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2. EXKURS:

DIE STADT IM ISLAM

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DIE STADT IM ISLAM

Viele Untersuchungen zum Thema Stadt im Islam waren vonAnfang an mit Verallgemeinerungen, Vereinfachungen undIrrtümern behaftet. Orientalisten, Islamisten, Kunst- undArchitekturhistoriker sowie neuerdings auch Geographen,Architekten und Stadtplaner haben sich mit denunterschiedlichsten Aspekten der Städte in Nordafrika, alAndalus, im Nahen Osten, in Zentralasien, in Persien undhindoislamischen Regionen befasst. Dabei wurde nicht nur dasWesen, sondern sogar die Definition der “islamischen” Stadt inFrage gestellt.

Das Verdienst, den zunächst auf die architektonischenMonumente verengten Blick auf das Stadtgefüge als ganzesgelenkt zu haben, kommt den Brüdern William und Georges

Marçaise zu. Anhand einer Serie von Studien übernordafrikanische Städte definierten sie die islamische Stadt alseine Siedlungsform, die von einem wiederkehrenden Kanonbestimmter funktioneller Elemente wie die Hauptmoschee, derSuq (Bazar), der Hamam (öffentliche Bäder) und der Qadi (dasGericht) geprägt wird (Marçaise 1928; 1945; 1957). Die urbaneForm wurde einerseits durch das Bedürfnis nach Schutz(Zitadelle, Stadtmauern, Stadttore oder Bab) geprägt undandererseits durch die religiösen Bedürfnisse ihrer Einwohner.

Für William Marçaise ist die Stadt der Höhepunkt dermuslimischen Kultur schlechthin, da “ein Muslim nur in einerislamischen Stadt ein religiöses Leben führen kann” (Marçaise1928, S. 86-100), wie es der Prophet und die Regeln des Hadith

vorschreiben. Dieses Konzept ist aber grundlegend falsch. FürMohamed war weder der Ort noch die Architektur vonBedeutung für die Verbindung zwischen Gott und demGläubigen. Auch die starke Immigration der vergangenenJahrzehnte von Moslems nach Europa zeigt, wie falsch diesesfrühe Konzept der religiösen Exklusivität der Stadt war.

Georges Marçaise beschrieb die muslimische Stadt als “Stadtdes Glaubens” (Marçaise 1945, S. 524). Dieses Konzept, dasmindestens zwei Generationen von Wissenschaftlern des 20.Jahrhunderts prägte, kritisiert Wirth (1991) als in erster Linieeine „Aussage über den Islam denn als eine über die Stadt“ (S.50-92). Unter der Prämisse von Marçaise wäre der Islam alsReligion ohne Städte gar nicht vorstellbar. Obwohl dieGründung, Eroberung und Aneignung von Städten in derFrühzeit des neuen Glaubens von grundlegender Bedeutungwar, wäre es falsch, die muslimische Mentalität als städtisch zubezeichnen. Die arabische Kultur, die den Islam in seinerGründungszeit verbreitete, war ganz im Gegenteil vonTraditionen des Nomadenlebens und des Stammesdenkensbeeinflusst.

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Eine weitere Verallgemeinerung hinsichtlich moslemischerStädte stellt die Aussage dar, es mangele ihnen an einerStadtplanung und ihr Gefüge als Ganzes sei irrational, wie diesetwa Gustave E. von Grunebaum und Robert Brunschvig

äußerten. Grunebaum (1955), der die moslemische mit derhellenistischen Stadt verglich, behauptete, die erste tendieredazu, den orthogonalen Entwurf des klassischen Ideals zuzersetzen. Es ist aber bewiesen, dass die Zersetzungen desrigiden griechisch-römischen Stadtgrundrisses schon vor dermuslimischen Eroberung, das heisst in byzanthinischen Zeitenstattfanden (Wirth 2000, S. 34-35).

Brunschvig (1947) war ein Pionier auf dem Gebiet derErforschung des moslemischen Rechts in Bezug auf die Stadtund stellte die These auf, die Stadtstruktur sei ein Resultatreligiös bestimmter Rechtstraditionen. Ausgangspunkt seinerÜberlegungen waren zunächst sozio-politische Tatsachen: dasFehlen einer Planungsbehörde oder Bauaufsicht, die Ordnungin das städtische Chaos hätte bringen können, die Abwesenheitvon Demokratie, das isolierte Dasein der einzelnen Clans unddie kaum vorhandene Koordination zwischen den Stadtteilen.Dies seien die eigentlichen Gründe für die typisch verworrene,unübersichtliche und chaotische Struktur der moslemischenStadt, die keine Plätze oder öffentliche Räume von Bedeutungaufwiesen und deren Häuser keine Fassade besäßen.

Diese Vereinfachungen, die die Stadt im Islam als “einLabyrinth ohne Anfang und Ende” beschrieben, basierten aufnur einigen wenigen, regionalen Beispielen. Eine Reihefranzösischer Orientalisten formulierte Anfang der fünfzigerJahre die Behauptung, im Mittelmeerraum habe es von derAntike bis zum Beginn der industriellen Revolution tatsächlichimmer nur eine einheitliche urbane Tradition gegeben. Claude

Cahen (1979) behauptete, die Stadt im Islam habe sich bis zum11. Jahrhundert nicht grundsätzlich von den Städten derklassischen Antike unterschieden. Der Islam habe als Religionkeinen unmittelbaren Einfluss auf die Stadtstruktur gehabt,sondern sich nur durch die Mäßigung des öffentlichen Lebensbemerkbar gemacht. Seiner Auffassung nach entbehrt dieBezeichnung “islamische Stadt” jeder Grundlage und es wärekorrekter, in einem universellen Sinne von einem Dar al Islam

(Welt des Friedens) ohne eine städtebauliche Implikation zusprechen.

Der französische Geograf Xavier de Planhol (1968, 1959)kritisierte das Fehlen eines urbanen Bewusstseins in dermoslemischen Stadt und die Unfähigkeit der moslemischenGesellschaft, eine kohärente materielle und soziale Struktur zubilden. Dies sei Folge des noch immer andauernden Einflussesder Nomadenzeit, der die Gesellschaft in einen Zustandfortgesetzten Ringens und Überwindens versetze, eineGesellschaft aus einem Stück so zusagen.Die Stadt wäredannach Ort und Raumgefüge sesshaft gewordenerNomadenstämme.

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Erst ab den sechziger Jahren erhielt die Diskussion über dieStadt im Islam durch eine Serie von Fach-Kongressen neueImpulse. 1965 enthüllte Albert Hourani (1979) in Oxford, dasssich Marçaise nur auf nordafrikanische Beispiele gestützt hatteund alle Teilnehmer waren sich einig, dass es unmöglich sei,allgemein gültige Aussagen an Hand nur eines einzigenBeispiels zu treffen. Vielmehr sei die Stadt ein komplexesPhänomen in Abhängigkeit von ihrer Lage und ihrenverschiedenen Zuständen im Wandel der Zeiten. Die folgendenKolloquien in Berkeley 1966, Princeton 1970 und Cambridge1976 scheinen keine entscheidenden Erkenntnisse für einbesseres Verständnis der moslemischen Stadt gebracht zuhaben, sondern waren von theoretischen Diskussionen über diehergebrachten Konzepte geprägt.

Bei der Karthago-Konferenz 1979 griff Dominique Chevallier

(1979, S. 541-554) die Gedanken der Brüder Marçaise wiederauf, dass die islamische Stadt als historisches Gefüge nurinnerhalb einer moslemischen Gesellschaft entstehen konnte.Für ihn ist die Stadt des Islam der räumliche Ausdruck desprivaten Lebens in der moslemischen Gesellschaft, geprägt voneinem an Einheit, Universalität und Transzendenz orientiertenIslam.

Hakim Besim Selim (1979, 1986, 1996) untersuchte dieislamische Stadt im Kontext der arabischen Kultur Nordafrikasseit 1975. Er ist überzeugt, dass jede Aussage undUntersuchung zu diesem Thema auf mindestens drei Aspekteeingehen muss: die Architektur sowie die Mikro- und die Makro-Urbanität. Der erste Aspekt umfasst Studien von einzelnenGebäuden, die Orientalisten, Islamisten und Kunsthistorikerseit den Anfang des 20. Jahrhunderts in Angriff genommenhaben. Der zweite Punkt betrifft Architekten und Stadtplanerund der dritte Historiker und Geografen. Diese grundsätzlicheund auf den ersten Blick banale Unterteilung ist wichtig, um dieDiskrepanzen zwischen vielen Wissenschaftlern und das Fehleneine einheitlichen Darstellung des Themas zu verstehen.

In einem 1986 veröffentlichten Artikel schlägt Hakim eine Listevon stets zu beachtenden Leitgedanken vor. Es sei notwendig,das Konzept des Khitat (Chitat), die Markierungen und räumlichenwie soziologischen Unterteilungen bei der Gründung der erstenStädte des Islam, zu untersuchen. Dieses Thema wird in derangelsächsischen Literatur in der einen oder anderen Formerwähnt, aber leider so gut wie gar nicht in französischen oderdeutschen Abhandlungen. Es ist jedoch für das Raumkonzept imIslam von grundsätzlicher Bedeutung und wird in dervorliegenden Dissertation in einem eigenen Kapitel behandelt.Ein weiteres Thema, das auch Hakim bei seiner Aufzählungnicht erwähnt, ist die Orientierung gen Mekka. Dieser Aspekt,der nur beim Bau von Moscheen berücksichtigt werden muss,könnte von großer Bedeutung für die Stadtplanung gewesensein.

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Michael E. Bonine (1990) schrieb einen Artikel über dieAusrichtung der Moscheen in Marokko und ihre Beziehung zumStadtgewebe. Bonine stieß auf große Abweichungen gegenüberder “wahren” Orientierung gen Mekka, vor allem im Falle vonFes. Obwohl diese Orientierung gen Mekka wichtig für dieMoschee ist, scheint sie für den Rest der Stadtstruktur kaumvon Bedeutung zu sein.

Obwohl dies für die meisten moslemischen Städte gilt, erwähntWirth (2000) einige interessante Beispiele von Städten mitebenmäßigem Grundriss, der völlig Richtung Mekkaausgerichtet sind: zum Beispiel die ursprünglicheStadtgründung von Kairo al-Qahira in Ägypten (Abb. 109) undAqaba-Ayla in Jordanien (Abb. 110). In diesen Städten ist dieOrientierung keine Absicht, sondern Folge eines regelmäßigenStadtplans. Weil die Richtung für das Gebet in den Städtenaußerhalb der Moscheen nicht einfach festzustellen ist, stehenin vielen Hotels moslemischer Länder kleine Hinweisschilder,die den religiösen Gästen die Richtung des Gebets weisen.

Eine sehr interessante Arbeit über Stadt im Islam stammt vonSamir Abdulac (1984). Er unterschied bei den erstenStadtgründungen in der mesopotamischen Wüste (Kufa,Baghdad) und in Nordafrika (Fustat, al-Qahira, Kairuan,Mahdiya) zwischen denjenigen, die als Militärlager unddenjenigen, die als königliche Städte entstanden sind.In der Folge von Marçaise wiederholt Abdulac, dass der Islamvon Anfang an eine urbane Zivilisation gewesen sei.

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Abb. 109 Plan der frühislamische StadtKairo al-Qahira in Ägypten nach X. dePlanhol.

Abb. 110 Plan der Stadt Aqaba-Ayla in Jordanien,nach G. L. Peterman.

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Abdulac unterstreicht, dass der konfuse und chaotischeEindruck, den die Städte auf westliche Reisende macht, einenunterschiedlichen Begriff von Ordnung widerspiegelt (Abb. 111).Den moslemischen Baumeister war die Geometrie durchausgeläufig und wurde in der Dekoration und bei großenstädtebaulichen Projekten wie Anjar, Baghdad oder beim Maidan

in Isfahan durchaus beachtet.

Obwohl viele moslemische Städte nicht der von Marçaiseaufgestellten stereotypen Definition entsprechen, haben einigeAutoren das Thema einer anscheinend “chaotischen Struktur”als bestimmendes Element eines anderen Typs von Stadt inihren Untersuchungen wieder aufgenommen. Attilio Petruccioli

(1999) versuchte zu beweisen, dass mit neuen undausgefeilteren Methoden der Betrachtung die traditionellemoslemische Stadt auf keinem Fall “chaotisch” sei. Ganz imGegenteil erweise sich die zunächst unregelmäßigerscheinende Stadtstruktur bei genauerem Hinsehen als Teileiner ganz regelmäßigen Geometrie. Die Fragmente dieserOrdnung sind als Zeugen einer Phase früheren planmäßigenBauens auf die ganze Stadt verteilt und von heute von ihrverschluckt.

Petruccioli schlägt ein Verständnis der Stadt vor, das sehraktuell ist. Für ihn ist Ordnung „keine vergebliche Illusion“(Petruccioli 1999, S. 22). Wenn das urbane Gewebe konfuserscheint, habe das damit zu tun, dass wir nicht genugvorbereitet sind für eine komplexe Struktur. Für ihn gab es imvorindustriellen Islam nie eine „spontane“ Stadt. Die gestalteneLogik der Stadt war immer Folge politischer oder strategischerErwägungen, auch dann wenn der Gebrauch einesregelmäßigen urbanen Rasters absichtlich vermieden wurde.Die „kristaline“ Gestalt der Urstadt wurde nur in bildlichenDarstellungen respektiert. Bei der Entwicklung einer Stadt undihrem Wachsen im Laufe der Zeit ersetzt die Ausnahme bald dieRegel, wenn die denn überhaupt je existiert hat.

