19. DGB-Bundeskongress 2010 (taz-Beilage) - politikorange

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ARBEITER BEWEGUNG SOMMER 2010 UNABHÄNGIGES MAGAZIN ZUM 19. BUNDESKONGRESS DES DGB HERAUSGEGEBEN VON DER JUGENDPRESSE DEUTSCHLAND

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ich entwickelte zusammen mit Julia Kneuse auf dem 19. DGB Bundeskongress 2010 die Bildsprache dieser politikorange-Ausgabe. Zusätzlich layoutete ich das Magazin innerhalb von zwei Tagen, das auch der taz beilag. Hintergrund: politikorange ist ein offenes Jugendmedienprojekt der Jugendpresse Deutschland und der Servicestelle Jugendbeteiligung. Jugendliche erstellen unter dem Dach des Projektes Veranstaltungszeitungen und Magazine zu verschiedenen Themen. Mehr unter http://www.politikorange.de.

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ARBEITER BEWEGUNG

SOMMER 2010 UNABHÄNGIGES MAGAZIN ZUM 19. BUNDESKONGRESS DES DGBHERAUSGEGEBEN VON DER JUGENDPRESSE DEUTSCHLAND

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INHALT

HEISSE LUFTIN KALTEN ZEITEN…S.06ROT-GRÜN, SCHWARZ-ROT, SCHWARZ-GELB: ER HAT SIE ALLE ERLEBT. MICHAEL SOMMER IST AUF DEM DGB-BUNDESKONGRESS IN SEINE DRITTE AMTSZEIT ALS VORSITZENDER GEWÄHLT WORDEN. AUCH IM ANGESICHT DER FINANZKRISE ZEIGT ER SICH KÄMPFERISCH.

AUF DER JAGD NACHDEN BESTEN KÖPFEN…S.08HEADHUNTER SIND UMSTRITTEN. SIND SIE GIERIGE ABWERBER UND KOPFGELDJÄGER ODER DOCH EHER DIE SENSIBLEN BERATER UND PERSONALVERMITTLER MIT FINGERSPITZENGEFÜHL?

SIEBEN WEGEAUS DER ARBEIT…S.09WARUM SICH NOCH MIT JOBS RUMSTRESSEN, WENN ES DOCH SO VIELE ANDERE MÖGLICHKEITEN GIBT, AN GELD ZU KOMMEN? WIR KENNEN EINIGE NICHT GANZ ERNST GEMEINTE ALTERNATIVEN.

BÜFFELNSTATT BUCKELN...S.11NACH WIE VOR IST DER ANTEIL DER ARBEITERKINDER AN DEN DEUTSCHEN UNIVERSITÄTEN GERING. STIPENDIEN HELFEN ZWAR, SETZEN DIE GEFÖRDERTEN ABER AUCH UNTER DRUCK.

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DAS GANZELEBEN IST EIN SPIEL...S.12-13POLITIKER SETZEN VOR ALLEM IN DER FINANZKRISE ALLES AUF EINE KARTE. NICHT IMMER MIT ERFOLG. DABEI IST ES EIGENTLICH GANZ EINFACH. FÜR JEDEN EXISTIERT DIE PERFEKTEGEWINNSTRATEGIE. WIR STELLEN SIE VOR.

DAS BÜRO ALSZWEITES ZUHAUSE…S.18IN DEUTSCHLAND LEBEN ETWA 3,4 MILLIONEN ARBEITSLOSE – EIN GESELLSCHAFTLICHERMAKEL. DER MENSCH BRAUCHT EINEN JOB, SAGT DER ARBEITSPSYCHOLOGE ERNST HOFF.EIN GESPRÄCH ÜBER SINN UND ANSEHEN VON TÄTIGKEITEN.

NUR NICHTDEN KOPF VERLIEREN...S.19AUF DEM FREIEN MARKT BESTIMMEN ANGEBOT UND NACHFRAGE DEN PREIS. DOCH MIT DEM PREIS FÜR ARBEIT, DEM LOHN, IST ES NICHT SO EINFACH.

MIT DEMRÜCKEN ZUR WAND...S.20IN BERLIN-NEUKÖLLN IST ARBEITSLOSIGKEIT ALLGEGENWÄRTIG. BEHÖRDEN, LADENLOKALE UND BERATUNGSBÜROS VERSUCHEN TÄGLICH, DEN MENSCHEN AN DEN JOB ZU BRINGEN.

GEFÄHRDETEGLEICHSTELLUNG...S.23FRAUEN VERDIENEN IN DEUTSCHLAND WENIGER ALS GLEICHQUALIFZIERTE MÄNNER.SELBST SCHULD, MEINEN MÄNNERGLEICHSTELLUNGSINITIATIVEN.

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VIEL ESSEN, ENERGIE UND ARBEIT 400 DELEGIERTE DER ACHT MITGLIEDSGEWERKSCHAFTEN DES DGB HABEN VIER TAGE LANG BEIM 19. PARLAMENT DER ARBEIT IN BERLIN-NEUKÖLLN GEREDET, GESTRITTEN UND GELACHT. VON NORA LASSAHN

An die Wände des Sitzungssaals sind rot-weiße Banner gespannt. Sie ver-künden die Schlagwörter des Kongresses, „Arbeit“, „Gerechtigkeit“ und „Solidari-tät“. Sehr allgemein, aber imposant prä-sentiert.

Die Eröffnungsveranstaltung steht unter dem Motto „Mut gegen Rechts“. Sie beginnt mit einem Kurzfilm, der ironisch vorschlägt, Rechtsradikale als Wäsche-ständer zu resozialisieren. Nazis könnten immerhin hervorragend Wäscheleinen halten, wenn sie gerade mit Hitlergruß stramm stehen. Der Mädchendchor Scala tritt auf, in schwarzen Abendkleiden sin-gen sie „Schrei nach Liebe“ von der Band „Die Ärzte“, als wäre es eine virtuose Symphonie. Alle klatschen. Rechtsextre-mismus ist immer ein gutes Thema, um die Leute auf einen Nenner zu bringen. Der Rapper Samy Deluxe aber warnt die Delegierten bei seinem kurzen Auftritt auf der Bühne: Man müsse zwischen Rechts-extremismus und Rassismus unterschei-den. Zu oft würde im Privaten wie in der Öffentlichkeit falsches Schubladendenken gefördert – dagegen wehre sich niemand so vehement wie gegen offensichtlichen Rechtsextremismus.

Die Tagungsstätte, das Estrel-Hotel in Berlin-Neukölln, ist ein Ort, an dem man es durchaus mal vier Tage aushal-ten kann. Schick ist es und so riesig groß, dass es sich allein architektonisch von seiner Umgebung abhebt. Das Estrel hat vier Sterne und mehr als 2000 Betten. Die Gegend rund um das Hotel ist dagegen et-was heruntergekommen, viele Anwohner arbeiten im Niedriglohnsektor oder sind arbeitslos.

Beschlüsse rund um das Thema Ar-beit werden zwar jetzt direkt vor ihrer Nase getroffen, aber in einer ganz ande-ren Welt. Das Estrel ist nach eigenen An-gaben Deutschlands größter Convention-, Entertainment- und Hotel-Komplex. Vom Foyer bis in den Pressebereich läuft man ungefähr fünf Minuten, vorbei an Restau-rants, am Sicherheitsdienst und Foyers mit fast 40 Ausstellern. An den Ständen von einzelnen Gewerkschaften, politi-schen Stiftungen und einem Radiosender werden Kugelschreiber, Traubenzucker und Infobroschüren verteilt. Wer will, kann sich beim Stand einer Krankenkas-se kostenlos massieren lassen. Kaffee und Tee gibt es sowieso überall im Hotel in rauen Massen. Wer viel arbeitet, braucht viel Energie.

SINKENDE MITGLIEDERZAHLEN,

STEIGENDES ANSEHEN

Ans Pult treten Redner mit blau ge-färbten Haaren oder hochgezwirbeltem Schnauzbart, Menschen in Anzügen dis-kutieren mit ihren Kollegen in Kordhosen und einige Jugendliche mischen sich un-ter Rentner. Gut gelaunt sind sie fast alle: Die Wahl in Nordrhein-Westfalen hat wohl viele gefreut und in ihrem Engagement bestätigt. Trotz sinkender Mitgliederzah-len gewinnen die Gewerkschaften an An-sehen. Es darf wieder gelacht werden.

Das macht mutig: Mit Blick auf die Banken- und Finanzkrise fordern die Gewerkschafter eine Finanzmarktrans- aktionssteuer. Beschlossen wird außer-dem, den geforderten Mindestlohn von 7,50 Euro auf 8,50 Euro anzuheben. Dass Angela Merkel bei ihrer Eröffnungsrede

beide Anliegen ablehnt, führt zu Galgen-humor. „Die Politik muss eben so lange forschen, bis es zu spät ist. Vorher kann man sich ja nicht sicher sein“, spotten zwei Delegierte, während die Kanzlerin redet.

Die DGB-Gewerkschafter spielen mit ihren Muskeln: Wir sind voller Selbstver-trauen und Tatendrang, sagen sie. Ihrem Vorsitzenden Michael Sommer haben die Delegierten eine dritte und letzte Amts-zeit gewährt. Die politischen Forderungen drohen im internationalen Finanzdschun-gel zu verhallen, aber wenigstens sind sie formuliert worden.

Doch nicht alle Forderungen wurden einstimmig durchgewunken. Für Kontro-versen sorgte ein Antrag zur Umstruktu-rierung des DGB. Er sieht vor, dass auf lokaler Ebene Vertreter gewählt werden – davon sollen die meisten ehrenamtlich arbeiten. Der Vorstand wird verkleinert und die Regionen sollen zu 66 Unterbüros fusionieren. Das spart Geld und soll den Vorstand handlungsfähiger machen. Aus Bayern kommen kritische Stimmen. Eine von ihnen ist Franz Nuber von der IG Me-tall. Er fürchtet, dass die Struktur in Bay-ern dazu führt, dass man 50 bis 70 Kilo-meter zu jeder Sitzung fahren muss. Dass die Arbeit mit Ehrenamtlichen effizient durchgeführt werden kann, „das können wir nimmer sicherstellen“. Am Ende fin-det der Antrag trotzdem eine Mehrheit.

In Zeiten der Unsicherheit und Krise hat der DGB nicht nur einen pompösen Kongress organisiert, sondern auch ein pompöses Zeichen gesetzt: Wir sind da, je schwieriger die Zeiten, desto souveräner.

EDITORIAL

Es tut uns leid: Die Kanzlerin hat ihr In-terview mit uns abgesagt. Die Wahl in NRW war für ihre Partei ein Desaster. Da bringt es auch nichts mehr, Gefäl-ligkeits-Gespräche mit Nachwuchsjour-nalisten zu führen. Liebe Frau Merkel, wir verstehen das.

Auch die Gewerkschafter stehen mit dem Rücken zur Wand. Sie waren ge-rade dabei, ihren Mitgliederschwund zu stoppen, als die Rezession sie über-raschte. Die Finanzkrise hat der Po-litik gezeigt, wo der Hammer hängt. Der Druck auf Wirtschaftsstandorte, auf Löhne und Arbeitsplätze nimmt zu. Ein Mantra geistert durch die deutsche Wirtschaft: Arbeit um jeden Preis.

Während also dem DGB die Unterstüt-zer scharenweise weglaufen und die Forderungen nach dem Ausbau des Sozialstaates utopisch erscheinen, gibt die Kanzlerin Nachhilfe in Realitätsbe-zug: Es liegen schwierige Jahre vor uns, seufzte sie vor dem sogenannten Parlament der Arbeit.

Die schwarz-gelbe Regierung sei ja vom Wähler gewollt, das sei jetzt so, sag-te Merkel in grünem Jackett vor roter Leinwand. Die Gewerkschafter müss-ten einsehen, dass die Rente mit 67 unabdingbar sei, weil nicht immer mehr ältere von immer weniger jungen Men-schen ausgehalten werden können. Da seufzten auch die Gewerkschafter nur noch, eine einsame Trillerpfeife zeugte von heimlichem Programm-Protest.

Was tun gegen vollendete Tatsachen? Wenn die Amerikaner und Briten sich quer stellen, sagt die Kanzlerin, kann der DGB seine Finanzmarkt-Regularien vergessen. Internationale Arbeitersoli-darität ist gefragt, aber wo bleibt sie? Der Kampf um Opel-Standorte hat ge-zeigt, dass nationale Interessen Priorität haben, wenn es eng wird. So machten die DGB-Delegierten lieber, was immer gut geht: Pause. In kurzen Abständen wurden sie zu den Getränken gebeten. Zugegeben: Das Milliardenpaket für Griechenland war eine denkbar un-passende Einstimmung auf den Bun-deskongress. Jetzt soll sich der kleine Mann nicht nur Sorgen um seinen Job machen, sondern auch für die Stabilität des Euros blechen – wer daraus noch Motivation schöpft, ist wirklich ein Ar-beitstier. Die politikorange-Redaktion zählt sich dazu.

