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20 Jahre Psychiatriereform - eine Zwischenbilanz

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20 Jahre Psychiatriereform -

eine Zwischenbilanz

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InhaltsangabeSeite

Vorwort der Herausgeber und der Redaktionsgruppe 5

Malu Dreyer MdL und Ministerpräsidentin20 Jahre Psychiatriereform eine historische Betrachtung! 7

Sabine Bätzing-LichtenthälerMinisterin für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demographie20 Jahre Psychiatriereform in Rheinland-Pfalz und jetzt? 10

Volkmar AderholdNetzwerkgespräche im offenen Dialog 14

Franz-Josef Wagner20 Jahre Psychiatrie-Erfahrene in Rheinland-Pfalz - eine Bestandsaufnahme mit Zukunftswünschen 29

Esther HerrmannForderungen der Angehörigen psychisch Kranker 31

Roswitha Beck Kuratoriumsvorsitzende des Vereins zur Unterstützung Gemeindenaher Psychiatrie in Rheinland-Pfalz e.V.Psychiatriereform gemeindenah! - Auftrag und Verpflichtung 33

Richard AuernheimerDer Anspruch auf Teilhabe, Gleichstellung und Selbstbestimmung und was daraus für chronisch psychisch kranke Menschen entstehen soll 36

Wolfgang GuthSozialpsychiatrie in Rheinland-Pfalz 1995- 2015 44

Richard Auernheimer / Franz Josef WagnerDer Weg aus dem Heim – aber wie? Bericht über die Beteiligung der Menschen in Heimen 46

Der Weg aus dem Heim – aber wie?Statements von Bewohnerinnen und Bewohnern - eine beispielhafte Auswahl 47

Ernesto Messingerschizophren ?? na und?? 49

Autoren 51

Impressum 53

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20 Jahre Psychiatriereform – eine Zwischenbilanz !?

Der Anlass für diese Broschüre ist nicht nur die Festver-anstaltung in der Staatskanzlei, – wie die Bilder zeigen, – sondern vor allem die Herausforderung zur Lösung der zukünftigen psychosozialen Aufgaben. War das PsychKG für die Sozialpsychiatrie der Menschen zwischen 18 und 65 Jahre erfolgreich, so sind heute Themen wie geronto-psychiatrische und bedürfnisangepasste Behandlung, sozi-alpsychiatrische Netzwerke, sozialversicherungspflichtige Arbeit für Psychiatrie-Erfahrene, wachsende Behandlungs-nachfrage nach komplexen Diagnosen bei Jugendlichen und Erwachsenen usw. im Blickfeld.

„Die Würdigung der erfolgreichen Umsetzung der Psychiatriereform ist auch die Würdigung einer politischen Erfolgsgeschichte, denn die Psychiatriereform zählt zu den erfolgreichsten Sozialreformen des Landes.“ diese Aussage stammt von Ministerpräsidentin Malu Dreyer.

Im November 1995 wurde das damals visionäre PsychKG verabschiedet. Hierzu wurde die Mitarbeit der Angehörigen und der Selbsthilfe erstmals offiziell eingefordert: „Ehrenamtliche Hilfen einschließlich der Angehörigenarbeit, sowie Projekte der Selbsthilfe sind in die Versorgung psychisch kranker Personen einzubeziehen. Soweit dies deren Wünschen entspricht, haben diese Hilfen Vorrang vor öffentlicher Arbeit.“ Zur gleichen Zeit gründete sich der „Verein zur Unterstützung Gemeindenaher Psychiatrie in Rheinland-Pfalz e.V.“ mit der Kuratoriumsvorsitzenden Roswitha Beck und dem Geschäftsführer Dr. Richard Auernheimer, die nicht nur die Reform begleiteten, sondern auch die Projekte und Ideen der Selbsthilfe initierten unterstützten und umsetzten. Mit ihrer Hilfe konnten Fachtagungen zu: Krisenintervention, Sexualität, Arbeit für psychisch kranke Menschen, Kommunikation, Doppeldiagnosen, Recovery, Empowerment, Prävention, Resilienz und Salutogenese als auch zu Ambulant vor Stationär usw. durchgeführt, Kunstprojekte wie: „Bilder aus Gesunden und kranken Tagen“ und „EigenART“ umgesetzt und die Tagungsreihe „Der Weg aus dem Heim – aber wie?“ ins Leben gerufen werden.

Dass die Festveranstaltung nur ein Zwischenergebniszie-hen darstellte, das war Thema der Frau Sozialministerin Bätzing-Lichtenthäler. Sie verwies auf zukünftige Heraus-forderungen wie die kontinuierlich wachsende Nachfrage nach psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung aufgrund der Zunahme von komplexen Problemlagen und gerontopsychiatrischen Erkrankungen. Ihre Vision ist die

strukturelle Weiterentwicklung der psychotherapeutischen Versorgungs- und Unterstützungsangebote, die sich stärker zu lebensfeldzentrierten, sektorübergreifenden Hilfsange-boten entwickeln müssen.

Dass „Netzwerkgespräche im offenen Dialog“ eine Lösung zur wachsenden Nachfrage nach Behandlung ist, das zeigte Dr. Volkmar Aderhold am Modell der bedürfnisangepassten Behandlung in Finnland. In Therapieversammlungen oder Netzwerkgesprächen vor Ort und nicht stationär, werden dabei Therapieprozesses erfolgreich umgesetzt.

Der gesamte therapeutische Prozess soll eine gemeinsame Aufgabe von Politik, Selbsthilfe und professionellen Therapeuten werden, damit die seelische Gesundheit gefördert, der Entstehung von psychischen Erkrankungen vorgebeugt sowie den Erkrankten die bestmögliche Unterstützung gegeben werden kann.

Der Landesverband Psychiatrie-Erfahrener möchte die-sen Prozess nicht nur begleiten und mitplanen, sondern auch praktisch mitgestalten. Aus diesem Grund haben wir 2014/2015 die Ex-In-Ausbildung umgesetzt, deren Refi-nanzierung durch die Jobcenter und Agenturen für Arbeit durchgesetzt und Beschäftigungen als Genesungsbegleiter in der Gemeindepsychiatrie angeregt.

Die ersten 20 Jahre waren bewegt, ereignis- und erfolg-reich. Das zeigen nicht nur die vielen Nachfragen auf un-serer Homepage, sondernauch gut besuchte Fachtagungen, das Echo auf Veröffentlichungen in Fachzeitschriften und das Interesse an uns als Referenten für bundesweite Tagun-gen, Projekte und Initiativen. Das Engagement der ehren-amtlichen Arbeit des Landesverbands wurde 2015 mit dem Brückenpreis für „Bürgerschaftliches Engagement gegen soziale Benachteiligung, Ausgrenzung und Diskriminie-rung“ durch Ministerpräsidentin Malu Dreyer gewürdigt.

Für die inhaltliche und finanzielle Unterstützung der orliegenden Broschüre danken wir dem Verein zur Unterstützung Gemeindenaher Psychiatrie in Rheinland-Pfalz e.V.

Für die ideelle, finanzielle, logistische und moralische Unterstützung in den letzten 20 Jahre bedankt sich der Landesverband Psychiatrie-Erfahrener bei ALLEN, die sich engagierten!!

Die Redaktionsgruppe

Vorwort zur Dokumentation „20 Jahre Psychiatriereform – eine Zwischenbilanz !?“

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20 Jahre Psychiatriereform – eine Zwischenbilanz !?

20 Jahre PsychiatriereformRede von Malu Dreyer, MDL; Ministerpräsidentin

Ich freue mich liebe Frau Dr. Schwaben, dass Sie die Mode-ration der heutigen Veranstaltung übernommen haben.

Sehr gefreut habe ich mich auch über die Musikgruppe „uner-hörT“, eine meiner Lieblingsbands mit einem tollen Lied. Ich glaube, es war wirklich ein ganz toller Auftakt.

Ich freue mich sehr, dass Sie heute hier sind und diese Fei-erstunde umrahmen. Ich darf Sie alle herzlich begrüßen, Sie sind die vielen Mitstreiter und Mitstreiterinnen und politisch Verantwortlichen der letzten 20 Jahre, die für die Psychia-triereform in Rheinland-Pfalz stehen. Ich habe mir vorge-nommen, auch wenn es manchmal ein bisschen langatmig ist, so viele wie möglich von Ihnen persönlich zu begrüßen. Im Laufe meines Rückblicks komme ich immer wieder auf die eine oder den anderen von Ihnen zurück. Also haben Sie kei-ne Angst, wenn ich Sie nicht direkt am Anfang begrüße.

Ich freue mich natürlich sehr, dass ich die ehemaligen Staats-sekretäre Dr. Richard Auernheimer und Christoph Haber-mann herzlich begrüßen darf. Herzlich willkommen. Ich freue mich, dass die Kuratoriumsvorsitzende des Vereins zur Unterstützung gemeindenaher Psychiatrie in Rheinland-Pfalz Frau Roswitha Beck bei uns ist, auch das freut mich ganz be-sonders.

Am Samstag, lieber Franz Josef Wagner, durfte ich Dir noch den Brückenpreis verleihen hier im Festsaal zum Tag des In-ternationalen Ehrenamtes. Heute begrüße ich Dich als Vor-

sitzenden des Landesverbandes Psychiatrieerfahrener Rhein-land-Pfalz, lieber Franz Josef Wagner. Herzlich willkommen, schön, dass Du da bist.

Frau Zindorf kann heute leider nicht da sein. Sie ist heute vertreten durch ihre Stellvertreterin Frau Esther Hermann. Ich begrüße Sie für den Landesverband der Angehörigen psy-chisch Kranker in Rheinland-Pfalz, herzlich willkommen.

Ich begrüße Sie Herr Dr. Volkmar Aderhold. Sie werden heute den Festvortrag halten, das freut uns wirklich sehr und ich freue mich auch, dass ich Kollegen des Landtags begrüßen darf, einen Kollegen nämlich, Herrn Jörg Denninghoff, herz-lich willkommen, lieber Jörg.

Ich begrüße die zuständige Fachministerin Frau Sabine Bät-zing-Lichtenthäler, sehr schön, dass wir das heute gemeinsam machen dürfen, und natürlich unseren Landesbehindertenbe-auftragten, lieber Herr Matthias Rösch.

Ich freue mich natürlich auch sehr, dass Herr Pfarrer Bähr heute dabei ist, herzlich willkommen. Ich begrüße auch die Vertreterinnen und Vertreter unserer Kommunen, ohne die eine Umsetzung der Psychiatriereform in Rheinland-Pfalz überhaupt gar nicht vorstellbar gewesen. Ich sehe hier in der ersten Reihe sitzen unseren Herrn Landrat Herr Hirschberger, herzlich willkommen. Da hinten sehe ich den Landrat Herr Görisch und ich sehe den Herrn Oberbürgermeister Pirmann, ganz herzlich willkommen! Ich sehe auch Herrn Müller von den Kommunalen Spitzenverbänden, also die Kommunen sind reichlich vertreten, darüber freuen wir uns wirklich sehr! Dann darf ich ganz allgemein alle Vertreter und Vertreterin-nen des Landespsychiatriebeirates, der Selbsthilfe, der Klini-ken und der Gemeindepsychiatrie begrüßen und natürlich alle Ehrengäste ganz besonders. Ich sehe viele, viele Gesichter, die heute gar nicht mehr im Amt sind, die aber ganz maß-geblich mitgewirkt haben bei der Psychiatriereform. Das ist schön, dass sich zu diesem 20jährigen Jubiläum die ganze Bandbreite der eigentlichen Akteure dieser Zeit hier in diesem Raum wiederfindet.

Vor 20 Jahren trat also das rheinland-pfälzische Landesgesetz für psychisch kranke Personen in Kraft und dies ist ein guter und wichtiger Anlass, Rückschau zu halten, auch ein bisschen zu feiern und mit Frau Bätzing-Lichtenthäler den Blick nach vorne zu wagen. Ich freue mich sehr, dass ich dies heute mit Ihnen allen hier gemeinsam tun darf. Als ich mit der Psychi-atriereform zu tun hatte, hätte ich mir niemals vorstellen kön-nen, dass ich Sie irgendwann als Ministerpräsidentin einlade. Aber ich finde es auch ganz schön, dass wir das jetzt hier in der Staatskanzlei machen können, denn es ist ein angemessener Rahmen für 20 Jahre Psychiatriereform in Rheinland-Pfalz.

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20 Jahre Psychiatriereform – eine Zwischenbilanz !?

Die rheinland-pfälzische Psychiatriereform ist ein Gemein-schaftswerk und das kann man sehen, wenn man sich um-schaut und sieht wer so alles hier ist. Sie beruht auf einem ganz großen gemeinschaftlichen, gesellschaftlichen, fach-lichen Grundkonsens, nämlich der gemeinsamen Überzeu-gung, dass die Verbesserung der Situation von chronisch psychisch kranken Menschen Vorrang hat und zwar auch vor durchaus berechtigten Bedenken, Ängsten, Eigeninteressen oder auch Kostenfolgen. Das war der Grundkonsens, auf den sich alle bis zum heutigen Tage geeinigt haben in Rheinland-Pfalz und dafür will ich Ihnen allen wirklich aus ganzem Her-zen sehr, sehr herzlich danken für Ihr großes Engagement.

Sie sind alle Profis in diesem Thema, deshalb kann ich die Rückschau auch sehr kurz halten. In den 70er/ 80er Jahren begann ja Gott sei Dank bundesweit die Debatte über das Thema Psychiatrie/Psychiatriereform. Es hat allerdings in Rheinland-Pfalz gedauert, bis das Thema ankam. Auf Bun-desebene hatte im September 1975 die Psychiatrie-Enquete ganz wichtige Grundsätze festgelegt. Es gab dann einige we-nige Mutige in unserem Land, die bevor die Landesregierung überhaupt die Initiative ergriffen hat, schon vorangegangen sind. Einer der ersten ist hier. Herr Dr. Guth, ich habe ihn schon gesehen, der stellvertretend für all die einzelnen Muti-gen steht, die später natürlich auch im Rahmen der Gesetzge-bung ganz wichtige Akzente gesetzt haben.

Aber als ärztlicher Direktor der Rheinhessen-Fachklinik Alzey sind Sie einer der wirklichen Vorreiter in der Psychiatriereform Rheinland-Pfalz gewesen und ich sage Ihnen, stellvertretend für alle Pioniere, jetzt herzlichen Dank, auch dafür, dass Sie bis zum heutigen Tage so engagiert sind und das Thema auch kritisch begleiten. Ich danke Ihnen und allen Mitstreitern, die sich ganz früh für die Enthospitalisierung von chronisch psychisch kranken Menschen eingesetzt haben, damals noch in der Landesnervenklinik Alzey. Inzwischen hat sich die Welt Gott sei Dank verändert, also lieber Herr Guth, stellvertretend für die ersten Pioniere ein großes Dankeschön an Sie.

Dann kam das Jahr 1991. Es gab einen Regierungswechsel in Rheinland-Pfalz, die sozial-liberale Koalition hat die Psy-chiatriereform sehr beherzt in Rheinland-Pfalz angepackt. Der damalige Minister war Florian Gerster, sein damaliger Staatssekretär im Gesundheitsministerium war Klaus Jen-sen und es gab natürlich auch ganz besonders engagierte in diesem Ministerium, wie beispielsweise Herr Bernhard Scholten. Er war auch einer, der sehr beherzt diese ganze Geschichte mit angepackt hat und ebenso sein Mitarbeiter Herr Werner Schmitt. Im Gesundheitsministerium liefen die Fäden zusammen und deshalb war es auch sehr wichtig, dass die Reform wirklich auf Landesebene koordiniert worden ist durch das Gesundheitsministerium.

Das erste Ziel in der Koalitionsvereinbarung von 1991 war, psychisch kranke Menschen genau wie somatisch Erkrankte dort zu behandeln wo sie wohnen, nicht fernab von ihrem Wohnort und ihren Angehörigen. Von daher folgte eben der Auf- und Ausbau dezentraler psychiatrischer Angebote für insgesamt 19 Versorgungsregionen. Die drei großen psy-chiatrischen Großkrankenhäuser, Sie erinnern sich noch: In Klingenmünster, in Alzey und in Andernach wurden dement-sprechend verkleinert. Es begann eben auch der Aufbau der Tageskliniken und der psychiatrischen Institutsambulanzen. In der Folge wurde die politische Zielsetzung übersetzt in die Empfehlungen des Ausschusses für Krankenhausplanung, die dann am 15.12.1994 verabschiedet wurden. Das war ein sehr wichtiger Schritt, denn damit verbunden war ja zum ers-ten Mal die Versorgungsverpflichtung aller psychiatrischen Fachkliniken und psychiatrischen Hauptfachabteilungen an Allgemeinkrankenhäusern, also die Sicherstellung der Kran-kenhausbehandlung für psychisch kranke Personen in ihrer jeweiligen Versorgungsregion.

