre Versuche zum Scheiternverurteilt.

Die neuen folk devils in Großbritannien: Skinheads

"The leader of the Stepney mob is Mickey Steal. There are 50 in his gang - some of them colouredpeople, giving lie to the suggestion that their paki-bashing is sparked purely by racial hatred." -Eugene Hugo, 1970 (zitiert nach Marshall 1991, S. 40)

Im Jahr 1969 verbreitete die britische Presse die Bezeichnung "Skinhead" für ein jugendkultu-relles Muster, das mindestens schon fünf Jahre zuvor existierte. Die "Mods" (= Modernists),die einen gepflegten, auf das Äußere wertlegenden Habitus an den Tag legten und sich somitvon den, sich bewußt proletarisch artikulierenden, Rockern abzugrenzen suchten, unterteiltensich in verschiedene Fraktionen, die sich durch ihre äußeren Stilutensilien, ihre Konsumge-wohnheiten und ihre soziale Herkunft unterschieden. Die sogenannten "Hard-Mods" und"Gang-Mods", vornehmlich Jugendliche aus der Unterschicht, die den Konsumriten der bessersituierten Gruppen nicht folgen konnten, die sich in territorialen Cliquen organisierten und sichKämpfe mit benachbarten Gruppen lieferten, kreierten das negative Image, das kurze Zeitspäter den Skinheads zuteil werden sollte (vgl. Brake 1981, S. 87, 91). Diese, zuerst noch "Noheads", "Baldheads", "Lemons" oder "Peanuts" genannten, Jugendli-chen orientierten sich am Kleidungsstil und Verhalten der erwähnten "Hard-Mods", den "Boot-Boys" in den Fußballstadien und den "Rude-Boys", den Gangs der westindischen Ein-wanderer (vgl. Marshall 1991, S. 14). Im Jahr 1968 existierte in jeder Straße der innerstädti-schen Viertel von Liverpool, Glasgow, Birmingham oder London eine Gang von Skinheads (vgl.Farin/Seidel-Pielen 1993, S. 26), die von Jugendlichen aus der Arbeiterklasse gebildet wurden. Diese dominierende Jugendkultur Großbritanniens Ende der 60er Jahre zeichnete sich durchein ausgeprägtes Territorialverhalten aus, deren Grenzen Stadtteile, Dörfer oder Straßen seinkonnten, die per Graffiti gekennzeichnet und selbstredend gewaltsam verteidigt wurden.Zudem unterstützte jede Skinheadgang einen Fußballklub zu deren Spielen alle Skinheads1

als eine geschlossene Gemeinschaft auftraten, und während deren jeder die alltäglichenRivalitäten der unterschiedlichen lokalen Gangs am Wochenende im Stadion vergaß (vgl.Marshall 1991, S. 14). Die gewaltsame Revierverteidigung, ein Charakteristikum aller territorial orientierten Jugend-gruppen, war jedoch nicht das einzige Betätigungsfeld der Skinheads, auf dem Aggressionenfreigesetzt wurden. Während und nach den Fußballspielen suchten die Jugendlichen genausonach Gegnern wie im alltäglichen Leben. Ein weiterer Anlaß waren die englischen Feiertage,die bank-holidays, an denen die Jugendlichen Ausflüge in die Seebäder unternahmen.

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25% aller Mitglieder der pakistanischen Studentenvereinigung erklärten in einer Untersuchung2

1969 schon einmal in London überfallen worden zu sein (vgl. Brake 1981, S. 93).

1962 wurde der "Commonwealth Immigrants Act" verabschiedet, der den Zuzug von Nicht-Weißen3

erschweren sollte. 1964 gewann Peter Griffith, Kandidat der Konservativen in einem Einwanderer-viertel in Birmingham, den Wahlkampf mit der Parole: "Wenn sie einen Nigger zum Nachbarnhaben wollen, müssen sie Labour wählen." Und auch die Labour-Regierung schlug die Begrenzungder Einwanderung von "Farbigen" vor, um "bessere Rassenbeziehungen" zu erlangen (vgl.Farin/Seidel-Pielen 1993, S. 43).

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Bezüglich der Herkunft, des Status oder des Äußeren der Anzugreifenden wurden keineexakten Differenzierungen unternommen. Skinhead-Biograph George Marshall erinnert sichfolgendermaßen: "Anyone who didn´t belong to your patch was pencilled in as a legitimatetarget for skinhead aggro. And that meant everyone from rival gangs on your turf right down toa hapless soul who was in the right place at the wrong time" (1991, S. 35). So wurden sowohlStudenten und Homosexuelle als auch Rocker und "Greaser" (junge Jugendliche aus derUnterschicht, deren längere Haare für die Skinheads wie "Schmiere" aussahen und die sicheher den Rockern verbunden fühlten) attackiert. Doch die größte Aufmerksamkeit erlangten die Skinheads in der Öffentlichkeit durch dassogenannte "paki-bashing", den Angriffen auf Einwanderer aus Pakistan. Dieses "paki-2

bashing" wurde zu einem Synomym für alle rassistisch-motivierten Überfälle, die auch Indernund Bengalis gelten konnten, und nicht nur von weißen Jugendlichen initiert wurden, sondernauch von griechischen und westindischen Jugendlichen, die teilweise selbst Mitglieder in einerSkinhead-Gang waren (vgl. Marshall 1991, S. 38 und das Einleitungszitat dieses Kapitels).Pakistanis wurden jedoch zum vornehmlichen Ziel bei den Überfällen auf Ausländer aufgrundihrer besonderer Erkennbarkeit (etwa als Ladenbesitzer) und ihrer unterschiedlichen Kulturmu-ster (z.B. ihre Weigerung, sich zu verteidigen und ihrer bewußt gering ausgeprägten Assimila-tion an englische Verhältnisse) gegenüber den West-Indern (vgl. Clarke 1979, S. 174f.). Derenkulturelle Verhaltensweisen kamen wiederum denen der englischen Arbeiterjugendlichennäher, wohingegen die Pakistanis, eher introvertiert und familienzentriert, einen zur Mittel-klasse strebenden Habitus einnahmen (vgl. Farin/Seidel-Pielen 1993, S. 43).

Die Skinheads und ihre rassistischen Überfälle entsprachen nicht den üblichen deviantenVerhaltensmustern, sondern bildeten nur den alltäglichen Rassismus der englischen Gesell-schaft dieser Zeit ab, wohingegen die öffentliche Meinung die Skinheads als "extremistischenZirkel von Fanatikern ausgab" und sich somit "über den gewöhnlichen und behördlichenRassismus dezent hinwegsetzen" (Brake 1981, S. 91) konnte. Die britische Industrie warähnlich wie die deutsche oder französische in den 60er Jahren auf Einwanderer angewiesen,die durch ihren verstärkten Zuzug nach Großbritannien von Politikern zu einem Dauerthemagemacht wurden , das 1968 in einer ketzerischen Rede von Enoch Powell, Minister im3

konservativen Schattenkabinett, seinen rassistischen Höhepunkt fand: "Die fremde Natur dernicht-weißen Einwanderer paßt nicht zur britischen Gesellschaft, Konflikte kündigen sich an,die schon bald zu Rassenkrawallen führen" (zitiert nach Farin/Seidel-Pielen 1993, S. 42).

Dieser Aufforderung wurde durch einige Skinheads in Form der Angriffe auf farbige Ein-wanderer gefolgt, so daß schon bald die gesamte Jugendkultur unzutreffend als rassistischkategorisiert wurde. Derartigen Stereotypen versucht George Marshall zu begegnen:

"Many a young skinhead might have claimed old Enoch as a hero, but the nearest most got toorganised politics was being handed tea and buiscuits by the Young Liberals at Skegness onebank holiday. Most skinheads were too young to vote anyway, but Labour would no doubt have beenthe most popular choice. Paki-bashing and paki-rolling, as mugging Asians was often called, wascertainly no part of an extreme right plot. They were just skinhead enemies to be added to the listof hippies, gays, perverts, grease and anyone else who looked at you the wrong way." (1991, S. 39)

Die Medien und besonders die Boulevardpresse bemühten sich inständig, wie schon bei denvorangegangenen britischen Jugendkulturen (den Teds, Mods und Rockern), um eine mora-lisch entsetzte Berichterstattung, die den Skinheads die Rolle der neuen folk devils in der

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Aus Angst, mit britischen Skinheads verwechselt werden zu können, erlaubte die amerikanische4

Armee 1969 ihren in Großbritannien stationierten Soldaten nach Dienstende Perücken undanderen Haarersatz zu tragen (vgl. Marshall 1991, S. 15). Die Entwicklung britischer Jugendkultu-ren in den 70er Jahren zeichnete Richard Allen in seiner Trivialliteratur nach: Der berühmtesteSkinhead Großbritanniens wurde der fiktive Joe Hawkins, der durch weitere Charaktere aus dender Skinheadbewegung folgenden Jugendkulturen abgelöst wurde.

Eine Auswahl solcher Titel: "Skinhead Moonstomp" von den Symarips, "Skinhead Shuffle" von The5

Mohawks, "Skinhead Train" von Laurel Aitken, "Skinhead Moondust" von den Hot Rod Allstarsoder "Skinhead, A Message To You" von Desmond Riley (vgl. Marshall 1991, S. 26).

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Öffentlichkeit zukommen ließ (vgl. Brake 1981, S. 92). Auch wenn die Skinheads ihr gewalt-sames Image schätzten, so wurde der "cult" bald nur noch mit Gewalt und Aggressionenassoziiert, die Repressalien seitens der Ordnungsmächte wurden verschärft, ältere Mitgliederentwuchsen dieser Jugendkultur und gegen Ende des Jahres 1970 war ihr vorläufiges Endeerreicht (vgl. Marshall 1991, S. 40). 4

Der Stil der Skinheads

"Wir armen Kahlköpfe sind gar nicht so dumm, Wir haben kein Haar mehr und wissen warum." -Wilhelm Busch, "Chor der Kahlköpfe" (zitiert nach Farin/Seidel-Pielen 1993, S. 19).

Die Jugendkultur der Skinheads ist im positivsten Sinne des Wortes eine multikulturelleSynthese, die sich an den "Rude Boy-Gangs" der jamaikanischen Einwanderer und derenKleidungsstil und Musik orientierte. Sowohl die "Rude Boys" als auch die "Hard-Mods" trugeneinen extremen Kurzhaarschnitt und häufig Levis-Jeans, eine schlichte Aufmachung, quasieine Art Karrikatur des vorbildlichen Arbeiters, die in Kontrast zu dem extravaganten Stil derMods stand (vgl. Hebdige 1983, S. 54). Die kurzen Haare waren nicht nur bei Raufereien äußerst praktisch, sie waren nicht nurOpposition zur damaligen Langhaarmode, standen nicht nur für die "Sauberkeit" der Arbeiter-klasse, sondern sie übernahmen auch die Symbolität der Unterdrückung, der geraubtenIndividualität und Würde (vgl. Farin/Seidel-Pielen 1993, S. 32) und der marginalisiertenPosition der Jugendlichen. Ergänzend wurde die Stiefelmode der Fußballfans übernommenund Tennis-shirts, Arbeiterhemden und -jacken getragen. Diese Kleidungsstücke bildetenzusammen mit dem Kurzhaarschnitt die typischen äußeren Merkmale des Skinhead-Stils, derin späteren Jahren durch Tätowierungen komplettiert wurde. Die Skamusik der jamaikanischen Einwanderer und die Soulmusik schwarzer Amerikaner (dieschon viele Mods favorisierten) wurden zu den beliebtesten Musikrichtungen der Skinheads.Der Ska und der Reggae (ersterer eine schnellere Version mit den gleichen Mustern desReggae, beide jedoch äußerst tanzbar) wurde von den jamaikanischen Einwanderern impor-tiert. Diese Stile galten in der Öffentlichkeit als "crude and simple" und wurden von Musikre-dakteuren des Hörfunks ignoriert, dafür aber in den lokalen Tanzläden gespielt (vgl. Hebdige1987, S. 53) und von den "Rude Boys" und Skinheads begeistert aufgenommen. Dieserautonome Musikstil war frei von den Trends der Musikindustrie und "außer von den schwarzenRude Boys von keiner Subkultur belegt" (Farin/Seidel-Pielen 1993, S. 29). Bereits 1969spielten sich in Jamaika produzierte Schallplatten in die britischen Charts, in dieser Zeitfanden wöchentliche Reggae- und Skakonzerte in London statt und die farbigen Interpretenhuldigten ihre treueste Anhängerschaft, die Skinheads. 5

Mit den herannahenden 70er Jahren wandten sich die Interpreten des Reggae offener rassisti-

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Der beschwerliche Weg der Skinheads ... 53

Dementsprechend äußert sich Conny, Skinhead in Frankfurt 1983: "Punk bin ich so im März 19806

geworden (...). Dann sind aber immer mehr Deppen dazu gekommen, und es ist immer mehrvermarktet worden, da hat´s keinen Spaß mehr gemacht. (...) Viele der Punks sind zu Skinsgeworden, es gibt jetzt wohl mehr Skins als Punks in Frankfurt, und es gibt auch öfter Knüppelei-en." (Wittich in: Kramer 1983, S. 74ff.) Oder Stefan, Mitglied der "Böhsen Onkelz", einer dererfolgreichsten deutschen Skinheadbands: "Punks waren die meisten Leute im Teenie-Alter, dawaren sie noch in der Schule und haben gesehen, jetzt müssen wir arbeiten und unser Geldverdienen, da kannst du nimmer so rumlaufen, geht ja irgendwo nicht, und da kam die Skinheadbe-wegung genau richtig." (zitiert nach Matthesius 1992, S. 177)

Mitteilungen LJA WL 142/2000

schen Themen und der Bewegung des Rastafarianismus (= dem Ruf "Back to Africa") zu,dieser Musikstil verlor an Anziehungskraft für die weißen Skinheads, und es "begannen diegrundlegenden Widersprüche des Lebens aufzubrechen und auch in der Arena von Stil undÄsthetik zu explodieren, wo die beiden Gruppen ja ursprünglich ihre Waffenruhe geschlossenhatten" (Hebdige 1983, S. 57).