Wir sprachen mit Arbeitslosen, Multi-jobbern und Headhuntern, untersuch-ten, was ein gerechter Lohn ist, war-um Frauen ihn nicht bekommen und was Gewerkschaften mit all dem zu tun haben. Wir fragten, wie Menschen mit mehreren Jobs leben und machen Vorschläge, wie man ganz ohne Ar-beit über die Runden kommen kann. Schließlich erfanden wir ein kleines Spiel für die arbeitsfreien Zeiten. Wie auch Pippi Langstrumpf weiß: Faul sein ist wunderschön, denn die Arbeit hat noch Zeit.

Barbara Engels und Nils Glück

EDLES AMBIENTE FÜR EDLE GEDANKEN.

Foto: Martin Knorr

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DENN SIE WISSEN NICHT, WAS SIE TUN DEN GEWERKSCHAFTEN IN DEUTSCHLAND STERBEN DIE MITGLIEDER WEG. DAS BESTÄTIGT SOGAR DGB-CHEF MICHAEL SOMMER. JUNGES BLUT MUSS HER. PROBLEM: DER NACHWUCHS WEISS DAVON NICHTS. JETZT IST GUTER RAT TATSÄCHLICH TEUER.VON ANN EICHELBAUM

Die Jugend hat keinen Bock. Ent-politisiert, gleichgültig und faul sei sie geworden, lautet seit Jahren der Vor-wurf, der immer wieder durch die Me-dien zieht. Nach Angaben des DGB sind im letzten Jahr 10.000 junge Leute den Gewerkschaften beigetreten – leider ha-ben aber mehr Ältere den DGB wieder verlassen.

Ein Hauptgrund für das mangeln-de gewerkschaftliche Engagement vie-ler junger Menschen sieht René Rudolf, DGB-Bundesvorsitzender im Bereich Ju-gend, in dem fehlenden Wissen über sie. „Es ist nicht Bestandteil des Schulunter-richts, über Aufgaben der Gewerkschaf-ten aufzuklären“, sagt Rudolf. Was ist ein Betriebs- was ein Personalrat, welche Rechte habe ich als Arbeitnehmer? Das wüssten viele Jugendliche nicht, meint Rudolf. Aus dem fehlenden Wissen über die Funktionen von Gewerkschaften wächst schnell eine gleichgültige Haltung heran. Oft bilden sich junge Menschen keine dezidierte Meinung über Gewerk-schaften. Die DGB-Potentialstudie von 2007 zeigt, dass Gewerkschaften weder positiv noch negativ bewertet werden – sie liegen im grauen Mittelfeld.

Viele junge Arbeitnehmer halten sich so lange von Gewerkschaften fern, bis sie ihre Dienste brauchen. Beispiels-weise wenn sie plötzlich gekündigt wer-den. Dann hilft ihnen die Rechtsberatung der Gewerkschaft oder die kostenlose Vertretung vor dem Arbeitsgericht – die Vorteile der Gewerkschaft werden erst erkannt, wenn eigene Konflikte auftre-ten. Ego statt Allgemeinwohl.

JUGENDLICHE GLAUBEN NICHT

AN MACHT DER GEWERKSCHAFTEN

Damit die Gewerkschaften nicht erst im Ernstfall für Jugendliche inte-ressant werden, veranstaltet der DGB Berufsschultouren durch die ganze Bun-desrepublik. „Mit Projekttagen vor Ort erreichen wir die Jugendlichen direkt“, sagt Daniel Wucherpfennig, Mitglied der DGB-Jugend Berlin-Brandenburg. Auch Studenten sollen vermehrt angesprochen werden.

Aber auch, wenn die Jugendlichen über die Gewerkschaften aufgeklärt sind, bleibt ein Problem oft bestehen: die Glaubwürdigkeit. Bisher sind Gewerk-schaften nur vereinzelt bei bundespoli-tischen Entscheidungen in Erscheinung getreten. Dass sie etwa die Kurzarbeit durch Bundestag und Bundesrat gebracht haben, ist bisher die Ausnahme, nicht die Regel. Andere politische Forderungen bleiben oft auf halber Strecke nach Ber-lin liegen. Dementsprechend gering ist der Glaube, dass Gewerkschaften noch

etwas bewegen können. Nur 22 Prozent der Jugendlichen sprechen laut einer Umfrage des Internationalen Institutes für Empirische Sozialökonomie von 2009 den Gewerkschaften das Vertrauen aus, die Globalisierung in richtige Bahnen zu lenken. „Die Fachlichkeit der Gewerk-schaften wird in Fragen des Arbeitsrechts und der Tarifpolitik nicht angezweifelt“, sagt Daniel Wucherpfennig. Auch Bun-deskanzlerin Angela Merkel lobte die Ge-werkschaften in ihrer Rede vor dem 19. DGB-Bundeskongress. Ein „herzliches Dankeschön“ sagte sie den Delegierten für die Rolle der Gewerkschaften in der Krise. „Die Mitbestimmung ist ein Pfund, mit dem wir wuchern können.“

DISTANZ ZWISCHEN GEWERKSCHAFT

UND INTERESSIERTEN WÄCHST

Dass die Leute vor Ort den Ge-sprächsfaden mit den Gewerkschaften suchen, dürfte mit der Umstrukturierung des Deutschen Gewerkschaftsbundes schwieriger werden. Auf dem Bundes-kongress wurde eine Verschlankung der Gemeinschaft beschlossen. Die bundes-weit noch 66 DGB-Regionen verlieren ihre Eigenständigkeit und werden in die Bezirke integriert. Auf kommunaler Ebe-ne sollen künftig Ehrenamtliche arbeiten, nicht mehr hauptamtliche Funktionäre.

Die räumliche Distanz zwischen Gewerkschaftszentren, Mitgliedern und potentiellen Interessierten wächst. „Da-bei muss der Umgang mit Interessen-gruppen bewusster passieren“, meint René Rudolf. Nicht nur Jugendliche ver-missen schon jetzt den direkten Kontakt zur Geschäftsstelle vor Ort. Vor allem Delegierte aus dem Flächenstaat Bayern haben auf dem Kongress betont, dass vernünftige Gewerkschaftsarbeit, die nur auf ehrenamtlichen Schultern ruht, kaum möglich sei. Eine Mammutaufgabe steht an: Mit weniger Geld und weniger Personal mehr, und vor allem mehr jun-ge, Leute akquirieren.

Fotos: Martin Knorr

Ann EichelbaumBerlin, 25 Jahre

Ist Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste an der FU Berlin. Sie wollte als Kind Logopädin werden.

WER, WIE, WAS? GEWERKSCHAFT? VIELE JUGENDLICHE WISSEN NICHT, WAS SICH HINTER DEM BEGRIFF VERBIRGT. DAS SOLL SICH JETZT ÄNDERN.

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Alle reden derzeit von der Rettung Griechen-lands, von den Milliardenbeträgen, die fließen sollen. Dabei fallen der drohende Sozialabbau und die Rechte der Arbeitnehmer unter den Tisch. Ärgert sie das?„Ja, das ärgert mich, weil es das Produkt einer bewusst gesteuerten Kampagne ist, in der ungeheuerliche Sachen über die Griechen gesagt worden sind. Diejenigen, die jetzt beispielsweise titeln, wir sollten jetzt die griechi-schen Renten bezahlen, wollen eigentlich den Boden vorbereiten, auf dem auch in Deutschland Sozialabbau betrieben werden soll. Dabei sind die derzeitigen Maß-nahmen die Folge einer Krise, die weder der Rentner, noch der Jugendliche, noch der sozial Schwache oder Arbeitnehmer zu verantworten hat – weder in Griechen-land noch hier.“

Wird die Krise also benutzt, um die Rechte der Arbeitnehmer zu beschneiden?„Das kann durchaus passieren. Ich glaube aber nicht, dass das prinzipiell das Ziel aller Politiker ist. Auch in der Regierungskoalition gibt es Kräfte, die den sozialen Aus-gleich wollen. Ob die sich langfristig tatsächlich durch-setzen werden, ist immer noch fraglich, auch nach dem Auftritt der Bundeskanzlerin auf diesem Kongress. Sie sagte in ihrer Rede, wir müssten sparen, sparen, sparen. Aber wen meint die Regierung eigentlich, wenn sie sagt, dass wir über unsere Verhältnisse leben? Diejenigen, die Studiengebühren bezahlen, können es nicht sein, auch nicht die, die Hartz IV beziehen, oder 5,50 Euro pro Stun-de verdienen oder als Ingenieurin ein Leben lang ihre Ei-gentumswohnung abbezahlen. Die Debatte, ob die Krise gerecht bezahlt wird, wird noch sehr heiß geführt wer-den. Und wenn wir uns als Gewerkschaften nicht einmi-schen, wird man mit Sicherheit versuchen, sich auf den Rücken der kleinen Leute abzustützen.“

Wie können sich Gewerkschaften stark machen?„Wir haben das klassische Mittel der Tarifpolitik.

Aber wir wissen, dass man damit relativ wenig falsche Politik korrigieren kann. Wir müssen vor allem die Kritik an der Politik in die Betriebe und die Verwaltung tra-

gen. Da tut es den Regierungen und Herrschenden am meisten weh. Natürlich gehen wir, wenn erforderlich, auch auf die Straße. Aber der entscheidende Druck, der kommt aus den Betrieben selbst.“

Aber der Mitgliederschwund wird Ihnen wohl kaum dabei helfen ...„Der ist in der Tat ein Problem. Wir haben vor allem bei älteren Leuten einen Rückgang. Auch wenn es despek-tierlich klingt: Die sterben uns schlichtweg weg. Zudem haben wir in den vergangenen Jahrzehnten immer noch zu wenige Leute für die Gewerkschaftsarbeit begeistern können. Aber wir können den Mitgliederschwund trotz Krise auffangen. Wir sind handlungsfähig.“

Sie fordern einen Mindestlohn von 8,50 Euro, sind aber gegen ein bedingungsloses Grundeinkom-men. Wie passt das zusammen?„Der Unterschied liegt in der Finanzierung. Das bedin-gungslose Grundeinkommen müsste ja aus Steuergel-dern von der Gemeinschaft bezahlt werden und würde bedingungslos allen gezahlt werden. Soziale Leistun-gen müssen aber auf die gerichtet sein, die sie wirklich brauchen, und nicht als Streugabe. Alles andere ist nicht effektiv, ungerecht und ausgesprochen teuer. Und zum Mindestlohn: Ich will, dass die Menschen von der Arbeit ihrer Köpfe und Hände leben können. Dafür brauchen wir einen Mindestlohn von 8,50 Euro, genau so wie die Mindestsätze für bestimmte Berufsgruppen, zum Bei-spiel für Tierärzte und Notare. Aber kein bedingungs-loses Grundeinkommen, das jedem zusteht, egal ob er jetzt Josef Ackermann ist oder Tante Emma. Das wäre wieder eine Form der Umverteilung zu Lasten der Ar-beitnehmerschaft.“

Was machen Sie dann mit den alleinerziehenden Langzeitarbeitslosen, die nicht arbeiten können?„Deren Sätze muss man definitiv verbessern. Wir müs-sen die Kinder unterstützen, mehr Geld in ihre Betreuung stecken. Ich schließe ja nicht die Erhöhung der Hartz IV-Regelsätze aus, weil ich ein bedingungsloses Grundein-

kommen ausschließe, sondern fordere eine andere, sehr viel zielgerichtetere Form, den Menschen die notwendige Unterstützung zu geben. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Regelsätze für Hartz IV erhöht werden müssen, auch vor dem Hintergrund des wegweisenden Urteils des Bundesverfassungsgerichtes.“

Frau Merkel hat in ihrer Rede gefordert, alles zu tun, damit sich die Finanzkrise nicht wiederholt. Rei-chen dafür die Präventionsmaßnahmen der Bundesre-gierung, wie beispielsweise die Bankenaufsicht? „Was Frau Merkel diesbezüglich ankündigt, hört sich schon seit langem gut an, aber vieles wird nicht umge-setzt. In der Finanzkrise geht es nicht nur um Geiz und Gier der Manager, sondern um die Skrupellosigkeit der Superreichen, die noch reicher werden wollen. Da wird nicht hart eingegriffen. Da werden immer noch Absichts-erklärungen formuliert, die ich schon vor anderthalb Jahren so gehört habe. Wir haben kein Erkenntnispro-blem, sondern ein Durchsetzungsproblem. Die Banken sind stark, aber der Druck auf die Regierungen ist hoch. Als ich die Bundeskanzlerin nach ihrer Rede zum Auto gebracht habe, habe ich ihr gesagt: Hören Sie auf, so zu tun, als ob Deutschland nur so wichtig wäre wie Burkina Faso. Wir sind eine der größten Volkswirtschaften der Welt. Die Leute schauen auf uns. Wenn wir uns nicht durchsetzen, passiert nichts.“

HEISSE LUFTIN KALTEN ZEITEN ROT-GRÜN, SCHWARZ-ROT, SCHWARZ-GELB: ER HAT SIE ALLE ERLEBT. MICHAEL SOMMER IST AUF DEM DGB-BUNDESKONGRESS IN SEINE DRITTE AMTSZEIT ALS VORSITZENDER GEWÄHLT WORDEN. AUCH IM ANGESICHT DER FINANZKRISE ZEIGT ER SICH KÄMPFERISCH. VON BARBARA ENGELS

Barbara EngelsKöln, 22 Jahre

Studiert Volkswirtschaftslehre in Berlin. Als Kind wollte sie Jour-nalistin werden.