Bei der Verkleinerung der Großkliniken galt es aber auch ganz schön viele Herausforderungen zu stemmen, denn viele Beschäftigte hatten damals natürlich auch die große Befürch-tung, sie könnten ihre Arbeitsplätze verlieren und daher gilt auch ein ganz großes Dankeschön den Gewerkschaften, vor allem der ÖTV, später Ver.di. Hier nenne ich stellvertretend Frau Beate Eggert, weil sie und die Personalräte des Lan-deskrankenhauses, des Pfalzklinikums, stellvertretend Herr Wörner und Frau Dohren, sich sehr konstruktiv eingesetzt haben, dass dieser Prozess wirklich gut gelaufen ist. Ganz wichtig war damals die Zusicherung von meinem Vorgän-ger, Ministerpräsident Herr Kurt Beck, der in den berühmten Arbeitsmarktkonferenzen, in den 90iger Jahren, zugesichert hat, dass keiner betriebsbedingt seinen Arbeitsplatz verliert, nur aufgrund der Regionalisierung und Dezentralisierung. Das hat damals vielen Beschäftigten dann auch ein ganzes Stück Sicherheit gegeben.

Die folgenden Tatsachen sprechen jetzt eigentlich für sich: nämlich im Bereich der Erwachsenenpsychiatrie gibt es ak-tuell insgesamt 22 Fachkliniken und Hauptfachabteilungen an Allgemeinkrankenhäusern, 29 Tageskliniken, 29 Psychi-atrische Institutsambulanzen. Auch im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie konnte das Angebot stark ausgebaut werden. Gab es bis 1991 nur ein vollstationäres Angebot, nämlich am Pfalzinstitut in Klingenmünster, gibt es inzwi-schen 9 stationäre und 10 teilstationäre Angebote sowie 12 psychiatrische Institutsambulanzen im ganzen Land. An die-ser Stelle will ich auch noch die Krankenkassen nennen, bei denen ich mich ebenfalls ganz besonders bedanken will. Sie alle haben diesen Reformprozess schließlich auch mitgetra-gen und aktiv mitgestaltet und diesen nie aus Kostengründen

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in Frage gestellt. Herr Ingbert Müller - er ist tatsächlich extra aus Bayern gekommen - ein herzliches Dankeschön an Sie, Herr Müller. Alle, die sich nicht mehr so genau erinnern, er war damals der Referent beim vdek beim Verband Deutscher Ersatzkassen und er hat sich vorbildlich engagiert gerade in der Frage der Psychiatriereform. Deshalb ist es sehr schön, dass Sie heute da sind. Denn ohne Krankenkassen geht gar nichts. Das weiß jeder, der mit dem Gesundheitswesen zu tun hat.

Durch die Dezentralisierung der psychiatrischen Kranken-hausversorgung erfolgte dann auch die Rückkehr chronisch psychisch kranker Menschen in ihre Gemeinden. Daraus re-sultierte eine starke Veränderung der Unterstützungssysteme außerhalb der Krankenhäuser. Die Krankenhäuser begannen intensiver mit den sogenannten komplementären und den ambulanten Assistenz- und Unterstützungsangeboten für psychisch erkrankte Menschen in ihrer Versorgungsregi-on zusammenzuarbeiten. Das ist sicherlich der zweite ganz wesentliche Punkt für mich in der Psychiatriereform. Es entstanden eine Vielzahl von Angeboten zum Wohnen, zur Beschäftigung und zur Tagesstrukturierung, u.a. mehr als 30 Tagesstätten mit Kontaktstellenfunktion in ganz Rheinland-Pfalz. Mit den Tagesstätten gab es in der Gemeinde einen Ort, der nicht klinifiziert war, sondern von den Psychiatrie-erfahrenen als Anlaufpunkt und als Kontaktstelle genutzt werden konnte. Sie waren auch wichtige Treffpunkte für die Betroffenen.

Es gilt drei Aspekte zu würdigen, die im Landesgesetz für psychisch kranke Personen verankert sind und die heute in Anbetracht der UN Behindertenrechtskonvention als so ganz und gar selbstverständlich verstanden werden. Damals waren diese Punkte aber doch ganz neu. Sie zeigen auch, wie mo-dern das Landesgesetz für psychisch kranke Personen nach wie vor ist.

Da ist der § 7, in dem die Planung und Steuerung der psychi-atrischen Versorgung als kommunale Aufgabe definiert wird. Die Instrumente benennt Abs. 5 im § 7. Bis zum heutigen Tag erhalten die Kommunen die berühmte Psychiatrie-Mark, heute sind das 0, 52 € pro Bewohner, insgesamt also rund 2 Mio. € im Jahr zur weiteren Verbesserung der gemeinde-psychiatrischen Strukturen. Also, ich habe es eingangs schon gesagt, eins der ganz wesentlichen Kernelemente der Reform ist, dass man die Aufgabe kommunalisiert und die Kommune auch dafür ausstattet, um diese Aufgabe auch wirklich um-zusetzen.

Das zweite Kernelement ist der § 4, der die Angehörigen als Adressat von Hilfen nennt - ein Wunsch der Angehörigen, die nicht immer nur Co-Therapeuten sein wollten.

§ 6 definiert den Vorrang der Selbsthilfe. Insofern kann man heute auch noch sagen, dass unser Landesgesetz durchaus moderne Züge hat. Die Kommunen haben ihre im Landesge-setz verankerte Aufgabe der Planung und Koordinierung der psychiatrischen Hilfen für eine wohnortnahe Unterstützung der Betroffenen sehr gut umgesetzt. Sie haben Psychiatrie-beiräte ins Leben gerufen und Stellen geschaffen für Psychia-triekoordinatoren. Im ganzen Land haben sich psychosoziale Arbeitsgemeinschaften gebildet. Auch dafür möchte ich jetzt noch mal ganz ausdrücklich den Kommunen danken. Denn ohne die Kommunen, das kommunale Engagement wäre es eben nicht möglich tatsächlich auch diese Anlaufstellen, die Wohnmöglichkeiten vor Ort und auch die Normalität zu schaffen, dass Menschen mit einer psychiatrischen Erkran-kung mitten in der Gesellschaft leben können. Also Danke-schön noch mal an alle kommunalen Vertreter.

Dann möchte ich natürlich auch danken den Mitgliedern des Landespsychiatriebeirates, die durch ihre langjährige Arbeit die Psychiatriereform begleitet und auch unterstützt haben. Nicht unerwähnt bleiben dürfen in dem Zusammenhang die rheinland-pfälzischen Vertreter der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie. Für ihre Unterstützung und die vielen konstruktiven Anregungen während der Reform gilt es Dan-ke zu sagen und stellvertretend möchte ich gerne Herrn Josef Bernardy ganz herzlich begrüßen, der gemeinsam mit Herrn Norbert Schummel auch einer der ganz wichtigen Personen in dieser Reform war. Herzlichen Dank für das große Enga-gement und auch dafür, dass Sie bis heute der Psychiatriebe-wegung die Treue halten.

Neben den Fachleuten, den Beschäftigten, den Lokalpoli-tikern, den Krankenkassen, den Krankenkassenverbänden sowie den Krankenhausträgern haben die Psychiatrieerfah-renen und die Angehörigen psychisch kranker Menschen einen ganz wesentlichen Beitrag bei der Umsetzung der Psychiatriereform geleistet. Die Psychiatriereform wurde für die psychisch kranken Menschen und ihre Angehörigen gemacht. Deshalb war und ist es selbstverständlich und not-wendig, dass sie mitbestimmen über Veränderungen und die Weiterentwicklung der Psychiatrie in Rheinland-Pfalz. Über die Jahre hinweg hat sich in Rheinland-Pfalz eine sehr akti-ve Selbsthilfe sowohl in Regionalgruppen wie auch in den beiden Landesverbänden etabliert und mein ganz besonderer Dank gilt an dieser Stelle jetzt noch einmal stellvertretend Herrn Franz Josef Wagner und natürlich auch Frau Herr-mann. Herzlichen Dank, dass auch Sie schon so lange dabei sind und dass Sie mit zu den Geburtshelfern der Psychia-triereform gehören und dass Sie nicht müde werden, immer wieder mitzuwirken. Vielen herzlichen Dank auch dafür.

Die Landesverbände unterstützen nicht nur die regionalen

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20 Jahre Psychiatriereform – eine Zwischenbilanz !?

Selbsthilfegruppen. Sie initiieren und begleiten natürlich auch wichtige Projekte wie beispielsweise den Aufbau von Tagesstätten, die Entwicklung von Befragungen oder die Be-handlungsvereinbarungen, die wir abgeschlossen haben und vieles mehr. Sie organisieren spannende Fachtagungen, auch das ist wesentlich, um die Rahmenbedingungen der Psych-iatrie weiter zu entwickeln. Sie arbeiten deshalb auch ganz selbstverständlich als Partner in allen Landesgremien mit.

Last but not least möchte ich auch den bundesweit einmali-gen Verein nennen, der Verein von Roswitha Beck zur Unter-stützung gemeindenaher Psychiatrie. Ich freue mich deshalb sehr, dass die Kuratoriumsvorsitzende und auch der Ge-schäftsführer heute hier sind. Ich will noch zwei Sätze dazu sagen. Der Verein hatte sich das unverzichtbare Ziel gesetzt, die damals beginnende Psychiatriereform in Rheinland-Pfalz nicht nur finanziell, sondern auch ideell zu fördern. Beides war und ist uns gleichermaßen sehr wichtig gewesen, denn wir hatten damals ja noch viel stärker als heute mit dem Thema „Entstigmatisierung“ zu tun. Dabei war es auch für Rheinland-Pfalz nicht normal, dass die Öffentlichkeit von Anfang an positiv darauf reagiert hat, was da so alles bewegt worden ist.

Auch die finanzielle Förderung von Projekten, das große Fundraising, das alles sind Initiativen, die dieser Verein eben gewährleistet. Hierfür auch nochmals ein ganz besonders großes Dankeschön. Ich glaube, das Engagement der Zivil-gesellschaft ist besonders wichtig, wenn es um Akzeptanz für diesesThema in der Öffentlichkeit geht. Das permanente Werben, dass man gemeinsam auf dem richtigen Weg ist, da-für ist ein solcher Verein Gold wert. Deshalb meinen herzli-chen Dank, dass Sie immer und überall dabei sind, egal wo es gerade um dieses Thema geht. Herzlichen Dank.

Nun ist die psychiatrische Versorgung in Rheinland-Pfalz durch die Reform natürlich grundlegend neu strukturiert worden, damit eine menschenwürdige und wohnortnahe Be-handlung und Unterstützung chronisch psychisch erkrank-ter Menschen möglich ist. Die Reform beruhte auf einem gesellschaftlichen und fachlichen Grundkonsens. Ich habe das anfangs gesagt. Dieser Konsens wurde übersetzt in ganz konkrete Maßnahmen, in ganz konkrete Schritte. Die Mit-arbeit und die Beteiligung aller Partner erfolgte unter Zu-rückstellung eigener Interessen. Wir haben gemeinsam in den letzten Jahren sehr viel erreichen können und einen sehr guten Weg eingeschlagen.

Frau Bätzing-Lichtenthäler wird ja nun freundlicherweise den Teil übernehmen, wo wir die Herausforderungen für die Zukunft sehen. Denn eines ist auch klar, wenn diese Reform auch sehr gewaltig war – gesellschaftspolitisch muss man sie

auch immer wieder neu beleben. Man muss zu jedem Zeit-punkt immer wieder überprüfen, wo stehen wir eigentlich und was müssen wir vielleicht auch wieder besser machen. Wir müssen prüfen, ob sich vielleicht irgendein Instrument durch veränderte Rahmenbedingungen als nicht mehr ver-lässlich erweist. Auch diese Prüfung gehört zu einem Festtag wie dem heutigen.

Ich habe jetzt viel über die Vergangenheit gesprochen. Wohin geht die Reise in der Psychiatrie? Welche Aufgaben haben wir noch zu bewältigen? Natürlich gemeinsam, damit es für psychisch kranke Menschen noch besser wird und sie sich in unserer Gesellschaft wirklich „mitten im Leben“ wiederfin-den und wir alle Hürden abbauen, die wir abbauen können.

In diesem Sinne will ich abschließen mit einem großen Dan-keschön, auch an diejenigen, die ich nicht begrüßt habe. Ich sehe die Klinikleitung der Fachklinik Rheinhessen. Ich sehe ganz viele der Ehemaligen und der heute Aktiven. Ein gro-ßes Dankeschön an Sie alle. Ich glaube, dass wir auch in Zu-kunft den großen Gemeinschaftssinn brauchen. Den kann ich Ihnen gemeinsam mit der Sozialministerin zusagen. Wir sind offen, auch weitere Schritte nach vorne zu gehen. Dabei sind wir auch gerne bereit, ein 20jähriges Jubiläum zum Anlass zu nehmen, zu überlegen, an welcher Stellschraube wir weiter drehen müssen, vielleicht. auch mal wieder gewaltig drehen müssen, damit unser Ziel, das was wir uns vor 20 Jahren ge-setzt haben auch weiter entwickelt werden kann. Unser Ziel, das Selbstverständnis der Landesregierung ist, dass Men-schen unabhängig davon, ob sie chronisch krank sind, ob sie eine Behinderung haben, ob sie einen Migrationshintergrund haben, dass sie wirklich mitten in unserer Gemeinschaft leben können und dass wir uns stärker orientieren an ihren Stärken, an ihren Ressourcen und alles tun, um ihnen Barri-eren aus dem Weg zu räumen. Das setzen wir um im Landes-aktionsplan für behinderte Menschen, aber das ist auch Sinn und Zweck und Inhalt unserer Politik für psychisch kranke Menschen. Es ist mein persönlicher Wunsch, dass wir hier auch weiterhin große Schritte vorangehen.

Ich wünsche mir also zu Weihnachten, dass dieser große Ge-meinschaftssinn in unserem Land im Zusammenhang mit der Psychiatriereform weiterhin anhält. Ich wünsche mir auch, dass das 20jährige Jubiläum Anlass für neue Frische und Kraft ist, bestimmte Dinge vielleicht noch besser zu machen in unserem Land. Ein herzliches Dankeschön an Sie alle und herzlichen Glückwunsch an uns hier in Rheinland-Pfalz, dass wir diese 20 Jahre so gut gestaltet haben.

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Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin,liebe Ehrengäste, meine sehr geehrten Damen und Herren,

mit der Psychiatriereform haben wir die psychiatrischen Strukturen in Rheinland-Pfalz grundlegend verändert und damit erreicht, dass psychisch kranke Menschen und ihre Familien dort Behandlung und umfassende Hilfe finden, wo sie zu Hause sind. Dass der hierfür notwendige Kraftakt so gut gelungen ist, ist Ihnen allen zu danken. Ich möchte mich deshalb zuallererst dem herzlichen Dankeschön unse-rer Ministerpräsidentin anschließen!

In meinem Beitrag möchte ich nun einen Blick auf die He-rausforderungen werfen, die vor uns liegen. Welche Ziele und Aufgaben gibt es heute - 20 Jahre nach dem Beginn der Psychiatriereform in Rheinland-Pfalz? Die Antwort auf diese Frage muss von den Erwartungen der Nutzer des psychiatrischen Hilfesystems ausgehen. Das setzt voraus, dass wir den Trialog, also den Austausch auf gleicher Au-genhöhe zwischen professionellen Helfern, Psychiatrie-Er-fahrenen und Angehörigen systematisch pflegen und zwar auf allen Ebenen der Behandlung und Unterstützung, aber gerade auch bei der Planung und Weiterentwicklung von Hilfen.