Die Ausbildung der bundesrepublikanischen Skinhead-Bewegung

Der englischen Soziogenese des Punk (ca. 1977 - 80) folgend, entwickelte sich auch in derBundesrepublik innerhalb des an Popularität gewinnenden Punkmilieus eine Skinheadszene,deren Mitglieder größtenteils selber Punks gewesen waren (ca. 1980). Diese wollten sichentweder aus pragmatischen Gründen ein gemäßigteres äußeres Erscheinungsbild zulegen,oder ihnen erschien diese Jugendkultur nicht mehr rebellisch genug, da sie, durch Kommer-zialisierungstendenzen "verwässert", an Glaubwürdigkeit verloren zu haben schien. Indem6

das Bedürfnis der Punks, sich abzugrenzen und nicht vereinnahmen zu lassen, Individualitätund eine vom "mainstream" der Gesellschaft abweichende Identität zu entwickeln, von dieserGesellschaft exotisiert und als käufliche Ware produziert wurde, suchten die Jugendlichennach extremeren Stilisierungsmöglichkeiten, um diese Individualität und "Andersartigkeit"artikulieren zu können (vgl. Wirth 1989, S. 93). Das Hauptbetätigungsfeld der Skinheads der ersten Generation war Anfang der 80er Jahre dasFußballstadion. Skinheads galten wie in Großbritannien Ende der 60er Jahre als "die uneinge-schränkten Könige der Fußballrowdyszene" (Farin/Seidel-Pielen 1993, S. 101). Für vieleJugendliche stellte der Raum des Stadions den ersten Kontakt mit dieser Jugendkultur her,die auf einige eine so starke Anziehungskraft ausübte, daß sie selbst zu Skinheads wurden.In dieser Zeit entwickelte sich auch die der Skinheadszene relativ nahestehende "Hooligan-szene", die aufgrund zunehmender Kommerzialisierung des Profifußballes, wegen derhäufigen Überreaktionen der Polizei und der Schlagzeilenpopularität (Hooligans sammelnZeitungsberichte über Schlägereien beim Fußball, an denen sie beteiligt waren) immer mehrEngagement in die "dritte Halbzeit", die Schlägereien nach Spielende, investierten. Zunehmende Infiltrierungsversuche seitens rechtsradikaler Vereinigungen, wie etwa der"Aktionsfront Nationaler Sozialisten" (ANS) Michael Kühnens, deren Anliegen es war, ähnlichdem des "British Movement" in Großbritannien, in den Fußballstadien Skinheads zu rekrutie-ren, scheiterten noch zu Beginn der 80er Jahre, da sich die größenteils "politisch uninter-essierten" Skinheads mißbraucht fühlten (vgl. Farin/Seidel-Pielen 1993, S. 102ff.). Währenddie Punkszene zunehmend eindeutig linke Ideologiefragmente aus der Hausbesetzerbewe-gung übernahm, die häufig nur die politischen Slogans des "Antifaschismus" oder "gegenBullen" reproduzierten (vgl. Die Beute 4/94, S. 18), kategorisierten sich die Skinheads als"unpolitisch", oder, um eine bewußte Konfrontation mit den "linken" Punks zu provozieren, als

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54 Eckart Müller-Bachmann

Dazu Markus Repkow, Aktivist der S.H.A.R.P.-Skinheads in Mönchengladbach: "Die Szenen7

haben sich einfach auseinanderdividiert. (...) Eine Politisierung kam eigentlich in erster Linie vonaußen und durch die Medien. Damals ist z.B. die Sache passiert mit dem Ramazan in Hamburg,der von Glatzen erschlagen wurde. Worauf sich viele korrekte Leute die Haare haben wachsenlassen. Dann kamen die mediengeformten Skinheads, die gelesen haben, Skinhead heißtAusländer jagen und Neonazi sein." (Spex 1/93, S. 36)1985 werden in Hamburg zwei Ausländer von rechtsradikalen Skinheads ermordert. Daraufhinbeginnt die Stigmatisierung der gesamten Szene durch die Medien (vgl. Farin/Seidel-Pielen 1991,S. 66).

Dementsprechend äußert sich Jörg, Hannoveraner Skinhead seit 1982: "Jede Berichterstattung in8

jeder Zeitschrift, egal welcher politischen Richtung, wie auch jeder Film, in dem es über Punks,Skins oder andere Jugendgruppen ging, war immer erstens oberflächlich, zweitens absoluteinseitig und drittens auf billige Effekthascherei aus. (...) Ein ´guter´ Bericht für eine Zeitschrift,genauso wie ein ´guter´ Film muß möglichst viele bunte Bilder mit brutalen oder auffälligen Leutenaufweisen und er muß die Thematik ganz bewußt einseitig betrachten. Dies führt natürlich zum

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"rechts". "Rechts" zu sein, war für die erste Skinheadgeneration gleichzusetzen mit "un-politischer" Provokation (auch mit NS-Symbolen), einem Männlichkeitsethos, das derGeselligkeit, Kameradschaft und dem Vergnügen verschrieben war (vgl. Farin/Seidel-Pielen1993, S. 100) und Abgrenzung gegenüber den "Linken" implizierte. Entscheidend zur politi-schen Kategorisierung der Skinheads trugen auch die Texte der "Böhsen Onkelz" bei, einerinnerhalb der Szene sehr populären Musikgruppe, insbesondere "Türken raus" und das"Deutschlandlied":

"Den Stolz, deutsch zu sein, wollen sie dir nehmen. Das Land in den Dreck ziehen, die Fahneverhöhnen. Wir sind stolz hier geboren zu sein, wir sind stolz darauf, Deutsche zu sein. Deutsch-land, Deutschland, Vaterland, Deutschland, Deutschland, mein Heimatland. Deutsche Frauen,deutsches Bier, Schwarz-Rot-Gold wir stehen zu Dir. (...)" (zitiert nach Matthesius 1992, S. 175).

Die Gruppe wurde in zahlreichen Medienberichten als neonazistisch eingestuft, die Versucherechtsradikaler Einflußnahmen auf die Szene wurden ebenfalls von den Massenmedientransportiert, so daß eine große Anzahl Skinheads der zweiten Generation nachrückte, derenVorstellungen über den Handlungsrahmen dieser Jugendkultur sich "auf Saufen, Raufen undneonazistische Parolen" reduzierte, und die der Annahme waren, Skinheads wären ursprüng-lich englische Neofaschisten gewesen (vgl. Matthesius 1992, S. 178). Die fremdenfeindlichen7

Tendenzen, die von der zweiten Skinheadgeneration ausgingen, spiegeln durchaus gesell-schaftspolitische Strömungen der ersten Hälfte der 80er Jahre wider: Rückkehrprämien fürGastarbeiter wurden von der neu gewählten CDU-Regierung angeregt, Ausländerwitze und dieParole "Türken raus" kursierten in der Bevölkerung (vgl. Farin/Seidel-Pielen 1993, S. 60).Skinhead-Biograph Marshall bringt die international zu beobachtende Entwicklung auf denPunkt:

"The effect of the media circus around the white power scene meant that all skinheads were seenas being racist by the general public. The truth was that it wasn´t so much skinheads turning toNazism, but Nazis turning into skinheads, making the two words virtually interchangeable in a lotof people´s eyes." (Marshall 1991, S. 148)

Die Berichterstattung der Medien über die unterschiedlichsten Jugendkulturen ist (und war) imallgemeinen immer äußerst oberflächlich, die Kreation neuer sozialer Außenseiter zugunstender Einschaltquoten oder Verkaufszahlen wirkt(e) auch immer auf die einzelnen Szenenzurück, indem viele Jugendliche den Stereotypen zu entsprechen versuchten, und sich so dieKrisenszenarien der Zeitschriften, Zeitungen und Sender zu bewahrheiten schienen. 8

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Aufbau von Feindbildern. Je mehr von diesen Berichten und Filmen in den Medien auftauchten,desto mehr traten auch die Dinge ein, die von den Medien in eben diesen beschrieben bzw.behauptet wurden. Irgendwann haben sich die Medien dafür entschieden, daß Punks ´Asoziale´und Skins ´Nazis´ sind. Im Laufe der Zeit trat dann genau das ein, was herbeigeredet wurde."(zitiert nach Drexler/Eberwein 1987, S. 91)

Der erste spektakuläre Überfall neonazistischer Skinheads geschah am 17. 10. 1987, als ein9

Punk-Konzert in der Berliner Zionskirche brutal überfallen wurde (vgl. Stock/Mühlberg 1990, S. 11).Als die Oppositionsbewegungen in der Ex-DDR ein Jahr später langsam an Bedeutung gewannen,instrumentalisierte die Staatsführung Skinheads, um oppositionelle Demonstranten zusammen-zuschlagen (vgl. Farin/Seidel-Pielen 1993, S. 115).

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Die sich kontinuierlich fortsetzende Stigmatisierung der gesamten Skinheadszene zu einerrechtsradikalen Gemeinschaft bewirkte sowohl, daß ältere Anhänger dieses Stils "aus-stiegen" als auch, daß sich jüngere Anhänger diesen Stil zu eigen machten, um als be-sonders abweichend angesehen und eingestuft zu werden oder um sich Aufmerksamkeit zuverschaffen. Zwischen den unterschiedlichen Generationen existierten erhebliche Differenzenbezüglich der Eigendefinition. Hauptsächlich fühlten sich ältere, den Traditionen der eigenenJugendkultur verbundene, Skinheads von den jungen Nachzüglern, den "Mode-Skins", die derälteren Generation und deren Vorstellungen nicht genügend Respekt zukommen ließen,bedrängt (vgl. Drexler/Eberwein 1987, S. 114f.). Auch innerhalb der Szene entwickelten sichAbgrenzungsversuche seitens der "echten" Skinheads gegenüber den als "Boneheads"verspotteten neonazistischen Rechtsradikalen seit etwa Mitte der 80er Jahre in Deutschland.Die militanteste Gegnerschaft besteht zwischen letzteren und den "Redskins", die sozialisti-sche und linke Ideologien verfolgen und der Punkszene am nähesten stehen. Die S.H.A.R.P.-Skinheads (Skin Heads Against Racial Prejudices) sind Anhänger einer weltweiten Organisa-tion, die ihrem Namen entsprechend seit 1988 versucht, Vorurteile gegenüber der eigenenJugendkultur abzubauen beziehungsweise diesen entgegenzuwirken, um die Jugendkultur zuihren Ursprüngen zurückzuführen (vgl. Spex 1/93, S. 38). Bis heute haben sich die unter-schiedlichen Lager der Skinheadszene eine vielgestaltige Infrastruktrur autonomer Kommuni-kationsmechanismen aufgebaut. So bestehen z.B. internationale Verbindungen zwischenFanzines, Schallplattenlabels und Konzert- und Fetenveranstaltern, die einen regen Aus-tausch zwischen den Anhängern dieser Jugendkultur auf der ganzen Welt ermöglichen.

Politisierungstendenzen im Zuge der Wiedervereinigung

Genauso wie die Punkbewegung erreichte auch die deutsche Skinheadszene im Zuge derWiedervereinigung durch den Zulauf ostdeutscher Jugendlicher ein erneutes Maximum. SeitAnfang der 80er Jahre existierten in der Ex-DDR Skinheads, die genau wie die Punks nurbruchstückhafte Informationen über diese Jugendkultur aus dem Westen erhalten konnten.Die Entwicklung der ostdeutschen Szene verlief im Großen und Ganzen über lange Jahre fastparallel zu der westdeutschen: Auch die Ost-Skinheads bevorzugten das Fußballstadion alsterritorialen Bezugspunkt und als Betätigungsfeld, auf dem Aggressionen ausgelebt werdenkonnten, und seit Mitte der 80er Jahre stieg die Anzahl neonazistischer Rufe und die Gewalt-bereitschaft gegenüber Minderheiten (vgl. Farin/Seidel-Pielen 1991, S. 66ff.). 9

Auch im Osten setzte man die Äußerlichkeit der Skinheads mit einem neofaschistischenInhalt gleich (weshalb wiederum viele Jugendliche zu Skinheads wurden, da dieses dieeinfachste Methode darstellte, in einem sich als "antifaschistisch" bezeichnenden Staatabzuweichen). Von staatlicher Seite verwies man auf westdeutsche Vorbilder und suchtesomit nach Handlungsursachen allein im Westen (vgl. Stock/Mühlberg 1990, S. 15). Nachdem

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sich spätestens seit 1987 eine beachtliche Anzahl Jugendlicher mit neonazistischen Poten-tialen der Skinhead-Symbolik annahm, verstärkte sich diese Tendenz mit dem Zusammen-bruch der DDR (vgl. Stock/Mühlberg 1990, S. 19f.). Jugendliche, die deviant erscheinen wollte,legten sich das "authentische" Outfit der westdeutschen Neonazis, Hooligans oder Skinheadszu (vgl. Farin/Seidel-Pielen 1993, S.115). In der ersten Hälfte der 90er Jahre waren es dannauch diese Jugendlichen, die, in dem kodierten Stil der Skinheads gekleidet, die Brand-anschläge, Morde und Überfälle in Lichtenhagen, Rostock, Hoyerswerda, Magdeburg und ananderen Orten begingen, um daraufhin von den Medien (und der Wissenschaft) als Skinheadsidentifiziert zu werden, wodurch diese Jugendkultur ein weiteres Stück in Richtung Neofa-schismus stigmatisiert wurde.

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Ein treffendes Beispiel liefert ein ”Tatort” mit Manfred Krug, in dem eine Horde rechter Skins eine10

türkische Hochzeit überfallen. Ironischer weise rekrutierte das ”Tatort”-Team die Laiendarsteller,die als Mörder fungieren sollten, im linksextremen Hamburger Punk- und Hardcoremilieu.

Farin spricht 1996 von ca. 6000 Skins unterschiedlicher politischer Einstellung (vgl. Farin 1996, S.11

7), der Verfassungschutz (1998) ”zählt etwa 7.600 unorganisierte gewaltbereite Rechtsextremi-sten, die große Mehrheit davon sind Skinheads” (Baacke 1999, S. 84).

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Skinhead im Jahre zehn nach der Wende

Im Zuge der erwähnten Brandschläge und Übergriffe auf Asylantenheime - nicht nur inOstdeutschland, es ist an Mölln, Lübeck, Solingen und anderswo in Westdeutschland zuerinnern - erreichte das Medieninteresse an den jugendlichen Glatzköpfen seinen Zenit. Konstruiert und analysiert wurden Zusammenhänge zwischen Hooligans und Skins über Neo-Nazis hin zu rechtsextremistischen Organisationen und Parteien. Als deren willfährigeGefolgschaft wurden Skinheads dargestellt, die gleichzeitig als Symptom eines eindeutigenRechtsrucks nach der Wiedervereinigung fungieren mußten. Sieht man davon ab, daß sichdieser Rechtsruck wohl eher in der Mitte der Gesellschaft vollzog (man erinnere nur den”Asylkompromiß”), so erreichten rechtsextremistische Parteien seit 1993 kaum noch effektiveWahlerfolge (vgl. Hebecker 1997, S. 89). Abrupt nahm auch das Medieninteresse an Skinhe-ads in der Öffentlichkeit ab. Von nun an wurde entweder differenzierter über diese Jugendkul-tur berichtet oder aber das bewährte Bild des rechten Schlägers mit Baseballkeule hieltseinen Siegeszug vermehrt in den bewährten TV-Gattungen. Lieferte die erste Art der Bericht-erstattung sowohl unpolitischen und linken aber auch vermehrt rechten Skinheads (denn nachdiesen waren die Medien nach wie vor auf der Suche) eine Plattform ihr diffuses Weltbilddarzulegen, so konstruierte die TV-Fiktion nach wie vor das oben gezeichnete Bild. 10