Anders al Petruccioli hatte Grunebaum (1955) vorgeschlagen,von zwei Typen früh-islamischer Städte auszugehen: die„spontanen“ und die „gegründeten“. Auch Jamel Akbar (1989)glaubt, dass es Städte gibt, die sich unabhängig von jederplanenden Hand entwickelt haben. Als Beispiele nennt er dieheiligen schiitischen Städte Kerbela im heutigen Irak undMaschad in Iran. Zwar habe es eine politische Entscheidung fürdie Gründung der Städte gegeben, aber die Anlage derStadtteile und der Bau der Häuser sei von den Bewohnernselbst festgelegt und ausgeführt worden. So lässt sich dietypische Mischung einer geplanten Makroebene und einerunregelmäßigen, spontanen Morphologie der geschlossenenWohnviertel auf der Mikro-Ebene erklären.

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Abb. 111 Die auf den ersten Blick «chaotische» Struktur der islamischen Stadt erweist sich bei genaueremHinsehen als Teil einer regelmäßigen Geometrie. Auf diesem Luftfoto eines Fragmentes von Marrakeschlassen sich die quadratische, an Licht und Schatten orientierten Höfe der Häuser erkennen. Die Straßenund Gassen bilden für Fremde ein urbanes Labyrinth, während sie für die Einwohner ein Schutz vertrauterWege sind.

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Eugen Wirth (1997, 1999, 2000) hingegen lehnt den Begriff der“islamischen Stadt” ab und schlägt statt dessen den vielumfassenderen Oberbegriff der “orientalischen Stadt” vor. Erargumentiert, dass die christlich-westliche und die islamisch-orientale Stadt von ähnlichen historischen Parametern geprägtwurden und sich deshalb nur graduell aber nicht grundsätzlichunterscheiden. In seinen Buch “Die orientalische Stadt” (2000)stellt der Geograf aus Erlangen die Existenz eines “einzigenTypus islamischer Stadt” in Frage, eine Problematik, die er infrüheren wissenschaftlichen Untersuchungen (1991) schonerwähnt hatte. Auf jeden Fall ist die Abhandlung von Wirth dasausführlichste Buch über die Stadt im Islam. In dervorliegenden Arbeit soll Wirths These von einer Stadt mitDominanz des Privaten aufgenommen.

Eine ganze Reihe von Wissenschaftlern hat entweder über einebestimmte Stadt, ein abgegrenztes Gebiet oder über beide, dannaber begrenzt auf einen bestimmten Zeitraum geforscht. Jean

Sauvaget (1941, 1949) und Mamoun Fansa/Heinz Gaube/Jens

Windelberg (Hrsg.) (2000) untersuchten die syrischen Städtevon Damaskus und Aleppo. Sauvaget veröffentlichte (1939) aucheinen Vortrag über Anjar, eine regelmäßig geformte Stadt imheutigen Libanon (Abb. 112), deren orthogonaler Grundriss aneine hellenistische Stadt erinnert, aber von den Omaijadengegründet worden sei soll (Chehab 1957, 1975 u. 1993; Sourdel-Tomine 1963; Grabar 1987). Nikita Elisseeff (1980) befasste sichebenfalls mit Damaskus, während Doris Behrens-Abousseif

(1989) die Geschichte der zwei Städte Fustat und al-Qahira, dasfrühe Kairo, untersucht hat, und Ira Lapidus (1984) schrieb überspätmittelalterliche Städte im Islam und deren urbaneGesellschaft.

Für die islamisch-persischen Städte sind die Werke von Heinz

Gaube (1979), Fredy Bémont (1969) und Masoud Kheirabadi

(1991) eine gute Quelle. Eine Kennerin der Architektur und desStädtebaus Mittelasiens ist Galina Pugatschenkowa (1967,1981). Ein Spezialist der islamisch-spanischen StädteAndalusiens war Leopoldo Torres Balbás (1942, 1945, 1947,1953, 1971). E. Lévy Provençal (1950, 1953) schrieb über dieStädte und urbanen Institutionen des islamischen Westens.Fernando Chueca y Goitía (1947, 1965, 1982, 1989, 1991),beschäftigte sich auch mit der moslemischen StadtgeschichteSpaniens und Nordafrikas. Obwohl seine Aufsätze oft recht kurzsind, stellen seine Arbeiten einen wichtigen Beitrag zumislamischen Raumverständnis dar. Der Hamburger ArchitektOskar Jürgens (1926), Pionier der Stadtgeschichte Spaniens,behandelte einige Städte islamischen Ursprungs auf deriberischen Halbinsel. In letzter Zeit veröffentlichte dieArchitekturfakultät der Universität von Madrid eine Arbeit vonAida Yousseif Hoteit (1993) in der sie einen Überblick über dieStadt im Islam gibt und sich besonders mit der Theorie des IbnChaldun befasst.

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Abb. 112 Die Omaijadenstadt Anjar im heutigen Libanon. Ein Beispielfrühislamischer Planung (um 715 n.Chr.) nach orthogonalem Plan, dessenVorbild eher im antik-römischen Militärlager liegt.

Von dem Schweizer Wissenschaftler Stefano Bianca (1991,2000) liegen zwei wichtige Bücher über islamische Architekturund Städtebau vor, die für die vorliegende Arbeit von grosserBedeutung sind. Am aktuellsten aber bleibt dennoch das Buchvon Eugen Wirth (2000), aus dessen Kapitel über “Privatheit alsprägende Dominante städtischen Lebens” vieleSchlussfolgerungen für vorliegende Arbeit von großer Bedeutungwaren. Für das weitere Studium der Stadt im Islam werden imvorliegenden Exkurs drei Aspekte vorgeschlagen, die bis jetzt inder Literatur über das Thema so noch nicht untersucht oder nurangerissen worden sind: Die “Nomadenstadt”, die“Stammesstadt” und die “private” Stadt.

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Abb. 113 Herat. Plan der Altstadt um 1870. Das Rechteck der Stadt wird durch ein Straßenkreuz ausBazarachsen in vier Teile geteilt. Die abgehenden Seiten- und Nebengassen, die in reine Wohnviertel führen,bewahren die Regelmäßigkeit der Hauptstraßen nicht. Der fast quadratische Mauerring und das zentraleAchsenkreuz dürften auf eine timuridische Stadtgründung zurückgehen.

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Auf seiner Reise 1797 durch die Steppen um Astrachan und inden Kaukasus fand der polnische Reisende Jan Potocki (1994)ein wahrhaft eindrucksvolles anthropologisches Mosaik vor: Aufeinem relativ kleinen Territorium zwischen dem Schwarzen unddem Kaspischen Meer lebten zahlreiche Nomadenunterschiedlicher Ethnien, die damals noch nicht vomrussischen Imperium und schon gar nicht von der westlich-europäischen Kultur beeinflusst waren. Noch vor gut 100 Jahrenführten die Völker der Kundur, Nogai, Buriaten, Kipschak,Kirgisen, Kalmüken, Tataren, Usbeken und Turkmenen, um nureinige zu erwähnen (Abb. 114-115), ein freies Nomadenleben,ähnlich dem der Uz aus den byzantinischen Überlieferungen,die Ghoz der Araber und die Torki der Kiew-Chroniken. Nochweiter entfernt im Osten, auf dem Chorasan, lag das für Potockinoch unerreichbare Kandahar, wo noch heute die Afghanenleben.

Dem adeligen Reisenden Graf Potocki fiel ein „wunderschönerPalast auf, den sich der kalmükische Prinz Tumen gerade bauenließ, der allem Anschein nach als erster seines Volkes desNomadenlebens etwas überdrüssig geworden war“ (S. 36).Immerhin habe der Prinz zumindest den Sommer aber „unterseinen Zelten“ verbracht. Potocki beschrieb die mobilenBehausungen dieser Wander-Völker so: „Ich verwende hier dasWort Zelt, obwohl es unpassend ist, und das Wort Kibitka, wie dieRussen es nennen, auch nicht ganz richtig ist. Die Araber lebenin Zelten, aber die Wohnstätten der Kalmüken sind ausBambus-Filz-Konstruktionen errichtet; sie lassen sichzusammenfalten und so auf Kamele verladen“ (S. 48). Dieseleichten Bauten nannten die Kalmüken nach PotockisBeschreibung Ghir oder Gher (Abb. 116). „Die der Tataren sindmehr oder weniger ähnlich, aber etwas kleiner und werdennicht zusammengefaltet: sie transportieren sie in einem Stückauf ihren Fuhrwerken. Die Tataren nennen sie Karatschu (S. 48).Estrabon hatte diese Zelte schon beschrieben und stellte fest,dass sie aus Filz waren und auf den Kutschen festgebundenwurden (Abb. 117).

Als Potocki am Kalmuk-Bazar, der Grenze zwischen sesshaftenVölkern und Nomadenstämmen, angekommen war, traf er amUfer der Wolga auf ein tatarisches Dorf, das wegen häufigerÜberschwemmungen immer wieder umsiedeln musste. DieLager der Tataren „stellen nur noch eine Erinnerung an dasfrühere Nomadenleben dar und dienen eigentlich nur noch alsAusflugsziel. Obwohl sie nicht weit weg vom eigentlichen Dorfentfernt gelegen sind, lassen die Tataren ihre Mullahs zu sichin diese Lager kommen. Die Mullahs lassen zu diesem Zwecktragbare Moscheen mitführen, die Hühnerkäfigen ähneln und indenen sie sehr komisch wirken” (S. 66).

DIE „NOMADENSTADT“

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Abb. 114 Schapzuge,Tschetschene, Imerer,Häuptling der Adhige mitTochter, Perser aus Baku(v.l.n.r). aus dem Buch vonAlexandre Dumas:Gefährliche Reise durch denwilden Kaukasus, 1858-1859.

Abb. 115 Bucharan, ChiwanTatar, Orenburg Tatar; T. dePauli, Descriptionethnographique des peuplesde la Russie, St. Petersburg,1862.

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Auf seiner Reise nach Persien beschrieb der Engländer JaimesBaillie Fraser 1821 die “tragbaren Häuser” der Turkomanen, diedie nördlichen Regionen Persiens bewohnten: “Das Gestell istaus leichtem Holz. Die einzelnen Bretter sind ein Zoll dick undein Fuss breit. Die Rahmen bilden die Struktur der Zelte, aufdie grobe Lederdecken und Felle gelegt werden, so dass allessehr schnell auf- und wieder abgebaut werden kann. Im Innerensind die Zeltwände mit Teppichen verkleidet. Wenn Frauen mitauf Reisen gehen, werden durch schlichte Stoffbahnen separateRäume geschaffen. Wohlhabendere Sippen haben auch spezielleFrauenzelte. Die Einrichtung besteht nur aus dem Reitzeug fürdie Pferde und die Kamele sowie aus den Djoals, in denen Warentransportiert werden. Im Zelt werden sie mit Samtteppichenbedeckt” (Fraser 1821/1952, S. 62). Gewicht und Umfang einerdieser einfachen und praktischen turkmenischen Wohnungenentsprachen in etwa der Last, die ein Kamel tragen konnte.Fraser berichtete, die Zelte seien in einem Rund aufgestellt,durch dessen Mitte ein „von Zelten flankierte Art breite Straße“verlief. Überall seien Menschen bei verschiedenen Arbeiten zusehen gewesen oder Männer, die einfache Holzpfeifen rauchten.Die wichtigsten Lager wurden außen mit einem Holzzaunumgeben, um das Vieh zu schützen.

Der Islam entstand in einer Welt der Wüsten und breitete sichspäter in Regionen extrem heißen und trockenen Klimas und inüberwiegend unfruchtbaren Gegenden von Arabien undNordafrika bis nach Indien und die Steppen des Kaukasus aus.Die harschen Lebensbedingungen, der nomadische Hintergrundund die archaischen Stammesstrukturen prägten entscheidenddie Mentalität dieser Völker.

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Abb. 116 «Gerlug» oder «Ger-tereg»;Jurte-Karren der mongolischenNomaden.

Abb. 117 Die Jurte besteht aus mit Filzgedecktem Holzwerk.

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Abb. 118 Entwicklung der Jurte. Abb. 119 Grabmal einesKirgisenfürsten. Die Architekturerinnert an die Nomadenzelte.

Während die Entwicklung der ersten frühen Städte unterdem kulturellen Einfluss von Rom, Byzanz und Persienstand, wurde die neue urbane Zivilisation des Islam vonihren nomadischen Ursprüngen und den Gesetzen einer vonSippen beherrschten Gemeinschaft bestimmt. Im Prozess derAnpassung wurden die archaischen Bräuche der über ganzArabien verstreuten Volksstämme nicht aufgehoben, sondernintegriert und völlig von der urbanen Stadtkulturübernommen. So blieb auch in der neu entstehendenStadtgesellschaft eine gewisse Kontinuität erhalten und esgab keinen völligen Bruch mit der Vergangenheit.

Der Islam verleibte sich “viele uralte Denkweisen undVerhaltensweisen des nomadischen Lebens ein, füllte derenarchetypischen Charakter mit neuen symbolischenBedeutungen auf, die durch religiöse Rituale weitergegebenwurden” (Bianca 2000, S. 49). Gerade die Schlichtheit desNomadenlebens erwies sich als die beste Voraussetzung für dieerfolgreiche Eroberung und Aneignung “höherer” Kulturen undihre Durchdringung. Die erfolgreiche Symbiose zwischenSesshaften und Nomaden, Kaufleuten und Kriegern führte zueiner „raschen Ausdehnung des jungen, unter dem Banner derneuen Religion geeinten arabischen Reiches – eine Expansion,die sich der Prophet in diesem Ausmaß kaum vorgestellt habenkonnte„. Dies war nur dank des Zusammenwirkens beiderElemente möglich, wobei die Nomaden die kriegerischeStoßkraft sicherten, während die Schicht der städtischenKaufleute ihr Organisationstalent einbrachte“ (Bianca 1991, S.36).