„WENN WIR UNS NICHT DURCHSETZEN,

PASSIERT NICHTS.“

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7 // Foto: Martin Knorr

DER DGB-VORSITZENDE MICHAEL SOMMER SIEHT ROT. AUF DEM BUNDESKONGRESS FORDERTE ER, DASS DIE REGIERUNG IHRE

ANKÜNDIGUNGEN ENDLICH IN DIE TAT UMSETZT.

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Die Zeitungen sind voll von Stellen-anzeigen. Doch Angebote für einen Vor-standssitz oder Führungspositionen finden sich dort kaum. „Wenn hohe Positionen zu besetzen sind, möchten Unternehmen das häufig diskret behandelt wissen“, er-klärt Günther Angler*, Geschäftsführer einer der führenden Beratungsgruppen in Deutschland. Um geeignete Kandida-ten zu finden, ziehen viele Unternehmen Personalberater zu Rate. Die sogenannten Headhunter. Sie bringen Angebot und Nachfrage optimal zusammen.

VERDECKTE ERMTTLUNG

IN UNTERNEHMEN

Anhand eines klaren Anforderungs-profils machen die Headhunter sich auf die Suche nach geeigneten Kandidaten für die zu besetzende Stelle. Günther Angler: „Die Onlinerecherche auf öffentlichen Plattformen, die verdeckte Ermittlung in Unternehmen und eine gute Kontaktpfle-ge helfen, geeignete Kandidaten für den ausgeschriebenen Posten zu finden.“ Die potentielle Beute wird erst telefonisch kontaktiert, wenn sie an dem angebote-nen Job interessiert sind, trifft sich der Headhunter mit ihr und examiniert sie weiter.

VOM ERSTEN TREFFEN

ZUM NEUEN JOB

Bei den persönlichen Treffen disku-tieren Personalberater und Kandidat die Konditionen des Angebots und die Qua-lifikationen des Bewerbers. „Hier sind Menschenkenntnis und Fingerspitzenge-fühl gefordert. Schließlich sollen am Ende

sowohl der Auftraggeber als auch der Vermittelte zufrieden sein – da müssen beide Seiten perfekt zusammenpassen“, so Angler.

Das Ziel eines solchen Gespräches sei, herauszufinden, ob das Profil eines Interessenten den Anforderungen des Kunden entspricht. Verläuft das Treffen positiv, legt der Headhunter seinem Auf-traggeber einen Bericht über den Gesuch-ten vor, trifft sich noch einmal persönlich mit den Suchenden und bringt, bei ge-meinsamem Nenner, den Kandidaten in Kontakt mit seinem potenziellen neuen Arbeitgeber.

KEIN TAG IST

WIE DER ANDERE

Viele kleine Schritte, die Unterneh-men und Kandidaten immer näher zu-sammenbringen und zum Erfolg der Ar-beit des Personalvermittlers führen. Jeden Tag müssen sich die Headhunter in neue Arbeitsfelder einarbeiten. Diese Abwechs-lung, die Erfolgsorientierung und den Kontakt zu vielen verschiedenen Men-schen schätzt Günther Angler besonders an der Arbeit als Personalberater. Er sitzt immer abwechselnd im Büro oder reist durch die Republik.

„Als Headhunter treffe ich sehr un-terschiedliche Menschen und spreche mit ihnen über ihre Wünsche und Ziele. Das ist sehr spannend.“ Im Büro stehen Re-cherche, die Kontaktpflege, Telefoninter-views und das Verfassen von Gesprächs- und Kandidatenberichten auf dem Plan. An Reisetagen geht es zu persönlichen

Treffen mit Kandidaten oder Auftragge-bern. Hier steht also die direkte Kommu-nikation mit anderen Menschen im Vor-dergrund.

PERSONALBERATER SIND

KEINE ARBEITSVERMITTLER

Was Headhunter von Arbeitsver-mittlungen – auch von professionellen – unterscheidet, ist die Beratung, und zwar „hinsichtlich der Profile der Bewer-ber, hinsichtlich der Frage, wo man Kan-didaten finden könnte, wie sie in neuen Unternehmen Karriere machen, oder wel-cher Standort besonders gut für sie geeig-net ist“, erklärt Angler.

Headhunter suchen die besten Köpfe und widmen dieser Suche entsprechend viel Zeit. Dafür gibt es ordentlich Asche: Ein Headhunter verdient pro Stunde etwa soviel wie ein Unternehmensberater. Da-bei bewegen sich die Headhunter oft im Dunkeln: Sie jagen Unternehmen ihre Mitarbeiter ab, um sie auf andere Posi-tionen zu vermitteln, und viel ihrer Vor-arbeit und Ermittlung läuft verdeckt. Sie arbeiten inoffiziell und von außen schwer nachvollziehbar.

VIELE SCHWARZE SCHAFE

UNTER DEN JÄGERN

Der Berufsbegriff des Headhunters ist nicht gesetzlich geschützt. Jeder kann sich so nennen. Das lockt schwarze Scha-fe an, die mit hohen Honoraren schnell viel Geld verdienen wollen. Arglose Be-rufseinsteiger, die selbst einen Headhun-ter organisieren, um sich vermitteln zu

lassen, können leicht mit horrenden Ho-norarforderungen über den Tisch gezogen werden. Es gibt viele Uniabsolventen, die von suggestiven Beratungsgesprächen und irreführenden Bewerbungstipps durch Headhunter erzählen. Wer von einem Headhunter angesprochen wird, sollte deswegen möglichst schnell prüfen, mit wem er es zu tun hat – denn es gibt genug etablierte Unternehmen, die für ihre Auftraggeber wertvolle Arbeit leis-ten. „Headhunting“, so Günther Angler, „ist eine Branche wie jede andere auch, man muss nur darauf achten, dass die Ar-beit ordentlich gemacht wird.“ Vorarbeit ist dabei unumgänglich: „Jeder kann und sollte sich die Berater ansehen, mit denen er redet und ihre Seriosität recherchieren – damit ist man gut abgesichert.“

* Name von der Redaktion geändert.

AUF DER JAGD NACH DEN BESTEN KÖPFEN HEADHUNTER SIND UMSTRITTEN. SIND SIE GIERIGE ABWERBER UND KOPFGELDJÄGER ODER DOCH EHER DIE SENSIBLEN BERATER UND PERSONALVERMITTLER MIT FINGERSPITZENGEFÜHL? VON MIRJAM EISWIRTH

Mirjam EiswirthGerolstein, 19 JahreSie wollte als Kind Schokoladen-testerin werden, jetzt studiert sie an der internationalen Jacobs University Bremen und schreibt für Print- und Onlinemedien.

FRUCHTFLEISCH WAS IST IHR TRAUMBERUF?

URSULA DÜKER, 51

SEKRETÄRIN EINES GESCHÄFTSFÜHRERS

DER HANS-BÖCKLER-STIFTUNG:

„MEIN TRAUMBERUF IST GÄRTNERIN

ODER GARTENBAUARCHITEKTIN.“

„BEPFLANZEN“

MALTE SCHEIBE, 14

SCHÜLER:

„ICH WÄRE GERN MANAGER.

DANN VERDIENE ICH EINE MENGE GELD.“

„BESTIMMEN“

LENE BREYMAIER, 50

GEWERKSCHAFTSSEKRETÄRIN

„FRÜHER WOLLTE ICH UNBEDINGT PIPPI

LANGSTRUMPF WERDEN, JETZT MACHE ICH MEINEN

NEUEN TRAUMJOB: GEWERKSCHAFTSSEKRETÄRIN.“

„BERUFEN“

Fotos: Jonas Fischer

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ENTFÜHRUNG

Wenn weder ein Millionär noch eine

Schwiegermutter aufzufinden sind, bleibt

noch eine andere Möglichkeit: Entführung.

Man nehme einen Angehörigen eines rei-

chen Haushaltes, der von seinen Verwand-

ten möglichst geschätzt wird. Sonst wird

der Entführte nie wieder abgeholt. Kleiner

Haken: Eine Ausreise in ein rechtsunsiche-

res Land nach erfolgreicher Lösegeldan-

nahme ist unabdinglich. Sonst droht Ge-

fängnis. Was aber auch nicht so schlimm

ist. Siehe > Geständnis ablegen.

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SIEBEN WEGEAUS DER ARBEITWARUM SICH NOCH MIT JOBS RUMSTRESSEN, WENN ES DOCH SO VIELE ANDERE MÖGLICHKEITEN GIBT, AN GELD ZU KOMMEN? WIR KENNEN EINIGE NICHT GANZ ERNST GEMEINTE ALTERNATIVEN. VON NICOLE KRENZ

Nicole KrenzBerlin, 17 Jahre

Besucht die 11. Klasse des Ul-rich-von-Hutten-Gymnasiums. Als Kind träumte sie davon, ei-nen Catering-Service zu leiten.

GESTÄNDNIS ABLEGEN

Die anderen Tipps haben nicht gefruchtet? Macht nichts. Eine An-

klage vor Gericht ist so gut wie sicher. Immer ruhig bleiben. Vor

Gericht kann immer noch ein Geständnis abgelegt und somit die

Platzierung in einem örtlichen Gefängnis gewährleistet werden.

Und dort gibt es sogar Vollpension.

HERZTABLETTEN VERSTECKENDa die Schwiegermutter sowieso nur ein penetranter Störfaktor ist, werden durch diesen Tipp gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Einfach die Herztablet-ten der Schwiegermutter verstecken und schwupps, liegt das Erbe auf dem Konto. Leichter geht es wirklich nicht. Sollte die Schwiegermutter kein Geld haben, ist das natürlich leider sinnlos, zumindest finanziell.

1MILLIONÄR HEIRATENSollte noch keine Schwiegermutter vorhan-den sein, geht es auf die große Suche nach einem Millionär. Natürlich wird es wohl nicht der Hübscheste oder Jüngste sein, denn Abstriche muss jeder machen. Frau kann ja schließlich nicht alles haben. Geld gibt es dafür umso mehr. Wichtige Voraussetzungen für den Milli-onärsfang sind Schönheit und Jugend. Das Alter des reichen Partners sollte idealerweise ge-gen 80 tendieren. Tipp: Kon-taktanzeigen im Zeitmagazin durchforsten.

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MIETNOMADENTUM

Einfach in eine Wohnung oder in ein schickes Haus

ziehen. Egal, wie hoch die Miete ist. Sie wird sowie-

so nicht gezahlt. Leben wie Gott in Frankreich – wo

auch immer. Gegen eine Verwüstung der Wohnung

ist auch nichts einzuwenden. Der Vermieter, der

mit ständigen Mahnungen nervt, hat eine Lektion

verdient. Bitte nicht vergessen, rechtzeitig auszu-

ziehen. Zu spät ist es, wenn die Polizei vor der Tür

steht. Und: Die Distanz zwischen alter und neuer

Wohnung sollte möglichst groß sein.

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STIPENDIUM SICHERN

Mit ein bisschen Talent und Enga-

gement – und dem richtigen Alter

– schafft man es in eine politische

oder gewerkschaftliche Stiftung.

Dann regnet es quartalsweise

Bafög-Ersatz und als Sahnehäub-

chen bald 300 Euro Büchergeld

monatlich. Nur so als kleiner Zu-

satzverdienst.

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BANKÜBERFALLEin wenig Geld in die Ausrüstung investieren (Schusswaffe, Sturmmaske, Sack) - dann kann es auch schon losgehen. In die Bank eigener Wahl einfallen und eine möglichst hohe Sum-me verlangen. Die Bankangestellten werden recht willig sein. Sack hinhalten, Geld reinfallen sehen, bösen Blick bewahren. Wichtig: die sportlichen Fähigkeiten des Bankräu-bers sollten sehr gut sein. Sobald das Geld im Sack ist, heißt es nämlich: Land gewinnen. Sonst ist das Geld schneller weg, als man gucken kann.

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LOTTO SPIELEN

Wer lieber auf dem rechten Weg

einen Verdienstersatz finden möch-

te, kann beim Lottospielen auf das

große Glück hoffen. Einige Investi-

tionen sind dort schon nötig, doch

die Scheine warten kofferweise auf

den Gewinner. Legaler kann man

nicht an sein Geld kommen.

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SIMULTANESSCHUFTEN DIE ZEITEN DER 40-STUNDEN-JOBS SIND VORBEI. HEUTE WÄHLEN IMMER MEHR MENSCHEN ZWEI ODER DREI JOBS À 20 WOCHENSTUNDEN. DER TREND GEHT ZUM MULTIJOBBING. VON NICOLE KRENZ

Viola E. ist Multijobberin, ist Hauswärterin, Rei-nigungskraft und Haushaltshilfe. Sie ist mit einem gut verdienenden Mann verheiratet, hat drei Kinder – und arbeitet nebenbei, soviel sie nur kann. Trotz des Beam-tengehaltes ihres Mannes muss auch sie Geld verdienen. Denn alle drei Kinder sind noch schulpflichtig, dadurch entstehen hohe Kosten. „Irgendwie müssen ja die vielen Schulausflüge, Klassenfahrten, das Büchergeld und die Schulutensilien bezahlt werden“, sagt Viola E. „Wenn alle drei Kinder im Sportverein sind, summieren sich auch diese eigentlich geringen Mitgliedsgebühren.“ Viola E. verdient rund 550 Euro im Monat und arbeitet min-destens 18 Stunden in der Woche – dieser Extraverdienst ist wichtig.