Patienten und Angehörige erwarten eine Behandlung und Unterstützung auf Augenhöhe und nach dem besten verfüg-baren Stand der Wissenschaft. Sie wünschen sich auch eine Umgebung, die Hoff-jung vermittelt und die Ressourcen der Patienten in den Mittelpunkt rückt. Und es geht den Be-troffenen und ihren Familien um echte Teilhabe. Das heißt, dass die notwendigen Hilfen beim Wohnen, Arbeiten und in der Freizeit möglichst mitten in der Gesellschaft stattfin-den sollen. Schließlich geht die Erwartung der Betroffenen dahin, das Handeln in der Psychiatrie daran auszurichten, dass „Empo-werment und Recovery“ möglich werden!

Sie wissen, meine sehr geehrten Damen und Herren, im Be-reich der Psychiatrie steht der Begriff des „Empowerment“ (Selbstbefähigung) für den Rückgewinn von Einfluss-möglichkeiten Betroffener auf ihr eigenes Leben – sei dies nun durch die Bewältigung der psychischen Erkrankung, durch vermehrte Mitbestimmung bei der Behandlung und den Behandlungsstrukturen oder durch Einflussnahme auf politischer Ebene. Und auch Recovery bedeutet mehr als Wiedergesundung. Gemeint ist vielmehr eine ganz persön-liche, individuelle Reise der Heilung und Veränderung, die einen Menschen mit psychischen Problemen dazu befähigt, ein sinnerfülltes Leben in einer Gemeinschaft seiner Wahl zu führen. Das ist das anspruchsvolle Leitbild an dem wir uns messen müssen.

Der Anspruch an die Psychiatrie steigt aber auch, weil sich unsere Welt verändert. Die Menschen scheuen sich zum Glück immer weniger davor, fachärztliche bzw. psycho-therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Daher steigt die Nachfrage nach Behandlung seit einigen Jahren konti-nuierlich. Besonders die Kollegen aus der Kinder- und Ju-gendpsychiatrie- und Psychotherapie berichten zudem von immer komplexeren Problemlagen ihrer Patientinnen und Patienten. Der demografische Wandel führt zur Verände-rung der Altersstruktur mit einer Zunahme gerontopsych-iatrischer Erkrankungen, allen vor voran demenziellen Er-krankungen, aber z.B. auch Altersdepressionen. Der demo-grafische Wandel führt gleichzeitig dazu, dass Fachkräfte knapper werden. Die meisten Kliniken haben bereits heute erhebliche Probleme, ärztlichen Nachwuchs zu gewinnen.

Große Herausforderungen sehe ich auch bei der psychia-trisch-psychotherapeutischen Behandlung bisher unterver-sorgter Personengruppen. Augenfällig ist das bei den psy-chisch erkrankten Menschen mit Migrationshintergrund, speziell der wachsenden Anzahl der Flüchtlinge. Es betrifft

Rede von Frau Staatsministerin Bätzing-Lichtenthäleranlässlich der Feierstunde „20 Jahre Psychiatriereform in Rheinland-Pfalz“am 8. Dezember 2015 im Festsaal der Staatskanzlei

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aber auch Patienten mit sog. Doppeldiagnosen und stark herausforderndem Verhalten oder auch Menschen mit geis-tigen Behinderungen.

Was braucht es nun und was kann hierbei die Politik, das Land tun, um diesen Herausforderungen und Erwartungen gerecht zu werden? Eine umfassende Antwort hierauf wäre ein mindestens tagesfüllendes Programm. Ich muss mich daher auf einige, mir besonders wichtige, Schlaglichter be-schränken.

Beginnen möchte ich damit, dass es uns in Zukunft noch viel mehr als bisher darum gehen muss, seelische Gesund-heit zu fördern und damit der Entstehung psychischer Er-krankungen vorzubeugen.

Neben der Primärprävention, die auf eine gesundheits-orientierte Gestaltung der Lebenswelten setzt, erscheint gerade bei psychischen Erkrankungen die sogenannte „indizierte Prävention“, die sich vorzugsweise an Perso-nen mit erhöhtem Erkrankungsrisiko richtet, als besonders wirkungsvoll. Wir müssen die Forschungsergebnisse zur Resilienz und zur Salutogenese nutzen und in wirksame Präventionsstrategien „übersetzen“. Ich bin deshalb sehr froh darüber, dass in Mainz, an der Universitätsmedizin das bundesweit einzigartige Deutsche Resilienzzentrum unter der Leitung von Herrn Prof. Lieb aufgebaut wurde und dass heute schon Partner wie das Pfalzklinikum mit ihrer Initiative „Resiliente Pfalz“ Vorreiter bei der praktischen Umsetzung resilienzfördernder Maßnahmen sind.

Als Land fördern wir sowohl Ansätze der Primärprävention wie auch der indizierten Prävention. Die Landesinitiativen „Familien stärken“ und „Gut Leben im Alter“ mit ihren vielfältigen und zahlreichen Maßnahmen und Projekten sind darauf ausgerichtet, Familien, Kinder, Jugendliche und ältere Menschen stark zu machen und Teilhabe in allen Lebensbereichen zu fördern.

Das Land war und ist außerdem aktiv bei der Unterstüt-zung des groß angelegten Präventionsprojekts der Uni-versitätsmedizin Mainz „MaiStep“ zur Vorbeugung von Essstörungen. Und wir haben über viele Jahre das Lan-desprojekt zur Verbesserung der Situation von Kindern psychisch kranker Eltern, als einer besonders gefährdeten Personengruppe, durchgeführt und aus den Erkenntnissen dieses Projektes einen Leitfaden für die Umsetzung in den Kommunen erarbeitet. Ein weiteres, mir besonders wich-tiges Beispiel für das Engagement des Landes in Sachen Aufklärung und Prävention ist die sehr erfolgreiche Initiati-ve des Landes „Bündnisse gegen Depression in Rheinland-Pfalz“, die von Malu Dreyer 2009 ins Leben gerufen wur-de. Dank der engagierten Umsetzung der Initiative durch die Landeszentrale für Gesundheitsförderung sind seither

elf neue regionale Bündnisse entstanden und es wurden viele Rheinland-Pfälzerinnen und Rheinland-Pfälzer durch innovative Öffentlichkeitskampagnen erreicht.

In nächster Zeit wird es besonders darum gehen, dass wir die Möglichkeiten des Präventionsgesetzes gemeinsam mit unseren Partnern nutzen, um die psychische Resilienz der Menschen in Rheinland-Pfalz zu stärken.

Eine weitere große Herausforderung ist die strukturelle Weiterentwicklung der psychiatrisch-psychotherapeuti-schen Versorgungs- und Unterstützungsangebote. Die An-gebote müssen einerseits dem veränderten und wachsenden Bedarf nach Behandlung gerecht werden und sie müssen sich andererseits zu viel stärker lebensfeld-zentrierten, sek-torübergreifenden Hilfeangeboten entwickeln. In diesem Zusammenhang sehe ich kritisch, dass es im Bereich der Psychiatrie in Rheinland-Pfalz erst zwei IV-Verträge (§ 140a SGB V ff.) gibt, die eine sektorenübergreifende, le-bensfeldzentrierte Behandlung auch mit der Möglichkeit der Zuhausebehandlung explizit vorsehen. Ich möchte deshalb die Gelegenheit nutzen, noch einmal an alle Betei-ligten, die Leistungsanbieter, aber vor allem an die Kran-kenkassen zu appellieren, die bestehenden Möglichkeiten für sektorenübergreifende Behandlungsmodelle, besonders auch nach § 64b SGB V, zu nutzen!

In diesem Zusammenhang muss auch die Einführung des neuen Entgeltsystems in der Psychiatrie und die damit verbundene Personalausstattung in den psychiatrischen Krankenhäusern Erwähnung finden. Sie wissen, meine sehr geehrten Damen und Herren, die Fachverbände haben mittlerweile dem Bundesgesundheitsministerium einen Al-ternativvorschlag zu PEPP vorgelegt. Während das PEPP System vorrangig davon ausgeht, dass die Vergütung durch die Diagnosen vorgegeben wird, schlagen die Fachverbän-de vor, dass die Vergütung entsprechend dem am Tag erfor-derlichen Zeitaufwand für die einzelnen Patienten erfolgen soll. Die Patienten sollen hierfür in Aufwandsstufen einge-teilt werden je nach ihrem Beeinträchtigungsgrad.

Ich halte diesen Vorschlag für wesentlich besser geeignet, um den tatsächlichen Bedarfen der Patienten gerecht zu wer-den! Denn trotz einiger Nachbesserungen bietet der PEPP-Katalog keinen ausreichenden Rahmen für die Finanzierung von Aufgaben, die vor allem für Patienten mit schweren psychischen Erkrankungen besonders wichtig sind: ich spre-che etwa von der Milieutherapie, der lebens-feldbezogenen Komplexbehandlung oder den Außenkontakten zu Bezugs-personen und Therapeuten, aber auch von Hausbesuchen und Hometreatment oder von der Teilnahme an Sitzungen kommunaler Versorger, an Selbsthilfe‐ und Angehörigen-gruppen und an trialogischen Veranstaltungen.

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20 Jahre Psychiatriereform – eine Zwischenbilanz !?

Bisher sehe ich auch noch nicht, wie das PEPP-System sektorenübergreifende Versorgungs- und Finanzierungs-systeme integrieren kann und die Erkenntnisse aus den § 64b SGB V Modellvorhaben einzubauen gedenkt. Ich bin übrigens sehr gespannt auf die Evaluierung der Modellvor-haben nach § 64b SGB V und gehe davon aus, dass spätes-tens mit diesen Erkenntnissen der mit PEPP eingeschlage-ne Weg grundsätzlich überdacht werden muss!

Ich möchte noch auf die wichtige Frage der Personalaus-stattung eingehen. Sie wissen: die Psychiatriepersonalver-ordnung wird 2019 auslaufen und damit auch die bisherigen Vorgaben zur Personal-ausstattung in den psychiatrischen Krankenhäusern. Auf keinen Fall darf es aber nach Aus-laufen der PsychPV zu Personalunterdeckungen kommen! Hierfür braucht es dringend eine gesetzliche Regelung. Die bisher vorgesehenen und erst noch zu entwickelnden Emp-fehlungen reichen nicht aus! Rheinland-Pfalz wird sich deshalb für eine entsprechende gesetzliche Regelung stark machen.

In der Krankenhausplanung des Landes gehen wir kon-sequent den Weg, dem wachsenden Behandlungsbedarf möglichst über eine Ausweitung tagesklinischer anstelle vollstationärer Kapazitäten gerecht zu werden, da die ta-gesklinische Behandlung dem Wunsch der Patienten nach einer lebensfeldorientierten Behandlung besser gerecht wird. Wir sehen außerdem die Notwendigkeit, den spezi-ellen Bedarf bisher unterversorgter Personengruppen (wie etwa von Flüchtlingen oder auch mehrfach schwerstbehin-derter Menschen) zweigleisig zu begegnen – nämlich ei-nerseits mit einem Kompetenzzuwachs der Regelsysteme und andererseits mit dem begrenzten Aufbau spezialisierter Angebote, deren besondere Expertise dann auch durch das Regelsystem genutzt werden soll. Wir setzen uns außerdem für die Ausweitung von psychiatrisch-psychotherapeuti-schen Konsil- und Liasondiensten in den somatischen Ab-teilungen ein, da diese Dienste sehr gut geeignet sind, dem Anspruch der Patienten an eine ganzheitliche Behandlung gerecht zu werden.

Sehr geehrte Damen und Herren, die erste Voraussetzung für eine gute Behandlungsqualität ist ausreichendes, gut qualifiziertes Personal. Die Beschäftigten in der psychia-trisch-psychotherapeutischen Versorgung stehen vor der schwierigen Aufgabe, ihr Wissen und ihre Kompetenzen an die sich ständig wandelnden Herausforderungen anzu-passen. Denken Sie allein an die neuen gesetzlichen An-forderungen zur Vermeidung von Zwangsbehandlungen. Denken Sie an die Anforderungen, die mit der wachsen-den Komplexität von Erkrankungen und schwierigen Le-benssituationen der Patienten einhergehen, etwa bei der

Behandlung von Flüchtlingen oder gerontopsychiatrischen Patienten.

Es ist auch deshalb von größter Wichtigkeit, dass mit dem neuen Psychiatrieentgeltsystem eine auskömmliche Finanzierung sichergestellt wird!

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Ministerprä-sidentin hat in Ihrer Ansprache den Aufbau der Gemein-depsychiatrie und dessen Bedeutung für die Betroffenen und ihre Familien beschrieben. Die Kommunen haben hier großartiges geleistet und es ist meiner Ansicht nach von größter Bedeutung, dass wir die bewährten kommunalen Strukturen, vor allem die Sozialpsychiatrischen Dienste, Stellen für Psychiatriekoordinatoren, Psychiatriebeiräte, Psychosoziale Arbeitsgemeinschaften, auch in Zukunft auf diesem hohem Niveau erhalten.

Ich möchte allerdings auch darauf hinweisen, dass wir bis heute eine flächendeckende gemeindepsychiatrische Versorgungsverpflichtung leider noch nicht erreicht haben. Das bedeutet konkret, dass es auch in Rheinland-Pfalz ein-zelne Menschen gibt, die heute in Wohnheimen in Bayern oder Thüringen leben, fernab ihrer Familien und ihres frü-heren Lebensumfeldes. Bisher ist es auch noch nicht ge-lungen, Wohnheimplätze abzubauen. Obwohl die Anzahl der Menschen in ambulanten Wohnformen in den letzten Jahren in Rheinland-Pfalz stark zugenommen hat, ist die Anzahl der Menschen, die in Heimen leben, nicht gesun-ken.

Was wir deshalb für alle chronisch psychisch kranken Menschen brauchen ist die vollständige Umsetzung der re-gionalen Versorgungsverpflichtung in der Gemeindepsych-iatrie und vermehrte Anstrengungen, den Leitsatz „ambu-lant vor stationär“ auch wirklich umzusetzen. Der Prozess der Dezentralisierung und Verkleinerung der Wohnheime muss weiter vorangehen. Hier hat das Land mit seinen Zu-kunftskonferenzen und Zielvereinbarungen mit den Leis-tungserbringern – allen voran dem Landeskrankenhaus und Pfalzklinikum - schon viel erreicht. Dieser Prozess muss aber weiter gehen und auch dazu führen, dass Wohnheim-plätze zugunsten ambulanter Wohnformen schlussendlich abgebaut werden.

Die Versorgungsverpflichtung ernst nehmen, bedeutet - entsprechend dem Credo von Klaus Dörner - „mit den Schwächsten zu beginnen“. Zu diesen „Schwächsten“ zählen zum Beispiel auch dauerbeurlaubte und entlassene Maßregelvollzugspatienten. Das langfristige Ziel ihrer Be-handlung im Maßregelvollzug ist ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Diese Wiedereingliederung kann aber nur gelingen, wenn sich auch außerhalb der Klinikmauern Menschen finden, die diese Patientinnen und Patienten bei

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20 Jahre Psychiatriereform – eine Zwischenbilanz !?

ihrer Rückkehr in die Gesellschaft unterstützen. Ich weiß, dass die flächendeckende Umsetzung der Ver-

sorgungsverpflichtung keine leichte Aufgabe ist. Ich bin aber auch der Auffassung, dass wir in Rheinland-Pfalz mit dem Persönlichen Budget, mit der Teilhabeplanung und der Teilhabekonferenz gute Instrumente haben, um auch besonders schwierige, auf den ersten Blick scheinbare un-mögliche Unterstützungsangebote zu „stricken“.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, es gibt sicher viele Gradmesser für die Teilhabe psychisch kranker Menschen. Besonders relevant erscheint mir jedoch ihre Integration in Arbeit und Beschäftigung. Und hier sieht es nicht gut aus. Nur 10 Prozent der Menschen mit seelischer Behinderung haben eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeits-markt. Diesen Anteil müssen wir dringend erhöhen. Denn Arbeit bedeutet: Einkommen, Selbstbestätigung, sozialer Kontakt, Tagesstruktur, Anregung… alles Dinge, die jeder und jede von uns dringend benötigt und die gerade psy-chisch kranke Menschen dringend benötigen.

Ich bin deshalb der Auffassung, dass wir noch intensivere Anstrengungen brauchen für ein bedarfsgerechtes Angebot an Hilfen zur Teilhabe am Arbeitsleben, besonders für fle-xible Hilfen und Qualifizierungsmaßnahmen in der realen Arbeitswelt.

Ein gutes Instrument haben wir dafür in Rheinland-Pfalz mit dem Budget für Arbeit entwickelt. Es wird jedoch noch zu selten eingesetzt, ebenso wie es noch zu wenige Zuver-dienstprojekte gibt. Hier möchte ich an alle Beteiligten, nicht zuletzt an potenzielle Arbeitgeber, appellieren, die Chancen die in diesen Instrumenten liegen, zu nutzen.