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Abb. 120 Beduinenzelt in Saudi Arabien.

Für die Beduinenvölker Saudi Arabiens haben ihre Zelte einenfast heiligen Status (Haram) und sind für Außenstehende tabu(Abb. 120). Die Zelte sind nicht nur der Ort häuslicher Intimitätund der Privatsphäre der Familie, sondern die Frauen sind imInneren des Zeltes auch vor den aufdringlichen BlickenFremder geschützt. Die Wahrung ihrer Würde ist wesentlicherBestandteil der Ehre (Sharaf) ihres Clans oder Stammes(Fabietti 1985, S. 80).

Bei den Beduinen spiegelt sich die Trennung der Geschlechterauch in der räumlichen Struktur der Wohnstätten. Der vonMännern dominierten öffentlichen Sphäre steht der häuslicheRaum als ein Ort weiblicher Zurückhaltung und Anstandsgegenüber. So betrachten die Shammar-Beduinen aus SaudiArabien das Zelt als ausschließliche Domaine der Frauen. Nurdie weiblichen Mitglieder einer Sippe halten die Zelte instandund kümmern sich um die Versorgung der Familie. Die Frauenweben und reparieren die Matten aus Ziegen- und Lammwolle,die miteinander vernäht sind, und aus denen der obere Teil desZeltes bedeckt ist. Heutzutage werden diese vier bis fünf Meterlangen und ein Meter breiten Matten (Shigga) fertig auf demBazar gekauft, genauso wie die Teppiche und Kleider, dieindustriell in anderen Länder des Mittleren Ostens hergestelltwerden. Die Zelte werden wenn immer möglich vor demWüstenwind geschützt in Mulden oder Erdsenken aufgebaut.Zusätzlich steht ein Spalier aus versetzbarenWindschutzwänden (Ruag) außen um die Zelte. Dieses Systemerlaubt es den Beduinen, eine Seite des Zeltes zur Lüftung offenzu lassen. Die Zelte der Shammar haben eine Länge von 12 bis15 Metern und sind vier Meter breit. In einigen Fällen, zumBeispiel bei den Shiuk, können sogar zwanzig Meter Längeerreicht werden (S. 81).

Im Islam erscheint der Unterschied zwischen Nomandenlebenund Sesshaftigkeit viel weniger als ein Gegensatz, denn als einenatürliche Ergänzung beider Lebensformen. So versetzt zumBeispiel die Pilgerfahrt nach Mekka den Stadtmenschen durchdie notwendige Wanderung und den Aufenthalt in Mekka selbstin einen vorübergehenden Zustand des Wanderlebens zurück(Abb. 121). Die vielseitige Nutzung von Räumen in religiösenGebäuden wie in moslemischen Häusern erinnert zudem an dieEinfachheit des Nomadenlebens, das von nur spärlicherMöblierung geprägt ist.

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Abb. 121 Pilger, die nicht als organisierte Gruppe im Zelt wohnen, verbringendie Nacht im Tal von Mina im Freien, bevor sie nach Arafat aufbrechen.

Auf seiner „Gefährlichen Reise durch den wilden Kaukasus“von 1858 bis 1859 beklagte sich Alexandre Dumas (1859/1995), der als französischer General verkleidet in Kislarangekommen war, über die spärliche Möblierung seinesGasthofes: „Unser Zimmer hatte außer einer an der Wandhängenden Gitarre gar keine Möbel (...). Wir fragten unserenWirt, wo wir speisen, sitzen und schlafen sollten. Er zeigteauf den Fußboden...“ (S. 11). Der Prophet „saß immer direktauf dem Boden. Er hatte keine Möbel, weil er glaubte, dassein Mann durch das Leben wie ein Reisender geht, der sichim Schatten erholt, um weiter seinen Weg zudurchschreiten. Ein Haus sollte nichts weiter sein als einOrt für das Ruhen und wo man sich vor Kälte und vor derHitze und vor wilden Tieren schützt, und ein Platz, wo dasPrivatleben aufbewahrt bzw. beschützt werden soll“Seierstadt 2003/2004, S. 191-192).

Der erste, der sich mit diesem paradoxen Verhältniszwischen der Lebensform der Nomaden und der derSesshaften auseinandergesetzt hat, ist der maghrebinischeHistoriker und Philosoph des 14. Jahrhunderts n. Chr. IbnChaldun. In seiner Geschichte der Dynastien des Maghrebsoder «Muqaddima», («Einführung in die Welt der Geschichte»)bildet Ibn Chaldun eine innovative Theorie der Stadt: Injedem Moslem seien zugleich zwei Lebensformen angelegt,nämlich die des Nomaden und die des Sesshaften. Dieseseien nicht miteinander vereinbar und es bestehe deshalbzwischen ihnen ein ständiger Kampf. Nach dieser Theorieentspringt der Konflikt aus der Spannung zwischen Wüsteund Stadt.

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Ibn Chaldun verstand die Geschichte des Islam als einenständigen, nie abgeschlossenen Prozess: “Der Nomade, eintapferer Kämpfer und an ein entbehrungsreiches und hartesLeben gewöhnt, ist der Eroberer. Er erobert die Städte undherrscht über sie, aber wenn er zum Städter wird, steckt er sichmit dem tödlichen Virus (des städtischen Lebens) an und verfälltin Verruchtheit, bis im Laufe der Zeit andere Nomaden sichseiner Posten bemächtigen (Abb. 122). So verwandelt sich dieganze Geschichte in einen Prozess stetiger Wiederholung:Perioden der Besetzung und Gründung von Staaten, Periodender Zivilization und neue Zeiten der Besetzung” (Ortega yGasset 1934, S. 661-679).

Der Schlüssel zum Verständnis dieses Prozesses ist der starkeZusammenhalt -Assabiyya, (Bianca 2000, S. 50)- der Mitgliedernomadischer Gesellschaften untereinander, so wie sie sichunter den harschen klimatischen Bedingungen entwickelthaben. Das verlangt eine „starke Führung undGruppensolidarität, das heißt Eigenschaften, die für dieGründung von Imperien und für die Entwicklung von Städtenzwar unumgänglich sind, die aber von einer urbanen Zivilisationnicht selbst hervorgebracht werden können“ (Bianca 1991, S.43). Ende des 14. Jahrhunderts erwähnt Ibn Chaldun „die großeZahl der Menschen, die zusammengedrängt leben“ und so erhältder Leser eine Vorstellung von der damaligenBevölkerungsdichte. So „streiten die Nachbarn miteinander ummehr Raum und Luft, von oben und von unten und sogar imUmfeld der Gebäude“ (Ibn Chaldun 1377/1989, S. 256). DieseBeobachtungen sind vermutlich Folge der Tätigkeit Ibn Chaldunsals Richter in Kairo, Fes und Granada.

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Abb. 122 Die Stadt Fes zu Zeiten von Ibn Chaldun. Fes der Mariniden,Berberdynastie in Marokko (1269-1420/65). Nach E. Wirth.

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Die zyklische Wechselwirkung zwischen Nomaden undSesshaften bestimmte immer wieder die Richtung derGeschichte der moslemischen Welt. Die ersten städtischenNeugründungen der Moslems, Basra und Kufa in Mesopotamienund Fustat und Qaysariyya in Ägypten, waren ursprünglichmilitärische Feldlager, die sich später zu festen Siedlungenentwickelten. Fustat war eine „Zeltstadt“ (Fostat = Zelt)(Behrens Abouseif 1989, S. 3; Egli 1967, II, S. 262). Weil keinearchäologischen Spuren der ersten Gründungen gefundenwurden, wird in Basra und Kufa wegen des militärischenUrsprungs ein anfangs rechtwinkliges Straßennetz vermutet.Einige Wissenschaftler wiederum betonen, die erstenislamischen Städte Mesopotamiens müssten morphologischbetrachtet „chaotisch“ gewesen sein, weil die Soldaten, diediese Städte gründeten, nomadischer Abstammung waren. Esgibt Dokumente, die die Vorbehalte des Kalifen Omar gegen denBau fester Unterkünfte für seine Soldaten in Kufa belegen. DerHerrscher aus Medina war dagegen, dass seine Truppen einsesshaftes Leben führten, weil er wusste, dass Luxus,Wohlstand und Sesshaftigkeit gerade das wichtigste Ziel desIslam gefährdeten, nämlich die Mobilität und die Schlagkraft derKrieger.

Der französische Geograf Xavier de Planhol (1959, 1968) hob dienach seiner Meinung „anti-urbane Haltung des Moslems“ hervor.Das Fehlen eines städtebaulichen Zusammenhanges und dienur geringe Fähigkeit, eine in sich geschlossene, materielle undsoziale Struktur aufzubauen, seien eine Folge der Persistenz desnomadischen Elements, das in eine Art sich immer wiederselbst überwindender Gesellschaft münde, das heißt städtischunvollendet bleibe. In anderen Worten verkörpert auch diemoslemische Stadt noch den nomadischen Stamm, der sich inihr niedergelassen hat.

1853 unternahm der englische Reisende Richard Burton (1853/1983) als moslemischer Gläubiger verkleidet eine Pilgerreisenach Medina. Dabei berichtete er, dass Araber “kaum Geld füraufwendige Gebäude ausgeben” (S. 102) würden, da die Häuserbei Unruhen immer als erstes beschädigt würden. Zudem seidas Klima ungünstig für eine dauerhafte Architektur. Der Bodenwie die Luft in Medina seien ebenso wie in Mekka sehr “feuchtund und stark salpeter- sowie stickstoffhaltig, die Winter sehrtrocken und die Sommer tropisch heiß. Der Kalkstein ist vonschlechter Qualität, das Palmenholz verrottet schnell und sogarHolz, das von weit her herantransportiert wird, widersteht derWitterung nicht lange. Schon nach wenigen Jahren derVernachlässigung verfällt deshalb auch ein stolzer Bau zuStaub” (S. 102). Im übrigen ist das ganze islamische Lebensklimageprägt vom Gefühl der Vergänglichkeit aller irdischenEinrichtungen, verbunden mit dem Wissen, dass nur das EwigeBestand hat.

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Abb. 123 Plan der Stadt Chiwa, Usbekistan. Die Häuser, die Medresen, derPalast und die Hauptmoschee sind eine Ansammlung von Bauten, die keineStraßen bilden und an die Organisation eines Nomadenlagers erinnern.

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Giovanni Di Pian Carpino, der erste Franziskaner, der 1246 dasReich Tschingis Khans besucht hatte, schrieb in seinerGeschichte der Mongolen: „Wenn ein Mann stirbt und er zumAdel gehört, wird er an einem geheimen Ort auf dem Landebegraben. Er wird in einem seiner Zelte beerdigt, (...) damit erim Jenseits eine Behausung hat“ (Kupchik 1999, S. 36). 1230 zogDschingis Khans Sohn Ögedei in seinem Königreich umher,mehr des Vergnügens denn wegen klimatischer oderwirtschaftlicher Gründe wegen. Seine Zelte boten bis zu 1000Menschen Platz und die edlen Stoffe, aus denen sie bestanden,wurden im Inneren mit Ornamenten aus Goldbrokat und vonAußen mit Aufsätzen und Nägeln aus dem selben Materialornamentiert

(O´Kane 1995, S. 250; Blair 1993, S. 239-248) (Abb.

124).

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Der nomadische Einfluss in der Gestaltung der Stadt und derArchitektur (Abb. 123) gilt nicht nur für die Anfänge des Islam,sondern für ganze zyklische Perioden seiner Entwicklung. FazlAllah Khunji, Biograph des Sultan Yaqub aus der Aqqoyunlu(spätes 16. Jahrhundert), betonte den nomadischen Ursprungdes Herrschers: “Er war kein Mann der Stadt, wie es bei vielenHerren des Chorasan, Fars und Kerman der Fall war”, weilYaqub “die wechselnden Jahreszeiten beachtete und von seinenSommer- zu der Winterresidenzen umzog» (O´Kane 1945, S.249). Noch bis fast zur Mitte des 20. Jahrhunderts waren dieReisen des persischen Hofes von den archaischen Zyklen desHirtenlebens geprägt. Außer der Notwendigkeit, den Standortwegen der extremen klimatischen Bedingungen zu wechselnund neue Weideflächen für das Vieh zu suchen, behielt dasnomadische Leben immer eine symbolische Bedeutung im Islamund wurde als Zeichen “guter Gesundheit” betrachtet. Auchnach dem Tod spielte das Zelt in der mongolischen Kultur einegroße Rolle.

Abb. 124 Horde des Guyuk-Khan.

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Abb. 125 Mongolisches Lager.

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Ulyaitu setzte sich in Sultanija fest, obwohl er nur 40 Prozentder Zeit in seiner neuen Hauptstadt verbrachte. Die Stadt wareine Neugründung und verfügte außerhalb der Mauern übergenügend Raum für große Zeltlager, in denen die mongolischenHeere untergebracht wurden (Abb. 126). Es wird davonausgegangen, dass Ulyaitu diese Stadt gründete, um dienomadische Wirtschaft der Region zu stärken, da sie an einemstrategisch wichtigen Punkt zwischen den Königreichen derTurkmenen, Persiens und Transoxaniens lag. Wie bei SultanUlyaitu wurden auch am persischen Hof des Schah Abbasparallel zu dem noch halbnomadischen Lebensstil großeBauprojekte wie etwa die Stadt Isfahan und neue Paläste inAngriff genommen, die an das Wanderleben erinnerten.