ES GIBT 2,4 MILLIONEN MULTIJOBBER

IN DER BUNDESREPUBLIK

Immer mehr Deutsche suchen sich mehrere Jobs, um ihrer Geldnot beizukommen. Der Lohn ist zu gering, die Lebenshaltungskosten hoch und mit Kindern ist es umso schwerer. Das Geld aus einer sozialversicherungs-pflichtigen Hauptbeschäftigung reicht oft nicht aus. Der Trend geht zum abgabenfreien Nebenjob. 2004 gab es laut einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Be-rufsforschung (IAB) noch 1,5 Millionen Multijobber, heu-te sind es mehr als 2,4 Millionen. Rund 50 Stunden arbei-ten diese Deutschen in der Woche. Trotzdem verdienen sie kaum mehr als das Existenzminimum. Oft bleibt Mul-

tijobbern nichts anderes übrig, als zusätzlich Hartz IV zu beantragen. Es gehören viel Optimismus und Durchhal-tevermögen dazu, um die vielen Arbeitsstunden und den geringen Lohn zu ertragen.

Für Viola E. ist Multijobbing die einzige Lösung. „Etwas anderes als Minijobs finde ich heutzutage nicht mehr, da ich sehr lange nicht gearbeitet habe“, so die gelernte Friseurin. Jahrelang war sie im Erziehungs-urlaub. Mit jedem Jahr sanken die Chancen auf eine Festanstellung. Doch Viola E. sieht ihre Minijobs nicht nur negativ. „Ein großer Vorteil der Minijobs gegenüber einer Festanstellung ist die Flexibilität.“ Minijobs böten ihr eine freiere Zeiteinteilung. Sie kann die Kinder von der Schule abholen, ihnen Essen kochen, bei den Haus-aufgaben helfen, ihren anderen mütterlichen Aufgaben nachgehen und abends arbeiten. „Bei einer Festanstel-lung wäre ich den ganzen Tag auf der Arbeit, ob es nun etwas zu tun gibt oder nicht, und würde trotzdem keinen höheren Lohn bekommen“, meint Viola E. Trotzdem: „Die Minijobs sind mir oft zu stressig.“ Freitags bei-spielsweise muss sie für alle drei Arbeitgeber schuften – und sich trotzdem noch um die Kinder kümmern. Da ist Stress garantiert.

Auch Sven S. greift zur Alternative Zweitjob. Ne-ben seiner Ausbildung zum Anlagenmechaniker arbeitet er nebenberuflich als Reinigungskraft in einer Zahnarzt-praxis. „Bei 48 Stunden Arbeit in der Woche kann es

schonmal ganz schön stressig und anstrengend werden“, erzählt der 18-Jährige. Noch wohnt er bei seinen Eltern, doch nach seiner Ausbildung wird er den Nebenjob be-halten müssen, um einen eigenen Haushalt finanzieren zu können. „Der Lohn könnte selbst nach der Ausbil-dung noch sehr gering sein, je nachdem, wo ich genom-men werde. Ohne einen Nebenjob wird es dann vielleicht gar nicht funktionieren.“

DIREKT VOM HÖRSAAL

IN DAS BÜRO

Noch kann sich Sven S. von seinem Zusatzver-dienst den ein oder anderen Urlaub leisten, doch bald wird der Zweitjob nicht mehr für Extrawünsche herhal-ten können. Der finanzielle Spielraum wird für Sven S. kleiner und kleiner. Der junge Mann schaut nicht sehr zuversichtlich in die Zukunft, aber er möchte alles da-für tun, um nicht Hartz IV beantragen zu müssen, auch wenn dafür 50 Stunden harte Arbeit pro Woche nötig sind. Auch viele Studenten ziehen täglich vom Hörsaal ins Büro. Bafög und elterliche Unterstützung sind oft nicht genug, um ein bescheidenes Studentenleben zu gewährleisten. Vivianne S. arbeitet als Freie Mitarbeite-rin bei einer Zeitung, jobbt an der Kinokasse, babysittet und studiert Jura. Freizeit hat sie kaum. „Meine Freunde hören die ewig gleiche Absage: Ich muss arbeiten“, sagt Vivianne S. Sicher störe sie das, aber ändern lasse sich die Situation in absehbarer Zeit nicht.

EIN MANN, VIELE AUFGABEN.UM SICH ÜBER WASSER ZU HALTEN, MÜSSENMULTIJOBBER GANZ SCHÖN MIT DEN ARMEN RUDERN.

Foto: Martin Knorr

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Es klang wie eine frohe Botschaft, als das deutsche Studentenwerk am 23. April die neue Sozialerhebung vorstellte: Erstmals seit Jahrzehnten gibt es an deut-schen Hochschulen wieder mehr Arbei-terkinder.

Doch trotz des leichten Anstiegs kommt weiterhin über die Hälfte der Stu-denten aus gehobenen Schichten. Noch deutlicher wird der Unterschied, wenn man die Bildungskarrieren vergleicht: Von 100 Nichtakademiker-Kindern beginnen nur 24 ein Studium, während bei Akade-miker-Erben die Studenten-Quote bei 71 Prozent liegt.

STIPENDIEN BEI DER

HANS-BÖCKLER-STIFTUNG

Die DGB-eigene Hans-Böckler-Stif-tung will mehr Kinder aus Arbeiterfamili-en an die Universität bringen und vergibt dafür Stipendien. Gefördert werden Ge-werkschaftsmitglieder und gesellschafts-politisch Engagierte – bewerben kann sich jeder. Seit 2007 gibt es außerdem die „Böckler-Aktion Bildung“ für Arbeiterkin-der: Studenten, deren Eltern ein Studium nicht finanzieren können, bekommen eine monatliche Finanzspritze. Motto: „Ihr studiert, wir bezahlen.“ Nach Anga-ben der Stiftung kommen 62 Prozent ihrer rund 2450 Stipendiaten aus Nicht-Akade-mikerfamilien.

WIE ES

KLAPPEN KANN

„Das ist der Unterschied zwischen der Hans-Böckler-Stiftung und anderen Stiftungen“, erklärt Klaus Westermann. Politische Stiftungen förderten im End-effekt vor allem Kinder aus der oberen Mittelschicht. Klaus Westermann, der Geschäftsführer des DGB Rechtsschutzes, wurde zu seiner Studienzeit auch durch den Gewerkschaftsbund gefördert. „Ohne die Studienstiftung hätte ich vermutlich gar nicht oder nur unter schwierigen Be-dingungen studieren können“, erklärt der Volkswirt.

„Wer Geld hat, hat alle Möglichkei-ten“, sagt Westermann. Für Arbeiterkin-der dagegen sei die Ausgangssituation besonders schwierig. „Der familiäre Hin-tergrund entscheidet nämlich über die fi-nanziellen Startbedingungen.“ Und damit auch über die Nachfrage nach Hochschul-bildung.

Die 26-jährige Hülya Dogan trat 2003 als Krankenschwester der Gewerkschaft Verdi bei, um in der Jugendvertretung Seminare und Schulungen zu besuchen. Heute studiert sie Sozialökonomie in Hamburg. Seit sieben Semestern wird sie durch die Hans-Böckler-Stiftung gefördert. Ohne das Extra-Geld hätte sie ihr ehren-amtliches Engagement bei Verdi aufgeben

und einen Kredit aufnehmen müssen, sagt sie. Hülya bekommt die Vollförderung, das maximale Grundstipendium von 585 Euro, zusätzlich ein Büchergeld in Höhe von 80 Euro sowie 59 Euro als Zuschuss zur Krankenversicherung. Jedes Semester muss Hülya einen schriftlichen Semester-bericht anfertigen, in dem sie ihre soziale Situation und die Studienplanung dar-stellt sowie über ihr gewerkschaftliches Engagement berichtet.

Die Förderung von Dogan zahlt sich für die Gewerkschaften aus: Im No-vember des Jahres 2007 ließ sich Hülya Dogan zur stellvertretenden Bundesvor-sitzenden der Verdi-Jugend wählen. Seit diesem Zeitpunkt bestimmt sie die poli-tische Ausrichtung der Organisation ganz wesentlich mit.

MEHR GELD,

WENIGER ENGAGEMENT

Doch auch wenn das Geld hilft – den Zeit- und Leistungsdruck, der durch das Stipendium entsteht, findet Dogan nicht gut. „Vor dem Studium wird von mir er-wartet, dass ich mich ehrenamtlich enga-giere, um das Stipendium zu bekommen. Im Studium wird dann verlangt, dass ich innerhalb der Regelstudienzeit meinen Abschluss mit guten Noten erziele und mich irgendwie auch weiterhin engagie-re. Tatsächlich aber bedeutet das, dass das ehrenamtliche Engagement wegfallen muss.“ Für alles gleichzeitig bleibe zu we-nig Zeit. Da beißt sich die Katze in den Schwanz.

Dogan hat sich für ihre Tätigkeit bei der Verdi-Jugend entschieden und damit gegen die Einhaltung der Regelstudien-zeit. Deshalb braucht sie zwei Semes-ter länger an der Universität. Für diesen Zeitraum wird ihr die Förderung von der Stiftung gestrichen. Ein erheblicher fi-nanzieller Einschnitt für die Studentin. Die Folge: Jetzt muss sie wahrscheinlich einen Kredit aufnehmen. Kein gerechter Lohn für den Eifer und die Arbeit, die sie in die Gewerkschaft gesteckt hat.

BÜFFELNSTATT BUCKELN NACH WIE VOR IST DER ANTEIL DER ARBEITERKINDER AN DEN DEUTSCHEN UNIVERSITÄTEN GERING. STIPENDIEN HELFEN ZWAR, SETZEN DIE GEFÖRDERTEN ABER AUCH UNTER DRUCK. VON ESTHER SCZESNY

Esther SczesnyFreiburg, 23 JahreHat vor einem Monat das erste juristische Staatsexamen gemacht und fängt nun mit der Promotion an. Als Kind wollte sie Lehrerin werden.

59 PROZENT VON ELTERN UNTERSTÜTZT

Laut der aktuellen Sozialerhebung bekom-men 59 Prozent der deutschen Studierenden die Studienbeiträge von ihren Eltern bezahlt. Rund ein Drittel der Befragten gab an, für die Gebühren zu jobben. Nur etwa jeder Zehnte nimmt ein Darlehen auf. Studierende haben im Schnitt 812 Euro im Monat zur Verfügung.

Das Deutsche Studentenwerk befragt alle drei Jahre die Studierenden zu ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage. Die Sozialerhebung wird finanziert vom Bundes-ministerium für Bildung und Forschung und wissenschaftlich durchgeführt. Bei der 19. Sozialerhebung wurden im Sommer 2009 rund 16.370 Studierende befragt.

THEATERSCHMINKE STATT KOHLERUSS. ARBEITERKINDER WIE HÜLYA DOGAN MACHEN SICH DIE HÄNDE NUR NOCH FÜR

SYMBOLFOTOS SCHMUTZIG.Foto: Martin Knorr

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DAS GANZE LEBEN IST EIN SPIEL POLITIKER SETZEN VOR ALLEM IN DER FINANZKRISE ALLES AUF EINE KARTE. NICHT IMMER MIT ERFOLG. DABEI IST ES EIGENTLICH GANZ EINFACH. FÜR JEDEN EXISTIERT DIE PERFEKTE GEWINNSTRATEGIE. WIR STELLEN SIE VOR. VON BARBARA ENGELS, JIL BLUME UND SEBASTIAN WENZEL

Lieblingsspruch:

Timing ist alles.

Kindheitstrauma:

Mit acht Jahren den Verbündeten verloren.

Schlüssel zum Glück:

Alles riskieren und als Letzter am Tisch sitzen.

Mogelstrategie:

Relativ aussichtslos. Wer hier gewinnt, hat wirklich Nerven bewiesen.

Protospieler:

Die EU-Finanzminister und alle anderen Griechenland-Gläubiger.

RUSSISCHES ROULETTE

Lieblingsspruch:

Wissen ist matt.

Kindheitstrauma:

Von einem Bauern überholt worden.

Schlüssel zum Glück:

Wer das Zentrum kontrolliert, gewinnt das Spiel.

Mogelstrategie:

Mit einem Vorflüsterer spielt es sich leichter.

Protospieler:

Netzwerker, die genau wissen, wen sie opfern müssen, um zu gewinnen.

SCHACH

Lieblingsspruch:

Jeder ist seines Glückes Schmied.

Kindheitstrauma:

Alle Wasserwerke wurden privatisiert.

Schlüssel zum Glück:

Kaufen, kaufen, kaufen.

Mogelstrategie:

Die Rolle der Bank übernehmen und die Mehrwertsteuer für Hotels senken.

Protospieler:

Guido Westerwelle – der mag Hoteliers besonders gerne.

MONOPOLYFür alle

Kapitalisten

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Für alle

Zocker

Lieblingsspruch:

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist schwierig.

Kindheitstrauma:

Keiner glaubt mir!

Schlüssel zum Glück:

Zweimal das Gleiche oder 65+.