Allerdings sollten wir unsere Anstrengungen nicht allein auf den ersten, zweiten oder dritten Arbeitsmarkt beschränken. Ich möchte noch einmal Bezug nehmen auf Klaus Dörner, der vor dem Hintergrund seiner langjährigen Erfahrung mit psychisch kranken Menschen heraus das „Tätigsein für an-dere“ als nahezu wichtigste Quelle für Zufriedenheit und Lebensqualität ausgemacht hat. Ich halte es für überaus wichtig, gemeinsam mit den psychisch kranken Menschen individuelle Formen sinnvoller Tätigkeit aufzuspüren und sie dabei zu unterstützen.

Eine besonders unterstützenswerte berufliche Perspek-tive bietet meines Erachtens der Beruf des Genesungsbe-gleiters. Im Rahmen sogenannter Ex-In-Projekte werden Psychiatrie-Erfahrene zu Genesungsbegleitern ausgebildet mit dem Ziel, anderen Erkrankten – auf der Basis eigener Erfahrungen – zur Seite zu stehen. In Rheinland-Pfalz ist – organisiert durch den Landesverband der Psychiatrie-Erfahrenen - im Oktober die erste Ausbildungsrunde zu

Ende gegangen. Die Erfahrung zeigt, dass diese Form der Unterstützung für akut erkrankte Menschen von besonde-rem Wert ist und die Genesungsbegleiter selbst eine große Befriedigung aus dieser Tätigkeit ziehen. Wünschenswert ist daher nicht nur die Förderung weiterer Ex-In-Projekte, sondern auch die Einrichtung von Arbeitsplätzen für Gene-sungsbegleiter in Kliniken und der Gemeindepsychiatrie. Hierbei möchten wir als Land in Zukunft gern unterstüt-zen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren, so wie die vergan-genen Erfolge bei der Verbesserung der Situation psychisch kranker Menschen nur möglich waren, weil in Rheinland-Pfalz alle Beteiligten diesen Prozess gemeinsam gestaltet haben, so können wir auch alle künftigen Herausforderun-gen nur gemeinsam bewältigen. Damit schließe ich den Kreis zur Notwendigkeit des Trialogs. Und auch wenn der Trialog in Rheinland-Pfalz noch längst nicht überall selbst-verständlich ist, so ist er doch weit gediehen. Das zeigt sich nicht zuletzt in der trialogischen Besetzung der politischen Gremien wie etwa dem Landespsychiatriebeirat und sei-nem Ständigen Arbeitskreis, in den Besuchskommissionen und den kommunalen Psychiatriebeiräten.

Ich möchte allen danken, die diesen gleichberechtigten Austausch fördern und beleben und damit die Grundlage schaffen für eine Weiterentwicklung der Hilfen für psy-chisch kranke Menschen und ihre Angehörigen in Rhein-land-Pfalz.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

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In 5 bis 25 Prozent der stationären Behandlungen von Psychosen kommt es zur Anwendung von Gewalt, sei es von Seiten der Patienten oder von Seiten der Institution. Gewalt entsteht in der Regel, wenn eine Situation bedrohlich erlebt wird, wenn Verständnis fehlt, wenn Freiheit eingeschränkt wird, wenn Ohnmacht erlebt wird usw. Netzwerkgespräche als Offener Dialog können ein Beitrag sein, um Gewaltrisiken zu vermindern. Was ist mit dem Begriff Netzwerkgespräch gemeint, wer ist Teil des Netzwerks und was zeichnet den Offenen Dialog aus?

Solche Gespräche sind ein Versuch des respektvollen Verstehens und der gegenseitigen Verständigung und Be-gegnung. Sie schaffen Transparenz, fördern das Selbst-wertgefühl und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Sie erschließen vor allem natürliche Ressourcen und wirken damit der Ohnmacht entgegen.

Durch eine dialogische Kultur des respektvollen Umgangs mit Grenzen und Ambivalenzen, des verhandelten Sicher-heit Gebens und vor allem auch durch die enge Zusammen-arbeit von Vertrauenspersonen des Lebensalltags und der Professionellen des stationären und ambulanten Hilfesys-tems können Eskalationen, die zur Anwendung von Zwang führen häufig vermieden werden. Je früher diese Netz-werkgespräche im Behandlungsprozess stattfinden, umso wirksamer können sie sein.

10.1 Das Modell

In der in Finnland entwickelten Bedürfnisangepassten Be-handlung wurden die sogenannten Therapieversammlun-gen oder Netzwerkgespräche zur Hauptachse des gesamten Therapieprozesses (Alanen 2001, Aderhold u.a. 2003). Sie

sind dabei eingebettet in ein Behandlungssystem, das noch weitere strukturelle Behandlungsmöglichkeiten bei Bedarf zur Verfügung stellen kann:

o Multiprofessionelle ambulante mobile Teamso Krisendienst über 24 h o Akutstation im Krankenhauso Eventuell eine Krisenwohnungo Individualpsychotherapieo Kunsttherapie, Musiktherapie, Ergotherapieo Unterstütztes Arbeiten auf dem ersten Arbeitsmarkt

Die Entscheidung über die Art der Behandlung wird – be-dürfnisangepasst – im Rahmen von Netzwerkgesprächen mit den Betroffenen und Personen seines sozialen Netz-werks getroffen.

Das Gesamtsystem sollte dabei nach folgenden Prinzipien organisiert sein:

o Sofortige Hilfe in Krisen innerhalb von 24 h;o Netzwerktreffen von Beginn an und kontinuierlich bei

Bedarf;o Flexibilität und Mobilität; o Verantwortlichkeit der Teams für die Durchführung

des gesamten Behandlungsprozesses;o Beziehungskontinuität und Kontinuität des Verstehens

auch über mehrere Jahre;o Anwesenheit des Betroffenen in allen Situationen, die

ihn und seine Behandlung betreffen;o selektive Anwendung von Neuroleptika.

In der Praxis stehen bei einer Krise von Menschen mit schwereren psychiatrischen Störungen innerhalb von 24 Stunden am Lebensort der Betroffenen mindestens zwei systemtherapeutisch ausgebildeten Mitarbeiter zu einem Gespräch von ca. 1,5 Stunden zur Verfügung. Zu diesen Netzwerkgesprächen werden möglichst viele Familienmit-glieder und wichtige weitere Bezugspersonen eingeladen, die sich Sorgen machen, Kenntnisse haben oder hilfreich sein könnten. Dadurch soll größtmögliche Transparenz so-wie eine offene Diskussion des Problemverständnisses und der Behandlungsschritte entstehen.

Diese Netzwerkgespräche werden dann so oft wie ge-wünscht durch dasselbe Team fortgesetzt. Auf die Passung des Teams mit dem Patienten und seinem Netzwerk wird besonderen Wert gelegt. In einer ersten schweren akuten Krise sind tägliche Treffen auch über zehn bis zwölf Tage

10 Netzwerkgespräche im Offenen DialogVolkmar Aderhold

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hinweg möglich und sie werden auch dann fortgesetzt, wenn der Patient oder die Patientin doch stationär aufgenommen wird. Bei etwa 50 Prozent der Ersterkrankten kann die Be-handlung bereits nach zwei Jahren beendet werden (d.h. es entsteht kein Behandlungsbedarf in den folgenden drei Jah-ren), für die anderen dauert sie fünf Jahre und auch länger. Die Gesamtzahl der Netzwerkgespräche beträgt über fünf Jahre durchschnittlich 29 bis 37 je nach Erfahrenheit der Teams (Seikkula et al 2006 und 2011).

10.2 Hintergründe

Der erkenntnistheoretische Hintergrund dieser systemi-schen Praxis basiert auf dem sozialen Konstruktionismus: Wirklichkeit, Wahrheit und Selbst werden als Ergebnis so-zialer und kultureller Prozesse ausgefasst, Sprache bildet die Wirklichkeit dabei nicht ab sondern bringt diese hervor. Verschiedene Wahrheiten sind damit unausweichlich. Die in West-Lappland unter Jaakko Seikkula entwickelte und zusätzlich von Tom Andersen inspirierte Methode des Of-fenen Dialoges greift dabei auf den Dialogismus in der Phi-losophie von Mikhail Bakhtin (1988) zurück. Diese besagt, dass in der gesamten Welt zu nichts nur eine Bedeutung existiert, sondern vielmehr eine große Anzahl sich gegen-seitig anzweifelnder Ideen. Sogar in einem einzelnen Indi-viduum gibt es immer vielfältige Stimmen und Perspekti-ven, denn die Sprache die verwandt wird wurde von ande-ren »geliehen«. Weil immer unterschiedliche Standpunkte existieren, ist eine »Polyphonie« und diskursive Interaktion vieler, auch nicht vereinbarer »Stimmen« erforderlich, die diese Unterschiedlichkeit zwar nicht durch eine gemein-same Wahrheit überwinden können, jedoch können echte Dialoge zu neuen Sichtweisen in den jeweils spezifischen Lebenskontexten führen. Dies ist ein niemals abgeschlos-sener Prozess.

Es kann demnach immer nur eine vorübergehende subjek-tive oder situativ gemeinsam empfundene Wahrheit ent-stehen, dies jedoch nur durch Bezogenheit, Engagement und Hingabe in einem dafür geeigneten Kontext. Diese »Wahrheit« entsteht erst durch eine Vielfalt von beitragen-den Stimmen. Sie kann nicht von einer einzelnen Meinung bestimmt, von einem individuellen Bewusstsein gewusst und nicht von einer einzelnen Stimme ausgedrückt wer-den. Diese polyphone Wahrheit braucht viele gleichzeitige Stimmen.

Jede Rede ist dabei gerichtet auf ein Feld »fremder Worte« und fremder Werturteile. Ein aktives und engagiertes Ver-stehen der Rede der anderen nimmt dabei die Perspektive des Gegenübers in den eigenen Denkzusammenhang auf, verändert dabei diese wieder geringfügig in Form und in-

haltlichen Nuancen. Es ist diese Möglichkeit des Lernens aus dem Denken des anderen und dem sich Verbinden mit dem Gesprochenen des anderen, das Dialog und Neuheit in der Sprache möglich macht. Sie ist als Dialog auch auf die Perspektive des anderen hin orientiert, und sucht nach Möglichkeiten, neue Elemente in die eigene Perspektive einzuführen. Sie findet damit quasi »auf einem fremden Territorium« statt. (Robinsohn 2011).

Es gibt in jedem Menschen etwas, das nur durch einen sol-chen freien Diskurs aktualisiert werden kann. Dies gelingt jedoch erst, wenn alle Teilnehmer des Diskurses in der Lage sind, unabhängig zu sprechen und zu handeln.

Darüber hinaus fasst Bakhtin – wie selbstverständlich auch andere - menschliche Begegnungen als grundsätzlich ein-zigartig und einmalig auf, so dass sich in jedem wahrhaft dialogischen Gespräch immer wieder neue Begegnungen und Wege des Miteinanders eröffnen können (Seikkula & Arnkil 2007, 2014). Damit wurden Konzepte zu spezifi-schen Beziehungs- und Kommunikationsmustern in Fami-lien mit sogenannten Indexpatienten und deren absichts-voller Veränderung verlassen. Auch die Idee einer tieferen, hinter dem Beobachtbaren liegenden, zu entschlüsselnden Wahrheit wurde aufgegeben (sogenannter post-struktura-listischer Ansatz). Im Mittelpunkt der systemischen Praxis steht die Förderung einer Atmosphäre von Offenheit und Spontaneität, in der ein wahrhaftiger dialogischer Aus-tausch über alle von den Anwesenden für bedeutsam er-achteten Themen möglich wird.

Monologische abstrakte dominante Wahrheiten bedeuten den diskursiven Tod des anderen. Menschliches Bewusst-sein wird als das ständig neue Ergebnis von Interaktionen aufgefasst, authentisches Leben als immer wieder ergeb-nisoffener, unabschließbarer Dialog. Jede einzelne Sicht-weise erhellt immer nur einige Aspekte einer »Sache« aber gleichzeitig verbirgt oder verdeckt sie damit notwenig eine andere. Die einzelnen Perspektiven werden nicht als parti-elle oder komplementäre Wahrheiten aufgefasst, vielmehr entstehen erst aus dem dynamischen Zusammenspiel und dem Umbruch der einzelnen Perspektiven neue Realitäten und Sichtweisen. Dabei gibt gerade die anfängliche Unver-einbarkeit und Unvergleichbarkeit der Perspektiven dem Dialog seine Kraft.

Jeder sprechende soziale Raum entwickelt sein eigenes »Sprachgenre«, eigene Gewohnheiten des Sprechens und der Sprache. Dadurch wird die individuelle Sprache ausge-richtet und in ihrer Freiheit begrenzt. In den Sprachgenres sind auch soziale Werte, Weltanschauungen und Interessen enthalten. Dies gilt in besonderem Masse für die kodifizier-

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te Psychiatrie. Eine Sprache ohne ein solches Genre gibt es jedoch nicht. Sprachgenres unterscheiden sich dadurch, wie viel Individualität in ihnen zugelassen wird. Nur die eigene Reflexivität und der Austausch darüber kann mono-logisches Sprechen und Denken verhindern. Auch sollten die Teilnehmer der einzelnen Sprachgenres mit denen an-derer Genres in einem dialogischen Austausch stehen, um die Entstehung neuer Monologismen zu vermeiden oder zumindest einzugrenzen.

Bakhtin versteht Sprache als eine fortlaufende, unendliche Kette von Bedeutungen, die ständig durch jedes Glied in dieser Kette erneuert und auch neu geboren wird.

10.3 Offener Dialog und Psychose

Im Ansatz des Offenen Dialoges wird eine Psychose – ne-ben weiteren erklärenden Dimensionen – als eine prinzi-piell verstehbare Reaktion auf unerträgliche und ungelöste Lebensprobleme aufgefasst. Daher wird eine psychotisch veränderte Mitteilung auch als ein sinnhafter Versuch ver-standen, Kommunikation herzustellen, die auf andere Wei-se nicht mehr oder noch nicht möglich ist. »Psychotische Erfahrungen beinhalten dabei oft reale Begebenheiten, und der Patient spricht über Themen, für die er zuvor keine Worte fand. Auch mittels extremer Emotionen wie Wut, Trauer, Angst oder durch ›schwieriges‹ Verhalten ›spricht‹ der Patient über Themen, über die zuvor nicht geredet wur-de. Auf diese Weise eröffnet die Hauptperson in der Krise etwas, das fur die anderen in seiner Umgebung bisher nicht zugänglich war. Ziel der Zusammenarbeit ist es dann, einen Umgang damit und Worte für diese Erfahrungen zu finden, für die es bisher keine Ausdrucksmöglichkeiten oder kei-ne gemeinsame Sprache gegeben hat.« (Seikkula & Arnkil 2007, S. 35 »Wir beobachten üblicherweise, dass Patienten offenbar eine Erfahrung machen, die von dem Rest ihrer Familie nicht wahrgenommen wird. Auch wenn der Kom-mentar von Patienten in den ersten Versammlungen unver-ständlich erscheint, lässt sich nach einer Weile feststellen, dass der Patient über reale Vorkommnisse in seinem Leben spricht. Oft schließen diese Begebenheiten ängstigende Erfahrungen und Bedrohungen ein, über die der Betroffe-ne vor dem Ausbruch der Krise nicht sprechen und sie so nicht verarbeiten konnte. Psychotische Erfahrungen bein-halten oft reale Begebenheiten, und der Patient spricht ü̈ber Themen, fü̈r die er zuvor keine Worte fand. Auch mittels extremer Emotionen wie Wut, Trauer, Angst oder durch ›schwieriges‹ Verhalten ›spricht‹ der Patient über Themen, über die zuvor nicht gesprochen wurde. Auf diese Weise eröffnet die Hauptperson in der Krise etwas, das für die an-deren in seiner Umgebung nicht zugänglich war. Das Ziel der Zusammenarbeit ist es dann, einen Umgang mit und

Worte für die Erfahrungen zu finden, für die es bisher keine Ausdrucksmöglichkeiten oder gemeinsame Sprache gege-ben hat.« (Seikkula & Arnkil 2007, S. 35)

Da bei der Hälfte der Menschen mit einer Schizophrenie-Diagnose eine Traumatisierung durch physischen und se-xuellen Missbrauch vorliegt – so eine kritische und kon-servative Auswertung von 20 Einzelstudien (Morgan u.a. 2007) – und subjektiv sehr belastende Erlebnisse dabei noch gar nicht erfasst sind, sind in vielen Fällen unverar-beitete negative Lebenserfahrungen als Hintergrund von psychotischem Entgrenzungserleben zu erwarten und aus der Praxis des Offenen Dialoges auch bekannt. Grundsätz-lich wird daher davon ausgegangen, dass der Klient oder die Klientin in der Psychose und mittels der Psychose et-was »Noch-nicht-Gesagtes« einbringt, zunächst jedoch auf eine noch unverständliche Weise. Bei Teilnehmenden, die lebensgeschichtlich miteinander verbunden sind, können das untereinander nie zuvor ausgesprochene und emotional nur schwer erträgliche Themen und Erfahrungen sein.