Zusätzlich zu medialen Konstruktionen der Wirklichkeit in der Mitte der 90er muß noch einvermehrtes Bemühen der Sozialwissenschaften (auch in und durch die Medien) hinzugedachtwerden, die sich um Erklärungsansätze rechtsextremistischer Einstellungen und Handlungenunter Jugendlichen bemühten. Darüber hinaus galt das Erbe eines antifaschistischen Staatesin Ostdeutschland und das der alten 68er Ideale in Westdeutschland vielen Jugendlichen alsDemarkationslinie, sei es nun aus generationsspezifischen oder ideologischen Gründen. Diese vermehrte Bemühen um Beschreibung, Erklärung und Pädagogierung hatte – auf einekurze Formel gebracht, folgenden Effekt: Sowohl die Erziehungsinstanzen - wie Eltern,Schule, Jugendclubs, Vereine usw. - als auch die Medien bestätig(t)en die gängigen Provoka-tionsmuster und belohn(t)en sie durch Aufmerksamkeit. Sowohl in einer Gesellschaft mitverordnetem Antifaschismus als auch gegenüber einer immer toleranten und diskussions-bereiten ”68er-Elternschaft” bot und bietet der Habitus des Skins - gekoppelt mit rechts-radikalen Symbolen - die beste Oberfläche für beiderseitige Reibungen (vgl. Hebecker 1997,S. 94). Wo ist die Jugendkultur der Skinheads im Jahre 1999 nun politisch und sozial zu verorten?Festzuhalten bleibt zunächst, daß die Jugendkultur seit der Entstehung des ”cults” inGroßbritannien Mitte/Ende der 60er Jahre eine Vielzahl von stilistischen Innovationen erfahrenhat und diverse regionale, nationale und soziale Ausdifferenzierungen aufweist. Auch wennkonkrete, empirisch gesicherte Zahlen fehlen , so ist doch davon auszugehen, daß die11

Jugendkultur im Zuge des oben angezeigten Prozesses - des sich geschichtlich dreifachwiederholenden Zulaufes rechtsorientierter Jugendlicher (in Großbritannien, der ehemaligenBRD und den Neuen Bundesländern) - zum Ende des Jahrtausends an der Oberflächegrößtenteils eher von rechten als von unpolitischen oder gar linken Anhängern gespeist und

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ernährt wird. Dabei ist es eine Frage der Perspektive, ob man den Wechsel von einer briti-schen, working-class-orientierten Jugendkultur zu einer deutschen rechtsextremenDemonstrations- und Schlägergemeinschaft als Prozeß innerhalb derselben beschreibt, oderob man den Standpunkt vertritt, daß heute viele rechte Jugendliche, die es vorher auch schonwaren, sich eine Bomberjacke angezogen und das restliche mehr oder minder authentischeOutfit zugelegt haben, also zu einer Art ”Pseudo- oder Hilfs-Skin” mutiert sind. Das sich die Perspektiven auch unter den Mitgliedern oder Chronisten unterscheiden, magfolgendes Beispiel verdeutlichen: Während Klaus Farin und Eberhard Seidel-Pielen alsaußenstehende Experten ”Skinsein” als 1) nicht-rassistisch, 2) working-class verwurzelt, 3)anti-politisch und 4) parteienfeindlich (1993, S. 106) definieren, sperrt sich George Marshallals involvierter Skinhead gegen Zuschreibungen von außen:

”Skinhead means alot of different things to alot of different people. What outsiders think of usdoesn't matter and never will. What counts is what the cult means to skins themselves. Over thelast 25 years, much has changed for both good and bad. But the traditional values of the skinhead cult live on.Values that mean being proud of yourself, your family, your town, your working class roots and yourcountry. Being a skinhead is about always fighting for what you believe is right, and backing up a mate evenwhen you know he or she is wrong. It's about being the first to open a beer at a party and the last toleave. It's about thinking for yourself and knowing that nobody is better than you. It's about listening to streetmusic when the mugs are listening to the crap in the charts. And as has been said many timesbefore, skinhead is a way of life, one that lives on in your heart long after you've hung up your bootsand braces. No other cult offers the same sense of belonging, of brotherhood, that skinheads offereach other across the globe. And that's why we'll still be hanging about on street corners in 25years time.” http://www.erinet.com/nhidalgo/skin/ - 18.11.1999

Literatur

BAACKE, Dieter/ FARIN, Klaus/ LAUFFER, Jürgen (Hrsg.): Rock von Rechts II. Milieus,Hintergründe, Materialien. Berlin 1999

BAACKE, Dieter: Ortlos – orientierungslos. Verschiebungen im jugendkulturellen Milieu. In:BAACKE, Dieter/ FARIN, Klaus/ LAUFFER, Jürgen (Hrsg.) 1999, S. 84 -105

BOCK, Marlene/ REIMITZ, Monika/ RICHTER, Horst-Eberhard/ THIEL, Wolfgang/ WIRTH,Hans-Jürgen: Zwischen Resignation und Gewalt. Jugendprotest in den achtziger Jahren.Opladen 1989

BOCK, Marlene: Rechts und Radikal. In: Bock, Marlene/ Reimitz, Monika/ Richter, Horst-Eberhard/ Thiel, Wolfgang/ Wirth, Hans-Jürgen 1989, S. 203 - 207

BRAKE, Mike: Soziologie der jugendlichen Subkulturen, Frankfurt a. M., New York 1981

CLARKE, John u. a.: Jugendkultur und Widerstand: Milieus, Rituale, Provokationen. Frankfurta. M. 1979

CLARKE, John: Stil. In: Clarke u. a. 1979, S. 133 - 157

CLARKE, John: Die Skinheads und die magische Rückgewinnung der Gemeinschaft. In:Clarke u. a. 1979, S. 171 - 175

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DREXLER, Josef/ EBERWEIN, Markus: Skinheads in Deutschland. Interviews. Hannover 1987

FARIN, Klaus/ SEIDEL-PIELEN, Eberhard: Krieg in den Städten. Jugendgangs in Deutsch-land. Berlin 1991

FARIN, Klaus/ SEIDEL-PIELEN, Eberhard: Skinheads. München 1993

FARIN, Klaus (Hrsg.): Skinhead. A way of life. Hamburg 1996

FRITH, Simon: Jugendkultur und Rockmusik. Soziologie der englischen Musikszene. Reinbek1981

HEBDIGE, Dick: Subculture. Die Bedeutung von Stil. In: Hebdige, Dick/ Diederichsen,Diedrich/ Marx, Olaph-Dante 1983, S. 8 - 120

HEBDIGE, Dick/ DIEDERICHSEN, Diedrich/ MARX, Olaph-Dante: Schocker: Stile und Modender Subkultur, Reinbek 1983

HEBDIGE, Dick: Cut ´n´ mix. Culture, Identity and Caribbean music. London 1987

HEBECKER, Eike: Vom Skinhead im Zeitalter seiner Unkenntlichkeit. IN: SPOKK (Hrsg.)1997, S. 89 - 97

JARMAN, Francis: Youth subcultures in Britain 1950 - 1981. In: Englisch AmerikanischeStudien, Zeitschrift für Unterricht, Wissenschaft und Politik. 1/2, 82, S. 21 - 32

KRAMER, Inge (Hrsg.): Null Bock auf euer Leben: Momentaufnahmen aus der Jugendszene;authentisch; drastisch; direkt. Braunschweig 1983

MARSHALL, George: Spirit of ´69. A Skinhead bible. Dunoon / UK 1991

MATTHESIUS, Beate: Anti Sozial Front. Vom Fußballfan zum Hooligan. Opladen 1992

SEMMELROTH, Felix: Jugendliche Subkulturen als soziale Katalysatoren. Ein Forschungs-bericht. In: Englisch Amerikanische Studien, Zeitschrift für Unterricht, Wissenschaft undPolitik. 1/2, 82, S. 43 – 68

SPOKK (Hrsg.): Kursbuch Jugendkultur. Mannheim 1997

STOCK, Manfred/ MÜHLBERG, Phillip: Die Szene von Innen. Skinheads, Grufties, HeavyMetals, Punks. Berlin 1990

WIRTH, Hans-Jürgen: Trotz und Träume - alles Schäume? In: Bock, Marlene/ Reimitz,Monika/ Richter, Horst-Eberhard/ Thiel, Wolfgang/ Wirth, Hans-Jürgen 1989, S. 81 - 93

WITTICH, Ute: Conny: Vom Punk zum Skinhead. In: Kramer 1983, S. 73 - 78

ZIMMER, Jochen: Flucht oder Widerstand? Zur sozialwissenschaftlichen Mühe mit denjugendlichen Subkulturen. In: Englisch Amerikanische Studien, Zeitschrift für Unterricht,Wissenschaft und Politik. 1/2, 1982, S. 33 - 42

Belletristik:

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60 Eckart Müller-Bachmann

Mitteilungen LJA WL 142/2000

ALLEN, Richard: Skinhead escapes. London 1972

Zeitschriften:

DIE BEUTE 4/1994: Politik & Verbrechen. Hrsg.: Verein die Beute, Postfach 100 624, 60006Frankfurt a. M.

SPEX Nr. Nr. 1/1993, (SPEX, Aachener Str. 40, 50674 Köln)

Internet:http://www.erinet.com/nhidalgo/skin/- 18.11.1999

Eckart Müller-Bachmann M.A., Sozialisationsforschung und Empirische Sozialforschung, TU Chemnitz

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Gewaltprävention ab Nabelschnur 61

Mitteilungen LJA WL 142/2000

Jürgen Schmetz

Gewaltprävention ab Nabelschnur

Neue Aufgaben für Kinder- und Jugendärzte *)

Gewalt und Kriminalität - ein ewiges Thema jeder Gesellschaft

Noch zu keiner Zeit und in keiner Gesellschaft wurde das Problem von Gewalt und Kriminalitätabschließend gelöst. Heute werden die Täter augenscheinlich immer jünger, ihre Vorgehens-weise immer brutaler. Die Frage ist, wie können wir verhindern, daß an unseren Schulenamerikanische Verhältnisse mit wahllos um sich schießenden Jugendlichen Einzug halten?An weiterführenden Schulen der Vereinigten Staaten habe jeder Dritte eine Schußwaffe, wirdberichtet. Selbst wenn es nur jeder Zehnte wäre, wäre dies zuviel.

Solche Nachrichten können zu einer neuen Sensibilisierung für präventive Ansätze führen.Vor gut 20 Jahren war der Mord an einem Jugendlichen durch Jugendliche der Anlaß für dieGründung der Deutschen Liga für das Kind. Unabhängig von aktuellen Ereignissen undStatistiken gibt es einen ewigen Kampf zwischen Kultur und Barbarei. In diesem Kampf giltes, Partei zu ergreifen. Es gilt zu streiten: für Kultur und gegen Barbarei. Die Prävention vonGewalt und Kriminalität ist immer eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Es gibt bislang inDeutschland keine systematische Prävention von Gewalt und Kriminalität.

Die Deutsche Liga für das Kind hat es sich zur Aufgabe gemacht, Fehlentwicklungen in derfrühen Kindheit präventiv entgegenzuarbeiten. Zahlreiche Fachgesellschaften und Berufs-verbände haben durch ihre Mitgliedschaft in der Deutschen Liga für das Kind ihr Interesse aneiner Mitarbeit bekundet. Doch entscheidend kommt es darauf an, was die einzelnen Profes-sionellen in ihrer täglichen Arbeit von den Zielen umsetzen und wie sie sich miteinandervernetzen. Denn Prävention von Gewalt und Kriminalität kann niemand im Alleingang be-wirken. Das Bewußtsein muß wachsen: Bei unseren Patienten bzw. Klienten ist es immereine Biografie, an der wir alle arbeiten.Im Folgenden sollen die Möglichkeiten der Prävention beleuchtet werden, die niedergelasseneKinder- und Jugendärzte bei ihrer täglichen Arbeit haben - und haben könnten.

_________________________________

Der Hamburger Kinder- und Jugendarzt Dr. Jürgen Schmetz hat mit einem Vortrag “Gewalt-prävention ab Nabelschnur - Möglichkeiten des Kinder- und Jugendarztes im Verbund mit berufli-chen Nachbarn” die Jahrestagung Jugendschutz 2000 der Landesjugendämter Rheinland undWestfalen-Lippe am 16. Februar 2000 im Jugendhof Vlotho eröffnet.

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62 Jürgen Schmetz

Mitteilungen LJA WL 142/2000

Dieses eine Neugeborene - wer ist das?

Ein Neugeborenes, das uns stolz oder schon ein wenig erschöpft präsentiert wird, ist nie nurirgendein Neugeborenes, sondern immer ein ganz bestimmtes. Und die Eltern sind nicht nurEltern, sondern immer ganz bestimmte.Ist das Kind das, welches erwartet wurde? Oder hält es Überraschungen parat? VieleNeugeborene halten viele Überraschungen parat für die Eltern und die professionell mit ihmBefaßten. Unter ihnen sind Gynäkologen, Hebammen sowie Kinder- und Jugendärzte in allerRegel die ersten. Sie können entscheidend dazu beitragen, daß die Ankunft des neuenMitbürgers eine weiche Landung wird.Die Summe von Normalbefunden bei der klinischen Untersuchung sollte uns Kinder- undJugendärzte noch nicht zufriedenstellen. Was läßt das Kind sonst noch erkennen, anTemperament zum Beispiel, an Eigentümlichem, an Befremdlichem gar? Und zu wem kommtdieses eine Kind? -Hält man es für wichtig, in diesen Fragen möglichst rasch zu einer wenigstens vorläufigenEinschätzung zu kommen, dann drängelt man sich als niedergelassener Kinder- und Jugend-arzt, gleich am Anfang der Biographie der Familie dabei zu sein. Und deshalb sehen wir heutedie Neugeborenen in den ersten 4 Wochen bereits durchschnittlich vier Mal, anfangs in allerRegel mit Mutter und Vater.Werden Neugeborene erst nach 4 Wochen zur dann fälligen Vorsorge U 3 vorgestellt, dannhat schon so manche Stillkrise einen unglücklichen Verlauf genommen. So kann sich zeigen,daß eine Stillkrise nicht ein Problem der Fütterungstechnik ist, sondern bereits ein Bezie-hungsproblem. Mancher Anflug von Verstimmung „Das Baby mag mich wohl nicht" hat in denersten Wochen eine Depressionsgefährdung bereits verstärkt. Rund 8 bis 10 Prozent derMütter leiden postpartal an mehr als nur einem „Baby-Blues"; sie leiden an einer behandlungs-bedürftigen Depression.Wer hätte besser Gelegenheit, die postpartale Depression wahrzunehmen, als Hebammenund Kinder- und Jugendärzte? Und wer könnte erforderlichenfalls rasch an qualifiziertereBehandler weiter verweisen? Fast jedes Weiterschicken an Vertreter eines „Psycho-Berufes"ist auch heute noch problematisch und erfordert zuvor Motivationsarbeit.Auch nach vielen Berufsjahren in Klinik und Praxis erscheint mir die Wahrnehmung vonlatenter oder manifester Depression bei Müttern und Vätern, später dann vor allem beiSchulkindern und Jugendlichen immer noch mit das Schwierigste zu sein. In den letztenJahren wurde meine Wahrnehmung unter anderem durch Mitarbeit im Arbeitskreis “Präventionin Familien mit Risikokonstellationen" der Deutschen Gesellschaft für Seelische Gesundheitin der frühen Kindheit, der GAIMH (German speaking association for infant mental health)deutlich verbessert. Bei Pädiatern ist die GAIMH auch 3 Jahre nach ihrer Gründung nochweitgehend unbekannt.