Mogelstrategie:

Den Gegner mit Weißbier benebeln.

Protospieler:

Die CSU – hat inzwischen nicht mal mehr überall in Bayern was zu melden.

MÄXCHENFür alle

Blender

Für alle

Strategen

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BINGO

Lieblingsspruch:

Bingo!

Kindheitstrauma:

Im Griechischunterricht an der Acht gescheitert.

Schlüssel zum Glück:

Spielleiter bestechen.

Mogelstrategie:

Die Zahlen nach Gustos schönen.

Protospieler:

Papakonstantinou. Die Fähigkeiten des Finanzministers sind weltbekannt.

SCHIFFE VERSENKEN

Lieblingsspruch:

Feuer frei!

Kindheitstrauma:

In der Bedeutungslosigkeit versunken.

Schlüssel zum Glück:

Alle treffen, nicht nur die großen Tanker.

Mogelstrategie:

Auf den Lageplan des Gegners spicken.

Protospieler:

Die Opposition – Hauptsache drauf.

SCRABBLE

Lieblingsspruch:

Vorschieben, anfügen, rumdrehen.

Kindheitstrauma:

Mit kreativen Neuschöpfungen gegen primitive Dran-Hänger verloren.

Schlüssel zum Glück:

Femininumsuffix-innen hinterherschieben.

Mogelstrategie:

Fremdwörter erfinden und hoffen, nicht enttarnt zu werden.

Protospieler:

Der klassische Bundestagsabgeordnete – ein echter Phrasendrescher.

\\ 12 13 // Fotos: Hasbro, Dmitriy Elyuseev, mtrommer, maconga, Cervantes, Miguel, Alexander Franke, Messe München GmbH, Presse- und Informationszentrum Marine, fotolia.de, ots, jugendfotos.de

Für alle

Spekulanten

Für alle

Wortakrobaten

Für alle

Opponenten

Lieblingsspruch:

Und wenn er kommt, dann brechen wir ihm die Nase.

Kindheitstrauma:

Im Fußballstadion auf die Nase bekommen.

Schlüssel zum Glück:

Spielregeln umschreiben, Mitspielern die Nase brechen und dann abschieben.

Mogelstrategie:

In der Gruppe untertauchen

Protospieler:

NPD und alle anderen Feiglinge.

WER HAT ANGST VOR‘M SCHWARZEN MANN?

Für alle

Spielver-

derber

Weiterspielen und -lesen im Internet auf

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Es ist mal wieder Semesteranfang und es ist mal wieder nervig. Die Kurse zu voll und es geht doch nur um das „Or-ganisatorische“. Man quält sich durch den „Verlaufsplan“, die „Anforderungen an das Seminar“ und die Vergabe von Refe-ratsthemen. Man packt seinen Notizblock schon ein und dann kommt der gefürch-tete Satz von einem Studenten, meist aus den hinteren Reihen: „Wenn ich nur eine Hausarbeit mit zehn Seiten schreibe, bekomme ich dann trotzdem drei Credit-points?“ – Das böse Wort ist ausgespro-chen: „Creditpoints“.

Und jetzt geht es los: der Professor sagt, dass er es nicht genau weiß, ein an-derer Student weiß das schon besser und eine Kommilitonin hat noch eine ganz andere Frage, nämlich ob sie vier Credit-points bekommt, wenn sie einen extralan-gen Handzettel zu ihrem Referat anbietet. Das Feilschen ist in vollem Gange. Dabei sollten die Creditpoints doch alles verein-fachen. In der Theorie des „European Cre-dit Transfer System“ war es so gedacht, dass die Arbeitsstunden von Studenten, egal, ob in Irland oder Rumänien, ver-gleichbar sind: 30 Stunden Arbeitsauf-wand bringen einen Creditpoint – klingt logisch.

Doch es gibt auch Unwägbarkei-ten im System: Der Lehrplan ändert sich während des Studiums und ein Modul, das früher zehn „Credits“ wert war, ist nun nur noch fünf Punkte wert. Können die abgeleisteten fünf Extra-Creditpoints nun auf ein anderes Modul übertragen werden? Die Theorie meint „Ja“, aber die Praxis bestätigt das nicht immer. Die

Punkte können auch verfallen, wenn man sich nicht in nervenaufreibende Verhand-lungen mit Studienbeautragten und Do-zenten begibt.

Man bedenke auch die Creditpoint-Inflation: So manch ein Dozent vergisst allmählich, dass auch die Vorlesung im Hörsaal Zeit raubt und in die Arbeitsrech-nung einfließen muss. Creditpoints haben das Lernen nicht einfacher gemacht, son-dern die Bildung zu einer Währung ver-kommen lassen. Eine Umkehrung dieses Prozesses ist utopisch, also muss man nun mit der Wissenswährung zu Recht kommen.

WIR BRAUCHEN EINE

CREDITPOINT-GEWERKSCHAFT

Die Frage ist: Wer legt fest, was ein Creditpoint wert ist? Studenten sind der Willkür von Dozenten ausgeliefert, können sich ihre Arbeit nicht adäquat

bescheinigen lassen. Wir brauchen eine „Creditpoint-Gewerkschaft“, kurz CPG, inklusive Streikrecht.

Vielerorts fehlt es an einer starken Organisation, die bei Verhandlungen um Modulpläne den Studenten eine Stimme verleiht. Die auch mal den Dienst quit-tiert, wenn Rektoren und Professoren gegen die Interessen der studierenden Mehrheit an den Unis entscheiden wol-len. So eine Gewerkschaft ist überfällig, denn die Studenten wissen aus eigener Erfahrung, was sich im Bologna-System ändern muss.

Wir brauchen „Tarifverhandlungen“ darüber, wie beispielsweise Vorlesungen und Seminare in die Punktrechnung ein-gehen. Wir brauchen Fairness statt Will-kür: Wie viel Arbeit steckt wirklich in einer Hausarbeit, was musste der Student für sein Referat leisten? Und vor allem: Was passiert, wenn sich Modulpläne än-

dern? Einzelgespräche helfen nicht weiter, wir brauchen endlich Verbindlichkeit. Die CPG muss europaweit agieren, wenn es der Bologna-Prozess ernst mit uns meint. Bisher ist es ein Spießrutenlauf, die Uni-versität zu wechseln und bereits geleiste-tes mitzubringen und weil jede Uni ihren eigenen Creditpoint-Wechselkurs hat. Was ein Student hier geleistet hat, muss dort nicht anerkannt werden. Damit muss Schluss sein!

Wer in heutigen Zeiten um seine Arbeitspunkte kämpft, gilt sehr schnell als kleinkarierter Faulpelz. Diese Sicht ist engstirnig, denn bei Creditpoints wird jetzt schon hemmungslos getrickst. Und solange die angehenden Akademiker nicht nach der Stechuhr lernen, braucht die Entlohnung der Studenten endlich klare Maßstäbe – für echte Vergleichbar-keit. Und für mehr Ruhe in der ersten Se-mesterwoche.

DIE KREDITKRISE DER KOMMILITONEN CREDITPOINTS HABEN DAS STUDIUM NICHT VEREINFACHT, SONDERN WISSEN ZU EINER WÄHRUNG VERKOMMEN LASSEN. WENN ES EINE WISSENSWÄHRUNG GIBT, DANN SOLLTEN AUCH DIE STUDENTEN DAMIT HANDELN KÖNNEN. EIN KOMMENTAR VON ANDI WEILAND

Andi WeilandMünster, 25 Jahre

Ist froh, noch auf Diplom zu studieren. Weiß nicht mehr, was er als Kind werden wollte.

FRUCHTFLEISCH WELCHE BEDEUTUNG HAT ARBEIT FÜR SIE?

PHILIP BÜTTNER, 37

WISSENSCHAFTLICHER REFERENT

DER EVANGELISCHEN KIRCHE:

„ICH SCHÄTZE DIE SELBSTBESTÄTIGUNG,

DASS ICH WAS LEISTEN UND GESTALTEN KANN.“

„BESTÄTIGEN“

TINA KOLBECK, 42

PRESSESPRECHERIN DGB-BEZIRKS

NIEDERSACHSEN, BREMEN, SACHSEN-ANHALT:

„MIR BRINGT ARBEIT EINE MENGE SPASS, KONTAKT MIT

LEUTEN UND IMMER WIEDER NEUE ANREGUNGEN.“

„BEGEGNEN“

NORBERT HERMES, 59

STEUERBERATER

„ARBEIT IST FÜR MICH DAS NOTWENDIGE

ÜBEL ZUM ÜBERLEBEN.EN.“

„BENÖTIGEN“

Fotos: Jonas Fischer

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15 // Fotos: Jonas Fischer

GELDREGEN ÜBER DEUTSCHLAND EIN FESTES GRUNDEINKOMMEN, GANZ EGAL, OB UND WAS JEMAND ARBEITET? KLINGT ABENTEUERLICH. FINANZIERBAR SEI DAS OHNEHIN NICHT, SAGEN VIELE GEGNER. VOM MIRJAM EISWIRTH

„Viele Jobs sind wegrationalisiert, Arbeit wird von Maschinen erledigt. In Zukunft wird Vollbeschäftigung – also eine 40-Stunden-Woche, in der man ge-nug zum Leben verdient – nie mehr mög-lich sein.“ Ralf Walter von der Katholi-schen Arbeitnehmer-Bewegung (KAB) sieht schwarz, was den Arbeitsmarkt der Zukunft angeht. Die Patentlösung hat er parat. „Wir wollen weg von der Erwerbs- und hin zur Tätigkeitsgesellschaft“, sagt Walter. Mit einem bedingungslosen Grundeinkommen von 670 Euro pro Mo-nat für alle ab dem vollendeten 18. Le-bensjahr, zuzüglich Transferleistungen.

GRUNDEINKOMMEN

GEGEN EXISTENZNOT

Arbeiten für Geld bedeutet Zwang, bedeutet Abhängigkeit. „Irgendeine, schlimmstenfalls auch noch so sinnlo-se Arbeit, tun zu müssen, um Geld zum Überleben zu haben, ist menschenunwür-dig“, sagt Walter. „Doch in unserer Er-werbsgesellschaft wird die Arbeit so hoch geschätzt, dass Leute schief angeguckt werden, die nicht mit Arbeit ihr Geld ver-dienen.“ In einer Walters Tätigkeitsgesell-schaft wird die Existenz aller Menschen durch ein bedingungsloses Grundeinkom-men gesichert.

Klingt utopisch? Ist es auch. Aber das macht nichts. Selbst etablierte Partei-en spielen mit der Idee. Finanzierbar sei-en die dazu nötigen 620 Milliarden Euro allemal, sagen Befürworter des Grund-einkommens. Die KAB meint: Dadurch, dass keine Sozialämter und kein Verwal-tungsaufwand mehr nötig sind, um zu bestimmen, wer wie viel Geld vom Staat bekommt, würden schon 70 Milliarden Euro gespart. Zwar würden dann auch zahllose Menschen aus diesem Sektor ih-ren Job los, aber das ist in der Tätigkeits-gesellschaft ja kein Problem mehr – dann engagieren sie sich eben sozial.

Die Einsparung der momentan aus-gezahlten Fürsorgeleistungen schlägt laut KAB mit 85 Milliarden Euro zu Buche. Den Rest von 400 Milliarden Euro erledigen die Erbschafts-, Vermögens- und Finanz-transaktionssteuern. Dass dann immer noch eine Lücke von 65 Milliarden Euro klafft, sei nicht tragisch. In Namibia habe die Einführung des Grundeinkommens zu einer riesigen Wertschöpfung geführt, das sei auch in Deutschland zu erwarten, sagt Walter, der dem KAB-Diözesanverband Aachen vorsteht.

So sieht der Modellversuch aus: In einem namibischen Dorf ist das be-dingungslose Grundeinkommen schon Realität. Deutsche Theologen und Wirt-schaftswissenschaftler haben für den 1000-Seelen-Ort Otjivero den „Basic In-come Grant“ organisiert. Seit 2008 erhält

dort jeder, vom Säugling bis zur Urgroß-mutter, zwei Jahre lang monatlich 100 Rand – etwa neun Euro.

Entgegen der Befürchtungen tragen die Namibier aus Otjivero das Grundeinkommen nicht in die örtli-che Alkoholquelle, sondern investie-ren es sinnvoll. Der Schulleiter hat damit ein kleines Geschäft eröffnen können. Familien haben Ziegen oder Hühner angeschafft. Lebensmittel und andere Dinge des täglichen Bedarfs zu besorgen ist durch das Grundeinkom-men möglich geworden. Die armutsbe-dingte Kriminalität ist zurückgegangen, mehr Kinder besuchen die Schule – und haben damit größere Chancen auf eine gute Ausbildung, einen Arbeitsplatz und darauf, die Armut zu überwin-den. Ein voller Erfolg, sagen die Organisa-toren. Das Projekt wird nun mit Spenden noch ein weiteres Jahr fortgesetzt.