»Dialogisch zu Arbeiten bedeutet insbesondere, dass sich die jeweilige Person gehört fühlt, was den Anfang jedwe-der Veränderung darstellt. Die dialogische Qualität eines Gesprächs hängt dabei vor allem von der Reaktionsfähig-keit der Therapeuten ab« (Olson u.a. 2014, S. (5). Damit sind genaues, geduldiges und empathisches Zuhören sowie das vertiefende und erweiternde Antworten durch Präsenz in der Körpersprache, vertiefendes und erweiterndes Fra-gen (Fragen um zu hören statt zu hören, um zu fragen. bzw. Fragen als Werkzeuge des Hörens), sowie die gemeinsame Reflexionen in der Art des Reflektierenden Teams nach Tom Andersen die grundlegenden therapeutischen Mög-lichkeiten und erforderlichen Fähigkeiten.

»Zu antworten bedeutet dabei nicht, eine Erklärung oder Interpretation zu geben, sondern vielmehr durch die Ant-wort des Therapeuten zu zeigen, dass man wahrgenom-men hat, was gesagt wurde und wenn möglich einen neuen Gesichtspunkt zu dem hinzuzufügen, was bereits gesagt wurde. Dies geschieht nicht durch eine erzwungene Un-terbrechung jeder Äußerung, um eine Antwort zu geben, sondern vielmehr als Anpassung der eigenen antwortenden Worte an den natürlichen Rhythmus des Gesprächs. Die Teammitglieder antworten auch mit dem Ausdruck ihres gesamten Körpers, mit einem echten Interesse daran, was jede Person im Raum zu sagen hat und unter Vermeidung jeglicher Andeutung, dass jemand etwas Falsches gesagt haben könnte. Indem der Prozess es den Netzwerkteilneh-mern ermöglicht, ihre Stimmen zu finden, beginnen sie auch sich selbst zu befragen. Denn wenn ein Sprecher seine eigenen Worte hört, nachdem er die Kommentare der ande-

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ren als Antwort auf seine Worte bekommen hat, ermöglicht ihm dies auch das besser zu verstehen, was er gesagt hat.« (Seikkula 2008, S. 481, eigene Übersetzung)

In Folge dieser Art des Hörens und Antwortens entsteht fast immer eine vielfältige Polyphonie, die durchaus zu einer vorübergehenden Polarisierung zwischen den Anwesen-den führen kann, wobei intensive Gefühle zum Ausdruck kommen können. In dieser Polyphonie auch die Stimmen derjenigen hörbar werden zu lassen, die still, sehr leise, zö-gernd oder schwer verständlich sind, ist die Aufgabe der Professionellen.

Sehr bedeutsam ist es jedoch, dass die Professionellen in ihrer Haltung, ihrem körperlichen Ausdruck, ihren Fragen und Kommentaren allparteilich bleiben. Wenn es nicht je-dem einzelnen Professionellen gelingt, selbst allparteilich zu bleiben, so ist es erforderlich, dies zumindest als Team zu sein. In komplizierten Netzwerksituationen und Netz-werkgesprächen erleichtern daher drei (selten sogar noch mehr) Professionelle die Arbeit sehr. Erst der gleichwer-tige, kollaborative Austausch birgt dann die Möglichkeit, dass sich ein neues gemeinsam geteiltes Verstehen quasi zusammenwebt, bei dem jeder einen bedeutsamen Faden hinzugefügt hat. Eine Rangordnung gibt es dabei nicht. (Olson u.a. 2014) Durch wiederholtes Ansprechen der Per-sonen mit unterschiedlichen Positionen gehen Monologe meist in Dialoge über.

Zwölf Schlüsselelemente wurden für die Methode des Of-fenen Dialogs formuliert (Olson u.a. 2014):

1. Zwei oder mehr Therapeuten;2. Teilnahme der Familie und/oder von Mitgliedern

des sozialen Netzwerks;3. Anwendung von offenen weiterführenden Fragen

zu Beginn;4. Antwort (verbal und non-verbal) geben auf die

Äußerungen des Klienten bzw. der Klientin;5. Betonung des gegenwärtigen Augenblicks;6. vielfältige Standpunkte erfragen (äußere und inne-

re Polyphonie);7. den Austausch über die Probleme oder das gezeig-

te Verhalten als bedeutungsvoll anerkennen;8. den Fokus auf die Beziehungen setzen, z.B. mit

zirkulären Fragen;9. Betonung von aktuellen »Erzählungen«, erzählten

Erfahrungen statt von Symptomen;10. Reflektionen unter den Professionellen;11. Prinzip der Transparenz;12. Unsicherheit aushalten.

Im Folgenden soll – idealtypisch – der Prozess eines Netz-werkgespräches mit dem Fokus auf dem professionellen Handeln dargestellt werden.

10.4 Offener Dialog in der Praxis

Die Themen eines Netzwerkgesprächs werden nicht vorab geplant. Zunächst wird nach der Vorgeschichte dieses Ge-sprächs bzw. bei Folgegesprächen nach der Entwicklung seit dem letzten Treffen gefragt. Danach wird jeder und jede Anwesende nach dem persönlichen Anliegen für die-ses Gespräch gefragt:

»Wozu möchten Sie dieses Gespräch nutzen? Welches An-liegen haben Sie für dieses Gespräch mitgebracht?«

Dabei können auch die Professionellen eigene Anliegen einbringen. Wenn sich die Profis allzu stark mit ihrem An-liegen und einer bestimmten Sichtweise der Situation iden-tifizieren, sind sie jedoch für die allparteiliche Moderation ungeeignet. Dasselbe trifft auch auf Professionelle zu, die in Einzelkontakten mit den Klienten arbeiten und dadurch notwendigerweise eine parteiliche Position und Rolle ent-wickelt haben.

Zunächst sollten sich die Beteiligten auf ein Thema eini-gen, mit dem das Gespräch nun begonnen wird. Wenn zu viele Themen benannt werden, um sie alle zu besprechen, hilft häufig die Zusicherung, dass es weitere Gespräche ge-ben kann. Die entscheidende Aufgabe des Teams ist sicher-zustellen, dass jede Stimme gehört wird. Alle Anwesenden sollten genügend Zeit haben, ihre Position und Thematik so einzubringen, dass sie das Gefühl haben, ausreichend gehört worden zu sein.

In Krisen ist es häufige Praxis, dass zunächst einer der Therapeuten mit der Person im Zentrum der Krise in Kon-takt tritt. Dieser Kontakt besteht aus einem sorgfältigen und ausführlichen Austausch mit Fragen und Antworten. Zweck dieses Zwiegesprächs ist es, genau zu hören und – falls erforderlich – zu helfen, Worte für die Not und Ver-zweiflung der Person zu finden, die ansonsten in Sympto-men »verkörperlicht« bleiben, und eine gemeinsame Spra-che zu entwickeln.

Ist die Person in der Psychose nur schwer zu verstehen, be-steht der Dialog aus der Suche nach Worten, die deutlicher ausdrücken, was sie zu sagen versucht. Gelingt diese Su-che nach neuen Worten und Erzählungen und Mitteilungen, kann der Dialog eine bedeutsame Wendung nehmen, indem ein neues Verständnis zwischen den Anwesenden entsteht. Durch die gemeinsame Sprache und das gemeinsame Ver-

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stehen verringern sich Verwirrung und Mehrdeutigkeit und mehr Orientierung und Handlungsfähigkeit entstehen. Das Team unterstützt den psychotischen Klienten dabei, Worte und eine gemeinsame Sprache für zurückliegende schwie-rige Erfahrungen zu finden, für die er bisher keine Sprache gefunden hat und sich so über diese noch verständlicher auszutauschen. Einzelne hinweisende, nicht ganz verständ-liche Worte in den spontanen Erzählungen können der Zu-gang zu diesen unausgesprochenen Erfahrungen sein. Die-se Worte und Formulierungen sollten aufgegriffen und mit der Einladung verbunden werden, mehr dazu zu sagen. So können neue Worte und eine gemeinsame Sprache für Er-fahrungen gefunden werden, für die es bisher keine Worte oder Sprache gab.

Unverständlichkeit wird dabei weniger als psychopatholo-gisches Merkmal sondern als bedeutsamer Ausdruck eines erschwerten Zugangs zu Selbstgewissheit und Selbstver-ständnis aufgefasst, sowie als Angst vor dem Aussprechen und den damit befürchteten Reaktionen. Dies kann auch auf andere Anwesende zutreffen. Es geht dann zunächst darum, einen intersubjektiven Raum zu schaffen, in dem durch innere und äußere Dialoge ein Selbstgefühl entstehen kann. (Stanghellini & Lysaker 2007)

Psychotisch wirkende Erfahrungen sollten möglichst offen diskutiert werden. Sie werden – vor allem in den ersten Gesprächen – nicht in Frage gestellt. Die Haltung gegenü-ber den psychotischen Erfahrungen sollte aufgeschlossen, möglichst unvoreingenommen und nicht wertend sein. Ei-ner psychotischen Krise oder Psychose sollte man als Profi möglichst normalisierend begegnen, zusätzliche Verängs-tigung vermeiden und daher keine pathologisierenden Be-zeichnungen und Diagnosen verwenden.

Vielmehr wird der Klient oder die Klientin gebeten, mehr über diese Erfahrungen mitzuteilen und Beispiele zu erzäh-len und eine genauere Erklärung für sie zu geben.

»Ich habe eine solche Erfahrung nie gemacht. Können Sie mir mehr darüber erzählen, damit ich ihre Erfahrung bes-ser verstehen kann?«

Die Betroffene kann auch gefragt werden, ob in dieser Run-de genug Vertrauen besteht, um den Inhalt oder einen Teil des Inhalts der gehörten Stimmen auszusprechen. Psycho-tische Stimmen und wahnhafte Vorstellungen werden als weitere Stimmen neben den vielen anderen betrachtet. Es sollte nicht der Versuch gemacht werden das psychotische Erleben zu korrigieren.

Ergänzungen von Anwesenden des sozialen Netzwerks

können dann helfen, zusätzliches Licht auf die Bedeutung der Krise zu werfen. Daher laden die Therapeuten jede an-wesende Person dazu ein, ihre Perspektive und die damit zusammenhängende Themen mitzuteilen. Je mehr Stim-men an diesen polyphonen Dialogen teilhaben, umso mehr Möglichkeiten eines sich langsam entwickelnden Verste-hens können entstehen. Die Vielstimmigkeit ist die vor-wärtstreibende Kraft.

Die therapeutische Kompetenz besteht in der dialogischen Arbeit, nicht in einer strukturierten Interviewmethode, son-dern überwiegend in der persönlichen Weise der Therapeu-ten auf die Äußerungen der betroffenen Person und der an-deren Anwesenden zu antworten. (Olson u.a. 2014, S. 6)

Die Grundhaltung besteht in einer Prozessorientierung – im Unterschied zur Lösungsorientierung bei anderen Formen der systemischen Therapie. Hat man bereits diverse Ge-spräche dieser Art geführt, fällt es sehr viel leichter, Ver-trauen in diesen immer unbekannten Prozess zu haben.

Therapeutinnen und Therapeuten sollten von dem Versuch absehen, den Patienten, die Familie und das weitere soziale Netzwerk zu verändern. Es geht vielmehr um ein Aushalten der eigenen Unsicherheit. Nicht nur um eine künstlich ein-genommene Nicht-Wissen-Position, sondern tatsächliche Unsicherheit, was hier eine eigene Sicht auf die Situation und Problematik sein könnte und was dann sinnvoll zu tun sein könnte.

Die Worte und Erzählungen – auch der psychotischen Kli-enten – werden als ausgesprochen wertvoll erachtet, ihnen wird ebenso aufmerksam gefolgt wie den Momenten des Schweigens, den Gesten, Gefühlen und der gesamten Kör-persprache (Olson 2014). Die Therapeuten gehen davon aus, dass jeder auf seine Weise versucht, um ein Verständ-nis der Situation zu ringen. Ein Körpersignal des Interesses seitens der Therapeuten, die Wiederholung des letzen Wor-tes oder Satzteiles, Fragen nach noch unklaren erscheinen-den oder emotional aufgeladenen Worten, einfache offene Fragen, um mehr zu hören und besser zu verstehen, führen dabei fast immer zu einer größeren Tiefe des Dialoges. Be-reits die Wiederholung eines einzelnen Wortes durch die Professionellen, wenn es mit einladender Unmittelbarkeit geschieht, kann zum Erzählen von dahinterliegenden Er-fahrungen führen. Insbesondere einzelne Schlüsselworte können Anzeichen einer in ihnen gleichsam aufbewahrten und durch sie angesprochenen, oftmals sehr belastenden Erfahrung sein, die möglicherweise noch nie mitgeteilt wurde. Diese Erzählungen führen oft zu jenen biografi-schen Erfahrungen, die hinter den Symptomen liegen bzw. ihnen voraus gingen.

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Daher steht im Offenen Dialog viel mehr die eigene Prä-senz im Hier und Jetzt im Vordergrund. Mit dieser Haltung und diesem Fokus folgen die Therapeuten und Therapeu-tinnen mehr der »Orchestrierung« der gelebten Sprache im Gesprächsprozess als den bereits gesprochenen Inhalten (Shotter 2003). Worte werden dabei nicht als Repräsentan-ten von Ideen und Dingen aufgefasst. Vielmehr erhalten sie ihre Bedeutung erst in der Situation des Aussprechens und durch die komplexen auch körperlichen und emotionalen Reaktionen der Hörenden und Antwortenden. Gesprochene Worte wollen das Gegenüber erreichen, berühren, treffen (Andersen 1996). Im Akt des Sprechens sind Worte Hand-lungen, ein Tun und die lebendigen gesprochenen Worte können unzählig viele Absichten, Zwecke und Wirkungen haben (Shotter & Katz 1998).

Daher achten die Professionellen auf die emotionalen Bewegungen und die Körpersprache zwischen den Ge-sprächsteilnehmern. Von besonderer Bedeutung sind Situ-ationen in denen ein Anwesender sichtbar berührt ist oder wenn jemand seinen Zustand beim Aussprechen von Wor-ten sichtbar verändert. Ebenso sind die kurzen innehalten-den Gesprächspausen von Bedeutung, in denen der Dialog scheinbar angehalten oder gehemmt erscheint (Lowe 2005). Diese Momente sollten nicht durch neue Fragen übergan-gen werden. Sie können als Eröffnung oder auch als eine gewisse Kluft zu Anwesenden aufgefasst werden, auf die die Moderatoren in der Situation spontan reagieren können, indem sie den Betreffenden dazu einladen weiteres dazu zu sagen, um so den Prozess zu vertiefen. Auf solche Momen-te hat z.B. Tom Anderson mit folgenden Fragen reagiert: Wenn Sie dieses Wort (z.B. »Einsamkeit«, »unglücklich« »Kopfkarussell«) genauer untersuchen, was könnten Sie dann finden? Wenn Ihre Tränen (Lachen, tiefes Atmen, unruhige Knie, geschlossene Fäuste) in diesem wichtigen Moment sprechen könnten, was würden sie dann sagen? (Anderson 1993). Oder auch einfacher:

»Können Sie mehr dazu sagen, was ... bedeutet?«

Die Fragen sollen so gut wie möglich dazu einladen, der Situation weiter nachzugehen, ohne zuviel Angst zu ma-chen. Pausen können durch abwartendes Erwarten betont werden. Mit Verzögerung setzt sich das Gespräch dann fort und kann auch so eine größere Tiefe führen. Wird jedoch mit eher schließenden Dialogen reagiert, können die Thera-peuten diesen Moment der Verzögerung durch Fragen nach der Bedeutung eines zentralen Wortes dieses Momentes oder in ihren Reflektionen erneut aufgreifen.