Die Biographie der Familie

“Hat sich Ihr Leben durch das Baby schon deutlich verändert?" In der Regel erfährt manlebhafte Zustimmung auf diese Frage. Oft wird hinzugefügt: „Das Baby hat viel mehr für unsverändert, als wir vor der Geburt gedacht haben." Hier ist ein neuer Fokus für uns: Neben derBiographie von Mutter, Vater und Kind entwickelt sich vor unseren Augen die Biographie derFamilie. Außer dem Wohlbefinden der einzelnen Personen ist ihre Beziehungsgeschichte vonentscheidender Bedeutung für die Entwicklung des Kindes. Wie werden sich Eltern und Kindaufeinander einstellen können? Wie kann bei Anpassungsstörungen unsere Hilfestellungaussehen?Vor allem können wir positiv verstärken, was da an geglückter Interaktion vor unseren Augenabläuft. Denn zunächst sind Eltern sehr instinktsicher in ihrem Verhalten. Unerwartete

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Gewaltprävention ab Nabelschnur 63

Mitteilungen LJA WL 142/2000

Beobachtungen oder die vielen Fragen und Ratschläge aus der Familie oder Nachbarschaftkönnen diese Sicherheit gefährden. Hier gilt es, mit den Eltern dieses eine Baby zu „lesen".Oft werden zum Beispiel Signale des Babys übersehen, die sagen: „Jetzt mag ich weitereAnsprache nicht, ich muß mich erst erholen von den vielen Eindrücken der letzten Viertel-stunde." Hier kann die vorhandene Feinfühligkeit mit geringem Aufwand verstärkt werden. Inden Sprechstunden können wir die Motivation, Eltern zu sein, immer wieder anfrischen.In diesen Prozeß versuchen wir in den ersten Wochen systematisch, die Väter einzubezie-hen. Eine feinfühlige Interaktion zwischen Eltern und Kind wird durch Bestärkung und nötigen-falls einfühlsame Hinweise zu einer dauerhaften elterlichen Kompetenz führen. Sie scheint mirdie wichtigste Kraft, durch die ein Mißhandlungsrisiko erst gar nicht entsteht.Es gibt viele Kurse zur Geburtsvorbereitung, wenige, die darüber hinaus die Eltern selbst-sicherer machen. Eine zunehmend wichtige Aufgabe für Kinder- und Jugendärzte scheint mirzu sein, mit entwicklungspsychologischen Kenntnissen die Familien von Anfang an zustärken.So manche Entwicklung zum „Schreibaby" kann durch Stärkung der elterlichen Kompetenzverhindert oder frühzeitiger erkannt werden. Es gibt in Deutschland inzwischen mehr als einDutzend “Schreiambulanzen", wo hochspezialisiertes Wissen für extrem schwierige Kinderangeboten wird. Wenn dieses Wissen gebraucht wird, spart eine frühzeitige Zuweisung derFamilie viel Stress.Schlafstörungen, Fütterungsprobleme und über die Maßen anstrengendes Schreien der Babyssind die häufigsten Gründe, weshalb uns kleine Kinder vorgestellt werden. Dafür braucht esmehr Kenntnisse als nur den Hinweis auf sogenannte „Dreimonatskoliken" und die Ver-schreibung von Tropfen gegen Blähungen. Die verbreitete Einstellung bei Pädiatern: „Dieschaden ja nicht" ist manchmal fatal, weil sie verhindern, auf die richtige Spur zu kommen.Auf die Spur nämlich, daß eine Anpassungsstörung zwischen Eltern und Kind noch nichtentdeckt ist. Der notwendige Ausschluß körperlicher Ursachen für exzessives Schreien seihier der Vollständigkeit halber erwähnt.Die Säuglingsforschung der letzten 30 Jahre hat zu Kenntnissen geführt, die es flächendek-kend in den Alltag der Sprechstunde von Kinder- und Jugendärzten einzuführen gilt.Weniger Stress für die Eltern bedeutet immer auch weniger Mißhandlungsrisiko für die Kinder.Schauen wir also, daß sich die Biographie der Familie stressarm entwickelt, daß wir dieBeratungshäufigkeit und den Beratungsumfang nach dem individuellen Bedarf und demindividuellen Bedürfnis richten. Schaffen wir eine empathische Annahme der Familie, werdensich die Eltern rechtzeitig trauen, Hinweise auf Ratlosigkeit oder Erschöpfung ohne Scheuzum Ausdruck zu bringen.

Machtkämpfe müssen angenommen werden

Die meisten Kinder sind heute Wunschkinder - jedenfalls während der Schwangerschaft. Miteinfühlsamer Begleitung in der ersten Zeit nach der Geburt werden auch die anfangs unsiche-ren Eltern rasch ihrer zunehmenden elterlichen Kompetenz vertrauen.Die elterliche Zuneigung wird aber schnell von den lieben Kleinen auf die Probe gestellt, jebesser ein Kind gefördert wurde, desto früher. Hier scheint mir eine antizipatorische Beratungwährend der routinemäßigen Vorstellungen im ersten und zweiten Jahr wichtig: „Ihr Kind hatviel Phantasie. Es wird sich noch einiges ausdenken, um zu sehen, wie weit es bei Ihnengehen kann."Ein Kind zu lieben heißt auch, ihm etwas zuzutrauen und abzuverlangen. Dies wird häufigübersehen oder verdrängt.Hier können die routinemäßige Interaktionsbeobachtung und eine einfühlsame Beratung durchden Kinder- und Jugendarzt viel erreichen. Kinder und Eltern bringen ihre Beziehungserfahrun-gen mit in die Sprechstunden und sie demonstrieren dies in vielen kleinen Szenen vor unserenAugen. Kinder profitieren von Deutlichkeit der Eltern: von deutlichem Lob und eindeutigenHinweisen der Eltern, wo die Interessen anderer anfangen, zum Beispiel ihre eigenen.

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Wenn die Nerven mal versagen

„Sie kann mich doch nicht immer nur anbrüllen, ich tue doch alles für sie." „Wenn er sowütend alles kaputtmacht, und genau weiß, daß mich das aufregt, dann könnte ich sonst wasmachen mit ihm." So und ähnlich lauten Hinweise auf Erschöpfung.“Wie weit geht das? Müssen Sie dann auch mal eine patschen?" könnte unsere Frage lauten.Meist sieht man dann zunächst Erleichterung im Gesicht der Mutter. Denn die ist es, die inaller Regel am meisten betroffen ist. „Und - hat das Patschen was gebracht?" Fast alle sagen:„Es hat nichts gebracht."Beim Hamburger Kinderschutzzentrum wurde eine Elterngruppe eingerichtet. Motto: „Eigent-lich wollte ich meinem Kind nie wehtun." Solcherart präventive Arbeit braucht es mehr. Dassogenannte “elterliche Züchtigungsrecht" gehört ersatzlos gestrichen. Die elterliche Kompe-tenz zu verstärken, ist Aufgabe aller, die beruflich mit Kindern, Jugendlichen und ihrenFamilien befaßt sind. Hier haben Kinder- und Jugendärzte noch viele ungenutzte Möglich-keiten. Bei Pädiatern ist die Meinung verbreitet: „Ich mische mich doch nicht in die Erziehunganderer Leute ein." Aber jede Untersuchung ist eine Einmischung. Und jedes Kind wird darauslernen. Es wird z.B. lernen, ob und wie es dabei von uns wahrgenommen wurde.

Prävention statt „Krankheitsfrüherkennung"

Sieben Vorsorgeuntersuchungen, immer noch der „Krankheitsfrüherkennung" dienend, gibt esbis zum zweiten Geburtstag, das ist schon sehr ordentlich. Dann kommt eine riesige Lückevon zwei Jahren. In dieser Zeit passieren wichtige Dinge, vor allem in der Sozialisation derKinder. Und die ist sehr entscheidend für eventuelle spätere Gewaltbereitschaft. Der Umgangmit den eigenen Emotionen ist zu lernen. Es gilt, den anderen wahrnehmen zu lernen undvieles mehr. Hier hat Prävention ein wichtiges Betätigungsfeld. Und wir haben bei jederVorstellung - gleich aus welchem Grund - Gelegenheit, uns nach der Entwicklung zu er-kundigen.In den Kindergarten gehen Kinder meist erst mit drei Jahren oder später - oder auch gar nicht:„Die Oma kann ja aufpassen", ist die Begründung, wenn das Geld knapp ist oder der Einflußder deutschen Kultur auf das Kind - nicht selten bei muslimischen Familien ein Beweggrund -vermieden werden soll. Oder es fehlt in der Region einfach an Plätzen.Mit vier Jahren bei der Vorsorgeuntersuchung U 8 oder mit fünf Jahren bei der U 9 sehenKinder- und Jugendärzte oft Kinder, mit denen die Eltern nicht mehr fertig werden. “Sagen Sieihm doch mal, er soll ...", so oder ähnlich lauten die Wünsche. Fehlende Impulskontrolle, eineungesteuerte Unruhe oder auch eine schon erhebliche Aggressivität, z.B. gegen jüngereGeschwister, rufen nach Intervention.

Die große Lücke von fünf bis zwölf

Keine Vorsorge existiert in dieser Zeit. Prävention ist dem Zufall überlassen oder demInteresse der Eltern oder dem Engagement des Kinder- und Jugendarztes. Schulkinder undJugendliche sind heute massiv vernachlässigt. Wer sich als Kinder- und Jugendarzt auf einEngagement für sie einläßt, wird von heutigen Gebührenordnungen bestraft.Die Einschulung ist ein „life event", dessen Bedeutung für manche Kinder von Pädiatern nochstark unterschätzt wird. Die sozial Unsicheren gilt es zu entdecken und diejenigen, dieTeilleistungsstörungen offenbaren. Die meisten Scheidungen von Eltern mit einem Kind sindin diesem Alter bereits vollzogen.

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Gewaltprävention ab Nabelschnur 65

Mitteilungen LJA WL 142/2000

Erst mit 12 Jahren ist dann wieder eine Vorsorgeuntersuchung möglich.Ich halte diese große Lücke, in der jeder systematische Blick auf Risiken für körperliche undseelische Gesundheit fehlt, für töricht und auch teuer. Die Kosten, die zum Beispiel durchVerwahrlosung entstehen, treffen dann nicht nur die Krankenkassen, sondern uns alle. Hierbesteht noch viel Forschungsbedarf.

Ab dreizehn: die Vernachlässigung geht weiter

Wundern wir uns nicht über die Zunahme von Jugendkriminalität. Bei allen Krisen der Puber-tät: Das Wichtigste aus der Sicht der Jugendlichen ist: Wahrgenommenwerden, Ernst-genommenwerden, Angenommenwerden. Erst eine Metamorphose von Kinderärzten zuKinder- und Jugendärzten in großer Zahl kann hier Abhilfe schaffen. Die Jugendmedizin istimmer noch im Entstehen. Viele haben im Alter von 12 Jahren keine Vertrauensperson unterden Erwachsenen. Hier werden viele letzte Chancen verspielt, wenn eine empathischeWahrnehmung der Probleme einer neuen Selbstfindung der Jugendlichen fehlt.

Folgerungen und Thesen

! Eine systematische Prävention von Gewalt und Kriminalität braucht eine deutlichverbesserte Wahrnehmung der Lebenslagen von Kindern, Jugendlichen und ihrenFamilien durch alle, die beruflich mit ihnen befaßt sind.

! Frühe Interventionen sind bei Häufung psychosozialer Risiken von großem Nutzen.

! Der Zugang gerade zu den Bedürftigsten kann durch Kommunikationstraining undEmpathie verbessert werden.

! Kinder- und Jugendärzte werden unentbehrlich für die Gesellschaft, wenn sich ihrBerufsbild fortentwickelt und sie erheblich mehr Kompetenzen in die Begegnung mitFamilien einbringen. Das Basiswissen aus der Säuglingsforschung, Entwicklungs-psychologie, Pädagogik, Verhaltenstherapie, Kinder- und Jugendpsychiatrie undanderen Disziplinen muß gleichrangig neben biomedizinischem Wissen zur Anwen-dung kommen.

! Im Umgang mit Gewalt kann niemand allein auf sich gestellt zum Erfolg kommen.Kinder- und Jugendärzte brauchen die Vernetzung in der täglichen Arbeit und in derFortbildung mit den beruflichen Nachbarn.

! Gewalt in der Familie ist ein immer noch weit unterschätztes Problem.

! Kinder- und Jugendärzten muß eine Betreuungskontinuität in der Prävention er-möglicht werden. Zur Schließung der vorhandenen Lücken schlage ich vor:Nahziel: Zusätzliche Vorsorgeuntersuchungen mit 3, 8, 10 und 15 Jahren,Fernziel: Im Alter von 2 bis 18 Jahren eine Vorsorge pro Jahr.

! Kinder- und Jugendärzte werden politischer durch Teilnahme an Erziehungskonferen-zen, Stadtteilkonferenzen, durch Mitarbeit in kommunalen Kriminalpräventionsrätenoder anderen Formen der Politikberatung.

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66 Jürgen Schmetz

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Jürgen SchmetzDr., Kinder- und Jugendarzt in eigener Praxis in Hamburg

entnommen der Zeitschrift der Deutschen Liga für das Kind “Frühe Kindheit” Nr. 2/1999

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Medien 67

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Medien

Markus Köster:Jugend, Wohlfahrtsstaatund Gesellschaft im Wan-delWestfalen zwischen Kaiserreichund Bundesrepublik660 Seiten, 88,-- DM - ISBN 3-506-79602-X -Verlag Ferdinand Schöningh, Pader-born

Die Geschichte der Deutschen im 20.Jahrhundert wird in der Regel entlangpolitischer Epochengrenzen geschrieben.Doch haben diese Einteilungen auch Gül-tigkeit für die Brüche und Umschwüngeder Wirtschafts-, Sozial- und Kulturge-schichte? Unterliegt der soziale Wandelnicht bis zu einem gewissen Grad einemeigenen Rhythmus, der die scheinbareEinheit vertrauter politischer Epochen anvielen Stellen sprengt? Eine Tatsache, fürdie man Belege häufig eher im Bewusst-sein und der Erinnerung von Zeitgenos-sen als in Schulbüchern findet.Solche Überlegungen bilden den Aus-gangspunkt eines seit 1991 am Westfä-lischen Institut für Regionalgeschichte inMünster angesiedelten und vom Land-schaftsverband Westfalen-Lippe geförder-ten umfangreichen zeithistorischen For-schungsprojektes.Im Kontext dieses Projektes steht auchder hier anzuzeigende Band. Der Autorgeht am Beispiel Westfalen den Wirkun-gen der gesellschaftlich-politischen Zäsu-ren nach, denen die Lebensweisen derJugendlichen bis in die 1960er Jahre aus-gesetzt waren. Er beleuchtet die Sprün-ge, Ambivalenzen und langen Trends aufdem Weg in die Moderne: die Folgen derIndustrialisierung und der beiden Welt-kriege, die Ausbreitung massenkulturellerPhänomene wie Kino, Sport und Touris-mus während der Weimarer Republik, dieMobilisierungseffekte der “braunen Revolu-tion”; schließlich die Verweigerung vielerJugendlicher gegen den Gleich-schaltungsdruck der Nazis sowie Aus-maß und Grenzen der kulturellen Ver-

westlichung in den Jahren von Besat-zungsherrschaft und Wirtschaftswunder.Die Studie zeichnet den staatlichen Um-gang mit der jungen Generation in Ju-gendpflege und Jugendfürsorge nach undwirft ein scharfes Licht auf Kontinuitätenund Wandlungen des Sozial- und Werte-gefüges der deutschen Gesellschaft.