EUROPA UND AFRIKA,

DAZWISCHEN LIEGEN WELTEN

Dass die Situation und das Modell-projekt in Afrika nicht mit Deutschland zu vergleichen sei, gesteht Ralf Walter ein. In Namibia ist das Grundeinkommen ein Mittel der Armutsbekämpfung, hier soll es die Gesellschaft eines Industriestaats ver-ändern. „Wir planen keine Hau-Ruck-Ak-tion. Es muss ein Umdenken stattfinden, eine Umwertung der ehrenamtlichen, un-bezahlten Arbeit. Das braucht Zeit.“

Die Faulheit, ein Problem, das viele Kritiker des Grundeinkommens neben der Finanzierbarkeit immer wieder sehen, will die KAB mit ihrem positiven Menschen-bild entkräften. Es wird zwar immer Menschen geben, die sich auf dem Grundeinkommen ausru-hen, die nichts tun und damit der Gesellschaft schaden. Aber: „Menschen wollen arbeiten, wollen integriert sein, wollen etwas Sinnvolles tun.“ Laut Studien leben hoch gestresste Manager im Schnitt sieben Jahre länger als Arbeitslose – und Langzeitarbeitslose verursachen 30 Prozent der Gesundheits-kosten. „Sich so nutzlos zu fühlen und nichts tun zu können, schlägt auf die Psy-che und die Gesundheit.“

Eine weitere Angst: Dass gerade die, die jetzt von Hartz IV leben, mit dem Grundeinkommen weniger bekommen als zuvor. Das dürfe nicht sein, betont Ralf Walter. Schließlich gehe es beim Grund-einkommen um eine soziale, gerechte, lebenswerte Welt, in der allen eine men-schenwürdige Existenz möglich ist. Dass es eine Utopie ist, ein radikal anderes Ge-sellschaftsmodell, stört ihn dabei nicht. Um vielen kleinen Schritten eine gemein-same Richtung zu geben, brauche es ein großes Ziel.

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Fotos: Martin Knorr

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IM FREIEN FALL:OBDACHLOSE IN BERLIN SIE HAT FRÜH KINDER BEKOMMEN UND LEIDET AN SCHWEREN KRANKHEITEN. AN ARBEIT WAR NIE ZU DENKEN. NUR MIT GLÜCK IST SIE DER WOHNUNGSLOSIGKEIT ENTKOMMEN. VON LAURA FRICKE

Ihre Fingerkuppen sind so angeschwollen und ver-krümmt, dass sie die Kaffeetasse nur schwer umklam-mern können. „Rheuma“, sagt Regine Sabmann*, ehema-lige Westberliner Friseurin. „Nicht mal einen Putzlappen kann ich mehr damit halten.“ Dabei ist Rheuma nicht das Schlimmste, was die 61-Jährige plagt. Eine chroni-sche Magenschleimhauteintzündung, Allergien und viele weitere Erkrankungen quälen die Frau.

„Alles durch Überlebensstress als Alleinerziehen-de“, sagt Sabmann. Und den gab es reichlich. Mit An-fang 20 lebt sie, damals schon Mutter zweier Mädchen, mit einem Mann und dessen sechs Kindern zusammen in Berlin-Schöneberg. Da der Witwer in der Woche in ver-schiedenen Gelegenheitsjobs arbeitet, bleiben die Kinder bis zum Wochenende im Kinderheim.

Die Erziehung von Regine Sabmanns Töchtern übernimmt ihre Mutter. Als Friseurin kann sie zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr arbeiten: Shampoos und Färbemittel erzeugen allergische Hautausschläge auf ih-ren Händen. Stattdessen kellnert und putzt sie, könne aber durch ständige Migräneanfälle keinen Job länger halten, sagt sie.

Als ihr Lebenspartner ins Gefängnis kommt, droht ihr der soziale Abstieg nach ganz unten: Der Hauswart ihrer Wohnung kündigt ihr, „weil ich nicht im Mietver-trag stand“, mit der Aufforderung innerhalb weniger Tage die Wohnung zu räumen. „Damals brauchte man noch Wohnberechtigungsscheine für eine Ein- oder Zweizim-merwohnung.“

Hochschwanger wendet sich die damals 24-Jährige an das Sozialamt. „Und die vom Sozialamt haben zu mir gesagt, naja, bei ledigen, alleinstehenden Frauen käme es ja oft vor, dass sie eine Totgeburt hätten oder das Kind

kurz nach der Geburt sterben würde.“ Man empfiehlt ihr, bis zur Geburt des Kindes in ein Obdachlosenasyl zu ziehen. Dass sie weder dort noch auf der Straße ge-landet ist, verdankt sie ihrem großen Bekannten- und Freundeskreis. Schon in den Tagen zuvor verteilt und „verschleppt“ sie ihre persönlichen Sachen bei ihren Freunden. „Meine vier Wochen Obdachlosigkeit habe ich gut über die Runden gebracht, weil ich einen größeren Bekanntenkreis hatte und ich bei einem Ehepaar auf der Couch geschlafen habe.“

Über ihren Bekanntenkreis kommt sie schließ-lich auch wieder an eine neue Wohnung in Kreuzberg. Freunde vermitteln sie an einen befreundeten Vermie-ter, der ihr eine Zweizimmerwohnung anbietet. „Aber“, meint Regine Sabmann, „das ging nur deswegen, weil ich Freunde hatte, was vielen Leuten ja heutzutage nicht mehr gelingt.“ Nach zehn Jahren Beziehung trennt sie sich schließlich von ihrem Lebensgefährten und lebt seitdem alleinerziehend mit ihrem Sohn zusammen. Sie leben von Arbeitslosenhilfe. „Mein Leben fand immer am Rande der Gesellschaft statt, mit der Nase nah am Abgrund“, sagt sie.

* Name von der Redaktion geändert.

Laura FrickeBerlin, 25 Jahre

Ist Fremdsprachenkorresponden-tin und wollte früher Schriftstel-lerin werden.

„MEIN LEBEN FAND IMMER AM RANDE DER

GESELLSCHAFT STATT.“

IM GESPRÄCH

Gerald Denkler arbeitet seit 13 Jahren für den Verein mob als Verkäuferkoordinator. Als Streetworker betreut er die Verkäufer der Obdachlosenzeitung „strassenfeger“, begleitet Wohnungslose auf Behördengänge und besucht Leute im Gefängnis.

Was bedeutet der Verkauf des Magazins „strassen-feger“ für die Obdachlosen? Die Obdachlosen in der Hauptstadt können, indem sie ihr eigenes Magazin verkaufen, auf ehrliche Art und Weise Geld verdienen. Für sie ist der Verkauf des Magazins außerdem ein Stück Therapie. Sie bekommen einen Tagesplan, den sie sonst nicht hätten. Die Autoren der Artikel können durch das Schreiben schwierige Erlebnisse aufarbeiten.

Wie akquirieren Sie Obdachlose als Verkäufer? Am Anfang bin ich zu den Leuten hingegangen, mittlerweile kommen sehr viele zu mir. Wir sprechen dann regelmäßig miteinander, beispielsweise, wenn jemand ein negatives Verkaufserlebnis hatte.

Welches Klischee würden Sie gerne widerlegen, die es im Zusammenhang mit Obdachlosigkeit gibt?Es gibt das Klischee, dass alle Obdachlosen stinken, dumm und faul sind. Das ist falsch. Es ist nicht einmal ein halbes Prozent der Obdachlosen, die sich nicht pflegen und nicht waschen. Das sind auch die, an die wir nicht mehr rankommen und die sich psychisch aufgegeben haben.

Wie lässt sich Ihrer Meinung nach das Leben für Obdachlose verbessern?In erster Linie bräuchten wir mehr Sozialarbeiter, die auch selber von der Straße kommen und aufsuchende und be-gleitende Sozialarbeit machen können. Wir haben einfach zu wenig Kapazitäten. Es fehlen sicher 80 bis 90 Prozent Sozialarbeiter, um die Menschen aufzufangen.

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Foto: Martin Knorr

WER KEINE WOHNUNG HAT, BRAUCHT AUCH KEINEN SCHLÜSSEL.

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DAS BÜRO ALS ZWEITES ZUHAUSE IN DEUTSCHLAND LEBEN ETWA 3,4 MILLIONEN ARBEITSLOSE – EIN GESELLSCHAFTLICHER MAKEL. DER MENSCH BRAUCHT EINEN JOB, SAGT DER ARBEITSPSYCHOLOGE ERNST HOFF. EIN GESPRÄCH ÜBER SINN UND ANSEHEN VON TÄTIGKEITEN. VON BABALON SCHOLL

Professor Hoff, warum arbeiten Sie?„Ich arbeite, weil ich eine Familie habe. Meine Kinder sind nun außer Haus, trotzdem dient meine Arbeit der Existenzsicherung. Aber das ist nicht der wichtigste Grund. Meine Arbeit macht mir großen Spaß und schafft Zufriedenheit. Vor allen anderen Dingen finde ich die Themen, über die ich referiere, sehr wichtig.“

Betrachten Sie Ihren gewählten Beruf eigentlich als Berufung?„Ursprünglich wollte ich einen anderen Weg einschlagen, wollte Psychologe im pädagogischen Bereich werden. Aber als ich dann Assistent an der Universität Göttingen war und anschließend Wissenschaftler am Max-Planck-Institut, habe ich mich entschlossen, die Professoren-Laufbahn einzuschlagen. Die Arbeit in diesen Bereichen hat mir immer viel Spaß gemacht. Seit der Einführung des Bachelors ist man aber mehr Zwängen ausgesetzt und man kann seine Themen nicht mehr so frei wäh-len wie bei den Diplomstudiengängen. Heute ist es für Professoren sehr wichtig geworden, viele Publikationen national wie international zu veröffentlichen und man unterliegt einer stärker gewordenen Konkurrenz und Marktzwängen.“

Haben die Arbeitnehmer heute noch die Freiheit, eigene Kreativität und Individualität in den Beruf ein-zubringen?„Je qualifizierter die Leute sind, desto eher erwartet man das von ihnen. Viele Arbeitgeber erwarten, dass man seine ganze Person in die Arbeit mit einbringt. So be-vorzugen Unternehmen autonom arbeitende Menschen mit einem akademischen Abschluss. Mehr als ein Drittel aller Erwerbstätigen kommt aus dem Hochschulbereich. Je höher die Bildung, desto stärker ist der Wunsch, seine eigenen Ideen und Vorstellungen in den Arbeitsalltag zu integrieren.

Akademiker arbeiten also in erster Linie nicht des Geldes wegen?

Selbstverständlich spielt in akademischen Profes-sionen auch das Geldverdienen eine Rolle. Aber es ist deutlich erkennbar, dass alle Hochschulabsolventen nach individueller Befriedigung in ihrer kommenden Ar-beit suchen und nach Selbstverwirklichung streben. Je privilegierter ein Beschäftigter in seiner Arbeit ist, desto weniger gibt es eine Trennung zwischen Freizeit und Ar-beit. Auch für abhängig Beschäftigte ist Autonomie und Selbstverantwortlichkeit ein wichtiger Faktor im Beschäf-tigungsverhältnis. Jedoch sind Unterschiede, aufgrund vergangener Bildungschancen, deutlich erkennbar. So ist es gut möglich, dass Erwerbstätige mit einem niedrigen Abschluss nur den Wunsch haben, durch ihre Arbeit die eigene Existenz zu sichern.

Braucht der Mensch die Arbeit zum Leben?„Ein Mensch ohne irgendwelche Tätigkeiten kann keinen sinnerfüllten und gesellschaftlichen Zweck haben. Schau-en Sie doch, was Menschen tun, wenn sie nicht erwerbs-tätig sind. Es gibt jedoch auch ohne eine Erwerbstätig-keit jede Menge sinnvolle Beschäftigungen, die von den Menschen wahrgenommen werden, wie beispielsweise politisches Engagement oder ehrenamtliche Tätigkeiten. Zudem ist es in unserer heutigen Zeit gar nicht möglich, nicht zu arbeiten. Wir nehmen als Kunden schon sehr oft den Angestellten die Arbeit ab und arbeiten mit, indem wir beispielsweise unsere Überweisungen an Bankauto-maten selbst tätigen.“

Darf Prosititution als Arbeit gelten?„In diesem Falle sollte man die Prostitution von der Sex-Arbeit unterscheiden. Es existiert bereits eine Bewegung von Leuten, die behaupten, dass Prostitution autonom gemacht werden soll, da es auch eine sinnvolle Beschäf-tigung sei und Spaß mache. Also, warum sollte es nicht

Babalon SchollBerlin, 24 Jahre

Studiert in der Hauptstadt und will seit ihrer Kindheit Schrift-stellerin werden.

auch eine Arbeit sein? Da es wahrscheinlich viel Zwangs-prostitution gibt, ist diese Frage aber schwer zu beant-worten.

Auch ein Ein-Euro-Jobber leistet Arbeit. „Ja, die Tätigkeiten der Ein-Euro- Jobber sind sinn-

voll, aber es hat auch etwas Erniedrigendes und wird eher als eine Beschäftigungsmaßnahme angesehen. Die Entlohnung ist nicht vergleichbar mit einer anderen Ar-beit und müsste eigentlich in Relation zu dem investier-ten Engagement stehen.“

Die Technik im Arbeitssektor ist stark entwi-ckelt, gleichzeitig fehlen qualifizierte Arbeitskräfte. Sehen Sie da einen Zusammenhang?„Nein. Die neuen Technologien haben nicht nur Arbeits-plätze vernichtet, sondern durch sie haben auch wieder neue,w wichtige Umwandlungen stattgefunden. Es gibt immer mehr Tätigkeiten, die mehr Kopfarbeit als Hand-arbeit verlangen. Weil es immer mehr Arbeitsplätze an Computern gibt, muss man mehr denken: Die Arbeitneh-mer von heute brauchen Software-Kenntnisse und müs-sen mit neuen Medien arbeiten. Das setzt Fachwissen und abstraktes Denken voraus.“

AKADEMIKER VERMISCHEN BERUFLICHES MIT PRIVATEM, SAGT DER PROFESSOR FÜR ARBEITSPSYCHOLGIE ERNST HOFF (LINKS).