Abb. 126 Die Stadt Sultanija in Iran

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Der spanische Reisende Ruy de Clavijo schrieb 1404, dass dieOrdu, die königlichen Lager Timurs in Samarkand, “gleichmäßigangeordnet und von erhabenem Aussehen” waren (Gonzales deCavijo 1928, S. 242-273). Der Spanier beschrieb in seinenSchriften die Vielfältigkeit der Stoffe, aus denen die königlichenZelten hergestellt waren und bezeichnete die Einrichtung derLager als besonders “nobel”. Auch Clavijo berichtet von derbeeindruckenden Größe der nur temporären Unterkünfte,zwischen denen die Wege und Straßen geradlinig verlaufenseien.

Zwar handelte es sich um königliche Anlagen, aber dieseBeschreibungen solcher geordneten, prunkvollen Nomaden-Städte, in denen Tausende von Menschen über längere Zeitenlebten, unterscheiden sich doch stark von den “chaotischenurbis” und dem ”städtischen Chaos”. Die königlichenZeltanlagen ermöglichten es den Khanen, Sultanen undPrinzen, die Vorteile beider Lebensformen zu genießen: die freieBewegung in weiten Regionen ihres Herrschaftsgebietes, sowiedie nicht zu unterschätzende Aufgabe der strategischenKontrolle und Beherrschung ihrer Eroberungen (Abb. 127).

Wie die ersten arabischen Eroberer aus dem 7. Jahrhundertkonnten auch die Erben der mongolischen Herrscher, die schonbald zum Islam bekehrt worden waren, auf feste Wohnsitze undSteinpaläste bei der Beherrschung ihrer Imperium verzichten.Der Hof von Akbar verfügte 1560 über 100 Elefanten, 500Kamele, 400 Fuhrwerke und 100 Träger. Dieses mobile Reich,eine wahrhaftige Nomaden-Stadt, hatte auch tausende vonHolzstangen für die Errichtung der Zelte, Teppiche und allemöglichen anderen Sorten von Stoffen wie auch Seide dabei, ausdenen die Räume des Hofstaates und des Gefolges errichtetwurden (Macneal 1991, S. 36 - 45).

Abb. 127 Abbildung aus dem«Buch des Schachs» des KönigsAlfons VIII. von Kastilien,genannt der Weise, aus demletzten Drittel des 13.Jahrhunderts: Ein christlicherKavalier als Gast einesmaurischen Herren beimSchachspielen. Die Waffenbeider Männer stehenausserhalb des Zeltes.

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Die Sommerresidenz Takh-i Sulaiman oder Sughurlukh (Abb.128), aus der Ilkhanidenzeit in Aserbaidschan, wurde auf denRuinen eines Sassanidenpalastes gebaut, eine Tradition, diesehr oft bei der Gründung mongolischer Städte zu beobachtenist. Eine große, nach oben offene Struktur aus vier Iwanen, dieein Wasserbecken umschließt, verbindet auch die einzelnenTeile des Palastes in der Form einer Galerie. Die einandergegenüberliegenden vier Iwane sind untypisch: vermutlichwegen des Wasserbeckens und wegen der Konzentration derpalastähnlichen Räume im Norden des Komplexes befinden sichder westliche und östliche Iwan nicht in der Mitte des Platzes,sondern im oberen Teil dieses königlichen Maidans (Bianca 1991,S. 55).

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Abb. 128 Sommerresidenz Takht-i Sulaiman in Aserbaidschan, aus derIlkhanidenzeit.

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Abb. 129 Ruinen des Mongolen-Palastes Takht-i Sulaiman, Aserbaidschan.

Diese überbaute Oase ist mit einer südlichen Ausrichtung beieinem leichten Einschlag Richtung Süd-Ost errichtet (Abb. 129).William de Rubruck, der die mongolischen Reiche zwischen 1253und 1255 bereiste, bemerkte, dass die Nachkommen desDschinghis Khan den Brauch hatten, ihre Zelte in dieseHimmelsrichtung auszurichten (Abb. 130). Auch der russischeArchäologe L.K. Minert (Tsultem/Bayarsaikhan 1988, S. 2) gehtdavon aus, dass diese Orientierung absichtlich erfolgte, denn beifast allen bis jetzt ausgegrabenen mongolischen Städten derersten Hälfte des 13. Jahrhunderts sei sie zu beobachtengewesen. Maydar (S. 3), ein mongolischer Archäologe, erklärtdiese Orientierung als Folge der nomadischen Tradition, dieZelte in Richtung Süd-Südosten, und damit Richtung Sonne, zuerrichten.

Abb. 130 Rubruck und seine Mitreisenden vor dem Zelt des Khan.

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Abb. 131 Al-Tschapar, Nord-Afghanistan, 1. Jahrtausend v. Ch..

Die runde Form der Stadtmauer, die dieses möglicherweiseSommerlager an der Grenze zwischen der Wüste und einer Oaseumschließt, ist nicht typisch für den islamischen Städtebau. Al-Tschapar im Norden Afghanistans (Abb. 131), ein archäologischerOrt aus dem 1. Millenium v. Chr. aus der Achämenidenzeit,weist auch eine ähnliche runde Form auf. Es ist nicht bekannt,welchem Zweck dieser Bau diente. Innerhalb der Außenmauer,die einen Raum von etwa 100 Metern Durchmesser umschließt,befanden sich keine Bauten. Es könnte sich um eineSicherheitsmauer für Nomaden-Lager handeln (Sarianidi 1986,S. 75).

Die Vorliebe für ein nomadisches Leben der NachfahrenDschingis Khans beeinflusste den Bau der schönstensteinernen Paläste in Iran und im mogulischen Indien, derenRäumlichkeit in direkter Beziehung zu den nomadischen Sittender moslemischen Prinzen stand. Indem diese Bräuche auf dieArchitektur angewandt wurden, schufen sie damitPalasttypologien flexibler Pavillions, offene axiale räumlicheBeziehungen und ein System, das spätere Erweiterungen derBauten ermöglichte, offene Innenräume, die Höfe umschlossenund große von Mauern umgebene Stadtgärten.

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DIE „STAMMESSTADT“ = DER „BELEBTE RAUM“UND DIE ABGRENZUNG DES STADTRAUMES

Im Prozess der Urbanisierung der immensen Gebiete, die derIslam in kurzer Zeit eroberte, gingen die bisherigenStammesvölker in den Städten auf, ohne jedoch sich ganz inihnen zu verlieren. Die Begriffe Khatta und Khitat (englischeTranskription), die eine wichtige Rolle in der Erklärung des anStämmen orientieren Ursprungs der arabischen Kultur und derEntwicklung von Städten im Islam spielen, werden in dereinschlägigen deutsch- und französischsprachigen Literaturüber die islamisch-orientalische Stadt nur selten erwähnt.Dagegen nimmt das Thema in englischen Veröffentlichungenund insbesondere in arabischen Quellen einen fundamentalenPlatz ein. Obwohl der Stammesursprung der arabischenGesellschaft durchaus schon als bestimmendes Elementarabisch-islamischer Stadtneugründungen wahrgennomen wird,ist die Idee der sozialen und morphologischen Abgrenzung undUnterteilung der Stadtflächen unerforscht geblieben. Hakim(1996) empfiehlt eine Serie von Items, die er beim Studium derarabisch-islamischen Stadt für unentbehrlich hält. Hakim, dersich seit Mitte der siebziger Jahren mit dem Thema befasst,kann sich ein Studium über frühislamische Stadtgründungenohne eine Untersuchung des Chitat nicht vorstellen.

Während das Wort Khatta, (deutsche Transkription = Chatta) sogut wie nie erwähnt wird, finden sich in deutschen Quellen fürKhitat, (so gemäß der englischen Transkription oder Chitat nachder deutschen Transkription, Plural von Chitta) einige wenigeErwähnungen, die aber nicht weiter ausgeführt werden. Es gibtzwei Ableitungen für khat: das Verb khatta (Chatta), wasbuchstäblich “Abgrenzung/Demarkierung” heisst und khitta (Chita

oder Chitat), was bedeutet, das die Aktion schon stattgefundenhat. Nach Bianca (1991) ist Chitat “das vom Propheten gewählteSystem der Niederlassung”, das auf der “Zuteilungunbesiedelter Standplätze an Familiengruppen und ganzeStämme (beruhte), die dann kollektiv für die Nutzung, die innereUnterteilung, die Bebauung und die Aufrechterhaltung derOrdnung innerhalb der gegebenen Grenzen verantwortlichwaren. Das Wort Chitat nahm damit die Bedeutung von genaufestgelegten, in sich geschlossenen Quartieren an, auch wenneine tatsächliche Bebauung anfänglich nur auf einzelnen Teilendavon stattfand” (S. 55).

Akbar (1989) untersuchte die Prinzipien der Parzellierung (iqta)und der Wiederbelebung (ihya) “toten Territoriums” oderunbewohnter Flächen (Massignon 1932, S. 270) im Prozess der“Territorialisierung” oder ichtitat auch auf der Ebene vonStadtteilgruppierungen (mahalla). Vor der Gründung einer Stadtbedarf es zunächst einer entsprechenden politischen,militärischen oder religiösen Entscheidung. Im Falle des Islamist davon auszugehen, dass diese drei Ziele meistzusammenfielen. Die Inbesitznahme eines bestimmtenTerritoriums kann durch Eroberung, Kauf oder auf dem Erbwegeerfolgen.

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In den ersten Jahrzehnten der neuen Religion fanden dieMenschen große Räume und Territorien einfach leer vor. Siewurden als “totes Territorium“ die es zu besetzen, zuparzellieren und wiederzubeleben galt. In der Terminologiemoslemischer Rechtsgelehrter wird laut Akkbar Land,herrenloses und ungenutztes Land als Mawat oder totbeschrieben. Dieses “tote Land” weist keinerlei Spuren vonBebauung auf, niemand erhebt Anspruch darauf und es wirdauch nicht als Weide- oder Ackerland genutzt und es dürfensich dort auch keine Gräber oder Wasserquellen befinden. Dievier Rechtsschulen des sunnitischen Islam definieren denMawat in ähnlicher Form: der Hanbali-Glauben versteht dentoten Raum als denjenigen, “der keinen Eigentümer hat undkeinerlei Spuren der Besiedelung aufweist”. Die malikitischeSchule sieht in diesem Begriff “das Land, das niemanden gehörtund keiner Nutzung unterliegt”. Die hanefitische Schuledefiniert den Mawat als “Ort, der so weit von bewohntenGebieten entfernt liegt, dass wenn jemand von da aus rufenwürde, er in keiner bewohnten Ortschaft gehört würde” (Akbar1989, S. 22).

Gemäß moslemischen Brauchs kann das tote Land“wiederbelebt” oder “wieder lebendig gemacht werden”. Wer sichdieser Mühe unterzieht, wird dadurch zum Eigentümer. Ihya

bedeutet buchstäblich “Leben geben”, und dieser Terminus istfür diese Art der Landnahme gebräuchlich. Akbar zufolge gibt eseine ganze Reihe von Hinweisen darauf, dass der Prophet solcheRegelungen nicht nur unterstützte, sondern auch empfahl:“Derjenige, der ein Stück Land wieder ins Leben ruft, wird seinEigentümer” (S. 23). Die Besitznahme von Land erfolgt durchlandwirtschaftliche Nutzung oder durch Bebauung. Ein Begriff,der mit der Ihya oft assoziert wird, ist Iqta, was soviel wie gebenoder verleihen (einen Titel oder eine Ehre) aber auchParzellierung durch einen Herrscher für seine Untertanenbedeutet. Die Methode der Iqta wurde oft bei der Neugründungvon Städten verwendet. Auch der Begriff Ihtijar steht in engemZusammenhang mit der Parzellierung. Er umschreibt die Artund Weise der Grundstücksmarkierungen durch Steine, Zweigeoder Mauern. Nach der Abgrenzung einer Parzelle und derenZuteilung an eine Einzelperson oder einen Klan hat der neueEigentümer das Recht, es während der folgenden drei Jahre inBesitz und Nutzung zu nehmen. Tut er dies nicht, verfällt seinRecht an dem Grundstück.

Akbar verweist auch darauf, dass arabische Wörter vieleverschiedene parallele Bedeutungen haben können. Der BegriffChatt (Khatt) oder Linie steht zugleich für Gebräuche oderAnwendungen. Der Historiker Ibn Manzur (gestorben 1312)erklärt al-chattu als “die rechtwinklige Form eines Gegenstands,zum Beispiel eine Parzelle, obwohl dasselbe Wort auch „Straße“bedeuten kann“ (S. 23). Diese Vieldeutigkeit der Sprache kanneinen Teil der Probleme erklären, die Art und Weise derAufteilung von Grund und Boden sowie deren Markierung undInbesitznahme nur auf Grund schriftlicher Quellen zu erklären.

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Im Arabischen bedeutet der Begriff chitta eine Aktion, die eineranderen folgt. Zugleich beschreibt al-chittu oder al-chittatu dasBesiedeln bisher ungenutzter Flächen. Dieses Verb steht fürdas Ziehen von Linien oder der Markierung rechtwinkligerFormen sowie für die Planung der Inbesitznahme und dieErrichtung von Mauern. Das Wort aqta’a bezeichnet hingegendie Zuteilung und Parzellierung mittels Anordnung der dafürzuständigen Autorität. Diese Differenzierung ist wichtig, umzu unterscheiden, inwiefern Siedler frei entscheiden konntenbeim Bau von Häusern oder ganzer Stadtteile. Akbar empfiehlt,die jeweilige Bedeutung eines Wortes in seinem Kontext zuklären.