Hans Joachim Stahl

Wolfgang Gernert / Karl Jans-sen (Hg.):Agenda 21 für die Jugend229 Seiten, 32,-- DM - ISBN 3-472-03779-2 -Luchterhand Verlag, Neuwied

Auch wenn der Titel des Buches vielleichtnicht sehr geschickt gewählt wurde, istdas Buch inhaltlich ein guter Beitrag zumThema Jugend und Agenda 21. Besondersim ersten Teil, der Bestandsaufnahme zurSituation, erfolgt im Gegensatz zu vielenBüchern keine Gleichsetzung Agenda 21und Jugend = Jugend in der Ökologie. DieAutoren gehen von der gesellschaftlichenSituation der Jugendlichen aus, was mitSicherheit der korrekte Ansatz zum The-ma ist.

Hervorzuheben ist die sehr interessanteZusammenfassung zum Thema “Chancenund Risiken in Kindheit und Jugend”. Be-sonders dieser Teil, aber auch das Kapitel“Umweltbelastung aus der Sicht der Kin-derheilkunde” machen das Buch lesens-wert.

Das Kapitel “Wie Kinder und Jugendlicheihre Zukunft mitgestalten” ist eine guteZusammenfassung, aus der insbesondereauf kommunaler Ebene interessante An-sätze abgeleitet werden können. Es zeigtsich leider auch hier, das ausreichenderechtliche Rahmenbedingungen derzeitleider nicht existieren. Interessant wäre andieser Stelle die Diskussion optimalerRahmenbedingungen mit den derzeit vor-

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handenen Einschränkungen gewesen. che Eindrücke und persönlichen Erfahrun-Diese wird im Buch aber nicht geführt. gen ihn beruflich prägten. So entsteht das

Ein klarer Abfall im Niveau des Buches werkschafters, der stets den Blick für diestellt der Teil II, “Handlungsfelder in Praxis- Nöte anderer behält. Bei allem Interessebeispielen” dar. Nahezu alle Projekte sind an kommunikativen Prozessen geht esÖko-Projekte und keine Agenda 21 Pro- Müller aber immer auch um Verbindlich-jekte. Die beschriebenen Praxisbeispiele keit - sowohl der Beziehungen als auchsind zwar durchaus interessant, bekann- der Ergebnisse. Er scheut sich nicht, imtermaßen gibt es aber insbesondere im "Fremden aus Samarien" die Rolle vonRahmen der Gemeinschaftsaktion Opfer und Tätern zu analysieren. Überzeu-“Schleswig-Hollstein – Ein Land für Kinder” gend ist sein Plädoyer für eine Öffentlich-Agenda21-gerechtere Projekte. keitsarbeit, die problembehafteten Men-

Im Teil III ist insbesondere die Diskussion dient. Die Service-Funktion von Verwaltungauf der Grundlage des Generationenver- beleuchtet sein Beitrag über "Kreative imtrages von Interesse. Diese insbesondere Apparat", wo sich kreative Programmma-von der Stiftung für die Rechte zukünftiger cher und kameralistische MangelverwalterGenerationen (SRZG) geführte Diskussion manchmal diametral gegenüberstehen.ist eine sehr interessante herangehens- Als konkrete Lebens- und Studierhilfe an-weise an das Thema. Leider wurde hier gelegt ist schließlich der letzte Beitragnur der Bereich ökologischer Generatio- "Vom Schreiben wissenschaftlicher Tex-nenvertrag dargestellt, obwohl die Diskus- te". Hier versteht es der Autor, den Stu-sion der SRZG auch andere Bereiche be- denten in seiner Situation durch Anregun-trifft. gen und Fragen zu unterstützen bei der

Abschließend kann noch einmal betont schieht in einer diskursiven Weise, diewerden, dass trotz der beschriebenen Kri- vom tiefen Verständnis, der Lebensweis-tiken ein gutes Buch zum Thema vorliegt. heit und dem Realismus des Verfassers

Dr. Mathias Alsleben Insgesamt handelt es sich um ein anre-

C. Wolfgang Müller:Sozialpädagogisches Bre-vierBriefings und Texte aus der prakti-schen Arbeit von 30 Jahren141 Seiten, 25,-- DM - ISBN 3-933158-18-4 -Votum Verlag, Münster

Der über Grenzen hinaus bekannte Sozial- vidierten Gruppenforschungpädagoge C. Wolfgang Müller mit reichem 252 Seiten, 34,80 DM - ISBN 3-472-Erfahrungsschatz auch in anderen Feldern 03818-7 -legt hier eine Auswahl von Texten vor, die Luchterhand Verlag, Neuwiedseine profunde Sachkenntnis ebenso bele-gen wie seinen feinsinnigen Humor. An-gefangen bei eigenen Lebensgeschichten Hans-Georg Tegethoff, seines Zeichenszeigt Müller in kurzen Sequenzen auf, wel- PD am Lehrstuhl für Sozialpsychologie

Bild eines hilfsbereiten, engagierten Ge-

schen als Dolmetscher in der Gesellschaft

Suche nach dem weiteren Weg. Dies ge-

zeugt.

gendes Bändchen, das Studierende wieBerufserfahrene in der Sozialen Arbeit mitGewinn lesen werden.

Wolfgang Gernert

Hans-Georg Tegethoff: Soziale Gruppen und Indivi-dualisierungAnsätze und Grundlagen einer re-

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und Sozialanthropologie der Fakultät für sowie anhand der Arbeitsfelder Schule,Erziehungswissenschaften an der Ruhr- Jugendhilfe und Sozialarbeit.Uni Bochum, diskutiert damit die Auswir- Abschliessend konstatiert Tegethoff, dasskungen gesellschaftlicher Modernisierung sich die Individualisierungstendenzen auchauf die Struktur und Dynamik verschiede- in den Beziehungsmustern sozialer Grup-ner Formen sozialer Gruppen. Diese Ar- pen wiederfänden. Die fortgeschrittenebeit gründet sich auf einer früheren Fas- Individualisierung führe somit nicht zu ei-sung als Habilitationsschrift. nem Bedeutungsverlust von Sozialisation

Das Buch ist ein Lehr- und Studienbuch Vielmehr verändere sich der Charakter vonüber die Erkenntnisse und Grundzüge der Gruppen durch die eher steigende Nachfa-modernen Gruppenforschung. Tegethoff ge der Individuen nach intermediären In-bedient sich dabei eines transdiziplinären stanzen.Ansatzes, der nicht nur die Grenzen zwi-schen Soziologie, Sozialpsychologie und Für den Leser bietet das Buch einen sehranderen Disziplinen überwindet, sondern umfassenden und gründlich recherchiertenauch die Gruppenbildung in Vereinen, Ver- Überblick über den Stand der modernenbänden und selbstorganisierten Gruppen Gruppenforschung und ihrer wissenschaft-miteinbezieht. lichen Wurzeln. Für Leser, die aus dem

Im Umfeld von Gruppen- und Sozialisa- Übertragung der zunächst theoriegeleite-tionsforschung bezieht der Autor zwei rela- ten Debatte auf die verschiedenen Arbeits-tiv eigenständige wissenschaftliche Dis- felder Relevanz.kurse aufeinander. Zunächst nimmt er dietheoretische und forschungsleitende Dis-kussion um die Individualisierungsthese Stefan Opitzauf, um sie dann neu zu akzentuieren.Den zweiten Diskussionsstrang bildet diesozialwissenschaftliche Gruppentheorieund Forschung.Individualisierungsdebatte und Gruppenfor-schung lassen sich als konträre Modellegesellschaftlicher Integration lesen. Hier-über entsteht der Spannungsbogen derArbeit. Tegethoff geht dazu von der sozial-wissenschaftlichen Grundannahme aus,dass soziale Gruppen als Orte der Ver-mittlung und Pflege gesellschaftlicherWerte und Normen verstanden werden.Hieraus erwächst ihr herausragender Stel-lenwert für die individuale Sozialisationgerade auch im Kontext sozialer Arbeit.Aus der Debatte um Individualiserung undgesellschaftlichen Wandel zieht der Autordie These von der Freisetzung und demOrientierungsverlust von Individuen durchdie Auflösung berufsständisch und sozial-räumlich fundierter Millieus als Grundlagenfür die Verortung des Sozialisationspro-zesses. Intermediare soziale Gebilde wür-den danach für die Sozialisationsleistun-gen zunehmend ausfallen.

Im weiteren diskutiert Tegethoff diese The-se anhand der Forschungsfelder Individu-um und Gruppe, Familie, Peergroup, frei-willig und betrieblich organisierte Gruppen

und Integration durch soziale Gruppen.

Kontext sozialer Arbeit kommen, hat die

Achim Schröder / Ulrike Leon-hardt:Jugendkulturen und Adoles-zenzVerstehende Zugänge zu Jugendli-chen in ihren Szenen251 Seiten, 29,80 DM - ISBN 3-472-03356-8 -Luchterhand Verlag, Neuwied

Das vorliegende Buch ist Ergebnis einesProjektes am Fachbereich Sozialpädago-gik der Fachhochschule Darmstadt, indem es um “Feldforschung in Jugendkultu-ren” ging. Die AutorInnen und sieben Stu-dierende nahmen zu unterschiedlichenJugendgruppen Kontakt auf, führten mitden Jugendlichen Gruppengespräche undwerteten diese Interviews im Rahmen derFachhochschule aus.Anliegen des Forschungsprojektes ebensowie des daraus entstandenen Buches istdie Auseinandersetzung mit aktuell in denneunziger Jahren in Deutschland anzutref-fenden Jugendkulturen. Die sieben Grup-penportraits dienten dazu, Erfahrungen

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und Erlebnisse von Jugendlichen kennen- überzulernen und in einen Bedeutungszusam- die sich verändernde Bedeutung von Ju-menhang zu stellen. Die ForscherInnen gendkulturen vom Beginn des 20. Jahr-beschäftigte hierbei u. a. die Frage, warum hunderts bis in die neunziger Jahre folgtsich die oder der Jugendliche genau dieser eine zusammenfassende Darstellung zumund nicht einer anderen Gruppe zuordnete theoretischen Verständnis der Adoleszenz(S. 14). Dazu untersuchten die Autoren in der neueren psychoanalytischen Theo-Muster zur Problembewältigung, wie sie in riebildung. Als zentrale Aufgaben in derden einzelnen Gruppen praktiziert wurden. Adoleszenz stellen sie heraus: die Ablö-Diese Muster setzten sie in Bezug zu den sung, die Entwicklung von Liebesfähigkeit,Lebensrealitäten der Jugendlichen und in die Entwicklung von Arbeitsfähigkeit, dieBezug zu ihren eigenen. Schließlich ging Integration von gegensätzlichen Erfahrun-es ihnen auch darum, die Erkenntnisse gen im Selbst (vgl. S. 32 - 33). Basierendaus der Interview- und Deutungsarbeit für auf der besonderen Bedeutung der Ado-die pädagogische Praxis mit Jugendlichen leszenz als Übergangsphase beleuchtenzu verwenden (S. 14). die AutorInnen sodann den Stellenwert vonDer Titel des vorliegenden Buches ist Pro- Jugendgruppen, Cliquen, Szenen - mitgramm: Es geht um das Verstehen. Und einem Wort von Jugendkulturen für einezum Verstehen gehört das Verständlich- gelungene Bewältigung dieser Phase.machen. Es zieht sich wie ein roter Faden Im zweiten Kapitel erläutern die AutorIn-durch das Buch: Die AutorInnen verstehen nen ihren methodischen Ansatz. Die Me-es, ihr Anliegen verständlich zu machen! thode der Ethnopsychoanalyse, die aufUnd dies in vielerleich Hinsicht! der Erkenntnis basiert, dass die Beobach-

Da ist zunächst der klare Aufbau der Ar- der Kulturen, immer unter einem bestimm-beit zu nennen, der es mir als Leserin ten - nicht zu vernachlässigenden Blick-leicht machte, die Gedankengänge nach- winken, dem Blickwinkel der BeobachterInzuvollziehen: Das Eingangskapitel widmet erfolgt, wird auf die Feldforschung der Ju-sich einer theoretischen Darstellung der gendkulturen übertragen. Dieser Ansatz,Bedeutung von Jugendkulturen als Soziali- die Subjektivität nicht aus dem wissen-sationsinstanz in der Adoleszenz. schaftlichen Forschungsprozess eliminie-In einem weiteren theoretischen Vorspann ren zu wollen, sondern im Gegenteil, dieerläutern die AutorInnen ihre Untersu- Subjektivität zum Bestandteil des For-chungsmethode, die sich an den Erkennt- schungsprozesses zu machen, wird in dernissen von Georges Devereux und an der vorliegenden Studie ebenso gut verdeut-Ethnopsychoanalyse orientiert, im dritten licht wie stringent verfolgt. Die kurze Ein-Teil - dem Hauptteil - bringt das Buch führung in die verhaltenswissenschaftlichedann anhand von sieben Portraits aus ju- Forschung von Georges Devereux und ingendkulturellen Szenen den konkreten die Ethnopsychoanalyse birgt die großeZugang zu den aktuellen Jugendkulturen; Chance, der pädagogischen Forschungdie zentrale Position er konkreten Inter- neue Impulse zu geben. Beim Lesen desviews mit Jugendgruppen wird unterstri- Buches stellte ich mir vor, dass ein we-chen durch die formale Symmetrie. Es sentliches Anliegen der Lehrenden beifolgen das vierte und fünfte Kapitel, in de- Planung und Durchführung des Projektesnen die Ergebnisse der Feldforschung ei- war, die Studierenden mit der Bedeutungner Auswertung unterzogen werden. Im des subjektiven Faktors in der Feldfor-vierten Kapitel ist es explizit die verglei- schung vertraut zu machen. Dies pädago-chende Betrachtung der jugendkulturellen gische Anliegen wirkt sich positiv auf dieSzenen; im fünften Kapitel folgen ein me- Darstellung aus: Es wird auch für den eth-thodisches, ein sozialpädagogisches und nopsychoanalytischen Laien verständlich,ein politisches Resümee. dass jegliche Beobachtung anderer Men-Da ist weiterhin die Klarheit der Gedan- schen geprägt ist von dem Blick und denkenführung hervorzuheben, mit der die Wertvorstellungen der BeobachterIn; dassAutorInnen in den beiden Eingangskapiteln folglich die BeobachterIn sich einen Zu-ihren theoretischen und methodischen gang zu ihren Vorannahmen verschaffenAnsatz darlegen: sollte, um mit ihnen arbeiten zu können.Auf einen kurzen historischen Überblick Es wird deutlich, dass die Selbstreflexion

tung und Erforschung anderer, d. h. frem-

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der eigenen Gefühle und Verhaltensweisen orientierte. Augenmerk lag hier besondersein wichtiger Schlüssel zum Verstehen auf der Bedeutung dieser Identifikations-des anderen Menschen (oder der anderen figuren für die Jugendlichen und darauf,Kultur oder der Jugendkultur) ist. Jeder wie sich der Wandel bei den “Böhsen On-Mensch konstruiert sich nach Devereux kelz” auf die Jugendlichen auswirkte.ein Selbstmodell, das ihm als Orientierung Ein völlig anderes Bild bietet das Portraitin der Außenwelt dient. Dieses Selbst- einer jugendlichen Theatergruppe, der esmodell ist geprägt durch den sozialen und gelang, über das Medium des Theaterspie-kulturellen Hintergrund ebenso wie durch lens eigene Gefühle auszudrücken unddas Geschlecht. Offenheit für neue Er- persönliche Erfahrungen zu verarbeiten.kenntnisse setzt bei der ForscherIn eine Interessant ist an dieser GruppenstudieReflexion über das Selbstmodell voraus. auch, dass es die einzige JugendgruppeDiese Reflexion ist Teil des Forschungs- mit einem erwachsenen Leiter ist undprozesses. dass die Beziehung der Jugendlichen zu