Foto: Martin Knorr

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NUR NICHT DEN KOPF VERLIEREN AUF DEM FREIEN MARKT BESTIMMEN ANGEBOT UND NACHFRAGE DEN PREIS. DOCH MIT DEM PREIS FÜR ARBEIT, DEM LOHN, IST ES NICHT SO EINFACH. VON LAURA BENNING

„Arbeiter sind keine Artischocken“, sagt der Ökonom und Nobelpreisträger Robert Solow und meint damit vor allem eines: Arbeiter sind keine einfachen Pro-dukte, deren Preis sich über bloße Kalku-lationen ergibt. Das Hin- und Herschieben von Angebots- und Nachfragekurve reicht also nicht. Arbeiter haben Stolz, Arbeiter müssen eine Familie ernähren, Arbeiter lassen sich nicht stimmlos handeln. Bei der Bestimmung der richtigen Entlohnung sind nicht nur ökonomische Faktoren zu beachten – gerechter Lohn ist schwierig.

Ein großes Wort, das in Lohnver-handlungen oft zu kurz kommt, ist Ge-rechtigkeit. „Gerechtigkeit und Lohn pas-sen nicht wirklich zueinander“, sagt Ulf Dietrich Posé, Präsident des Ethikverban-des der Deutschen Wirtschaft. Man kön-ne dem Einzelnen mit der Höhe seines Lohnes nie vollkommen gerecht werden, so Posé. Anders als die Artischocke ver-ändert der Arbeiter seine Leistung, wenn er sich ungerecht behandelt fühlt. Hält ein Arbeitnehmer sein Gehalt für zu niedrig, arbeitet er weniger, wird unproduktiv – dann steigert das Unternehmen vielleicht seinen Lohn, aber es ist nur die Not-bremse. Marktwert und der Nutzwert der Arbeit sind ausschlaggebend für die an-gemessene Entlohnung eines Menschen, Gerechtigkeitsaspekte sind sekundär.

ÖKONOMEN RATIONALISIEREN

DEN ARBEITSMARKT

Ökonomen haben eine beein- druckend klare Modellwelt geschaffen, in-dem sie einige mathematische Gleichun-gen kombiniert haben. Der Marktwert von Arbeit entsteht so durch das bloße, rein-rationale Zusammenwirken von An-gebot und Nachfrage. Dabei unterscheidet sich das gehandelte Gut Arbeit also nicht von Gütern wie Autos oder Brötchen. Stellt der Bäcker mehr her als nachgefragt wird und er verkaufen kann, muss er den Preis für seine Brötchen wohl oder übel senken, um nicht auf ihnen sitzen zu blei-ben. Das geht aber nur so lange, wie seine Brötchenproduktion noch finanziell leist-bar ist: so lange zumindest die variablen Kosten, die pro produziertem Brötchen entstehen, gedeckt sind.

Auf den Arbeitsmarkt übertragen be-deutet das: Gibt es zu viele Arbeiter, sin-ken die Löhne. Nur wer bereit ist, zu ei-nem geringen Lohn zu arbeiten, bekommt auch einen Job. Lediglich besonders gut ausgebildete Arbeitskräfte, die sogenann-tes Humankapital angehäuft haben, ha-ben eine Art Marktmacht, können also ih-ren Lohn aktiv mitbestimmen. Sie haben in Bildung investiert, die knapp ist, und können diese jetzt zu lukrativen Preisen anbieten. Ingenieure mit ausgeprägten Fremdsprachenkenntnissen und fachli-chem Spezialwissen beispielsweise wer-den gerne nachgefragt und können sich

auch hohe Lohnforderungen erlauben. In Deutschland ist Ananas bedeutend teurer als in Nicaragua – auch weil hier keine Ananas wächst.

WAS HAT DIE

FIRMA VOM ARBEITER?

Der Nutzwert der Arbeit orientiert sich am Gewinn, den ein Unternehmen durch die eingesetzte Menge Arbeit er-zielt. „Es ist ganz entscheidend, wie viel Wertschöpfung am Ende entsteht“, sagt Posé. „Ist das Produkt unverkäuflich, ist sein Wert gleich Null.“ Zwar könne man nicht pauschal sagen, dass ein Manager mehr leistet als eine Reinigungskraft. „Sein Beitrag zur betrieblichen Wert-schöpfung ist aber höher als der eines ungelernten Facharbeiters“, so Posé. Ein-kommensunterschiede zwischen den bei-den Berufsgruppen seien also ökonomisch angemessen, würden aber von vielen als ungerecht empfunden. „Viele meinen, den körperlich belastenden Arbeitsanfor-derungen im Vergleich zur reinen Kopf-arbeit des Spitzenmanagers werde nicht ausreichend Rechnung getragen.“

IST LEISTUNG

WIRKLICH DER MASSSTAB?

Die Suche nach der sogenann-ten Leistungsgerechtigkeit gestaltet sich schwierig. Dabei stehen Quantität und Qualität des Arbeitsergebnisses im Vor-dergrund. Wer Leistung bringt, körper-liche oder geistige, soll belohnt werden – allerdings liegt die Entlohnung im Er-messen der Arbeitgeber. Ein objektiv ge-rechter Lohn lässt sich schwer finden, weil objektive Gerechtigkeit schwierig ist. Selbst wenn intensiv nach „Ersatzgerech-tigkeiten“ gesucht wird.

Eine der Ersatzgerechtigkeiten ist die sogenannte Anforderungsgerechtigkeit. Die Qualifikation der Arbeitskraft, Verant-wortungsgrad und Schwierigkeit der Ar-beit beeinflussen die Anforderungen der einzelnen Stelle.

LÖHNE SOLLTEN

FLEXIBEL SEIN

Wichtig außerdem: die Lebenssitua-tion, in der der Arbeitnehmer sich befin-det. Die Lohnbemessung orientiert sich in einigen Fällen zum Beispiel auch an Alter und Familienstand. Und wer mit seinem Job nicht genug verdient, dem werden freiwillige und gesetzliche Sozialleistun-gen gewährt. Für den Präsidenten des Ethikverbandes der Deutschen Wirtschaft sind diese Gerechtigkeitskriterien weniger wichtig. Posé: „Sie lassen sich nicht ob-jektiv messen. Der Markt- und Nutzwert eben schon.“ Sein Vorschlag deshalb: „Es muss eine höhere Transparenz herrschen, indem man die angemessene Höhe der Entlohnung nicht abstrakt an der „Leis-

tung“ des Menschen festmacht, sondern sie durch den Marktwert und den Beitrag zur betrieblichen Wertschöpfung defi-niert.“

Der Begriff der Gerechtigkeit müs-se kritisch überprüft werden, auch den Staat sieht er in der Pflicht: „Man muss in die Fähigkeiten der Menschen investie-ren, Bildung ist ein wichtiges Thema. Es

wird in Zukunft immer weniger Arbeit für Geringqualifizierte geben, also muss eine Höherqualifizierung der Menschen statt-finden, um deren Markt- und Nutzwert für den Arbeitsmarkt zu steigern.“ Blei-ben wird das Problem des „ungerechten Lohns“ in seinen Augen jedoch, das liege in der Natur der Sache. Was gerecht ist und was nicht, entscheidet eben jeder für sich selbst.

ARBEITER, NICHT ARTISCHOCKE: MENSCHEN SIND KEINE WAREN.

Foto: Martin Knorr

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Vor dem Jobcenter im Berliner Bezirk Neukölln stehen drei große Briefkästen. Es gibt viel Post für das Jobcenter, und noch viel mehr zu tun. Leute werfen ihre Anträge ein und gehen wieder. Neben dem Briefkasten sitzt ein Mann, offensichtlich ist er betrunken. Er be-schimpft die Vorbeigehenden als „behindert“. Neben ihm sitzt ein Mann vom Sicherheitsdienst und raucht. Der Si-cherheitsdienst ist in allen Stockwerken des Jobcenters vertreten, fragt drängelnd, ob er einem helfen könne und gibt keine Auskunft darüber, für wessen Sicherheit er ei-gentlich verantwortlich ist.

Das Jobcenter in Neukölln ist ein fünfstöckiger, an-onymer Bürostapel, in dem die Leute ein und aus gehen, den Blick auf ihre Unterlagen, einen Kinderwagen oder das Handy gerichtet. Ein Bienenstock mit vielen Bienen, die eher deprimiert als emsig wirken. Für viele ist der Gang zum Jobcenter schon viel zu alltäglich geworden. Die Arbeitslosigkeit ist hoch in Neukölln: Im März lag die Arbeitslosenquote bei 21,7 Prozent. Das sind fast 30.000 Menschen. Knapp ein Drittel von ihnen ist langzeitar-beitslos.

Wie sich die Arbeitssuchenden hier fühlen? „Be-schissen“, fasst Imam seine Situation zusammen. Er ist mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn im Jobcenter, sucht schon seit vier Monaten nach einer Arbeit. Vorher hat der 37-Jährige 21 Jahre lang einen Kiosk betrieben, den er sich nicht mehr leisten kann. Heute bekommt er Hartz IV. Ihn ärgert es, dass viele Leute denken, er hätte gar nicht gearbeitet, man könne ihn nicht mit Jugendli-chen in einen Topf werfen, die nie einen richtigen Job hatten. „Trotzdem sehe ich optimistisch in meine Zu-kunft“, sagt Imam – seine Frau fange bald wieder mit dem Arbeiten an. „Vielen Anderen geht es schließlich noch schlechter.“

Schlechter geht es zum Beispiel Roswitha Neu-mann, 55 Jahre alt. Die ehemalige Verkäuferin kann aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten, sagt sie. Neumann wartet nun schon seit fast sechs Monaten auf einen Bescheid, um in Frührente gehen zu können. „Die Zeiten werden nicht besser, nur verrückter“, urteilt sie. Sorgen mache sie sich vor allem um ihre jüngste Tochter. „Was soll die machen, wenn sie mit ihrer Ausbildung fertig ist? Sich arbeitslos melden, was sonst.“

Nur 15 Minuten Fußweg vom Jobcenter entfernt liegt der „Job-Point“: ein Ort des Optimismus. Hier steht in jeder Ecke mindestens eine Topfpflanze, es herrscht eine farblich abgestimmte Wohlfühlatmosphäre. Blüm-chen und Dekofiguren sollen alle Ängste mildern, die man vor der Arbeitssuche haben könnte.

IM „JOB-POINT“ IST ALLES UNVERBINDLICH,

SELBSTMANAGMENT HEISST DAS KONZEPT

„Wir sagen den Leuten: Sie schaffen das!“, erklärt Ingrid Steinhagen, Projektleiterin des seit 2002 existie-renden Ladenlokals. Der „Job-Point“ wird vom Jobcenter Neukölln und vom Land Berlin finanziert. Das Konzept kommt aus Dänemark, von der „Job Boutique“ – ge-öffnet auch am Samstag und mit ausgehängter Ware. Jobangebote an allen Wänden. Vom Wirtschaftsingeni-eur bis zum Müllfahrer. Wer will, darf sich Passendes aussuchen und kostenlos kopieren, auf den Arbeitgeber zugehen muss man selbst. Durchschnittlich sechs Wo-chen lang hängen die Angebote hier und stehen auf der „Job-Point“-Website, bevor sie vergeben sind.

Hier ist alles unverbindlich, Selbstmanagement heißt das Konzept. Angebote werden auch ins Internet gestellt. Man kann sich beraten lassen, muss man aber

nicht. Ein Angebot, das auch immer mehr Akademiker wahrnähmen, sagt Steinhagen. Arbeitslosigkeit mache nicht Halt vor einzelnen Gesellschaftsgruppen. „Darüber hinaus kommen auch immer mehr Menschen zu uns, die ,einfach nur mal gucken‘ wollen und keinen bestimmten Job im Auge haben.“

In Neukölln gibt es viele Menschen, die den Bedarf an Arbeitsbörsen erkannt haben. In der Schudomastraße liegt das „Schreibbüro“. Dort kann man sich kostenlos helfen lassen, zum Beispiel beim Ausfüllen eines Hartz-IV-Antrags, bei einer Bewerbung oder beim Kindergeld. Zwei Tische stehen in dem kleinen Raum, zwei Com-puter. Die Mitarbeiter sprechen Polnisch, Türkisch, Ara-bisch und Russisch. Jeden Tag kommen zwischen fünf und zehn Kunden, erzählt ein Mitarbeiter des seit einem Jahr existierenden Büros.

Er hilft den Kunden, damit ihre Anträge auch wirk-lich gelesen werden und nicht auf halbem Wege verloren gehen. Vom Schreibbüro gehen sie zu den Briefkästen am Jobcenter, wo der pöbelnde Mann sitzt. Die Leute gehen ein uns aus, und hoffen auf eine neue Chance.