Die Mehrdeutigkeit des Arabischen und das Fehlen exakterÜbersetzungen erklärt, warum die ersten Islamisten dieOriginaltexte teilweise falsch oder missverstanden haben und zufalschen Schlussfolgerungen gelangten. Creswell (1989) zumBeispiel meinte, dass die Moschee in Basra einfach nurumrissen oder abgegrenzt (ichtatta) gewesen wäre und nichterbaut, und schloss daraus, dass die Gläubigen auf einemoffenen, gänzlich unbebauten Platz gebetet hätten (Creswell1958/1989, S. 9). Al-Baladhuri hingegen verwendet bei seinerBeschreibung des Baus der Basramoschee den Begriff Chatta

(Khatta): “Er leitete die Absteckung (ichtitat) der Moschee miteigener Hand” (Akbar 1989, S. 23). Die Klärung dieser Begriffeist ungemein wichtig für das Verständnis der Frühzeitmoslemischer Städte. Aber für des Arabischen unkundige Leserist es fast unmöglich, nur anhand von Texten eine Vorstellungdavon zu erlangen, wie die ersten Städte des Islam geplantwurden. Auch unter arabischen Wissenschaftlern selbst gibt esMeinungsunterschiede. Es wird davon ausgegangen, dass es bisauf wenige Ausnahmen keine “spontanen” Stadtgründungen gab.

Man kann davon ausgehen, dass es auf der Makroebene, bei derZuteilung des Stadtraums, eine hierachische Kontrolle derAutoritäten gegeben hat, obwohl auf der Mikroebene, dass heißtauf dem Niveau der Architektur und der Stadtteilbebauung, einegewisse Freiheit herrschte. Nur so kann das “chaotischeStadtgewebe” verstanden werden, welches als Folge einer ganzanderen Denk-, Planungs- und Bauweise entstand. Sie brachteein neues Konzept von Stadt hervor, das anders zu verstehen ist,als die Städte des Westens. Der kollektiveUrbanisierungsprozess der ersten Städte des Islam,insbesondere die Garnisonstädte in Mesopotamien und Ägypten,sind nur unter Berücksichtigung des Chittats zu verstehen. Dierelative Autonomie der Klans innerhalb der Stadt blieb, wie inden Nomadensiedlungen, erhalten. Ob die ersten „Strukturen“der Stadt aus Zelten oder einfachen Lehm- und Strohhüttenbestanden, ist weniger wichtig. Bedeutend ist, dass dieMethoden der Abgrenzung und Markierung dieser Urstadträume,wie die arabischen Historiker al-Baladhuri und al-Ya’qubi siebeschrieben (S. 24), erhalten blieben und zu einem prägendenElemet späterer Siedlungen wurden.

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Das System des Chittat “kann als prototypisch für spätere, vielraffiniertere Stadtentwicklungen verstanden werden. Es weistviele typische Merkmale auf, die in moslemischen Städtenerhalten blieben, wie zum Beispiel das weitgehende Fehleneiner institutionellen Kontrolle, die Abwesenheitdeterminierter, gestalterischer Planung, die Autonomieeinzelner Wohnbezirke, der Vorrang privater Abmachungen voröffentlichen Regeln, Nachsicht mit privatem Raum, der in denöffentlichen Stadtraum hineinragt und die Reduktion desStraßennetzes auf ein Minimum” (Bianca 2000, S. 54).

Das Wort Chatta bezeichnet den ersten Schritt bei der Errichtungeines Gebäudes oder einer Stadt und wird oft bei frühenBeschreibungen von Kufa, Basra, Fustat und Kairuanverwendet. Der bereits festgelegte aber noch nicht vermesseneund noch unbelebte Stadtraum wurde von der Obrigkeiteinzelnen Stämmen entsprechend ihrer Größe zugeschlagen.Das Wachstum erfolgte dann “von Außen nach Innen”, was einegewisse Autarkie bei der Stadtgestaltung und eine dichteBebauung innerhalb der Stadtteile bedeutete. Dabei sind es dieHöfe, die in fast allen Fällen sowohl in öffentlichen wie auch inprivaten Gebäuden anzutreffen sind. Sie sind es damit auch, dieals einzige im ganzen Stadtgewebe als formelle Einheitenbetrachtet werden können.

FRÜHISLAMISCHE STÄDTE

Im Verlaufe der Eroberungsfeldzüge der neuen Religion wurdenKufa (637-638) und Basra (638) im heutigen Irak sowie Fustat(641-642) und Kairuan in Ägypten gegründet. Sie dientenzunächst als militärische Lager, die sich später zu festenGarnisonsstädten entwickelten.Über die morphologischeGestaltung und die soziokulturelle Gliederung dieser frühenStädte des Islam ist viel spekuliert worden. Wie oben beimletzten Thema dargelegt wurde, gelangte Creswell (1958/1989)auf Grund eines fehlerhaften Verständnisses des BegriffesIchtatta zu der Schlussfolgerung, dass Basra, Kufa und Fustat“chaotische Labyrinthe von Durchgängen und Sackgassengewesen sein müssen, wo sich die Läden mit leerenGrundstücken und Müllhalden abwechselten” (S. 22). Creswellging davon aus, dass die Bewohner eines Stadtteiles in Kufa“einen Führer gebraucht hätten, um einen anderen Teil derStadt zu besuchen”. Diese traditionelle Vorstellung von einerfrühislamischen Stadt, die als fixe Idee in das Bewusstsein derwestlichen Islamwissenschaftler während des 20. Jahrhundertseinging, geht davon aus, dass die Gründer von Kufa Soldatenbeduinischen Ursprungs waren, die keine städtische Kulturkannten, da “nur ein kleiner Teil der Bevölkerung sesshaft war”und sogar die, die aus Städten wie Mekka oder Medina kamen,nichts von Kunst oder Architektur verstanden” (S. 1).

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Guest (1907, S. 82) glaubte, dass das Muster der drei Städte(Kufa, Basra und Fustat) abgesehen von einigen kleinerenUnterschieden ganz ähnlich war, und Lassner (1979) der dieseStädte mit der runden Stadt von Baghdad zu vergleichenversuchte, meinte dass sie sehr schnell gewachsen seien undohne “wirkliche Kenntniss der gestalterischenStädtebauprinzipien” (S. 138) errichtet worden seien.

Akbar (1989) macht in seiner Abhandlung darauf aufmerksam,dass sich die klassischen Islamwissenschaftler selbstwidersprechen, indem sie die mangelnde Ordnung in den frühenStädten kritisieren und gleichzeitig behaupten, dass sieeinander sehr ähnlich waren. Akbar betont, dass angesichts sovieler Ähnlichkeiten in der städtebaulichen Struktur von Kufa,Basra und Fustat “diese Gleichartigkeit das Resultat derBeachtung gemeinsamer Regeln” sein muss (S. 22). Es müssesich um eine städtebauliche Planung gehandelt haben, der derWille einer bestimmten Inbesitznahme von Stadtraum aufbauendauf gewisse urbane Regeln zu Grunde gelegen habe.

Moslemische Gelehrte wie Al Janabi (1967, S. 77) widersetzensich der negativen Einstellung westlicher Islamisten. Al Janabibeschrieb den hypothetischen Plan Kufas als rechtwinklig undgeordnet und AlSayyad (1991) arbeitete eine Theorie über dieRegelmäßigkeit der Stadtmorphologie Kufas aus. Weder Plänenoch archäologische Reste der Stadt blieben jedoch erhalten.Allerdings fällt es schwer, sich eine Vorstellung von einer Stadtzu verschaffen, die verschiedenen Berechnungen zufolge inihren Gründungsjahren zwischen 40.000 und 100.000Einwohner hatte (Jafri 1989, S. 10), ständigen Zuzugswellenausgesetzt und vor allem in Zeiten ständiger Kriege und einerentscheidenden Phase der Festigung des Islam dauernden sozio-strukturellen Veränderungen unterworfen war.

Ohne eine neue Theorie oder den Idealplan einer fiktiven Stadtpräsentieren zu wollen, werde ich im folgenden Abschnittanhand neuer Untersuchungen, die ethnische undklanspezifische Entwicklung von Kufa beschreiben und zugleicheine Annäherung an das erste wirkliche urbane und sozialeLabor des frühen Islam zu versuchen.

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Kufa

Die Stadt Kufa am Euphrat im heutigen Irak wurde alsMilitärlager von Kalif Omar I Ibn Al-Chattab 638 gegründet, dreiJahre nachdem er die Macht in Medina an sich gerissen hatte.Omar erteilte Abi Waqqas, dem Befehlshaber der moslemischenHeere im asiatischen Mesopotamien, den Befehl, mit seinenTruppen in der Region zu bleiben. Omar wollte damit seineHerrschaft über die Gebiete des heutigen Irak festigen und vondort aus erste Erkundungsfeldzüge nach Persien hineinunternehmen (Jafri 1989, V., 1).

Das arabische Heer hatte sich zunächst bei der gerade ersteroberten Hauptstadt der Sassaniden, Al-Mada’ in, festgesetzt.Aber schon nach kurzer Zeit wurde die Lage in derüberbevölkerten Stadt durch Mückenplagen und das extremeKlima unerträglich (Baladhuri/Hitti 1966, S. 434; Akbar 1989, S.25). Omar befahl Sa’d (dem Befehlshaber der arabischenTruppen in Mesopotamien) daraufhin, einen für die arabischeLebensweise zuträglicheren Ort ausfindig zu machen. An jenemOrt sollten sie sich „niedersetzen“ (die Quellen sprechen von“emigrieren oder auswandern”, dar hijra) (Jafri 1989, V., 4). Dieneue Siedlung sollte den Arabern als Ort der Sammlung dienen(qayrawan). Einzige Bedingung war, dass kein Meer zwischenOmar und seinen Heeren liege.

Sa’d sandte zwei seiner Männer aus, nach einem geeigneten Ortzu suchen. Nach zwei Jahren fanden sie eine Stelle amwestlichen Ufer des Euphrat, der sich in der Nähe der antikenpersischen Stadt Al-Hira befand. Abu al-Hayyaj wurde mit derPlanung der Stadt beauftragt. Gemäß der Anordnungen Omarssollten die sieben Hauptstraßen (al-manahij) 40 cubits (ca. 20Meter) breit sein, die Straßen zweiten Ranges 30 cubits (ca. 15Meter) und die kleineren Straßen 20 cubits (ca. 10 Meter). DieGrundstücke hatten bis auf wenige Ausnahmen eine Breite von60 cubit (ca. 30 Meter). Die wichtigsten organisatorischenEntscheidungen beim Bau der Stadt wurden von einer eigenszusammengerufenen Gruppe von Männern gefällt, die “für ihreWeisheit und Vernunft (ahl al-ra’y) bekannt waren” (Akbar 1989,S. 28). Entscheidungen von grundlegender Bedeutung bliebenAbu al Hayyaj vorbehalten.

Das erste öffentliche Gebäude, das in Kufa errichtet wurde, wardie Moschee. Als Sa’d den Platz der künftigen Moschee festlegteund die Ausrichtung gen Mekka definiert war, befahl er dieMarkierung des Bauplatzes nach der alten Tradition desPfeileschießens in die vier Himmelsrichtungen. Der arabischeGeschichtsschreiber Al-Tabari berichtet, dass die äußerenGrenzen der Moschee festgelegt wurden und dann um dasTerrain herum ein Graben ausgehoben wurde, “damit niemandden heiligen Ort überbauen könne” (Hoag 1986, S. 9). Nördlichdes Quadrates wurden fünf Hauptstraßen angelegt, vier an derQiblaseite und drei an jeder der übrigen Seiten.

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Die städtebaulichen Entscheidungen beschränkten sich auffolgende Maßnahmen: die Gründung der Stadt und dieFestlegung der Bauplätze der Moschee, des Regierungsgebäudessowie des Marktes. Schon vor dem Aufkommen des Islam wurdejede Sippe als soziale Einheit behandelt, und diese Organisationblieb auch in moslemischer Zeit erhalten. Jede Sippe erhielt ihrChitta, also ihr eigenes Territorium innerhalb der Stadt. Ob dieSippen selbst den Ort ihrer Häuser festlegten, oder ihnen dieBauplätze von einer übergeordneten zentralen Instanz (indiesem Falle Abu al-Hayyaj und Sa’d) zugewiesen wurden, isttrotz Auswertung aller bekannten Dokumente unklar (Akbar1989, S. 26).

Die Siedler aus Nord- und Mittelarabien verfügten über so gutwie keine Erfahrung bei der Gründung von Städten mitAusnahme von Basra, das aber selbst erst ein Jahr zuvorgegründet worden war. Der Begriff von Stadt als politische odersoziale Einheit war der arabischen Mentalität fremd. Hier wardie Zugehörigkeit zu einem Klan oder einer Sippe bestimmend.Auch in Städten wie Ta’if, Mekka oder Medina waren die Sippenund nicht eine zentrale Autorität bestimmend. Während desKalifats von Omar (um 580 - 644) wurden die arabischenEroberer im Zuge der Ausbreitung der neuen Religion auch mitganz neuen Herausforderungen konfrontiert. Anders als inBasra, wo die städtischen Grundstücke zwei großenVolksstämmen und einer Gruppe kleinerer Sippen zugeteiltwaren, mussten in Kufa 15.000 bis 20.000 Mitglieder sehrheterogener Sippen organisiert werden (Jafri 1989, V., 6.).