»Sie sprachen eben von ... Möchten Sie jetzt noch mehr dazu sagen?«

Tom Andersen begründet diese Praxis so: »Antworten auf ähnliche Fragen haben mich erfahren lassen, dass es immer Gefühle in den Wörtern gibt, andere Wörter in den Wörtern gibt, manchmal auch Töne und Musik in ihnen, manchmal ganze Geschichten, manchmal das ganze Leben. Solche Worte können unser Leben so sehr im Griff haben, dass wir uns wie von ihnen ›besessen‹ erleben können; unser weiteres Handeln kann in ihnen wurzeln; und wenn wir fortgesetzt auf ihren Widerhall in uns reagieren, können sie uns in unserem Wesen verändern« (Andersen 1996, S. 122, eigene Übersetzung).

Indem nun im Zuge des Dialoges neue Bedeutungen auf-tauchen und auch neue Verbindungen zwischen Anwesen-den entstehen (Verbindungen der anwesenden Professi-onellen eingeschlossen), erweitern sich alte Sichtweisen, lösen sich möglicherweise auf, sodass Raum entsteht für neue intersubjektive Erfahrungen, veränderte Beziehungen und Zukunftsideen.

Dies kann sich jedoch nur vollziehen, wenn Therapeutin-nen und Therapeuten diese Erzählungen nicht durch ihre eigenen Worte verfremden und enteignen. Ebenso sollten wir weder glauben noch zum Ausdruck bringen, dass wir besser wissen als die Sprechenden selbst, was sie durch ihre Äußerungen zum Ausdruck bringen wollen (Olson u.a. 2014). Daher ist das Paraphrasieren in der dialogi-schen Methode nicht sinnvoll. Paraphrasierende Begriffe und Sätze werden als fremd oder entfremdend erlebt und erschweren den Zugang. »Wenn man die Alltagssprache der Klienten benutzt, die sie gewohnt sind, erleichtern die Fragen der Teammitglieder, dass Geschichten erzählt wer-den, die alltägliche Details und schwierige Emotionen be-inhalten, die in Verbindung mit den Ereignissen stehen, die berichtet werden. Indem andere Netzwerkteilnehmer von den Teammitglieder um Kommentare zu dem gebeten wer-den, was gesagt wurde, helfen sie ein vielstimmiges Bild des Ereignisses entstehen zu lassen.« (Seikkula & Trimble 2005, S. 466, eigene Übersetzung)

Auch Interpretationen und eigene »Konstruktionen« – vor dem Hintergrund favorisierter psychologischer Theorien – können ebenso ungünstig sein wie die Neigung auf Ge-sprochenes mit schnellen Schlussfolgerungen zu reagieren und eventuell sogar Vorschläge für das weitere Vorgehen zu machen (Olson u.a. 2014).

Vorschnelle Interpretationen, eigene Konstruktionen und Schlussfolgerungen sollten die Profis demnach vermeiden. Dies ist jedoch keineswegs einfach, weil wir so daran ge-wöhnt sind und glauben, dass dies förderlich sei und unsere Professionalität beweise. Der Offene Dialog lebt jedoch

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vielmehr von einem gemeinsamen Suchprozess, bei dem es gerade durch die Unvoreingenommenheit zu ganz uner-warteten Wendungen und einer Annäherung von sich zuvor ausschließenden Positionen kommen kann. Diese Wendung tritt oft erst im letzten Drittel des Gespräches ein und so lan-ge sollten die Professionellen möglichst keine Anstrengung unternehmen vorschnelle Brücken zwischen den Parteien zu bauen oder Lösungsvorschläge zu machen. Gleichzei-tig ist ihre allparteiliche Präsenz und evtl. auch ergänzende eigene Stimme als Teil der Polyphonie erforderlich. Neue Worte, Bilder und nie zuvor mitgeteilte Erfahrungen kön-nen zum zentralen Drehmoment des gemeinsamen Prozes-ses werden. Daher ist die genaue Verwendung der Sprache des Netzwerkes zentral.

Alle Gefühle und Meinungen sind zulässig. In den West-Lappland Teams wurde die Erfahrung gemacht, dass bei in-tensiven Gefühlen zu Beginn die langfristige Entwicklung umso besser verläuft. Das bedeutet, dass die Therapeuten möglichst jede Andeutung unterlassen, dass einzelne An-wesende anders denken oder fühlen sollten als sie es tun. Die Anwesenden sollten durch unsere verbalen und non-verbalen Reaktionen nicht den Eindruck bekommen, etwas Falsches zu sagen.

Alle Anwesenden vor dem Hintergrund der Polyphonie als grundsätzlich gleichwertig anzuerkennen ist von großer Bedeutung. Es gibt niemanden, der die tiefere oder bessere Wahrheit für diesen Netzwerkprozess besitzt, auch nicht die Professionellen. Gültige »Wahrheit« entsteht erst aus der Polyphonie. Auch unausgesprochene »innere Stimmen« in allen wirken daran mit. Zudem sollten die Profis die Sicherheit vermitteln, dass über alle Themen gesprochen werden kann, auch über die schwierigen. Was aber, wenn Dinge gesagt werden, die nur schwer auszuhalten sind? Bei Aussagen, die man selbst kaum tolerieren kann, hat sich die Frage bewährt:

»Können Sie mir genauer erklären, wie Sie zu dieser Ein-schätzung gekommen sind?«

Auch die Lebensgeschichte des Betreffenden macht sei-ne nur schwer integrierbare Position zugänglicher. Fragen danach, wie er selbst aufgewachsen ist oder er selbst die in Frage stehende biografische Zeit erlebt hat, können den Zugang eröffnen. Daraus ergeben sich meist neue Perspek-tiven.

Ein Vermittlungsversuch zwischen den divergierenden Stimmen ist nicht sinnvoll. Vielmehr führen genaues Zu-hören und sich von jeder Position berühren lassen zu ver-

tieftem Verstehen. Alle Anwesenden haben gute subjektive Gründe, die immer komplexe Situation so zu sehen und zu empfinden, wie sie es jetzt zum Ausdruck bringen.

Konkretisierende und sogenannte kontextualisierende Fra-gen und Beispiele können hilfreich sein, um Problemlagen plastischer werden zu lassen und sich über die unterschied-lichen Erlebnisperspektiven und Motive auszutauschen.

Polarisierungen sollten erwartet und zugelassen werden. Allzu oft gehen die Auffassungen, Einschätzungen und ak-tivierten Gefühle weit auseinander. Das ist nicht einfach, weil wir als Professionelle gewohnt sind, bei Konflikten schnell Vermittlungsversuche zu unternehmen. Diese soll-ten jedoch unterbleiben. Grundhaltung bleibt auch bei weit divergierenden Meinungen oder Einschätzungen, jede Stim-me in ihrer Eigenweltlichkeit zu hören, jeder Stimme gute Gründe zu unterstellen, dies hier so zu sagen. Jede Stimme formuliert einen Teil eines komplexen Ganzen. Niemand sollte das Gefühl entwickeln, etwas Falsches zu sagen oder gesagt zu haben. Jede Position ist ein wichtiger Aspekt für die Entstehung einer gemeinsamen Wahrheit oder eines gemeinsamen praktischen Wissens. Im Bewusstsein dieser notwendigen, möglichst vollständigen Polyphonie ist es leichter möglich, keine der geäußerten Positionen abzuleh-nen oder zu entwerten. Diese Offenheit sollte tatsächlich empfunden und nicht nur vorgegeben werden. Die Erfah-rung, dass in zunächst spontan zurückgewiesenen Positio-nen wesentliche vorwärts treibende Kräfte und Aspekte für die weitere Entwicklung auftauchen können, macht dabei gelassener und neugieriger.

Zwischendurch tauschen sich die moderierenden Perso-nen vor allen Beteiligten immer dann aus, wenn sie über ihre Art ihre Moderation des Gesprächs unsicher sind, sich darüber abstimmen wollen. Dazu genügt es meist, sich ge-genseitig die eigenen aufkommenden Fragen über die Ge-sprächsführung (ein Aspekt der inneren Polyphonie) mit dem zweiten Gesprächsmoderatoren angemessen und kurz auszutauschen. Hilfsfragen können sein:

»Was könnten wir als Moderatoren in diesem Moment gebrauchen? Was benötigt unser gemeinsames Gespräch jetzt?«

Danach sollten sie mit einer offenen Frage in das Gespräch mit allen zurückzukehren. Diese z.T. auch selbstkritische »Metakommunikation« über die eigene Gesprächsführung bewährt sich gerade in schwierigen Gesprächsphasen. Der Austausch sollte durchaus auch »polyphon« sein, so dass die anderen Teilnehmenden an der Entscheidung über die Art der Fortführung des Gesprächs beteiligt werden kön-

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nen. Dieser Austausch macht die eigene Suchhaltung und Offenheit deutlich und kann auch unausgesprochenes Mo-dell für den Umgang mit Unterschieden sein. Ebenso bietet es die Möglichkeit schwierige Gesprächsphasen mit z.B. langen Monologen oder gegenseitig verletzenden Äuße-rungen wieder in den Fluss zu bringen ohne einzelne Per-sonen direkt zu begrenzen. Insgesamt fördern diese Unter-brechungen auch die Verlangsamung des Prozesses. Auch misslungene Moderationsphasen können auf diese Weise eingestanden werden. Therapeutinnen und Therapeuten wirken menschlicher und nicht perfekt und werden so mehr »auf Augenhöhe« wahrgenommen.

Im Fokus der Dialoge sollten weniger die Symptome der Person stehen sondern kontextuelle und biographische As-pekte, sodass die Symptomatik auch als »natürliche« Reak-tion auf eine schwierige Lebensgeschichte und Lebenssitu-ation gesehen werden kann. Bereits die Konzentration auf zentrale Worte kann solche Erfahrungen dem Dialog zu-gänglich machen. Aber auch situativ passende Fragen nach Ereignissen vor dem Beginn dieser Krise oder der ersten Krise vermögen dies. Demgemäß ist nicht so sehr die Fra-ge hilfreich, wann die Symptomatik begonnen hat, sondern was sich vor dem Beginn der Symptomatik ereignete.

»Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen diesen Erfah-rungen und ihrer Krise bzw. Erkrankung?

Entlastend wirkt zunächst auch die Frage nach den histo-rischen Ressourcen des Systems. Davon ausgehend kann dann auch die Frage nach den Wurzeln der Krise gestellt werden:

»Können Sie etwas über die Zeit erzählen, als es Ihnen das letzte Mal gut gegangen ist? … Und was ist seitdem pas-siert?«

Oftmals bleiben die Antworten zunächst unvollständig. Die Bereitschaft mehr mitzuteilen, ist häufig auch eine Frage des Vertrauens und der erlebten Sicherheit. Beides wächst nicht selten im Zuge weiterer Gespräche und die Betroffenen können dann mehr mitteilen. Daher ist es sinn-voll, immer von einem noch unvollständigen Bild über die Vergangenheit auszugehen. Psychotische Klientinnen und Klienten brauchen Zeit, geduldige Aufmerksamkeit und Offenheit der Professionellen, fast immer über mehrere Netzwerkgespräche hinweg.

Die Professionellen sollten soweit wie möglich mit ei-genen Gefühlen, Mitgefühl und menschlicher Wärme (an)teilnehmen, um so tragfähige therapeutische Beziehun-gen herzustellen und die anderen Gesprächsteilnehmenden

nicht zu Objekten zu machen, die einer Prüfung und Beur-teilung unterzogen werden. Die eigenen emotionalen und körperlichen Reaktionen der Therapeuten bieten gleichzei-tig einen weiteren Zugang zu Momenten tieferen Verste-hens. Dafür müssen die Professionellen zeitweise mehr mit sich im Kontakt sein als mit den Anwesenden. Sie brau-chen dafür inneren Raum, der z.B. entsteht, wenn andere Teammitglieder die Gesprächsführung übernehmen oder längere Pausen zwischen den Redebeiträgen entstehen. Längere Pausen sollten nicht vorschnell als unangenehm oder Anzeichen von Hilflosigkeit interpretiert werden, sondern eröffnen meist Raum für Gefühle, zum Nachden-ken und für die innere Polyphonie. Oftmals kommen dann weitere bedeutsame Ideen, die zunächst ein inneres Zögern ausgelöst haben, zur Sprache. Therapeuten laufen Gefahr solche Vorgänge falsch zu interpretieren und reagieren vor-schnell mit Vorschlägen und eigenen Ideen, die den inneren Prozess der anderen unterbrechen.

So kann z.B. ein Therapeut oder eine Therapeutin im Lau-fe des Gesprächs - ohne dies zu verstehen - tiefe Trauer empfinden. Möglicherweise lässt dies eine bisher nicht ausgedrückte Traurigkeit oder zutiefst traurige Erfahrung eines Gesprächsteilnehmers erahnen, die dann zur Sprache kommen kann, wenn dieses eigene Gefühl angemessen vorsichtig ausgesprochen wird. Eigene Körpergefühle wie z.B. Spannungen im Gesicht, in der Stirn oder im Rücken können Anlass dazu geben sich selbst zu fragen: Was wol-len und können mir diese Empfindungen sagen? Was emp-finde ich gerade? Soll ich weiter zuhören oder sollte ich eine Form finden, um über meine inneren Reaktionen zu sprechen? Was ist das vermutlich Wichtigste für die Kli-enten in diesem Augenblick? Was glaube ich erwarten sie in dieser Situation von mir? (Smith 2004) Diese Fragen lassen sich auch in einer »Metakommunikation« mit dem Kollegen kurz erörtern. Die aus dem inneren Dialog oder der Metakommunikation herausführende Grundfrage in der professionellen Rolle ist dann:

»Wie können wir dem Gespräch mit diesem Aspekt eine gute Wendung geben?«

Solche eigenen Momente des Innehaltens (»arresting mo-ments«; Shotter & Katz 1998, S. 82) können Anlass sein, sich selbst zu verlangsamen (z.B. durch tieferes Einatmen) oder mit den Kollegen laut über das eigene Erleben nachzu-denken (reflektieren) und damit zu Momenten des Innehal-tens bei allen Anwesenden werden. Andersen nennt die Fä-higkeit, solche Momente zu erkennen, Beziehungswissen (»relational knowing«) und körperliches Wissen (»bodily knowing«) (zit n. Lowe 2005, S. 69). Darüber hinaus sind die Therapeuten sowieso in einem fast ständigen inneren

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Dialog mit sich selbst (innere oder vertikale Polyphonie), wenn sie in sich hineinhören (Seikkula 2008).

Auch sogenannte zirkuläre Fragen, die die vermutete Sicht-weise einer nicht anwesenden, jedoch bedeutsamen Person des Netzwerks erfragen, können hilfreich sein.

»Was würde X dazu sagen, wenn er jetzt hier wäre? Was würde sich an unserem Gespräch verändern, wenn X jetzt anwesend wäre?«

Solche Personen werden oft spontan im Zuge des Ge-sprächs erwähnt und können dann aufgegriffen werden. Sie ergeben sich auch aus den nicht anwesenden weiteren Familienmitgliedern und können auch Verstorbene sowie wohlwollende Personen aus der eigenen Lebensgeschich-te sein. Das Professionelle Handeln ist ausgerichtet auf die Förderung des Dialogs. Anwesende anzusprechen, die bis-her wenig gesagt haben oder einladende zirkuläre Fragen über Anwesende an andere Teilnehmer zu stellen, kann un-terstützend wirken und die gegenseitige Empathie fördern.

»Haben Sie eine Idee, wie X darüber denkt? Was glauben Sie, wie es Y damit geht, was wir gerade besprochen ha-ben? Was glauben Sie, schätzt X an Ihnen?«

Wichtig ist: Diese Beziehungen dürfen aktuell nicht zu ver-letzt sein.

Wenn die Professionellen eine eigene Aussagen machen, sollte diese als persönliche Einschätzung und Meinung ge-sprochen werden und nicht als abstrakte allgemeine Fest-stellung: »Nach meiner Erfahrung ... Ich bin nicht sicher, aber vielleicht ...« Erst durch die persönliche »Autoren-schaft« lädt solch eine geäußerte Auffassung zum weiteren Dialog ein (Seikkula & Arnkil 2014).