MIT DEM RÜCKEN ZUR WAND IN BERLIN-NEUKÖLLN IST ARBEITSLOSIGKEIT ALLGEGENWÄRTIG. BEHÖRDEN, LADENLOKALE UND BERATUNGSBÜROS VERSUCHEN TÄGLICH, DEN MENSCHEN AN DEN JOB ZU BRINGEN.VON NORA LASSAHN

Nora LassahnBerlin, 22 Jahre

Studiert Literaturwissenschaft und wollte früher als Lokomo-tivführerin ihr Geld verdienen.

„WIE DIE SITUATION DER ARBEITSSUCHENDEN IST?

BESCHISSEN!“

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Foto: Martin Knorr

IM „JOB-POINT“ IN NEUKÖLLN HÄNGT DIE HOFFNUNG DURCHSCHNITTLICH SECHS WOCHEN LANG AN DER WAND.

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\\ 22Foto: Danilo Bretschneider

FRISCH, FRUCHTIG, SELBSTGEPRESST

Als Veranstaltungszeitung, Maga-zin, Onlinedienst und Radioprogramm erreicht das Mediennetzwerk politik-orange seine jungen Hörer und Leser. Krieg, Fortschritt, Kongresse, Partei- und Jugendmedientage – politikorange berichtet jung und frech zu Schwer-punkten und Veranstaltungen. Junge Autoren zeigen die große und die kleine Politik aus einer frischen, fruchtigen, anderen Perspektive.

POLITIKORANGE – DAS MULTIMEDIUM

politikorange wurde 2002 als Ver-anstaltungsmagazin ins Leben gerufen. Seit den Politiktagen gehören Kongres-se, Festivals und Jugendmedienevents zum Print- und Online-Programm. 2004 erschienen die ersten Themenmagazi-ne: staeffi* und ortschritt*. Während der Jugendmedientage 2005 in Ham-burg wurden erstmals Infos rund um die Veranstaltung live im Radio ausge-strahlt und eine 60-minütige Sendung produziert.

WIE KOMM’ ICH DA RAN?

Gedruckte Ausgaben werden direkt auf Veranstaltungen, über die Landesverbände der Jugendpresse Deutschland und als Beilagen in Ta-geszeitungen verteilt. Radiosendungen strahlen wir mit wechselnden Sende-partnern aus. Auf www.politikorange.de berichten wir live von Kongressen und Großveranstaltungen. Dort stehen bereits über 50 politikorange-Ausgaben und unsere Radiosendungen im Archiv zum Download bereit.

WARUM EIGENTLICH POLITIKORANGE?

In einer Gesellschaft, in der oft über das fehlende Engagement von Ju-gendlichen diskutiert wird, begeistern wir für eigenständiges Denken und Handeln. politikorange informiert über das Engagement anderer und motiviert zur Eigeninitiative. Und politikorange selbst ist Engagement – denn politiko-range ist frisch, fruchtig und selbstge-presst.

WER MACHT POLITIKORANGE?

Junge Journalisten – sie recher-chieren, berichten und kommentieren. Wer neugierig und engagiert in Rich-tung Journalismus gehen will, dem stehen hier alle Türen offen. Genauso willkommen sind begeisterte Knipser und kreative Köpfe fürs Layout. Den Rahmen für Organisation und Vertrieb stellt die Jugendpresse Deutschland. Ständig wechselnde Redaktionsteams sorgen dafür, dass politikorange immer frisch und fruchtig bleibt. Viele erfah-rene Jungjournalisten der Jugendpresse stehen mit Rat und Tat zur Seite.

Wer heiß auf‘s Schreiben, Foto-grafieren oder Mitschneiden ist, fin-det Informationen zum Mitmachen und zu aktuellen Veranstaltungen im Internet unter der Adresse www.politikorange.de oder schreibt an [email protected]. Die fri-schesten Mitmachmöglichkeiten landen dann direkt in Deinem Postfach.

IMPRESSUM

Diese Ausgabe von politikorange entstand auf dem 19. Bundeskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes, der vom 15. bis 20. Mai 2010 in Berlin statt fand.

Herausgeber und Redaktion: politikorange – Netzwerk Demokratieoffensive, c/o Jugend-presse Deutschland e.V., Wöhlertstraße 18, 10115 Berlin, www.politikorange.deChefredaktion (V.i.S.d.P.): Barbara Engels ([email protected]), Nils Glück ([email protected])Redaktion: Laura Benning, Mirjam Eiswirth, Jil Blume, Nora Lassahn, Esther Sczesny, Ba-balon Scholl, Ann Eichelbaum, Laura Fricke, Nicole Krenz, Andreas WeilandBildredaktion: Martin Knorr (www.martin knorr.de), Danilo Bretschneider [email protected], Jonas Fischer (www.jonas-fischer.com)Layout: Sebastian Wenzel (www.sebastian wenzel.de)Projektleitung: Sebastian Serafin ([email protected])Druck: Henke Pressedruck GmbH & Co. KG, Plauener Straße 160, 13053 Berlin

Besonderer Dank an Sigrid Wolff (ermöglichte dieses Projekt) und die Unterstützung durch den Deutschen Gewerkschaftsbund.

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GEFÄHRDETEGLEICHSTELLUNG FRAUEN VERDIENEN IN DEUTSCHLAND WENIGER ALS GLEICHQUALIFZIERTE MÄNNER. SELBST SCHULD, MEINEN MÄNNERGLEICHSTELLUNGSINITIATIVEN. VON JIL BLUME

Eine Frau an der Staatsspitze, Trage-tuch-Papas auf dem Spielplatz, gesetzliche Regelungen für bezahlte Elternzeit. Die Frage, ob wir den Kampf um die Gleich-berechtigung der Frau noch brauchen, muss erlaubt sein. Für die Mitglieder des Vereines MANNdat ist die Antwort klar: Brauchen wir nicht. Sie wollen widerle-gen, dass Frauen in gleichen Positionen immer noch weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen. Sie halten die Dis-kriminierung der Frau am Arbeitsplatz für ein Gerücht und glauben, dass Frau-en sich die schlechter bezahlten Stellen selbst aussuchen.

Jenny Huschke arbeitet beim DGB als politische Referentin für Gleichstellungs- und Frauenpolitik und setzt sich für den Teil der Bevölkerung ein, der gleichzeitig Kinder und Karriere machen will. Für die 34-Jährige ist Frauengleichstellung im-mer noch dringend und hochaktuell. „In Deutschland verdienen Frauen nachweis-lich durchschnittlich 23 Prozent weniger als die Männer”, meint Huschke. Laut EU-Statistik liegt der Lohnunterschied euro-paweit bei durchschnittlich 17,4 Prozent. Deutschland schneidet damit besonders schlecht ab – nur Frauen in den Nieder-landen, Österreich, in der Tschechischen Republik und in Estland bekommen noch weniger Geld vom Arbeitgeber.

FRAUEN WOLLEN

GAR KEINE KARRIERE MACHEN

Das Statistische Bundesamt hat her-ausgefunden, dass Frauen besonders un-gerecht bei der Jobvergabe in den Chef-etagen behandelt werden. 2004 waren nur 33 Prozent aller Führungskrafte weiblich. MANNdat hat dafür eine einfache Erklä-rung: Die Frauen entscheiden sich schon bei der Studienwahl gegen eine Karriere. Wer kein Studium im Wirtschaftszweig aufnehme, dürfe sich nicht wundern, wenn er nicht auf den Chefsesseln der großen Konzerne lande. Und nur, weil Männer die weniger spaßigen und erfül-lenden, aber dafür um so karriereträchti-geren Fächer wie Elektrotechnik, Maschi-nenbau und Informatik belegten, könnten es sich Frauen zu mehr als 70 Prozent leisten, Fächer wie Germanistik und Päd-agogik zu studieren.

In den Universitäts-Hörsälen der Germanistik riecht es also deswegen im-mer so gut nach Guccis Flora, weil die richtig schweißtreibende Arbeit woanders gemacht wird. Da können die Frauen ja richtig froh sein, dass es Männer gibt, oder, Frau Huschke? „Diese Bewegung hat Recht, wenn sie sagt, dass Frauen traditionell stärker in geistes- oder gesell-schaftswissenschaftlichen Studiengängen vertreten sind.” Trotzdem gilt: „Auch dort finden wir sie seltener in Führungspositi-onen, und auch dort kriegen Männer die Doktoranden- und Professorenstellen.”

Jenny Huschke findet Vorwürfe wie den der falschen Studienrichtung „kon-struiert”. „In den 70er Jahren lag die Be-gründung für die Gehaltslücke zwischen Männern und Frauen angeblich darin, dass die Frauen schlechter ausgebildet waren als Männer. Heute haben sie in der Bildung aufgeholt, kriegen aber im-mer noch weniger Geld. Also heißt es jetzt, sie treffen die falsche Berufswahl.” Außerdem seien Männer nicht eher für Führungspositionen qualifiziert. „Keine Sau fragt doch danach, ob Männer, die in Vorständen sind, wirklich qualifiziert sind. Nur Frauen müssen ihre Kompeten-zen erst beweisen.”

ERFOLG IST

LEBENSGEFÄHRLICH

Womöglich profitieren die Frauen aber sogar von der Tatsache, seltener Kar-riere machen zu können, Erfolg sei näm-lich sehr gefährlich, warnt MANNdat. „Psychologinnen und Ärztinnen bringen sich dreimal so häufig ums Leben wie tra-ditionell lebende Frauen, da sie mit den-selben inneren Konflikten wie viele Män-ner leben müssen: Isolation, Einsamkeit, ein ständiges Hin- und Hergerissensein zwischen beruflichem Ehrgeiz und per-sönlichen Bedürfnissen.” Zu viel für eine Frau. Lieber das erhöhte Herzinfarktrisiko dem Mann überlassen.

Das wollen die meisten Frauen aber nicht. Sie sind genauso ehrgeizig wie ihre männlichen Konkurrenten. Dass sie trotz-dem viel seltener in Führungspositionen arbeiten, liege an ihrer Benachteiligung in den Firmen selbst, meint Huschke. „Die Entscheidung darüber, wer befördert wird, fällt zugunsten derer, die besonders viele Überstunden leisten. Mütter werden so automatisch ausgeschlossen.”

Sobald Frauen auf der Karriereleiter Windeln wechseln wollen, brechen sie sich beruflich das Genick – auch heute noch, besonders in Deutschland.

„GESCHLECHTERSTEREOTYPE

SIND DIE HARTNÄCKIGSTEN”

Jenny Huschke sieht ihre Aufgabe deshalb vor allem darin, die Politik dazu zu bringen, berufstätige Eltern zu unter-stützen. „Wir fordern eine bessere Betreu-ung für Kinder und Jugendliche. Im Mo-ment gibt es für nicht mal ein Drittel der Unter-Dreijährigen Betreuungsplätze und zu wenige Ganztagsschulen.” Huschke findet, es solle mehr familienfreundliche Betriebe geben. Manche Unternehmen böten ihren Mitarbeitern beispielsweise an, teilweise zu Hause zu arbeiten.

Dass Vereine wie MANNdat nicht müde werden, die Schuld für die Benach-teiligung der Frau am Arbeitsplatz bei der Frau selbst zu suchen, macht Jenny

Foto: Martin Knorr

Huschkes Arbeit nicht leichter. „Solche Vereine sind sehr präsent in Deutschland. Sie halten leider eingefahrene und längst überholte Denkmuster in der Gesellschaft am Leben.” Geschlechterspezifische und fremdenfeindliche Stereotype seien die hartnäckigsten davon. Huschke schüt-telt verständnislos ihren Kopf. Sie sagt: „Selbst, wenn man Faktoren abzieht, die eine ungleiche Bezahlung rechtfertigen könnten, wie Alter oder Familienstand, bleibt immer noch ein durchschnittlicher Lohnunterschied zu Männern in der glei-chen Position von zehn Prozent, der nur durch das Geschlecht bedingt ist.“

Jil Blume Köln, 20 Jahre

Studiert Germanistik und wollte früher Schriftstellerin werden.

IN DEUTSCHLAND TOBT EIN KAMPF DER GESCHLECHTER.

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DIE FAULHEIT DAS SCHÖNSTE AN DER ARBEIT SIND DIE PAUSEN. DAS WUSSTEN SCHON DIE GROSSEN DICHTER UND DENKER. EIN VERTRETER WAR SOGAR SO BEGEISTERT, DASS ER AN SEINEM SCHREIBTISCH DEM NICHTSTUN IN ZWEI STROPHEN HULDIGTE. VON GOTTHOLD EPHRAIM LESSING

Fleiß und Arbeit lob‘ ich nicht.Fleiß und Arbeit lob‘ ein Bauer.Ja, der Bauer selber spricht,Fleiß und Arbeit wird ihm sauer.Faul zu sehn, sei meine Pflicht;Diese Pflicht ermüdet nicht.

Bruder, lass das Buch voll Staub.Willst du länger mit ihm wachen?Morgen bist du selber Staub!Lass uns faul in allen Sachen,Nur nicht faul zu Lieb‘ und Wein,Nur nicht faul zur Faulheit sein.

Foto: paperback/fotolia.com