Keine der beteiligten Gruppen war eindeutig dominant. Sa’dunterteilte die Bevölkerung entsprechend ihrer geographischenHerkunft: die Nazari (Nordaraber) und die Jemeniten(Südaraber) (Hind 1971, S. 351; Jafri 1989, V., 6.). Die ersteHauptgruppe siedelte westlich der Moschee und die Jemenitennahmen den östlichen Sektor in Besitz. Die Bewohner von Kufawaren muqarila (Krieger). Sie und ihre Angehörigen warengemeinhin auf Sold (Geld) angewiesen, die von derZentralregierung zu festen Sätzen verteilt wurden. DieseAufteilung erwies sich jedoch unter städteplanerischen undmilitärischen Gesichtspunkten schon bald als unbefriedigend.Beide Gruppen sollten eine bestimmte Anzahl an Kriegernstellen, die jederzeit und sehr kurzfristig für Angriffe zurVerfügung stehen sollten. Nachdem sich Sa’d mit dem Kalifenberaten hatte, organisierte er die Bevölkerung in siebenGruppen oder asba’ um, entsprechend ihrer Abstammung undder Sippenbündisse. So entstanden sieben große Militärdistrikte.Viele Dokumente geben Auskunft über diese Umstrukturierungder Sippen in Kufa. Die Bündisse waren schon vor dem Islamfestgesetzt. Die Bevölkerung Kufas wurde wiederholt durchneue Krieger und deren Familien verstärkt und auch durch4.000 persische Sklaven (Dalaimiten) (Jafri 1989, V., 23.). Außerihrem Chittat besaß jede Gruppe einen eigenen Jabbana, einenfreien Raum zwischen ihren Gebäuden, der für die innereExpansion der Stadtteile und die Aufnahme neuer Bürger sehrwichtig war (29.).

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Im Zentrum der Stadt lag die Moschee. Es handelte sich um einRechteck von ungefähr 100 Metern Außenlänge. 638-639 wurdedie Residenz des Herrschers oder Dar al-Imara neben derMoschee an der Qibla-Seite errichtet. Dort befanden sich nachCreswells Plan vier Türen. Im Zusammenhang mit dieserAnordnung der Gebäude wird von einer Anekdote berichtet.Zwischen der Moschee und der Dar al-Imara gab es ursprünglicheine enge Gasse. In der Residenz wurde der bait al-Mal, derStaatsschatz, aufbewahrt. Nachdem Diebe in die Residenzeingedrungen waren, ließ Kalif Omar die Residenz bis an dieQiblamauer erweitern und die Gasse verschwand (Hoag 1986, S.9). Dieses Vorbild wurde für viele andere Städte bestimmend. 33Jahre nach der Gründung der Stadt befahl der omaijadischeBefehlshaber Ziyad Ibn Abihi die Errichtung einer neuen Dar alImara, deren Grundriss dem der Sassanidenpaläste entsprach:mit einer schützenden Umfassungsmauer und einem Vier-Iwane-Hof.

Ziyad, der auch über Basra regierte, schaffte dieStammesorganisation in Kufa wieder ab und fasste die gesamteBevölkerung in vier große Verwaltungseinheiten oder arba’

zusammen, wobei er Jemeniten und Nazaris mischte (Jafri 1989,V., 31.-35.). Diese Unterteilung, die mit Erfolg in Basradurchgesetzt wurde, respektierte nicht mehr die altenStammesbräuche. Auf ganz neuen politischen Gedankenbasierend, versuchten die Omaijaden ihre Herrschaft in Kufa zuvestärken und damit zugleich die Hegemonie des Islam über dieTraditionen durchzusetzen.

Die Zahl der Einwohner von Kufa wird je nach Quelle andersangegeben: Tabari errechnete zwischen 30.000 und 40.000Soldaten aber nach Baladhuri waren es 20.000 Krieger plus4.000 persische Sklaven und 370 Gefolgsleute des Propheten,darunter viele “wichtige Persönlichkeiten” der neuen Religion(23.). Auch über die Zusammensetzung der verschiedenenStämme gab es unterschiedliche Meinungen. Aber die Mehrheitder Autoren stimmen darin überein, dass in jenen Zeiten dieKrieger mit ihren Familien zusammenlebten. Diese Frauen,Kinder und Haussklaven tauchten in der offiziellen Statistikjedoch nicht auf.

Es ist bekannt, dass die Moschee in Kufa bis zu 40.000Gläubigen Platz bot. Wenn man und die grosse Zahl derKaufleute, ihre Familien und die Landarbeiter der fruchtbarenZweistrom-Ländereien oder sawad, und die Christen miteinrechnet, ist eine Bevölkerungszahl während der erstenJahrzehnte der Stadt von insgesamt 100.000 Menschen möglich(44.). Wenn man sich diese Zahlen vor Augen hält, wirddeutlich, dass die frühen Städte des Islam nicht nur einLabyrinth, sondern auch ein chaotisches Gewebe rapiden undweitgehend spontanen Wachstums darstellten.

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Trotzdem gibt es keine Beweise oder archäologischen Funde inKufa und jede Behauptung einer labyrinthischen Struktur, wieoft in den Texten zu lesen ist, bleibt reine Spekulation. Was andieser Stelle hervorgehoben werden muss, ist dieexperimentelle soziopolitische Bedeutung dieser Stadt für dieZukunft der moslemischen Kultur und Städtebaus. Einederartige Zusammenballung von Stammesvölkern war bis datounbekannt in der arabischen Welt vor Mohamed. Der Kalif Omarbeschrieb die Stadt Kufa als “den Turm des Islam” (qubbat al-

Islam) und “Kopf der Menschen des Islam” (ras ahl al-Islam) (Jafri1989, V., 37.). Ihre Einwohner waren “die Lanze Gottes,” der“Schatz des Glaubens”, die die Grenzen des Islam beschütztenund bekräftigten. Keiner solcher ehrenvollen Bezeichnungenwurden zum Beispiel den Einwohnern von Damaskus oder Basrazuteil.

Im Unterschied zu Medina oder Mekka, wo das arabischeElement unangetastet blieb, war Kufa das erste soziale undstädtebauliche Versuchsfeld des Islam. Diese explosiveMischung von Ethnien, Volksstämmen, Rassen undGlaubensrichtungen war für die Zukunft des neuen Glaubensund für die Bildung neuer Städte von großer Bedeutung. Es istnicht das Ziel dieser Arbeit, über eine mögliche morphologischeGestalt der Stadt Kufa zu spekulieren. Obwohl zunächst auseiner religiösen Motivation heraus angelegt, wurde Kufa erstunter dem Gesichtspunkt der Stammesorganisation und späterpolitischen Zielrichtungen gehorchend neu strukturiert.

Das beduinische Element blieb sicherlich nicht nur in derBebauung bestehen, sondern auch durch die Bräuche undTraditionen des Alltags. Es wäre nicht angeraten, hier überArchitektur oder städetbauliche Ideen zu sprechen angesichtseiner Kultur, der diese Fragen zu jener Zeit weder bekanntnoch wichtig waren. Trotzdem ist Kufa wegen ihrer großenBevölkerung und ihrer wegweisenden Bedeutung eine wichtigeWegmarkierung für die Stadt im frühen Islam.

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Abb. 132 Schematische Darstellung einer territorialen Struktur in einer frühenislamischen Garnisonstadt, nach Akbar.

Legende: A GruppeB UntergruppeC private Einheiten1, 2, 3 Leere Räume

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DIE „PRIVATE“ STADT

Der japanische Schriftsteller und Historiker Yasushi Inoue(1998) lieferte in seiner historischen Beschreibung Bucharas,das sich zu Zeiten Timurs dank der großen Zahl von Gelehrten,Koranschülern, Pilgern und Handelsreisenden in eine Artmittelasiatisches Mekka verwandelt hatte, eine lebendigeBeschreibung der nur tagsüber für den Fremden „geöffneten”Stadt: „Um fünf Uhr morgens öffnen sich die Stadttore, und baldgleicht das gesamte Bazargelände einem riesigenAmeisenhaufen, in dem es kaum einen ruhenden Pol mehr gibt.Menschen der unterschiedlichsten Hautfarben schieben sichdurch die im Nu verstopften Gassen, mit lautem Geschreipreisen die Händler im bunten Durcheinander ihre Waren an,bis indische Rupien, mexikanische Pesos, türkische Lira oderenglische Pfund, altiranische Silbermünzen, parthisches wieauch arabisches Geld im Tausch gegen Waffen, Edelsteine, Tu-che, Schuhwerk, Saatgut und noch Unzähliges mehr aus allerHerren Länder endlich den Besitzer wechseln (...); um siebenUhr schließen alle elf Stadttore, und von nun an ist es nur nochHebammen und Ärtzten erlaubt, auf die menschenleerenGassen hinauszugehen” (S. 146) (Abb. 133). Wenn die Lädenzugesperrt und die Bazarstrassen, die einzig wahrenöffentlichen Räume, geschlossen werden, endet das Stadtleben.Auch einige Wohngegenden schliessen ihre Tore, und so werdenganze Stadtteile gesperrt. Vor noch nicht allzu langer Zeit, alsnachts Fremde, Ausländer und Ungläubige an den Stadttorennicht eingelassen wurden, verwandelte sich Buchara wie vieleandere muslimische Städte in eine geschlossene, „private”Stadt.

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Abb. 133 Arg, Festung inBuchara.

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Ein extremer Fall war Fes, deren gesamtes Stadtgebiet intra mu-

ros während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fürEuropäer „verboten” blieb. Die wenigen westlichen Besucher, dieetwa wie der englische Reisende Richard Burton als Muslimeverkleidet in Mekka und Medina einzudringen wagten, riskiertenihr Leben. Wirth erklärt, dass „die Privatheit städtischer Arealein Fes weit hinaus über den Schutz der Intimität desFamilienslebens vor neugierigen Blicken oder vor unzulässigerEinmischung” (Wirth 2000, S. 326) ging. Während das Innere desHauses ein Haram, dass heisst, ein nicht zu betretendes Arealrepräsentiert, ist im öffentlichen Raum nichts Heiliges, nichtsGeheimnisvolles, nichts Persönlich-Vertrauliches oder sonstwieBedeutsames, was geschützt werden soll. Beim Fall Fes geht esoffensichtlich einfach darum, „möglichst viele Gebiete undÖrtlichkeiten der Stadt aus der Verantwortung undZuständigkeit der Öffentlichkeit herauszunehmen, sie damit derallgemeinen Zugänglichkeit zu entziehen und sie in einenBereich umzuwidmen, zu dem nur ein nach irdgeneinemKriterium begrenzter Teil der Bevölkerung Zutritt hat” (S. 326).

Die Stadt der islamischen Zeit im Orient und mit Toren ist einegeschlossene, intime, private, geheime, verborgene Stadt, dieman nicht sieht, die sich nicht zeigt, die kein Gesicht besitzt.Für Chueca (1968/1991) richtet sich die muslimische Stadt amPrivatleben und dem religiösen Sinn des Lebens aus (S. 75).Gerade auf diese Annahme stützten sich viele Autoren, um diePhysiognomie der islamischen Stadt zu erklären. Privatheit undReligion werden dann auf ein- und derselben Ebenegleichgestellt. Wirth (2000) erklärt Privatheit als „ein Prinzip derSegmentierung, der Kammerung, der Aufspaltung in soziale undräumliche Unter-Einheiten, die sich gegen Einfluss von außenso weit wie möglich abzuschirmen versuchen. Alle diese Teil-Gruppierungen, Teil-Räume und Teil-Örtlichkeiten haben je ihrebesondere, von anderen abgehobene Privatheit” (S. 332). In Fesbeschränkt sich Öffentlichkeit demzufolge „auf einweitmaschiges, von Mauern oder Hauswänden begrenztesLiniennetz mit einigen Ausweitungen im Zentrum”; alles andereist Privatsphäre, die entweder zugänglich ist oder deren ZugangBeschränkungen unterliegt” (S. 326). Privatheit hat in denStädten des islamischen Orients „sehr oft einen höherenStellenwert als Öffentlichkeit; dementsprechend ist der größereTeil des städtischen Areals als Privatsphäre dem allgemeinenZutritt entzogen, und die öffentlichen Bereiche und Standortehaben nur geringes Gewicht” (S. 331).

Die Straße, die (in der europäisch westlichen Stadt) „dasGesicht der Stadt ist, das Schaufenster, auf der der adeligePalast, die Häuser des Bürgertums sowie öffentliche oderreligiöse Gebäude ihre stolzen Fassaden zeigen, existiert in dermuslimischen Stadt nicht” (Chueca 1968/1991, S. 78). DieGasse, die Sackgassen, diese „unwahr-scheinlichen Durchgängezwischen Lehmmauern, sind die Verneinung von Straße”.

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Chueca beschreibt die islamische Stadt als „eine geheime Stadtohne Straßen” (S. 75). Während die Straße grundsätzlich „immerein Kontinuum, perfektes Beispiel einer geradlienigenAneinanderreihung” ist, erstreckt sich die Strasse in dermuslimischen Stadt parallel zu sich selbst durch Brüche, dieständig die Perspektive brechen. „Es ist nicht so, dass dieseunregelmäßig oder konfus sind, sondern insgesamt handelt essich hier nicht um Straßen, sondern um etwas grundsätzlichanderes. Die Straßen vieler mittelalterlicher (christlicher)Städte sind auch unregelmäßig und verwinkelt, aber trotzdemsind sie Strassen in all ihrer Bedeutung, dass heißt dasbeeindruckende Fenster der Stadt” (S. 75). Offenbar verabscheutein Muslim die unbestimmte Abfolge einer linearen Perspektive,weil sie jede Intimität verhindert.

Nichts offenbart die Geringschätzung des öffentlichen Bereichsund die Suche nach einen unperspektivischen Raum in dermuslimischen Stadt mehr, als die Gasse (Abb. 134, Abb. 135). Essind keine Strassen, sondern nur funktionale Wege, die denStadtraum nicht gestalten: „Die eintönigen, abweisendenMauerfronten längst der meisten Durchgangsgassen und einigerkleiner platzartiger Erweiterungen in der Altstadt von Fesbelegen, daß auch die Verkehrsachsen nur als eineökonomische Notwendigkeit angesehen werden, nicht hingegenals ein irgendwie gestaltungsbedürftiger öffentlicher Raum”(Wirth 2000, S. 327). Sie schaffen einen neuen, unkultiviertenunmathematischen Zwischen-Raum, der keine Öffentlichkeitzulässt oder sucht. In diesem Sinne, schafft die muslimischeGesellschaft absichtlich aus den am wenigsten privaten,nämlich öffentlichen Räumen der Stadt einen eher intimenprivaten Raum.