In fast jedem Gespräch entsteht nach 30 bis 60 Minuten eine Situation, in der die Dialoge sich nicht weiter vertie-fen, in der ein längeres Innehalten als wohltuend erlebt wird und in der die Professionellen zunehmend das Bedürfnis entwickeln, eigene Eindrücke, Gedanken und Gefühle an das Netzwerk zurückzugeben. Dann wird den Gesprächs-teilnehmern das Angebot gemacht, dass die Professionel-len im Beisein aller anderen, jedoch ohne diese dabei an-zuschauen, laut über das bisher Gehörte und Empfundene gemeinsam nachdenken. Dies möglichst unterschiedlich, eventuell sogar gegensätzlich. Eine ungewohnte Praxis, wo wir es uns doch zur Gewohnheit oder Regel gemacht haben, vor Klienten und Angehörigen Einigkeit zu zeigen, auch wenn sie gar nicht besteht. Diese Methode wurde von Tom Anderson und seinen Mitarbeitern in Tromsö unter

dem Begriff des »Reflektierendes Team« vor nun mehr als 30 Jahren entwickelt. Dabei steht zunächst die Wertschät-zung der Beteiligten und ihrer Dialoge im Vordergrund. Das persönliche Netzwerk des Klienten sollte so weit wie möglich als Ressource gesehen und angesprochen werden. Bereits durch das eigene Formulieren einer authentischen (!) Wertschätzung kann sich der eigene Blick auf die Anwe-senden verändern. Jede Stimme bzw. Person des Netzwerks sollte dann in den weiteren Reflektionen aufgegriffen wer-den. Bereits das Aussprechen der subjektiv als bedeutsam erlebten Aspekte des Gehörten in den jeweiligen Worten der Anwesenden ist erstaunlich wirksam. Es vermittelt das Gefühl wirklich gesehen und gehört und ernst genommen zu werden. Gleichzeitig können Teilnehmende die Sicht-weise ihres Gegenübers neu und anders hören und werden so innerlich zugänglicher.

Beobachtbare interaktionelle »Pathologien« im Netzwerk sollten nicht als solche definiert und angesprochen werden. Dies würde die Chance sie zu verändern eher behindern. Besser ist, die jeweiligen subjektiven Sichtweisen durch die Profis zu spiegeln und zu reflektieren. Hilfreich kann auch sein, eigene Hypothesen bzw. Ideen in möglichst kur-ze Fragen umformulieren oder Fragen zu Beziehungen und gemeinsamen Entwicklungsmöglichkeiten zu stellen, Fra-gen, die sich die Anwesenden selbst bisher möglicherweise nicht gestellt haben. Beobachtungen statt Erklärungen und Interpretationen, sowie keine Bewertungen. Erklärungen und Interpretationen sind keine Reflektionen. Jede Äu-ßerung sollte als subjektive Sichtweise () und ergänzende Frage formuliert werden. Weiterführende Ideen sollten im Konjunktiv und subjektiv formuliert werden. Sie sollten möglichst vielstimmig und eventuell sogar gegensätzlich sein:

»Mir kam es so vor ...«»Könnte es sein, dass ...?«»Ich frage mich, ob ...«»Ich bin nicht sicher, vielleicht …«»Es kommt mir so vor als ob...«

Aussagesätze (so ist es) sollten vermieden werden. Wirk-lichkeit ist immer polyphon. Aufmerksamkeit auch gegen-über subtilen Details kann öffnende Reaktionen bewirken. Die Reflektionen sind auch eine gute Gelegenheit, um eige-ne Gefühle auszusprechen und dabei so weit wie möglich echt und authentisch sein. Diese Gefühle können zu einer wertvollen Rückmeldung im dialogischen Prozess werden und helfen den Anwesenden, sich ihre eigenen Gefühle bewusst zu machen. Es ist auch förderlich, sich von den meist tragischen und immer komplexen Lebensgestalten der Menschen berühren zu lassen. Leiden und misslunge-

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nes Bemühen anzuerkennen, wird auch als Wertschätzung erlebt. Dies mit Gefühlen und Erfahrungen des eigenen Lebens zu verbinden und kurz in der Reflektion mit an-zusprechen, stellt mehr Ähnlichkeit zu den jetzt in einer Krise lebenden Anwesenden her. Viele ihrer existenziellen Erfahrungen haben auch wir gemacht. Besonders wohltu-end erleben es Personen, die im Gespräch eine negative Außenseiterrolle einnehmen oder zugewiesen bekommen, dass auch ihre Situation nachempfunden wird.

Die Reflektionen sind kein Ort für Lösungsvorschläge und Ratschläge. Sie sollen lediglich neue Anstöße geben, die konkreten Schritte und Lösungsideen sollten, wenn irgend-wie möglich, aus dem Netzwerk selbst kommen.Es empfiehlt sich zwei bis drei Mal im Gesprächsverlauf solche Reflektionen anzubieten. Immer entscheidet das anwesende Netzwerk, ob sie tatsächlich stattfinden. Sie sollten jeweils kurz sein und das subjektiv Wichtige wie-dergeben.

Durch das Reflektieren wird dem Netzwerk zum einen deutlich, wie aufmerksam die Professionellen die Dialoge verfolgen, was meist die Ernsthaftigkeit des Gesprächs nach der Reflektion verstärkt. Des Weiteren existieren in jedem Anwesenden neben der geäußerten »Stimme« weitere und durchaus divergierende innere Stimmen (die sogenannte innere oder vertikale Polyphonie), die jedoch nicht aus-gesprochen werden. Indem zentrale Inhalte der »äußeren Stimme« gespiegelt werden, werden diese oft gegensätzli-chen inneren Stimmen aktiviert und so beginnt ein innerer Dialog. Zugleich werden auch die anderen evtl. im Kon-flikt stehenden Gesprächsteilnehmer zu Hörenden dieser gespiegelten Inhalte. Werden diese jetzt wertschätzend von anderen wiedergegeben, können sie neu gehört und bereiter aufgenommen werden. Auch dies führt oft zu neuen wei-teren inneren Dialogen. Die (noch) nicht ausgesprochenen inneren Stimmen sind oft wichtiger als die formulierten. Sie können auch unausgesprochen bleiben, bestimmen jedoch unter Umständen die weitere Entwicklung mit. In späteren Gesprächen werden sie möglicherweise ausgesprochen.

Mitunter ist es notwendig, einen Behandlungsplan zu ent-wickeln, über Medikation zu entscheiden oder darüber, ob jemand in der Klinik behandelt werden muss. Auch über diese Fragen sollte ebenfalls offen und möglichst vielstim-mig inklusive Vor- und Nachteilen vor dem Netzwerk dis-kutiert werden. Wie bei anderen Themen auch, ist hilfreich, wenn die professionelle Diskussion ebenfalls Uneinigkei-ten und Kontroversen unter den Teammitgliedern enthält. Diese divergente Vielstimmigkeit im professionellen Team - bis hin zur transparenten Benennung kontroverser Po-sitionen - ist zunächst ungewohnt, für Professionelle auf

Dauer jedoch erleichternd, ja befreiend und gibt den an-deren Gesprächsteilnehmern mehr Impulse und Entwick-lungsmöglichkeiten. Vielstimmigkeit ohne erzwungene Einigkeit oder polarisierende Ablehnung wird unmittelbar vorgelebt.

Zentrale Idee des Ansatzes ist die Aktivierung natürlicher Ressourcen und die gemeinsame Strukturierung des Be-handlungssettings und der Behandlungsschritte mit dem Netzwerk. Durch eine abwartende Haltung bezüglich pro-fessioneller Maßnahmen (sofern ohne Risiken möglich) können möglichst viele »normale« auf die natürlichen Beziehungen und die Alltagswelt bezogene Schritte und »Lösungen« gefunden werden, die den Professionellen gar nicht eingefallen wären. Da jede Krise einzigartig ist, wird von festgelegten Maßnahmen abgesehen. So kann das Netzwerk, angeregt durch die Ideen und noch nicht entschiedenen Möglichkeiten des Handelns eigene Vor-stellungen über das weitere Vorgehen mit Hilfe der eigenen Ressourcen entwickeln.

Alle anstehenden Entscheidungen werden gemeinsam mit den Anwesenden Gesprächteilnehmern durchdacht und möglichst im Konsens entschieden, z.B. auch die Gabe von Neuroleptika. Dabei sollte kein vorschneller Konsens zwischen den Anwesenden hergestellt und Unsicherheiten im Zuge des prozessorientierten Vorgehens ausgehalten werden. Diese Toleranz von Unsicherheit ist eines der be-deutsamsten therapeutischen Prinzipien des Ansatzes. Es kann bedeuten, dass nicht konsensfähige Entscheidungen in einer Krise von einem auf den anderen Tag aufgescho-ben werden, z.B. als Antwort auf die Frage: Müssen wir das heute entscheiden? (persönliche Mitteilung von Birgit-ta Alakare)

Häufig geschieht erst nach dem Gespräch Entscheidendes, was zuvor gar nicht zur Sprache kam oder verabredet wur-de. Dies mag Folge einer »inneren Polyphonie« sein, die durch den reflektierenden und dialogischen Prozess ange-regt wurde, jedoch aufgrund von Gesichtverlust, Stolz, Be-schämung oder Schuldgefühlen (noch) nicht explizit aus-gesprochen werden konnte. Zugleich haben die kleinen Be-wegungen aufeinander zu oft weitere zur Folge, die durch zu frühe und zu feste Vorsätze eher behindert würden.

Der gemeinsame dialogische Suchprozess braucht nichts-destotrotz einen sicheren entängstigenden Rahmen. Eine schnelle erste Krisensitzung innerhalb von 24 Stunden, eine weitere dichte Abfolge von Sitzungen bei Bedarf und ein 24 h Krisendienst im Hintergrund sind strukturelle As-pekte, die Sicherheit geben. Dabei genügt es oft, zeitweise nur kleine aber konsensfähige Schritte zu verabreden, denn

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die nächste Sitzung kann – falls erforderlich – schon am nächsten Tag erfolgen. Je akuter die Krise ist, umso kurz-fristiger sollte man denken und planen.

Der sichere Rahmen ist notwendige Voraussetzung dafür, dass der Prozess vertiefter Dialoge über das gemeinsame Verständnis der Krise und über tragfähige Veränderungs-schritte überhaupt entstehen kann. Besteht eine solche Si-cherheit nicht, kann dies den Prozess unterbrechen oder vorzeitig abbrechen. Die Profis sollten durchgehend die grundsätzliche Hoffnung vermitteln, dass diese Krise über-wunden werden kann.

Gegen Ende der Sitzung sollte die Frage gestellt werden, ob für heute alles Wichtige gesagt wurde. Werden dann ganz neue Themen eingebracht, können diese auch Thema eines Folgegesprächs sein oder in einen anderen sinnvollen Kon-text verwiesen werden. Es empfiiehlt sich außerdem, die erörterten Themen zusammenzufassen. Dies sollte jedoch von den Teammitgliedern nur in Form eines subjektiven kurzen Rückblicks angestoßen werden, sodass die anderen Teilnehmenden ergänzen oder korrigieren können.

»Haben wir noch etwas Wichtiges vergessen?«

Verzichtet man z.B. angesichts hoher Komplexität darauf, so sollten jedoch fest verabredete Vereinbarungen am Ende wiederholt werden, um sie so auch auf ihre Gültigkeit hin überprüfen zu können. Wurden Entscheidungen in andere Kontexte verwiesen, sollte dies ebenfalls erwähnt werden. Auch Gefährdungen oder die Befürchtung werden nochmal angesprochen über die Frage, ob sich alle nun sicher genug fühlen, um jetzt so gut auseinander gehen zu können. Zum Abschluss des Gesprächs folgen dann noch Fragen zu wei-teren Gestaltung des Settings:

»Sollen wir uns zu einem weiteren Gespräch treffen?«

»Was wäre ein guter zeitlicher Abstand bis zu unserem nächsten Gespräch?

Bei Zögern des Netzwerks bzw. der Familie:

»Wollen Sie erst einmal darüber nachdenken und uns dann anrufen?«»Sollte jemand zusätzlich eingeladen werden?«

10.4.1 Zusammenfassung

Grundsätzlich sind die Art des Denkens, die Haltung und die Art der Begegnung wichtiger, als die verwendeten sys-temischen Methoden. Die Sitzung schafft einen Kontext

für Veränderung, indem Haltung und Methode zu einem lebendigen Austausch unter den vielfältigen inneren und äußeren Stimmen führen, bei dem alle geschätzt werden und wichtig sind. Im Mittelpunkt der Methode steht der Versuch, jede Stimme zu hören, weil jede Stimme gehört werden will und sich von jeder Stimme berühren zu lassen, weil wir Menschen berühren, wenn wir uns von Ihnen be-rühren lassen und in jedem Menschen etwas lebt, das dar-auf wartet, berührt zu werden.

Eine gemeinsame Sprache und gegenseitiges Verstehen helfen, die Verwirrung und Zweideutigkeit zu verringern und mehr Orientierung und Handlungsfähigkeit zu gewin-nen (Olsen u.a. 2014). Die Professionellen bemühen sich auch um das Entstehen eines Wir-Gefühls, einer lebendi-gen Verbindung zwischen allen Gesprächsteilnehmern, die sie einschließt.

Dafür stellt die Methode ein recht großes Repertoire bereit: Öffnende Fragen, möglichst authentische Worte und Ges-ten, Innehalten, Aushalten, in Kontakt gehen mit eigenen Gefühlen und Gedanken (inneren Stimmen) und verzöger-tes Reflektieren. »Wir müssen uns nicht mit einer vorgege-benen Geschwindigkeit durch das Gespräch bewegen und uns nicht verpflichtet fühlen, ein spezielles Ziel in einer vorgegebenen Zeit zu erreichen. Wir können anhalten, uns verlangsamen, nachdenken, mit Abstand betrachten, die Richtung ändern, ziellos umherwandern oder unsere Reise zu einer späteren Zeitpunkt fortsetzen. Was zwischen uns und um uns herum geschieht, bleibt ebenso wichtig wie wohin wir gehen. Diese Art der Metapher kann uns helfen, unsere strukturierten Methoden in einer Weise zu verwen-den, die nicht weniger zweckmäßig, aber weniger nachei-nander abfolgend sind« (Lowe 2005, S. 74 Übersetzung V.A.). Die professionelle Präsenz und das professionelle Handeln sollten nicht den Charakter einer Routine haben.

10.5 Wirkungen und Wirkfaktoren

Die Kraft des dialogischen Prozesses wurde von Katz & Shotter (2004, S. 78) als Kraft mit eigener Berechtigung (»a kind of agent in its own right«) beschrieben. Sie führt den Gesprächprozess in den meisten Gesprächen über eine häufige initiale Polarisierung mit durchaus heftigen Affek-ten zu mehr Kohärenz, Kooperation, Kohäsion und Inte-gration unterschiedlicher Standpunkte. Dies kann im Ver-lauf eines Gesprächs oder in einem Prozess über mehrere Gespräche entstehen.