Der Hauptteil des Buches handelt von der ters für die Jugendlichen erörtert werden.konkreten Feldforschung. Die AutorInnenund die Studierenden der Fachhochschule Den Abschluss der Fallstudien bildet derkamen in Kontakt mit sieben äußerst un- Kontakt zu einem Mädchen, das sich interschiedlichen jugendkulturellen Szenen. der “schwarzen Szene” bewegt. DeutlichBei den “Sinais” handelt es sich um eine wird (auch für Außenstehende) der Tod alsdörfliche Jugendgruppe mit ihren gruppen- zentrales Thema in dieser Szene, diespezifischen Ritualen und ihrem Schwan- Überführung des Todes und seiner Symbo-ken zwischen Auffallen und Anpassen an le in alltägliche Bereiche des Lebens, diedie Erwachsenenwelt. persönlichen Erfahrungen mit dem Tod.Die “Pipers” sind eine Jugendgruppe von15- bis 25-jährigen Jugendlichen in einer Schließlich zeichnen sich die SchlussteileKleinstadt, deren Name sich von ihrem des vorliegenden Buches dadurch aus,Treffpunkt, der Halfpipe, ableitet und die in dass inhaltlich die Bedeutung des Verste-ihrem kleinstädtischen Umfeld vor allem hens nicht nur für die Feldforschung, son-durch ihre Gruppengröße (bis zu 50 Ju- dern auch für die praktische Jugendarbeitgendliche) und ihren Drogenkonsum (ne- verdeutlicht wird. Die AutorInnen beleuch-gativ) auffielen. ten drei wesentliche Elemente des Ver-Das Portrait der “Punks” zeichnet sich stehens:durch zwei verschiedene Zugänge aus:den Blick von innen und von außen. Die ! Die Bereitschaft und Fähigkeit,eine Interviewerin kam selbst aus der sich in die Einstellungen und see-Punkszene, die andere hatte vor Beginn lischen Befindlichkeiten des Ge-der Feldforschung keine persönliche Be- genübers einzufühlen,rührung mit der Punkszene. ! die Beschäftigung mit den eige-Marokkanische Jugendliche in einem nen verinnerlichten Konflikten, daskleinstädtischen Jugendzentrum sind die Bewusstmachen der eigenen in-Zielgruppe des folgenden Beitrages. Hier neren Bilder und Wünsche alsliegt ein besonderes Augenmerk auf den Voraussetzung einer gelingendenkulturellen Differenzen und den ge- kommunikativen Wechselbezie-schlechtsspezifischen Rollenzuschreibun- hung,gen. Interessant ist hier die Auseinander- ! die Reflexion der Beziehung insetzung der InterviewerInnen mit den je- vielfältiger Form: Tagebuchschrei-weiligen Voreinstellungen zur “kulturellen ben, kollegiale Beratungsgruppe,Differenz”, ihre Erkenntnis, wie solche Supervision, Szenisches Spiel.pauschalen Voreinstellungen den Blick aufdie Jugendlichen verstellen können und ihr Die AutorInnen warnen davor, das einfüh-Plädoyer für den differenzierten Blick auf lende Verstehen so zu begreifen, als gingedie einzelnen Subjekte. es vorrangig um Identifizierung. Je größerIn einem kleinstädtischen Jugendzentrum die Vertrautheit mit den Jugendlichen imfanden die Forscher Zugang zu einer Grup- pädagogischen Alltag wird, umso stärkerpe, die sich an den “Böhsen Onkelz” kann der Wunsch nach Übereinstimmung

ihrem Leiter sowie die Bedeutung des Lei-

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hervortreten. Die Jugendlichen selbst Votum Verlag, Münsterdurchkreuzen diese Wunschvorstellung:Sie suchen bei den erwachsenen Bezugs-personen eben nicht nur Nähe und Freund- Das Handbuch richtet sich an Fachkräfteschaft, sie provozieren Konflikte und er- und Ehrenamtliche, die aus den unter-proben Reibungsflächen. Für die Pädago- schiedlichsten Institutionen heraus (Ju-gen heißt das, das einfühlende Verstehen gendhilfe, medizinische und psychologi-als einen Balanceakt zwischen Identifizie- sche Arbeitsbereiche, Behörden, Justizrung und Differenzierung zu begreifen. und Politik) mit Kinderflüchtlingen zu tun

“Wer sich um Einfühlung bemüht,versteht die Stimmung zu erfassenoder besser gesagt zu erfühlen, diegeprägt ist sowohl von Überein-stimmung wie auch von Differenz.Oft lässt sich der Andere und seinSosein erst über das abweichendeGefühl erfahren. Ein Kennenlernengeschieht eben nicht nur alleindurch sich vereinigende Gefühle,vielmehr werden einige Konturendes Anderen durch die Verschie-denartigkeit sichtbarer.” (S. 239)

Diese wenigen Sätze im Schlussteil desBuches berührten mich als Leserin in be-sonderer Weise; es tauchten Bilder vonvielfältigen Enttäuschungen in meiner päd-agogischen Arbeit auf und ich begann zubegreifen, dass das Annehmen des Ba-lanceaktes mich vor großen Enttäuschun-gen schützen könnte und mir neue Er-kenntnisse ermöglichen würde.Das Buch birgt interessante Entdeckun-gen für diejenigen, die mit Jugendlichenarbeiten; für alle, die die ethnopsychoana-lytische Methode in der Feldforschungnäher kennenlernen möchten und nichtzuletzt für alle, die ihre eigene Jugendzeitneu reflektieren möchten.

Angela Schmidt

Woge e. V. / Institut für SozialeArbeit e. V. (Hrsg.):Handbuch der sozialen Ar-beit mit Flüchtlingskindern 676 Seiten, 68,00 DM - ISBN 3-933158-08-7 -

haben. Es soll helfen, die Situation dieserKinder besser zu verstehen und sie an-gemessener zu betreuen.

Das Buch ist als Nachschlagewerk undLesebuch gedacht. In 12 Kapiteln wird derLeserin / dem Leser ein umfangreicherÜberblick über die Themen, die im Zusam-menhang mit Kinderflüchtlingen stehen,angeboten. Sozio-kulturelle Hintergründe,Flüchtlingspolitik, gesetzliche Grundlagen,Verfahrensabläufe im Asylverfahren, in-stitutionelle Zuständigkeiten, die psycho-soziale Situation der Kinderflüchtlinge,psycho-pathologische Aspekte, pädagogi-sche Konzepte sowie Betreuungs- undVersorgungsstrukturen werden in den ein-zelnen Kapiteln erörtert. Zum Abschlussfindet die Leserin / der Leser eine umfang-reiche Adressenliste der Institutionen, dieauf ganz unterschiedlichen Ebenen mitFlüchtlingskindern arbeiten.

Das umfangreiche Handbuch wurde vonterre des hommes, PRO ASYL, dem Diak.Werk der EKD und dem ParitätischenWohlfahrtsverband gefördert, eine Tatsa-che, welche die breite Unterstützung die-ses Werkes dokumentiert. Ein im Jahre1997 durch die Stiftung Deutsche Jugend-marke, terre des hommes und dem Amtfür Jugend in Hamburg gefördertes Modell-projekt mit dem Namen Netzwerk in Trä-gerschaft des Woge e. V. in Hamburg hat-te die Aufgabe, den in der Arbeit mitFlüchtlingskindern Tätigen mit Beratungund Vermittlung zur Seite zu stehen, wenndie Kinder und Jugendlichen psychischeoder psychosomatische Auffälligkeitenzeigen. Das Handbuch entstand im Rah-men der wissenschaftlichen Begleitungdieses Projektes, mit der das Institut fürSoziale Arbeit e. V. (ISA) in Münster be-

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auftragt war. Bundesweit wurden Autorin-nen und Autoren gesucht, die zu den ge-planten Themen des Buches kompetenteBeiträge leisten konnten.

Bereits in der thematischen Einführung mitder Überschrift “Soziale Arbeit ZwischenWelten” werden anschaulich die Wider-sprüchlichkeiten anhand eines Fallbeispie-les verdeutlicht. Sowohl die persönlichenund kulturellen Ambivalenzen der Flücht-lingskinder selbst, als auch die politischenund gesellschaftlichen Zwiespältigkeiten,mit denen diese Kinder und damit auchihre Helferinnen und Helfer in unseremLande konfrontiert werden, kommen hierzur Sprache. Vor allem das Verhalten derdeutschen Behörden auf der Grundlageder asylrechtlichen Bestimmungen wirdvon den Autorinnen und Autoren äußerstkritisch bewertet. Zentraler Kritikpunkt ist,dass die Zielsetzungen des KJHG undinternationale Abkommen unterlaufen wür-den. Sie fordern auf Grund der strukturellschwierigen Bedingungen für Kinderflücht-linge eine “kritisch-reflektierte, lebenswelt-orientierte Soziale Arbeit”.

Dieses Handbuch ist als Standardwerkaußer den anfangs genannten Berufsgrup-pen insbesondere den Fachkräften ausdem Bereich der Jugendhilfe sehr zu emp-fehlen. Dabei sollten sich nicht nur dieangesprochen fühlen, deren primäre Ziel-gruppe die Kinderflüchtlinge darstellen -diesen spezialisierten Helferinnen und Hel-fern sind vielleicht einige Inhalte bekannt.Sondern darüber hinaus bietet diesesHandbuch solchen Fachkräften der Ju-gendhilfe Orientierung, die im Rahmen derErziehungshilfen, der Jugendsozialarbeitund der Jugendarbeit auch mit Kinder-flüchtlingen konfrontiert sind.

Beate Rotering

Herbert E. Colla / Thomas Ga-briel / Spencer Millham / StefanMüller-Teusler / Michael Winter:Handbuch Heimerziehung

und Pflegekinderwesen inEuropaHandbook Residental andFoster Care in Europe1176 Seiten, 120,00 DM - ISBN 3-472-02339-2-Luchterhand Verlag, Neuwied

Ausgangspunkt des vorgelegten Hand-buchs und Anstoß für seine Konzeptionund Erstellung war der Kongress "Liebeallein genügt nicht", der im Herbst 1993 inLüneburg stattfand. Wissenschaftler/-in-nen setzten sich mit Formen der Betreu-ung und Hilfe auseinander, die Kinder undJugendliche außerhalb der "Herkunfts-"Fa-milie bei Pflegeeltern und anderen institu-tionellen Settings erhalten und bedürfen.Erstmals verfolgte dieser Kongress einegesamteuropäische Perspektive, um ausder Diskussion über Forschungsergebnis-se und Forschungsstrategien bei Heim-erziehung und Pflegekinderwesen inno-vative Impulse für Wissenschaft und Pra-xis zu gewinnen. Der Kongress sowie die Herausgeber undAutoren/-innen des Handbuchs ließen sichvon einer relativ optimistischen Haltunggegenüber dem Prozess der europäischenEinigung tragen. In diesem wurden undwerden, wenn auch mit Einschränkungen,Möglichkeiten zu einem gemeinsameneuropäischen Lernprozess gesehen, derhelfen könnte, die Situation von Kindernund Jugendlichen in außerfamiliärer Unter-bringung und Betreuung zu verbessern. Die 1176 Seiten des Handbuchs sind in 15verschiedene Abschnitte und inhaltlicheOberthemen gegliedert, zu denen sich 116überwiegend aus Europa stammende Au-torinnen und Autoren mit unter-schiedlichen beruflichen und fachlichenHintergründen äußern.

Mit diesem Handbuch werden die europä-isch unterschiedlichen Standards in Theo-rie und Praxis bei Heimerziehung und Pfle-gekinderwesen kompendienartig darge-stellt und einem breiten Publikum zugäng-lich gemacht. Die Autoren/-innen und Her-ausgeber wurden dabei von dem Wunsch

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geleitet, eine Annäherung von gesamteuro- lungen aufzugreifen. Dieses in einempäischen Standards zu initiieren. Handbuch ermöglicht zu haben, ist derUm den europäischen Charakter und der Verdienst von Herausgeber, Autoren/-innenInternationalität des Handbuchs zu ent- und Verlag.sprechen, wurde es zweisprachig angelegt(deutsch/englisch, englisch/deutsch). Indeutscher Sprache verfasste Beiträge wer- Michael Streitzden in einem englischen Abstract zusam-mengefasst und umgekehrt. Dadurch s-ollen die vorhandenen Sprachbarrierenüberwunden werden und den Intentionendes Handbuchs folgend ein europäischerAdressatenkreis erreicht werden.Für die westeuropäischen Kollegen/-innenbietet das Buch die Möglichkeit des Ver-gleichs im europäischen Kontext.Kollegen/-innen aus Osteuropa finden hierHinweise zur Orientierung bei der anste-henden Um- und Neukonzeptionierungihrer Jugendhilfesysteme. Dabei werdenfolgende Themenbereiche angesprochen:

! Heimerziehung und Pflegekinderwesenin Europa

! Historische Aspekte! Soziale Problemlagen! Klassiker und Theorie! Heimerziehung als Institution! Evaluation im Pflegekinderwesen! Platzierungsprobleme! Entwicklungen und Handlungsformen! Professionalisierung in Heimerziehung

und Pflegekinderwesen! Grenzbereiche (Psychiatrie, Behinder-

te, geschlossene Unterbringung)! Heimerziehung im sozial-staatlichen

Kontext! Praxismodelle! Forschung zur Heimerziehung und

Pflegekinderwesen

Das Handbuch bietet allen, die in den Be-reichen Heimerziehung und Pflegekinder-wesen arbeiten oder sich über diese infor-mieren wollen, eine Informationsquelle mitÜberblick. Das Finden eines eigenen fach-lichen Standpunktes oder die Bewertungbereits vorhandener werden durch die Lek-türe des Handbuchs beim geneigten Leserbefördert und unterstützt. Die internationalbreite Streuung der Autoren/-innen undihrer Themen bietet zusätzlich die Mög-lichkeit nationale Gewissheiten und Stand-punkte zu relativieren und neue Fragestel-

Dietrich Kühn:Reform der öffentlichenVerwaltungDas neue Steuerungsmodell in derSozialverwaltung143 Seiten, 29,80 DM - ISBN 3-933430-72-2 -Fortis-Verlag, Köln