Abb. 134 Sackgasse in Fes. Abb. 135 Gasse in Baghdad.

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Abb. 136 Wohngebiet in Fes.

Fes bildete eine großartige Menschensammlung. Ob arm oderreich, die Häuser standen nicht einzeln in Gärten oder warenhalb für sich stehend auf Terrassen angeordnet, sondern an dreiMauern dicht einandergebaut, während die vierte fensterlos andie Straße grenzte (Abb. 136). “Ein Gläubiger steht zumanderen”, sagte der Prophet, “wie die sich gegenseitigestützende Teile des Hauses” (Robinson 1997, S. 191-192).Straßen und Plätze „sind gewissermaßen «Negativraum» –dasErgebnis eines räumlichen Ausgrenzes aus dem privatenBereich, nicht eines räumlichen Eingrenzens von öffentlich undgemeinsam zu nutzenden städtischen Freiflächen” (Wirth 2000,S. 327). Auch sind „die rändlichen Mauern und Wände also nurSchutzwall eines privaten Innenbereichs, nicht hingegenRahmen, Fassade, Kulisse und Hintergrund fürgemeinschaftliches öffentliches städtisches Leben” (S. 327).

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Der Muslim zielt nicht darauf ab, eine beudeutsame undprächtige Fassade zur Strasse oder auf einen Platz zu errichten,um seinen Reichtum zur Schau zu stellen. Seine Zurückhaltungist ein Zeichen des Respekts gegenüber seines Gleichen. Dienorwegische Journalistin Åsne Seierstadt (2003) beschreibt inihren Buch über den Irak-Krieg die Haltung ihres irakischenFahrers Amir gegenüber ihrer Privatheit: “Nachdem er anmeiner Tür geklopft hatte, machte er zwei Schritte nach Hintenund zwei zur Seite. So wartete er immer: einige Schritte vormeiner Tür entfernt, meiner Intimität respektierend” (S. 157).In den engen Gassen der muslimischen Stadt wird vermieden,die Straßentüren zwei unterschiedlichen Familienhäuser aneiner Achse gegenüber zu bauen, um zu verhindern, dass jenevisuellen Kontakt entsteht. Die Malikiten verbieten es sogar:“man muss eine Tür wenigstens 1 oder 2 cubits (ca. 0,52 bis 1Meter) von der anderen gegenüberliegenden verschieben”(Youssef Hoteit 1993, S. 29). Um jedes Tür ensteht dersogennanten Fina´, der Vorraum ausserhalb dem Haupteingang,die eigentlich zur Öffentlichkeit gehört, im subjektiven SinnHalbprivat ist und deswegen respektiert werden soll.

Die reich bearbeitete Fassade ist seinem Hof vorbehalten undzwar nicht, weil er sich nur selbst diesen Genuss gönnenwürde, sondern aus Rücksicht auf die Mitbürger, die sich dasnicht leisten können. Wo Privatheit einen derartherausgehobenen Stellenwert besitzt, wird auf Repräsentationund Öffentlichkeitswirkung wenig Wert gelegt. Chuecabezeichnet die islamische Stadt als „undifferenziert, ohneGesicht, geheimnisvoll und verborgen, tief religiös, als Symbolder Gleichheit aller Gläubigen vor Gott” (Chueca 1968/1991, S.81). Hier werden absichtlich zwei Autoren zitiert, Wirth (2000)und Chueca (1968/1991, 1989), die die Stadt im islamischenOrient von gegensätzlichen Ausgangspunkten her beschreibenund trotzdem zu ähnlichen Schlußfolgerungen in Bezug auf dieQualität des städtischen Raumes kommen. Für Egli (1978)„basiert die Grundidee einer Stadt auf der Gestaltung derindividuellen Häuser, aus der dieser Stadt zusammengesetztist” (S. 55) (Abb. 137).

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Abb. 137 Hofhaus in Baghdad.

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Der Hof ist der offene Mittelpunkt des Privatlebens im Islam.Obwohl das um einen Innenhof gebaute Haus keine Erfindungdes Islam ist, wurde dieser aus helenistischer Tradition hergeerbte Raum modifiziert und verwandelt, den Erfordernisseneines in die Privatsphäre der Familie verschlossenen Lebensangepasst oder in einen nach iranischer Tradition hinterMauern liegenden, abgeschlossenen Garten, wo der Bewohner ineinem an sich privaten Raum dennoch nicht auf den Genuss desLebens an der frischen Luft zu verzichten braucht (Abb. 139, Abb.140). Obwohl schon in vorislamischen und semitischenSiedlungen Vorderasiens starke Tendenzen zur Privatheit,Absonderung und Zurückgezogenheit zu beobachten sind,besteht Wirth (2000) auf der Feststellung, dass dies dieHauptmerkmale der orientalisch-islamischen Stadt im NahenOsten und Nordafrika sind. Viele charakteristische Eigenartender orientalischen Stadt sowohl bezüglich des Grundrißmusterswie des Baubestands (können) durch den absoluten Vorrang derPrivatheit im städtischen Leben erklärt werden” (S. 327). Die„gestaffelte Privatheit”, von der Wirth spricht, lässt sich auch imstädtischen Maßstab verstehen: Stadt, Gasse und Haus bilden inder islamischen Stadt ein Ganzes, das mit dem Begriff der„Privatheit” zu erklären ist. Das Resultat einer „Stadt ohneFassaden” und der Straßen, die nicht verbinden, sondern„Negativraum” sind, zusammen mit der Eingeschlossenheit desPrivatlebens und der Abneigung gegenüber allem Öffentlichensind ein Charakteristikum der islamischen Stadt.

Abb. 138 Luftphoto von Yazd, Iran.

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Die Begriffe „öffentlich” und „privat” haben verschiedeneKonnotationen je nach Kultur, und auch innerhalb derislamischen Welt werden die Grenzen der Privatheitunterschiedlich gelebt. Wirth (2000) hat beobachtet, dass jeweiter man nach Westen kommt, desto mehr Bedarf an Intimitätund Geschlossenheit in der Gestalt der Stadt zu erkennen ist,und der Zugang für Fremde zu öffentlichen Gebäude wieMoscheen, Bädern und Medresen immer stärkerenBeschränkungen unterliegt. Im Falle Fes, das Wirth sehr genaustudiert hat, riskiert er die These, dass die Stadt vielleichtkaum repräsentative Handelsbauten und Marktanlagen besitzt,„weil diese Stadt von berberischen Nomaden- undReitergemeinschaften gegründet und beherrscht wurde, diekeinen Kontakt zu urbanen Traditionen und Lebensformenhatten und denen damit einfach das Wissen und entsprechendeMöglichkeiten städtebaulicher Gestaltung abging” (S. 336).

Als Gegensatz zur Privatheit des Stadtlebens in den Städten desMaghreb, bezeichnet Wirth (2000) in einem extra Item diemonumentalen Stadtanlagen des osmanischen Reiches und desHochlands von Iran, die er als Sonderfälle betrachtet. Wir sindüberzeugt, dass zwar der Begriff von Privatheit weiten Teilenund verschiedenen Kulturen des Islam gemein ist, es aberinnerhalb der muslimischen Welt verschiedene Stufen„öffentlicher Privatheit» gibt, und dass den öffentlichenEinrichtungen ein stärkeres Gewicht zu repräsentativenZwecken zukommt.

Hofhaus in Baghdad

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Abb. 140 Hof des Malek-o-Tojar Hauses in Yazd.

Abb. 139 Malek-o-TojarHaus, Yazd.

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Wirth (2000) vergleicht die Öffentlichkeit der Städte derklassischen Antike mit der Privatheit der orientalisch-islamischen Stadt und stellt folgende These auf: „Sowohl in denStädten der klassischen Antike wie in denjenigen desAbendlandes spielt sich das Miteinander-Leben ganzüberwiegend in aller Öffentlichkeit ab. In den Städten des AltenOrients und der islamischen Welt hingegen wird der Privatheitein erheblich höheres Gewicht beigemessen” (S. 525). Man gehtdavon aus, dass so unterschiedliche Kulturen wie die der Perserund der Berber, der Araber und der Mongolen, der Inder und derOsmanen oder der mamelukischen Ägypter verschiedene Raum-und Stadtraumbegriffe besitzen, die „möglicherweise auf diePersistenz vorislamischer Prägung” zurückgehen. Man könnteden Satz von Bollnow (1963) auf städtebauliche Ebeneübersetzen: „der Stadtraum (ist) nicht unabhängig vomMenschen einfach da. Es gibt einen Stadtraum nur, insofern derMensch (der Kulturmensch) ein räumliches, d.h. Raumbildendes und Raum gleichsam um sich aufspannendes Wesenist” (S. 23). Natürlich bewahrten die unterschiedlichsten Völkerihr Erbe und bereichterten diese durch Einflüsse undKenntnisse ihrer Kulturnachbarn. Gerade in dieser Mischungund in der Anpassung an die Unterschiedlichkeit innerhalb derreligiösen Homogeneität weiter Weltregionen besteht die größteLeistung des Islam.

Obwohl die repräsentativen Stadtanlagen in Samarkand,Buchara oder Isfahan auf den ersten Blick nur als einSonderfall erscheinen könnten, haben wir in dieser Disertationdarzulegen versucht, wie Privatheit, Absonderung undGeschlossenheit trotz monumentaler Maßstäbe in derräumlichen Gestaltung von Plätzen und Höfen bestehen bleiben.Die iranischen und mittelasiatischen Stadtplätze, die jetztgenauer untersucht werden, blieben räumlich betrachtet, eherprivate Stadtplätze. Nocheinmal werde ich Wirth (2000) zitieren,um meine These zu stützen: „Die Charakteristika derorientalischen Stadt – Quartierstruktur, Sackgassengrundriß,Innenhofhäuser - sind offensichtlich stein-gewordener Ausdruckfür einen ganz bewußten Ruckzug aus der Öffentlichkeit, daßheißt für die Intimität und Abgeschiedenheit desFamilienlebens. Es sind jedoch keineswegs nur die Wohnviertel,in denen starke Tendenzen in Richtung auf Absonderung undZurückgezogenheit wirksam werden. Auch andere Bereiche derStadt - die in der klassischen Antike und im christlichenAbendland selbstverständlich allgemein zugänglich sind (wie dieStraßen und Plätze) werden im Orient häufig als privatangesehen, und die Zutrittmöglichkeiten sind deutlicheingeschränkt” (S. 524).

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ALLGEMEINE BEMERKUNGEN ZU FREIENRÄUMEN UND PLÄTZEN IN ISLAMISCHENSTÄDTEN

Über die Anfänge von Platzanlagen in frühislamischen Städtenist wenig bekannt. Zwar waren die ersten freien Stadträume„etwas, was bei der Bebauung eines Areals mehr oder minderzufällig übrig blieb“ (Wirth 2000, S. 403) wie die oben erwähntenJabbana, die für die Expansion von Wohngebieten alsinnerstädtische Platzreserve dienten oder die Suwayqa, beidenen es sich um kleine offene Räume in der Nähe der Bazareund der Moscheen handelte. In unmittelbarer Nähe derStadttore gab es ebenfalls offene Plätze, die als Märkte, alsVersammlungsorte für Soldaten oder Gläubige dienten. Aberplanmäßig angelegte, öffentlich zugängliche Plätze sind aus derfrühen Zeit des Islam kaum bekannt.

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“Es gibt keine Plätze”, heißt es in einem christlichen Dokumentaus der Zeit der Wiedereroberung Spaniens (Pi y Margall 1885,S. 430). Die Conquistadores waren von der Dichte derandalusischen Städte (Abb. 141) und von dem Fehlenöffentlicher Plätze unangenehm überrascht: “Den Mauren standnicht der Sinn danach, leere Orte oder freie Flächen in ihrenSiedlungen zuzulassen” (Torres Balbás 1985, S. 297). Im 14.Jahrhundert äußerte sich der frühe Humanist Antonio Ponzkritisch über die Stadt Valencia, weil “die Mauren sie nach ihrerengen und spärlichen Art mit vielen kleinen Gassen undanderen Deformitäten gebaut” (Llorca Dié 1933, S. 18) hätten.

Abb. 141 Plan von Córdoba, südlicher Teil, 18. Jahrhundert. Sogar an dergroßen Moschee befinden sich keine Plätze oder offene Räume.

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Abb. 142 In der Isometrie eines Teils der Medina von Fes ist der Verlauf derStraßen schwer nachzuvollziehen. Kleine “Plätze” entstehen, wenn die Straßeplötzlich breiter wird oder ihre Richtung ändert.

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In Granada, waren “die Stadtviertel und Straßen, derer vielesind, wegen der Größe der Bauten meist eng, und auch diePlätze und Märkte, wo verkauft wird, sind eng, und wurdendeshalb nach der Einnahme der Stadt von den Christenverbreitert und vornehmer gestaltet” (Sículo 1530; Fabié 1879, S.559).

Die nordafrikanischen und andalusischen Stätde hatten kleineunregelmäßige Plätze, die im Arabischen als Rahba (PluralRihab, Rahbab) oder als Suq (Plural Aswaq) bezeichnet wurden,wenn sie in Verbindung zum Markt standen (Abb. 142). Suq isteine allgemeine Bezeichnung, die eigentlich zu denHandelseinrichtungen des Bazars gehört. In der kompaktenStruktur der muslimischen Stadt werden die kleinen “Plätze”gerade durch die Unregelmäßigkeit der Straßen, die ihre Breiteund Richtung ständig wechseln, ermöglicht: diese Plätze sindwillkürlich aus der Erweiterung einer Straße oder aus derKreuzung zweier oder mehrerer Wege entstanden und von einerheterogenen Bebauung umgeben. Diese Plätze, die nicht geplantund gestaltet sind, werden von Wirth (2000, S. 403) als „nichtbebauter Negativraum“ definiert.

Auch entlang des Bazars von Kairo (Abb. 143) sind kleine freieRäume an den Toren und vor allem vor den Moscheen zu findenwie zum Beispiel an der Südseite des Bazars am Bab el-Futuhvor der Al-Hakim-Moschee; an der kleinen Al Aqmar-Moschee,vor der Al Azhar-Moschee oder am Bab Zuweila vor der Moscheedes Salim Talai, außerhalb der fatimidischen Stadtmauer.

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Abb. 143 Isometrie des Bazars in Kairo, nach Eric Raith.

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Abb. 144 Jemaa El Fnaa-Platz im Marrakesch. Bis Mitternacht ist der PlatzMarkt und Bühne, eine Ausnahme in der Stadtkultur des Islam.

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In Marokko wird der Versammlungs- und Paradeplatz Mechouar

gennant. Er befindet sich meist direkt bei oder in der Nähe desStadttores. Der Jemaa El Fna Platz in Marrakesch ist vielleichteiner der wenigen Plätze im Maghreb der, obwohl nichtarchitektonisch definiert, die Athmosphäre eines“südländischen” Platzes hat (Abb. 144). Über seineEntstehungszeit oder eventuelle ursprünglicheZweckbestimmung ist nichts bekannt. Sein Name bedeutet“Versammlungsort der Toten”, weil hier in früheren Zeitenöffentliche Hinrichtungen vollzogen und die Köpfe derVerurteilten noch Wochen oder sogar monatelang zur Schaugestellt wurden. Der Jemaa El Fna ist “die einzige, schon infrüheren Zeiten der Öffentlichkeit zugängliche und intensivgenutzte Platzanlage des ganzen Landes: Städte wie Fes,Meknes, Rabat oder Tanger (von Casablanca ganz zu schweigen)bieten kein vergleichbar reges und abwechselungsreichesKommunikations- und Unterhaltungszentrum” (Betten 1998, S.267).

Der Platz hat weder eine geometrische Form noch ist erAusdruck eine besonderen architektonischen Interesses (Abb.145). Die heterogenen Fassaden der Gebäude sind ockerfarbigverputzt, vermutlich in Erinnerung an die in früheren Zeitenvorhandene Lehmbauten. Er steht am Rand der Medina inunmittelbarer Nähe des Suqs. Wenn die kleinen unpretensiösenLäden am Rande des Platzes geschlossen und die Ständer derGarküchen und Orangenpresser abgebaut sind, ist der Platz eineeinfache große Fläche ohne jede Anziehungskraft. Es ist dieMenschenmenge, die dem Platz Leben und Gestaltung gibt.

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Abb. 145 Einfache Läden am Rande des Jemaa El Fna Platz im Marrakesch.

Schon vor dem Touristenboom der vergangenen zweiJahrzehnte war der Jemaa El Fna Treffpunkt von Händlern,Akrobaten, Schreibern, Musikern, Tänzern, Glückspielern,Gaucklern, Märchenerzählern, Schlangenbeschwörern,Wahrsagern, Feuerschluckern und anderem Volk, denenhier eine Stadtbühne bis zur Mitternacht für ihre Kunstückeund ihre Waren geboten wurde. Der Platz ist heute einTreffpunkt für Touristen und Einheimische, und die Cafésund Teehäuser mit ihren “Panoramaterrassen” macheneinen sehr städtischen, lebenslustigen und “unislamischen”Eindruck. Dieser Platz ist untypisch für den Islam. Auf derJemaa El Fna wird am deutlichsten sichtbar, wie wenig dieKultur der Berber und ihr Verlangen nach Selbstdarstellungnoch von islamischer Lebensweise bestimmt ist.

Abb. 146 Slavenmarkt naheder Stadtmauer in Buchara;Photo aus den 19. Jahrhundert.

Außerhalb der Städte gab es ebenfalls offene Plätze, die meistkeinen architektonischen Rahmen hatten: Heirats- oderSklavenmärkte, Orte für Versammlungen, Reiter- undPassionsspiele und natürlich auch für die vielen Märkte, dieje nach Warenart und Funktion zu verschiedenen Jahreszeitenabgehalten wurden (Abb. 146).

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Abb. 147 Eine hypothetische Zeichnung von Louis Mayer vom Anfang des 19.Jahrhundert zeigt den großen Hippodrom von Salah el-Din oder Saladin(gestorben 1193), der vermutlich am Ende des 12. Jahrhunderts in Kairo gebautwurde.

Ein besonderes Kapitel stellen die Plätze im Maghreb undPersien dar, die die unentbehrliche Kulisse für dieeindrucksvollen Aufmärsche und Zeremonien iranischerbeziehungsweise berberischer Reitervölker bildeten (Abb. 147).Sie waren für Aufzüge, Paraden und auch für die beliebten Polo-Spiele gedacht und bei vielen ist zu vermuten, dass siebesonders architektonisch gestaltet wurden. Die Plätze, vondenen nur der Maidan-i Schah in Isfahan überlebte, hattengroße Dimensionen. Nach Wirth (2000) befanden sich schon imabbasidischen Samarra im 9. Jahrhundert n. Chr. mehrereAnlagen, große Rennbahnen. Die Stadt Aleppo hatte um 1250 n.Chr. fünf Hippodrome mit Längen von 400, 500 und sogar 620Metern (S. 417).

Es ist auf den ersten Blick vielleicht widersprüchlich, dass inder oft als „antiurban“ bezeichneten Kultur des Islam großePlätze und Hippodrome entstehen konnten. Die Antwort liegtnahe: Es waren die siegreichen Reitervölker, die die Liebe fürAufzüge, Paraden und Pferdesporte in die sesshaften KulturenIrans und in die großen Städten Nordafrikas einbrachten.Aufgrund älterer Reiseberichte „muß man annehmen, dassfrüher in Iran ein repräsentativer Platz im Nutzungsgefüge desBazars sogar die Regel war. Die meisten dieser Plätze sindseitdem dem wachsenden Baulandbedarf im Stadtzentrum zumOpfer gefallen (S. 419).

Im islamischen Recht „wird das Bauwesen in den Städten durchdie hisba, das heisst durch die religiös-moralischen Grundsätzeeines gottgefälligen Lebenswandels und öffentlichenWohlverhaltens, geregelt (...). Dieser hat in der Regel nur dafürzu sorgen, daß der Passanten- und Durchgangsverkehr nichtbehindert wird. Wenn das gewährleistet bleibt, kann er gegen

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Vor- und Zurückspringen von Baufluchten, gegen Biegungen undKrümmerungen in der Linienführung und gegen alternierendeVerbreiterung und Verengung selbst der Hauptstraßen kaumeinschreiten. Vor allem die schafiitische, die malekitische unddie hanefitische Rechtsschule waren hier duldsam undgroßzügig“ (Wirth 2000, S. 439).

In der islamisch geprägten Stadt haben die öffentlichenDurchgangsstraßen (von einigen Asnahmen wie Kairo, Istanbulund andere Residenzstädten abgesehen) „keine repräsentativeoder stadtarchitektonische Funktion: Man will nicht inbaugestalterisch-ästhetischer Absicht irgendwelche abstrakten,wie mit dem Lineal gezogenen Baufluchten konservieren,sondern nur die Möglichkeit ungehinderten Passierensgewährleisten“ (S. 439).

„Das Freihalten öffentlicher Straßen und Plätze gehörte wohlauch nur zu den mehr am Rande liegenden, als nicht besonderswichtig erachteten Aufgaben des muhtasib; in den einschlägigenRechtsbüchern und Urkunden wird dementsprechend meistwenig oder gar nichts darüber gesagt. In Perioden schwacherZentralgewalt waren die Möglichkeiten des muhtasib, seineAnordnungen durchzusetzen, ohnehin sehr beschränkt. DurchBestechung oder persönliche Beziehungen behielt oft genug dasPrivatinteresse einzelner Grundstücksbesitzer die Oberhand.Wie sehr die Aufrechterhaltung eines klaren, geometrischenStadtgrundrisses vom Durchsetzungsvermögen der städtischenBauaufsicht abhängt, zeigte sich übrigens auch während derbyzantinischen Spätantike“ (S. 439).

„Vergleicht man die teilweise sehr strengen Vorschriften derklassisch-antiken und unserer mittelalterlichen Städte überEinhalten von Baufluchten, Freihaltung aller öffentlichenStraßen und Plätze usw. mit der recht lockeren undunvollkommenen Straßen- und Bauaufsicht des muhtasib in derStadt des islamischen Mittelalters, dann verwundert es sogar,daß die orientalischen Städte nicht noch mehr von ihrerursprünglichen Durchgängigkeit eingebüßt haben, und daß deralte Plangrundriß häufig noch so klar zu erkennen ist. Nacheinem Reisebericht hatte Tripolis in Lybien noch im Jahre 1308den geometrischen Schachbrettgrundriß der antiken Stadt mitgeraden, breiten Straßen fast unverändert bewahrt (Brunschwig1947, S. 392), und auch der regelmäßige Grundriß Kairos (alQahira) beginnt erst im Spätmittelalter zu zerfallen (Wirth 2000,S. 439).

„Zusammenfassend sei nochmals festgehalten, daß sich dieabendländische Stadt und diejenige des islamischen Mittelaltersallenfalls graduell, nicht prinzipiell voneinander unterscheiden,wenn wir sie hinsichtlich der Linienführung und derRegelhaftigkeit ihres Plan-Grundmusters miteinandervergleichen. Von Regellosigkeit und Zufälligkeit des Grundrissesorientalischer Städte kann auf jeden Fall auch für islamischeZeit keine Rede sein“ (Wirth 2000, S. 440).

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Abb. 148 Der Place de la Libérationin Larache entstand während derspanischen Herrschaft über denNorden Marokkos.

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„Eine oft mehrfache Zerstörung mit nachfolgendemWiederaufbau sowie die ständige Erneuerung der Bausubstanzauch in Friedenszeiten haben allerdings im Laufe derJahrhunderte dazu geführt, daß die Linienführung derDurchgangsachsen heute mehr oder weniger unregelmäßigverläuft, und daß auch die Breite ein und derselben Straßeimmer wieder wechselt. Vor allem, wenn bei Lehm- undZiegelbauten kein dauerhaftes Straßenpflaster und keineSteinfundamente für die Häuser vorhanden sind, lassen sich diealten Fluchtlinien beim Wiederaufbau nach völliger Zerstörungkaum genau rekonstruieren - zumal es im Islam eben keinestädtische Instanz gibt, die rigoros auf deren Einhaltung achtet.So kann man im gegenseitigen Einverständnis der Anlieger undunter stillschweigender Duldung durch die ObrigkeitAbweichungen von der ursprünglichen Konzeption durchsetzen“(Wirth 2000, S. 440).

„Was die da und dort unterschiedliche Straßenbreite anbelangt,so sollte man auch in Rechnung stellen, daß in den Straßen derklassisch-antiken Stadt wie in den Straßen unserermittelalterlichen Städte immerhin zwei beladene Wagen ohneSchwierigkeiten aneinander vorbeikommen mußten. Von derarabischen Eroberung bis ins 19. Jahrhundert hinein mußtendie Straßen der orientalischen Stadt demgegenüber nur Platzzum Passieren zweier hoch beladener Kamele bieten. Dennochhat sich das Netz der Haupt-und Durchgangstraßen sowohl inden von den Arabern eroberten antiken Städten wie in denStädten islamzeitlicher Gründung bis zum heutigen Tagweitgehend erhalten können“ (S. 440).

In Nordafrika gibt es einige wenige Beispiele für Plätze, die inder Kolonialzeit gebaut wurden und deswegen nicht zumeigentlichen Thema dieser Dissertation gehören. Trotzdem ist essinnvoll, den Markt von Ghardaia (Abb. 149), eine Oasenstadt amM’ zab Thal 600 Kilometer südlich von Algier, und den Place de laLiberation in Larache in Marokko zu nennen (Abb. 148). Letztererentstand während der spanischen Herrschaft über den Nordendes Landes. Mit seiner „unmarokkanischen Atmosphäre“ stehtder zentralgelegene Platz mit Café-Arkaden in der Tradition derspanischen plazas mayores. Auch der Ghardaia Markt gehört zumselben Typ: seine Architektur erinnert an den Arkadenplatz vonGarovillas in der Provinz Cáceres (Abb. 149). 200 Jahre nach derWiedereroberung Spaniens durch die Christen entstand mittenim Ajerquía Viertel von Córdoba die Plaza de la Corredera (Abb.151, Abb.152). Der 1683 errichtete Platz aus Backstein dienteals Marktplatz und Stierkampfarena. Im Plan wird dieUnregelmäßigkeit der Wohnungen, die den hofähnlichen Platzbilden, eindeutig. Wie beim vielen Beispielen von plazas mayores

in Spanien erinnert die geschlossene Räumlichkeit der Anlagean Höfe von Moscheen.

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Abb. 149 Ghardaia-Markt.

Abb. 150 Plaza Mayor Garovillas, Spanien.

Abb. 152 Grundriss der Plaza de laCorredera, Córdoba, 1683.

Abb. 151 Plaza de la Corredera,Córdoba.

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