Studierende und Praktiker der sozialenArbeit taten sich immer sehr schwer mitdem Gebilde Verwaltung. Sie fühlten sichaufgrund unverständlicher Entscheidungs-strukturen oftmals in der Umsetzung derSozialarbeit als eigener Arbeitsleistungbehindert oder abgelehnt. Teilweise warhier natürlich auch ein Versäumnis in derAusbildung zu sehen, wo Verwaltungs-kunde und Verwaltungsrecht häufig alsungeliebte Pflichtfächer eher ein Schatten-dasein führen. Kühn sagt hierzu in seiner Einleitung: “...Da die Managementkonzepte des NeuenSteuerungsmodells nicht mehr wegzuden-ken sind, kommt es darauf an, dass Stu-dierende und Praktiker sich aktiv undkenntnisreich in die Konzeptentwicklungsowie die Umsetzungsdebatte e-inschalten. Es fällt Studenten und Prakti-kern der Sozialarbeit / Sozialpädagogik oftschwer, sich in ökonomische Denkweisenzu vertiefen, um Chancen und Gefahrendes Neuen Steuerungsmodells für die ei-genen Arbeits- und Studienbereiche ab-schätzen zu können. Zu Beginn der Re-form war hier eine starke Ablehnung spür-bar. Es fehlten umfassende Kenntnisseder Modernisierungskonzepte ...”. So ver-standen soll seine Einführung in die Ver-waltungsreform eine Brücke für Studieren-de aber auch Praktiker schlagen. DieseAbsicht ist ihm auch gelungen. Nach einer

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kurzen Darstellung der allgemeinen Ver- Ausführungen.waltungsentwicklung baut er einen Über- Das vorliegende Buch hat zum Ziel, durchblick anhand folgender Elemente auf: die Klärung der empirischen Frage nach! Kritik der bürokratischen Verwaltungs- dem Kern der Bedingungen der Nachfrage-

organisation seite, die Art des wechselseitigen Ver-! Elemente des Neuen Steuerungsmo- hältnisses zwischen Angebot und Nach-

dells frage einer dienstleistungsorientierten Ju-! Kritik der Neuen Steuerung gendhilfe herauszuarbeiten. Ausgangs-! Probleme der Umsetzung der Verwal- punkt der Überlegungen für eine

tungsreform Konzeptionierung ist die charakteristische

! Beispielsbereiche aus der kommuna- keit bei der Leistungserbringung.len Sozialverwaltung und den Wohl- Die Autorin führt zunächst die relevantenfahrtsverbänden gesellschafts-, jugend-, professions- und

! Gesamtbewertung und Ausblick dienstleistungstheoretischen sowie recht-

Weitgehend benutzt der Autor hierfür bei- Eine Analyse der empirischen Untersu-spielhaft die Entwicklungen im Rahmen chung von sechs ausgewähltender Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Großstadtjugendämtern Nordrhein-Westfa-Verwaltungsvereinfachung, weist aber lens sowie die Ergebnisse im Hinblick aufauch auf abweichende Modelle und Blick- Inanspruchnahmekriterien und Partizipa-punkte hin. tion aus Sicht von 360 befragten jungen

Damit ist den Herausgebern der “Reihe werden im Anschluss daran dargestellt.Soziale Arbeit” Herbert Bassarak und Rü- Dem daraus abzuleitenden Handlungsmo-diger Spiegelberg eine Veröffentlichung dell werden entsprechende Definitionskri-gelungen, die im Interesse des Lesers die terien zugeordnet. Als Voraussetzung da-wesentlichen Momente der Neuen Steue- für wird von der Autorin die Annahme derrung straff zusammenfasst. Handlungsmaximen Kompetenzorientie-

Klaus Bethlehem beit angesehen.

Kerstin Petersen:Neuorientierung im Jugend-amtDienstleistungshandeln als profes-sionelles Konzept Sozialer Arbeit144 Seiten, 29,80 DM - ISBN 3-472-03871-3 -Luchterhand Verlag, Neuwied

Die Autorin nimmt auf der Grundlage einerVerknüpfung von empirischen und theo-retischen Analysen den Erbringungspro-zess in der Interaktion zwischen jungenMenschen, die Leistungen des Jugend-amtes nutzen und den Professionellen, diesozialarbeiterische Leistungen des Ju-gendamtes anbieten, in den Blick ihrer 676 Seiten, 74,--DM - ISBN 3-472-01597-

Interaktionsintensität und Wechselseitig-

lichen Ausgangsbedingungen auf.

Menschen im Alter zwischen 14-26 Jahren

rung, Prozess- und Lösungsorientierungsowie Kommunikation in der Sozialen Ar-

Eine Zusammenfassung der Konsequen-zen für die Weiterentwicklung der Jugend-hilfe als personenbezogene sozialeDienstleistung rundet die Ausführungenab.Abschließend ist festzuhalten, dass esder Autorin gelingt, in ihren Ausführungenmittels einer Anknüpfung an sozialwissen-schaftliche Dienstleistungsansätze einestärkere Gewichtung sozialarbeiterischerArgumente gegenüber betriebswirtschaftli-chen Elementen aufzuzeigen.

Katrin Leimert

Walter Schellhorn (Hg.):SGB VIII: Kinder- und Ju-gendhilfe

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7 - senschaften, sozialen Arbeit, etc. Es istHermann Luchterhand Verlag, Neu- aber auch sehr hilfreich für das gesamtewied Feld der sozialen Arbeit, in dem über die

Seit Erscheinen der 1. Auflage dieses worden sind.Kommentars im Jahre 1991 ist das SGBVIII in mehreren Bereichen geändert wor- Dabei erhält der Leser einen systemati-den. Eine Neubearbeitung des Kommen- schen Überblick über die Grundstrukturentars für die 2. Auflage war deshalb erfor- der Rechtsmaterie, wird mit den wichtigenderlich. Schwerpunkten vertraut gemacht und er-Der Kommentar setzt weiterhin einen hält notwendiges Hintergrundwissen ausSchwerpunkt in der Auslegung, Durchdrin- den angrenzenden sozial-/ geisteswissen-gung und Systematisierung des juristi- schaftlichen Fachdisziplinen.schen Gehalts des Jugendhilferechts und Münder selbst sagt in seiner Einführungseiner praktischen Umsetzung, ohne sei- “... Meiner Meinung nach ist das wichtig-nen sozialpädagogischen und jugendpoliti- ste bei einem Lehrbuch, die Grundstruktu-schen Rahmen außer Acht zu lassen. ren des Familienrechts, der Entwicklungs-Den Zusammenhängen mit den übergrei- und Veränderungslinien, der Vorstellun-fenden Teilen des Sozialgesetzbuches gen, die hinter den einzelnen Bestimmun-und der Abstimmung mit dem Kommunal- gen stehen, zu vermitteln .... Wer dieverfassungsrecht wird dabei eine besonde- Grundstrukturen verstanden hat, denre Aufmerksamkeit gewidmet. Die Gesetz- “Durchblick” durch das Gestrüpp hat, kanngebungsmaterialien, die Literatur sowie die sich orientieren und verliert UnsicherheitRechtsprechung sind bei der Kommentie- ...”.rung bis Mitte 1999 berücksichtigt worden. Dieses Versprechen hat er in seiner so-

Manfred Wienand hat an der 2. Auflage eingelöst. Die Texte sind klar gegliedertnicht mitgewirkt. Für ihn hat der Herausge- und bauen logisch aufeinander auf. Somitber Walter Schellhorn mit Dr. Lothar Fi- werden die Wissensgrundlagen vermittelt,scher, Richter am Hessischen Ver- die notwendig sind, umwaltungsgerichtshof, und Horst Mann, ! unterschiedliche RechtsauffassungenLandeswohlfahrtsverband Hessen, zwei einordnen und verstehen sowieausgewiesene Fachleute als Autoren zur ! eigene Gedanken entwickeln und eige-Mitarbeit verpflichten können. ne Positionen vertreten zu können.

Hans Joachim Stahl hält die wichtigsten Rechtsvorschriften, auf

Johannes Münder:Familien- und Jugendhilfe-rechtBand 1: Familienrecht4. völlig überarbeitete Auflage, 244Seiten,36,- DM - ISBN 3-472-03915-9 - Luchterhand Verlag Neuwied

Dieses Buch wendet sich an alle, die sichsystematisch mit dem Familienrecht be-fassen wollen oder müssen. Insbesonderegilt dies für Studierende der Rechtswis-

Veränderungen des Kindschaftrechtes1998 erhebliche Folgewirkungen ausgelöst

zialwissenschaftlich orientierten Einfüh-rung in das Familien- und Jugendhilferecht

Die dem Band beiliegende CD-ROM ent-

die im Text verwiesen wird, im Volltext.Die leistungsfähige Windows-Retrievalsoft-ware ermöglicht auf einfachste Art undWeise einen schnellen Zugriff auf die je-weils gesuchte Rechtsvorschrift.

Klaus Bethlehem

Johannes Münder / Peter Otten-berg:Der Jugendhilfeausschuss103 Seiten, 19,80 DM - ISBN 3-933158-26-5 -

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Votum Verlag, Münster tutionengeschichte mit zahlreichen Fel-

Das Buch Der Jugendhilfeausschuss politische Denken im Kontext der politi-stellt fachliche, rechtliche und sozialpäd- schen Wirklichkeit behandelt.agogische Informationen für die Arbeit der Im Mittelpunkt steht die mitteleuropäischeJugendhilfeausschüsse zur Verfügung. Es Monarchie des Mittelalters und der Neu-beschreibt die länder- und kommunalspe- zeit, ihre Durchdringung des Landes mitzifischen Regelungen, die die Arbeit des Aneignung seiner Ressourcen, ihre Unter-Jugendhilfeausschusses prägen, und ana- werfung politischer Konkurrenten wie deslysiert die Möglichkeiten von Mitgliedern Adels, der autonomen Gemeinden und derim Jugendhilfeausschuss, sich zu infor- Kirchen, schließlich die Durchsetzungmieren, zu orientieren und die kommunale ihres äußeren und inneren Gewaltmono-Jugendpolitik zu gestalten. Die Publikation pols. Um 1800 ist der moderne Staat zwarverknüpft die Analyse mit einem Überblick fertig ausgebildet, aber die Staatsgewaltüber die wichtigsten Aufgaben der Jugend- hat dank Demokratisierung und Nationalis-hilfe; sie analysiert die Struktur und die mus noch eine weitere Steigerung bis zumInteressenskonflikte, die die Mitglieder von totalen Staat erlebt. In der zweiten HälfteJugendhilfeausschüssen in ihrer Arbeit des 20. Jahrhunderts setzte weltweit ihrtypischerweise erfahren. Darüber hinaus Zerfall und ihre Ersetzung durch überstaat-werden Perspektiven für die Mitarbeit im liche Einrichtungen ein. Man sollte dieJugendhilfeausschuss erarbeitet, damit er Geschichte der Staatsgewalt kennen, umzu einer Lobby für Kinder, Jugendliche und ihre Zukunft im 21. Jahrhundert einschät-ihre Familien werden kann. zen zu können.

Hans Joachim Stahl Hans Joachim Stahl

Wolfgang Reinhard:Geschichte der Staats-gewaltEine vergleichende Verfassungs-geschichte Europas von den An-fängen bis zur Gegenwart631 Seiten, 98,-- DM - ISBN 3-406-45310-4-Verlag C. H. Beck, München

Dieses Buch verlässt die übliche national-staatliche Perspektive und versucht, diepolitischen Strukturen der europäischenLänder als Varianten gemeinsamer Grund-muster darzustellen. Der statische, institu-tionengeschichtliche Verfassungsbegriffwird zu diesem Zweck durch den dyna-mischen Prozessbegriff eines Wachstumsder Staatsgewalt vom Mittelalter bis ins20. Jahrhundert ersetzt. So entsteht eineHistorische Anthropologie europäischerPolitik, die den Zusammenhang der Insti-

dern der Wirtschafts-, Sozial- und Kultur-geschichte heraus- arbeitet und auch das

PLOETZ Lexikon der deut-schen Geschichte543 Seiten, 68,-- DM - ISBN 3-451-40510-5

PLOETZ: 50 Jahre Deutsch-landEreignisse und Entwicklungen239 Seiten, 34,-- DM - ISBN 3-451-40518-0

Der Kleine PLOETZHauptdaten der Weltgeschichte639 Seiten, 28,-- DM - ISBN 3-451-40511-3 -PLOETZ im Verlag Herder, Freiburg imBreisgau

In unserer Informationsgesellschaft spieltder schnelle und zielgerechte Zugriff aufdie Fakten eine immer größere Rolle. DasPLOETZ Lexikon der deutschen Gesc-

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hichte ist ein Nachschlagewerk, das die Das PLOETZ-Buch 50 Jahre Deutsch-Personen und Begriffe von Karl dem Gro- land - Ereignisse und Entwicklungenßen bis zum Kosovokonflikt in etwa 5 000 erweitert die Reihe der PLOETZ-Informa-Stichwortartikeln verständlich darstellt. tionsbücher um ein Nachschlagewerk zuSchwerpunkte und Zusammenhänge, Da- den Zusammenhängen und Faktenten und Strukturen werden in Abbildungen, deutsch-deutscher Geschichte seit 1945.Grafiken und Tabellen veranschaulicht. Als Leitmotiv dient die Darstellung grundle-Stammtafeln informieren über dynastische gender Themen in wechselseitiger Be-Beziehungen. leuchtung zwischen Ost und West. Aus-Über die Geschichte der neuesten Zeit gewiesene Sachkenner der deutschenund Personen und Begriffe der Zeit- Geschichte und der Nachkriegszeit be-geschichte wird bevorzugt informiert. Die handeln in kurzen Fachaufsätzen innen-,Bundesrepublik und die DDR nehmen da- partei- und mentalitätsgeschichtliche so-bei einen großen Raum ein, neben der wie wirtschafts-, sozial- und alltags-Politik werden auch die sozialen und ge- geschichtliche Themen wie z. B.: Rudolfsellschaftlichen Entwicklungen berück- Morsey: “Niederlage, Befreiung, Neu-sichtigt. Der Prozess der Wiedervereini- beginn”, Peter Maser: “Zwei und zwei deut-gung wird mit Stichwörtern wie Montags- sche Generationen” oder Hans Mathiasdemonstrationen, Maueröffnung, Eini- Kepplinger: “Medienmacht in der Informa-gungsvertrag oder Währungs-, tionsgesellschaft”.Wirtschafts- und Sozialunion veranschau- Nach diesem ersten Analyseteil folgt einelicht. Um der wachsenden Bedeutung der Daten- und Faktenchronologie nach demgesamteuropäischen Entwicklung für bekannten PLOETZ-Muster in einer be-Deutschland Rechnung zu tragen, werden wussten West-Ost-Gegenüberstellung.auch übernationale Institutionen, beispiels- Der Band enthält selbstverständlich einweise die Europäische Union, und Ereig- Personenlexikon, ausgewählte Literatur-nisse, z. B. der Maastrichter Vertrag, be- hinweise und ein ausführliches Register.rücksichtigt. Neben diesen Neuerscheinungen und demStichwörter aus dem Bereich der politi- neuen Großen PLOETZ (s. “Mitteilungenschen Geschichte nehmen entsprechend Nr. 137) ist auch der PLOETZ-Klassikerihrer traditionellen Bedeutung innerhalb der Der Kleine PLOETZ in einer vollständighistorischen Wissenschaften einen breiten überarbeiteten und aktualisierten Auflage,Raum ein. Die deutschen Könige, Kaiser der 37., erschienen. Die Kolumnentitelund Kanzler, viele Fürsten und Politiker, zeigen auf jeder Doppelseite Epochen,Länder und Territorien sowie eine Auswahl Zeiträume und Staaten an. In den Margina-von Städten wurden aufgenommen. lienspalten findet der Leser Schlüsselbe-Räumlich deckt das PLOETZ Lexikon griffe, die eine schnelle Orientierung imder deutschen Geschichte das Gebiet Text ermöglichen. Eine neue Typografiedes ehemaligen Heiligen Römischen Rei- macht den Kleinen PLOETZ modernerches sowie des Deutschen Bundes (1815 und übersichtlicher.- 1866), des Deutschen Reiches (1871 - Die Geschichte des Altertums, des Mittel-1945) und der Bundesrepublik Deutsch- alters und der europäischen Neuzeit bisland bzw. der DDR ab. 1945 wurde in Großkapiteln zusammenge-

Überblicksartikel zu übergreifenden The- 1945 ist wie die Neueste Zeit seit 1945men wie z. B. Dreißigjähriger Krieg oder nach Erdteilen und historischen RäumenNationalsozialismus bieten eine übersicht- gegliedert. Geografische, wirtschaftliche,liche Darstellung von Zusammenhängen. gesellschaftliche und kulturelle Rahmen-Die Sachstichwörter beginnen immer mit bedingungen sowie übernationale Entwick-einer präzisen Kurzdefinition. Für das Le- lungen und Ereignisse sind den Kapitelnxikon wurde speziell ein leserfreundliches einleitend vorangestellt. ThematischeLayout entwickelt. Blöcke schildern einzelne Zusammenhän-

fasst. Die außereuropäische Welt bis

ge und Begriffe; sie sind optisch hervor-gehoben und zusätzlich im Registernach-

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weis durch Fettdruck gekennzeichnet. tion bricht, der alles, was bis dahin ge-

Das Kernstück des Kleinen PLOETZ bil- wirft. Peter Sloterdijk würdigt das Werkdet jedoch das chronologisch geordnete Nietzsches als paradigmatisch für die heu-Daten- und Faktensystem mit den Haupt- tige Zeit. Rüdiger Safranski vermittelt indaten der Weltgeschichte im bewährten seiner Einführung ein direkte Gefühl fürPLOETZ-Stil. Friedrich Nietzsche. Er erzählt von seinen

Hans Joachim Stahl sches große Motive Revue passieren,

NietzscheAusgewählt und vorgestellt vonRüdiger Safranski; herausgegebenvon Peter Sloterdijk568 Seiten, 29,90 DM - ISBN 3-423-30689-0

Nietzsche für AnfängerDie Geburt der Tragödie - EineLese-Einführung von WiebrechtRies206 Seiten, 16,90 DM - ISBN 3-423-30637-8

Friedrich Nietzsche: Philosophie als KunstEine Hommage - Herausgegebenvon Heinz Friedrich254 Seiten, 19,90 DM - ISBN 3-423-30735-8 -Deutscher Taschenbuch Ver-lag, München

In der letzten Nummer der “Mitteilungen”hatte ich für die Bildungsarbeit interessan-te Veröffentlichungen im Deutschen Ta-schenbuch Verlag vorgestellt. Die o. g.drei Nietzsche-Titel sind ein Nachtrag.Der Philosoph wurde am 25. 8. 1900 gebo-ren, nach dem Goethe-Jahr ist 2000 dasNietzsche-Jahr. Nietzsche selbst siehtsich als einen Denker, der mit der Tradi-

glaubt wurde und geheiligt war, über Bord

Nöten, seinen Sehnsüchten, seinen Bewe-gungen, seinen Einsichten. Er lässt Nietz-

leuchtet seine Perspektiven aus. Das B-uch liefert Studierenden wie Laien denroten Faden durch ein monumentalesWerk.

Prof. Dr. Wiebrecht Ries, der die Lese-Einführung Nietzsche für Anfänger ver-antwortet, hat bereits eine “Einführung” zuNietzsches Gesamtwerk vorgelegt. Nietz-sche nannte seine erste philosophischePublikation Die Geburt der Tragödie ein“verwegenes Buch”, “ein Buch vielleicht fürKünstler mit dem Nebenhange analyti-scher und retrospektiver Fähigkeiten, vollerpsychologischer Neuerungen und Artisten-Heimlichkeiten, mit einer Artisten-Meta-physik im Hintergrunde, ein Jugendwerkvoller Jugendmuth und Jugendschwermuth..., kurz ein Erstlingswerk auch in jedemschlimmen Sinne des Wortes, trotz seinesgreisenhaften Problems - die Wissen-schaft unter der Optik des Künstlers zusehn, die Kunst aber unter der des Le-bens”.

Die Kunst, meinte Nietzsche, sei die ein-zige Möglichkeit, die Grausamkeit desDaseins zu ertragen oder gar zu überwin-den. Mit diesem Generalthema in Nietz-sches Denken setzt sich die HommageFriedrich Nietzsche: Philosophie alsKunst auseinander - interpretierend, zitie-rend, diskutierend. Nietzsches Beziehungzur bildenden Kunst wird von dem Kunst-wissenschaftler Wieland Schmied be-leuchtet, der Sprachwissenschaftler Hans-Martin Gauger untersucht Nietzsches fas-zinierenden Stil. Der Altphilologe Albertvon Schirnding stellt den Lyriker vor undHeinz Friedrich befasst sich mit der Ge-samtthematik: Philosophie als Kunst.

Hans Joachim Stahl

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Eugen Biser / Ferdinand Hahn /Michael Langer (Hrsg.):Der Glaube der ChristenBand I: E in ökumenisches

HandbuchBand II: Ein ökumenisches Wör-

terbuch1 200 Seiten, 128,-- DM - ISBN 3-629-00862-3Pattloch Verlag, München

Am 31. Oktober 1999 haben hohe Reprä-sentanten der römischen Kurie und derevangelischen Christenheit lutherischenBekenntnisses in Augsburg eine “Gemein-same Erklärung zur Rechtfertigungslehre”unterzeichnet. Darin stellen beide Kirchenfest, dass die entscheidenden Gründe, dieim 16. Jahrhundert zur Spaltung derabendländischen Christenheit führten, dieSchwesterkirchen heute nicht mehr tren-nen. Es gebe vielmehr einen “Konsens inGrundwahrheiten”.

Es ist kein Zufall, dass das zweibändigeökumenische Handbuch Der Glaube derChristen zu diesem historischen Datumerscheint. Die Vorarbeiten zu diesemGroßwerk begannen im Frühsommer1996. Von Anfang an war von den Heraus-gebern als Grundprinzip für alle Autorenformuliert worden: Sowohl die Texte desWörterbuches als auch die des essay-artigen Teils sollten den jeweiligen - auchkontroversen - konfessionellen Standpunktdes Autors nicht verschweigen, sich aberdennoch um die Darstellung des Gemein-samen und Verbindenden bemühen. Eineandere zentrale Vorgabe für die Autorenwar die Lesbarkeit und Verständlichkeit.Das Werk wendet sich bewusst nicht anFachtheologen, sondern an jeden amchristlichen Glauben Interessierten.

Band 1 ist ein ökumenisches Handbuch.Dieses Handbuch ist kein “Grundkurs Theo-logie” oder ein weiterer Erwachsenenkate-chismus. Schlüsselwort für die Konzeptionund Gliederungsprinzip des Handbuchesist der Begriff “Entdeckung”. In sechs gro-ßen Abschnitten, die von jeweils zwei Her-

ausgebern unterschiedlicher Konfessionbetreut, redigiert und eingeleitet wurden,geht es um die Entdeckung des Men-schen, die Entdeckung der Religion, dieEntdeckung Gottes, die Entdeckung Jesu,die Entdeckung der Gemeinschaft und dieEntdeckung der Zukunft. Mit der Rede vonder “Entdeckung” wollen Herausgeber undAutoren den einladenden und werbendenCharakter des Glaubens deutlich machenund der Gewissheit Ausdruck verleihen,dass eine Wiederentdeckung Gottes undseines Wirkens - in unseren individuellenLebensgeschichten wie in unserer Gesell-schaft - unerlässlich für die Zukunft derMenschheit sei. Der Titel Der Glaube derChristen will nicht zum Ausdruck bringen,mit dem Werk solle letztgültig und defini-torisch darüber Auskunft gegeben werden,was Der Glaube der Christen sei und seinsoll. Das wäre Aufgabe eines Katechis-mus. Herausgeber und Autoren versucheneine zeitgemäße und theologisch verant-wortliche Darstellung von Perspektivenihrer Arbeitsbereiche und reden bewusstvon einem und nicht dem ökumenischenHandbuch und Lexikon.

Band 2 ist ein ökumenisches Wörterbuch.In mehr als 1 000 Artikeln von “Aaroniti-scher Segen” bis “Zwingli” werden Informa-tionen zu Fragen der Theologie, Philoso-phie, Religionswissenschaft, Ökumene,des Glaubens und der Glaubenspraxispräsentiert. Die Lexikonartikel verzichtenauf Literaturangaben und tragen abschlie-ßend das Namenskürzel des jeweiligenVerfassers.

Hans Joachim Stahl

Andreas Malycha:Die SEDGeschichte ihrer Stalinisierung1946 - 1953541 Seiten, 98,--DM - ISBN 3-506-75331-2 -Schöningh Verlag, Paderborn

Der Autor dieses Buches, das als Stan-dardwerk zur Geschichte der Stalinisie-rung der SED zu werten ist, hat eine inter-

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essante Biografie: Andreas Malycha, 1956 Erde” führt in das Thema des vierteiligengeboren, studierte an der Karl-Marx-Uni- Bandes ein. Teil 1 vermittelt Grundlagen-versität in Leipzig Geschichte und war von wissen rund um Atmosphäre und Klima,1983 bis 1992 wiss. Mitarbeiter des In- Wasser und Boden.stituts für Marxismus/Leninismus (später: Teil 2 “Die belebte Erde” beschreibt diefür Geschichte der Arbeiterbewegung) in verschiedenen Lebensräume der Erde mitBerlin; 1989 promovierte er zur Geschichte Fauna und Flora. Ein besonderes Kapitelder SPD im Jahre 1945. Nach der Revolu- behandelt den ‘Mitbewohner’ Mensch.tion 1989 in der DDR lebte er bis 1996 von Der dritte Teil schildert die Auswirkungenfreien Projektarbeiten (u. a. für die Fried- von Besiedlung, Landwirtschaft, Verkehr,rich Ebert-Stiftung), 1996 bis 1998 war er Industrie und Wirtschaft auf die Natur undwiss. Mitarbeiter (Projektthema: Frühge- ihr ökologisches Gleichgewicht.schichte der SED) und Lehrbeauftragter an Inhaltlicher Schwerpunkt des Bandes istder Freien Universität Berlin. Seit 1999 ist der vierte Teil “Wie viele Menschen erträgter Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistori- die Erde? - Globale Problemkreise und Lö-sche Forschungen in Potsdam. sungsansätze”. Experten behandeln hoch-

Thema des Buches ist die Entwicklung rungen, Ozonloch, Trinkwasserversorgungstalinistischer Herrschaftsstrukturen in der und Welternährung, Zerstörung des Le-SED, die Walter Ulbricht schon vor der bensraumes und Ausrottung von Arten.Gründung der DDR etablieren und durch-setzen konnte. Für das Buch hat Malycha Der Essay “Wer ist der Mensch im Gan-erstmals SED-Quellenmaterialien ausge- zen der Natur? Der Naturzusammenhangwertet. des menschlichen Lebens” von Klaus Mi-Das Buch ist Ergebnis eines von der chel Meyer-Abich beschließt den Band.Volkswagen-Stiftung geförderten Projektesim Förderschwerpunkt “Diktaturen im Eu-ropa des 20. Jahrhunderts”. Hans Joachim Stahl

Hans Joachim Stahl

Brockhaus “Mensch - Natur- Technik”:Lebensraum Erde704 Seiten, 98,-- DM - ISBN 3-7653-7943-3 -F. A. Brockhaus, Leipzig, Mannheim

Der Band beschreibt die Erde als Lebens-raum. Er erläutert die Funktionen von Kli-ma, Wasser und Boden als Grundlagendes Lebens, stellt verschiedene Ökosyste-me und ihre Bewohner vor, schildert dieFolgen von Landwirtschaft, Verkehr undIndustrie für die Natur, behandelt negative,globale Entwicklungen und stellt alternati-ve Lösungsansätze vor.

Ein Essay “Der Mensch im Lebensraum

aktuelle Themen wie z. B. Klimaverände-

Katholische Sozialethische Ar-beitsstelle, Hamm / KatholischeL a n d e s a r b e i t s g e m e i n s c h a f tKinder- und Jugendschutz NW,Münster / Arbeitsgruppe SozialeArbeit interaktiv der Universität GHEssen (Hg.):CD-ROM: ich bin ich19,80 DM

Der Titel der CD-ROM ich bin ich steht fürein gesundes Selbstbewusstsein von Kin-dern und Jugendlichen, ein zentrales Zielpädagogischen Handelns der Herausgeberder CD-ROM.Der zentrale Ort pädagogischen Handelnist der Alltag. Dort entwickeln Kinder undJugendliche Selbstständigkeit und Selbst-wertgefühl. Die zentrale Methode pädago-gischen Handelns ist das handlungsorien-tierte Angebot, die Inszenierung von Situa-tionen, in denen Kinder und Jugendliche

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Erfahrungen mit sich und anderen machen Die CD-ROM bietet:können. Das sind Situationen die anregen, ! eine Fülle von Spiel- und Projekt-herausfordern und Gelegenheiten zur Aus- ideeneinandersetzung bieten. ! Anregungen und Ideen für den

Die CD-ROM dokumentiert Entwicklungen ! eine Reihe von wissenschaftlich-und Ergebnisse des Praxisforschungs- analytischen Beiträgenprojektes “Kaufen tut gut? - Ein Projekt ! Materialien zur Arbeit mit Grup-zur Entwicklung, Erprobung und Evalua- pention pädagogischer Konzepte angesichtsvon Kaufsucht und kompensatorischem Die CD-ROM ist erhältlich bei:Konsumverhalten”. Kaufsucht und kom- Hoheneck-Verlag, Ostenallee 80,pensatorisches Konsumverhalten sind 59071 Hamm, Tel.: 02381/98020-Verhaltensweisen bei Kindern und Jugend- 0lichen und ebenso bei Erwachsenen, diein den vergangenen Jahren in ihrem Aus-maß deutlich zugenommen haben. Eine Hans Joachim Stahlzentrale Ursache für die Kaufsucht istnach den Ergebnissen wissenschaftlicherUntersuchungen die Selbstwertschwäche.Das Projekt hatte das Ziel, in Zusammen-arbeit mit Praktikern pädagogische Kon-zepte zur Stärkung des Selbstwertes zuentwickeln, diese in der Praxis zu erpro-ben und sie bezüglich ihrer Wirksamkeitevaluieren zu lassen.

Die CD-ROM ist ein Angebot für Ehren-amtliche und Hauptamtliche in der päd-agogischen Arbeit. Besonders richtet siesich an Mitarbeiter in der Jugendarbeit undin der Erziehungshilfe.

institutionellen Alltag

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