So können Dialoge, Reflektionen und andere verkörper-lichte Prozesse zu sogenannten ›living moments‹ (Shotter 1998), ›striking moments‹ (Lowe 2004) oder ›Jetzt-Mo-

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menten‹ (Stern 2007) führen, die zunächst unausgespro-chen bleiben, jedoch oft fühlbar sind. Unvoraussagbar können auf sie Momente der inneren Verbundenheit zwi-schen den einzelnen Anwesenden folgen, die Daniel Stern ›Begegnungsmomente‹ nennt. Sie werden oft zur entschei-denden Wende in einem Gespräch. Nie zuvor erzählte und geteilte Erfahrungen aber auch ein ungewohnt neuer Blick, ein tieferes Verständnis des anderen sind der Stoff, aus dem diese Momente entstehen. »In solchen Begegnungsmo-menten vollziehen sich zentrale Erfahrungen, die in einer Psychotherapie verändernd wirken« (Stern 2007, S. 182. Er beschreibt sie folgendermaßen:»Die gemeinsame Reise dauert zwar nicht länger als die Sekunden, die ein Begeg-nungsmoment hat. Aber das reicht aus. Sie wurde gemein-sam durchlebt. Die Beteiligten haben eine private Welt er-zeugt, die sie miteinander teilen. Wenn sie jene Welt wieder verlassen, werden sie feststellen, dass ihre Beziehung sich verändert hat. Ein Diskontinuitätsprung hat stattgefunden. Die Grenze zwischen Ordnung und Chaos wurde neu gezo-gen. Kohärenz und Komplexität wurden erhöht. Sie haben das intersubjektive Feld erweitert, sodass sich neue Mög-lichkeiten des gemeinsamen Zusammenseins auftun. Beide sind verändert und sie sind auf eine neue Weise miteinan-der verbunden, weil sie einander verändert haben.« (ebd. S. 179)

»Diese gemeinsamen Gefühlsreisen sind so einfach und natürlich, und trotzdem ist es ausgesprochen schwierig, sie zu erklären oder auch nur über sie zu sprechen. Wir benö-tigen eine andere Sprache, die (außerhalb der Lyrik) nicht existiert – eine Sprache, die von zeitlicher Dynamik erfüllt ist. Dass wir eine solche Sprache nicht besitzen ist paradox, denn diese Erfahrungen machen die zentralen Momente un-seres Lebens aus. Gemeinsame Gefühlsreisen gehören zu den verwunderlichsten und dennoch normalsten Vorgängen des Lebens und können unsere Welt Schritt für Schritt oder auch in einem einzigen großen Sprung verändern.« (ebd. S. 180) Sind dabei Intersubjektivität und affektive Aufladung hoch, so kann sich ein »Schlüsselereignis vollziehen, das ein ganzes Leben verändern kann.« (ebd. S. 182)

Hinzu kommen weitere bekannte Wirkeffekte von Psy-chotherapie: selbstverständlich wirken auch in Netzwerk-gesprächen die eher grundlegenden Wirkfaktoren wie die Persönlichkeit der Therapeuten, eine vertrauensvolle, emo-tional unterstützende Beziehungen, die Konsistenz des the-rapeutischen Modells, oder eine rituelle Vorgehensweise. Hinzu kommen mehr durch therapeutische Interaktionen entstehende Wirkfaktoren wie: Erleben von Gefühlen; kognitive Veränderungen durch Klärung von Motiven und Bedeutungen; Integration neuer Perspektiven, Wahrneh-mungen und Denkmuster; Problemaktualisierung bis hin

zur Konfrontation; emotionales Abreagieren; Exposition; Ressourcenaktivierung; Problembewältigung; motivationa-le Klärung und aktive Bewältigung und konkrete Lösung; korrektive emotionale Erfahrungen und Internalisierung; Mentalisierung, vor allem unterstützt durch die Reflekti-onen; eigene stimmige Neufassung der Lebensgeschichte; Therapeutenmerkmale wie Wertschätzung und Empathie (Pfammatter u.a. 2012).

Schon ein einziges Netzwerkgespräch kann deutliche Wir-kungen haben. Üblicherweise sind jedoch mehrere Gesprä-che über eine längere Zeit von Monaten bis zu mehreren Jahren sinnvoll und erforderlich. Die daraus entstehenden weiteren Entwicklungen können erstaunlich groß sein: Be-ziehungen verändern sich, Betroffene gehen unerwartete Schritte im eigenen Leben oder die Symptomatik geht zu-rück als Ausdruck von Selbstheilungsprozessen.

Meiner Erfahrung nach können solche gemeinsamen Er-fahrungen etwas wahrhaft Heilsames hervorbringen, was in Einzelpsychotherapien so unmittelbar nicht möglich ist, weil die Begegnungsmomente in Netzwerkgesprächen sich direkt zwischen entscheidenden Personen des eigenen Le-bens ereignen.

Wenn es daher in einer schwierigen Lebenssituation ge-lingt, die (meisten) wichtigen Beteiligten an einen Tisch zu bringen, sind – nach meiner Erfahrung – dialogisch geführ-te Netzwerkgespräche die wirksamste psychotherapeuti-sche »Einzelintervention«, die es gibt. Sie sind gleichzeitig im Modell der bedürfnisangepassten Behandlung mit je-dem weiteren psychotherapeutischen Ansatz vereinbar und kombinierbar. Dabei sollte jedoch darauf geachtet werden, dass aus den Einzelkomponenten der Behandlung ein ko-härenter gemeinsamer Prozess wird und er es auch bleibt.

Ein weiterer großer Vorteil dieser Methode für in der Psy-chiatrie tätige Teams besteht darin, dass durch Netzwerk-gespräche fast immer ein eigenes inneres Berührtsein, ja meist sogar eine aufrichtige Zuneigung zu den Teilneh-menden entsteht. Die weitere Entwicklung des Netzwerks macht schlicht neugierig.

Auch auf das Team haben Netzwerkgespräche eine Wir-kung: die Belastung durch die Arbeit mit dem Patienten verteilt sich auf das Team und andere Bezugspersonen des Klienten und es entstehen deutlich mehr Entwicklungsop-tionen. Systemisch kam man auch von einer gemeinsamen Ko-Evolution des Netzwerkes und der Professionellen sprechen.

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20 Jahre Psychiatriereform – eine Zwischenbilanz !?

10.5.1 Evaluationsstudien

Beginnt der Netzwerkprozess mit der Akutbehandlung als Hometreatment, wie in dem bedürfnisangepassten Behand-lungsmodell für Psychosen, benötigt man durchschnittlich 25 bis 35 Sitzungen in den ersten zwei Jahren (je nach Er-fahrung der Teams), dadurch viel weniger stationäre Res-sourcen und danach nur noch sehr wenige (Alanen 2001, Weinmann u.a. 2012, Seikkula u.a. 2006, 2011). Spätere beginnende Behandlungsprozesse ohne Einschluss der Akutphase benötigen deutlich weniger systemische Inter-ventionen.

Prinzipiell gelten ergänzende systemische Gespräche als Verstärkung der Wirksamkeit anderer Psychotherapiefor-men.

Die bislang in vier naturalistischen Kohortenstudien an Ersterkrankten mit nicht-affektiven Psychosen aufgezeigten Behandlungsergebnisse über zwei bzw. fünf Jahre beein-drucken (Lehtinen u.a. 2000, Seikkula u.a. 2006, Seikkula u.a. 2011). In allen Studien ergaben sich eine ungewöhnlich niedrige Rate von Krankenhaustagen, hohe Raten von In-tegration in Ausbildung oder Studium und Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt von durchgängig 70 bis 80 Prozent, geringe Rückfallraten von 17 bis 28 Prozent innerhalb von zwei Jahren in Verbindung mit niedrigen Dosen verwende-ter Psychopharmaka. 50 bis 70 Prozent der ersterkrankten psychotischen Patienten wurden über den gesamten Un-tersuchungszeitraum von zwei und fünf Jahren ganz ohne Neuroleptika behandelt, nur 11 bis 28 Prozent längerfristig. 46 bis 63 Prozent der Patientinnen und Patienten nahmen neben der systemischen Intervention zusätzlich eine Indivi-dualtherapie in Anspruch, meist Personen, die schon relativ abgelöst waren aus ihrer Ursprungsfamilie.

Folgende Effekte wurden in Studien nachgewiesen:

o Reduktion von Hospitalisierungo Reduktion von Rückfälleno Verbesserung der Symptomatik o Verbesserung des psychosozialen Funktionsniveauso verstärkte Wirkung aller weiteren Therapieno Aktivierung sozialer Ressourceno Förderung der sozialen Inklusiono Veränderung professioneller Haltungen und Konzepte

10.6 Umsetzung in Deutschland

In Deutschland gelingt die Umsetzung der Praxis der »Of-fenen Dialogs« zum Teil im neuen Finanzierungssystem der »Integrierten Versorgung« und in Kliniken mit regio-

nalem Budget. Aber bereits einzelne Netzwerkgespräche im Rahmen der üblichen stationären oder ambulanten Be-handlung können eine entscheidende therapeutische Wirk-samkeit haben sowie die gesamte therapeutische Kultur spürbar verbessern.

Das Modell wird seit ca. 15 Jahren in Finnland und auch in anderen skandinavischen Ländern umgesetzt und stößt in Polen, Großbritannien sowie den USA auf wachsendes Interesse.

10.6.1 Implementierung in Organisationen

Trotz der überwältigenden wissenschaftlichen Evidenz von Familieninterventionen und ihr Einschluss in praktisch alle Leitlinien ist ihre nachhaltige Implementierung nicht leicht (Eassom u.a. 2014). In einer Metaanalyse von 43 Studien wurde deutlich, dass anhaltende Fortbildung und Supervi-sion allein nicht ausreichen, um eine konsistente systemi-sche Arbeitsweise einer Organisation sicherzustellen.

Vielmehr sind die »Organisationskultur« sowie das »Pa-radigma« der gesamten Organisation von grundlegender Bedeutung, wobei jede Ebene der Organisation – Lei-tungsebene eingeschlossen –einbezogen sein muss. Der auf eine Kooperation mit Familien und soziale Netzwer-ke ausgerichtete Ansatz sollte das gemeinsam geteilte Ziel möglichst aller Mitarbeitenden der Organisation sein. Eine besondere Herausforderung stellt dabei die Angst vor Ver-lust von Kontrolle durch partnerschaftliche kooperative Beziehungen zu Familien dar. Auch das Bedürfnis nach einer exklusiven Therapeuten-Klientin- bzw. Betreuerin-Klient-Beziehung kann einer Einführung im Weg stehen.

Wie kann die Umsetzung dennoch gelingen? Durch ent-schiedene Leitung der Organisation und Top-down-Ma-nagement bei der Implementierung sowie durch multipro-fessionelle Teams. Ebenfalls hilfreich ist, wenn der über-wiegende Teil der Teammitglieder kompetent und geschult im Ansatz des Offenen Dialogs sind, wenn sie ihn als wir-sam erleben und sich mit dem Anzatz identifizieren. Fami-lien- und Netzwerkgesprächen sollte eine gewisse Priorität eingeräumt sowie flexible Zeiten und Ressourcen dafür zur Verfügung gestellt werden. Die Entwicklung einer Team-kultur von partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit Fami-lien und Netzwerken, ein systemisches Nachdenken über Problemlagen von Klienten, die Kooperation mit den stati-onären Strukturen und routinemäßige Erfassung von Daten zum familiären und sozialen Kontext (z.B. mittels sozialer Netzwerkkarte) helfen ebenfalls. Günstig sind spezifische Supervisionen und Trainings und wenn der Ansatz von al-len Beteiligten vertreten und propagiert wird.

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20 Jahre Psychiatriereform – eine Zwischenbilanz !?

Im Kontakt mit den betroffenen Familien und Netzwerken empfiehlt sich ein frühes In-Kontakt-Treten gleich zu Be-ginn der Behandlung oder Betreuung. Alle Schwierigkeiten sollten mit den Familien offen und anerkennend diskutiert werden und auch kreative Lösungen zur Überwindung möglich sein. Das gelingt in vertauensvollen, authenti-schen, warmherzigen, nicht tadelnden Beziehungen zu Fa-milienmitgliedern. Auch die Verwendung einer angemes-senen, verständlichen Sprache ohne stigmatisierendes, kri-tisierendes oder verurteilendes Vokabular ist hilfreich. Wie immer erleichtert eine Teamkontinuität die längerfristige Zusammenarbeit. Auch die Möglichkeit einer zusätzlichen exklusiven Klient-Therapeut bzw. Betreuer-Beziehung zu schaffen, ist hilfreich, falls dies erwünscht ist (Eassom u.a. 2014).

10.7 Ausblick

Systemische, dialogisch orientierte Psychiatrie ist machbar. Sie holt den sozialen Kontext in die psychiatrischen Insti-tutionen oder verlässt diese, um dort zu arbeiten. Sie hat eine auf Kooperation und Dialog ausgerichteten Haltung entwickelt. Damit ist sie für alle ein Gewinn: Patienten, An-gehörige, weitere Bezugspersonen und auch für die Profes-sionellen. Sie verändert Stations- und Teamkulturen, und das gemeinsame Arbeiten mit Menschen in schwierigen Problem- und Lebenslagen wird leichter.

Literatur

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Weinmann, S.; Aderhold, V. (2012): Need adapted treat-ment in Skandinavien, In: Tophoven C, Wessels (Hrsg.) Neue Versorgungskonzepte zur Behandlung psychischer Störungen, Heidelberg, Psychotherapeuten Verlag

Beitrag aus:Martin Zinkler, Klaus Laupichler, Margret Osterfeld (Hg.)Prävention von ZwangsmaßnahmenMenschenrechte und therapeutische Kulturen in der PsychiatrieISBN Print: 978-3-88414-632-31. Auflage 2016, 29,95 €Köln: Psychiatrie VerlagAbdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

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Ich beginne mit einem wegweisenden Zitat aus dem PsychKG, dass die Arbeit der Selbsthilfe begleitet hat: „Ehrenamtliche Hilfen einschließlich der Angehöri-genarbeit, sowie Projekte der Selbsthilfe sind in die Versorgung psychisch kranker Personen einzubezie-hen. Soweit dies deren Wünschen entspricht, haben diese Hilfen Vorrang vor öffentlicher Arbeit.“

Dank des Engagements von Ministerpräsident a.D. Kurt Beck, Ministerpräsidentin Malu Dreyer, Minister a.D. Florian Gerster, Minister a.D. Alexander Schweitzer, Ministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler, Staatssekretär a.D. Klaus Jensen, Staatssekretär a.D. Dr. Richard Auernheimer, Staatssekretär a.D. Christoph Habermann, Staatssekretär David Langer, Behindertenbeauftragter a.D. Miles Paul, Behindertenbeauftragter Matthias Rösch, ehemaligen und aktuellen Mitarbeitern der Abteilung Gesundheit und Soziales und nicht zu vergessen Roswitha Beck mit ihrem jahrelangen Einsatz für die Betroffenen, konnte die Selbsthilfe Wünsche formulieren und Projekte mit finanzieller, ideeller und logistischer Unterstützung der Genannten ins Leben rufen.

So führte die Selbsthilfe Fachtagungen zu aktuellen Themen durch und gab dazu Dokumentationen heraus. Hier werde ich nur wenige der 20 Tagungen aufzählen:

- 1997 „Alternativen in der Akutpsychiatrie – Soteria“ mit unserem heutigen Referenten Dr. Volkmar Aderhold

- 2000 „Empfehlungen zur frauengerechten Psych-iatrie“ - die erste Tagung zur Genderidentität in der Psychiatrie

- 2001 „Beschwerdemöglichkeiten und andere Rechte für Psychiatrie-Erfahrene“. Aktuell wird im Maßre-gelvollzuggesetz von Rheinland-Pfalz ein Beschwer-demanagement vorgesehen.

- 2003 „Psychotherapie auch bei Psychosen“. Roswitha Beck sprach in Ihrem Grußwort von: „... der Psychose einen Sinn und eine Bedeutung zu geben.“ Hierzu sind nach Dr. Stefan Elsner, Andernach, supportive Gespräche notwendig.

- 2007 „Traumatische Erlebnisse und psychische Erkrankungen – Belastende Kindheitserfahrung als Ursache psychischer Erkrankung!“ Während dieser Tagung wurden die endogenen Psychosen in Frage gestellt und Erkrankungsursachen in der Biographie

20 Jahre Psychiatrie-Erfahrene in Rheinland-Pfalz - eine Bestandsaufnahme mit Zukunftswünschen

Von Franz-Josef Wagner

Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin,sehr geehrte Frau Ministerin Bätzing-Lichtenthäler,sehr geehrte Ehrengäste,sehr geehrte Psychiatrie-Erfahrene,sehr geehrte Gäste der Festveranstaltung „20 Jahre Psychiatriereform “

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20 Jahre Psychiatriereform – eine Zwischenbilanz !?

gesucht.

Das waren landes- und bundesweit beachtete Projekte der Selbsthilfe in Rheinland-Pfalz. Mittlerweile sind alle unsere Printveröffentlichungen wie das Journal „Leuchtfeuer“, Fachtagungsdokumentationen usw. im Landeshauptarchiv Koblenz, Stadtbibliothek und Priesterseminar Trier archiviert und für interessierte Menschen einsehbar.Bevor ich auf die Wünsche der Selbsthilfe komme, möchte ich den letzten Satz der Präambel der Psychiatrie-Enquete von 1975 zitieren: „Auch in Zeiten knapp bemessener Mittel aber muss sich eine Gesellschaft der Frage stellen, wie viel sie einsetzen will, um das Schicksal derer zu erleichtern, die als psychisch Kranke oder Behinderte auf Hilfe angewiesen sind.“

In diesem Sinne formuliere ich weitergehende Wünsche die über die Sozialpsychiatrie hinausgehen:- 2005 hatten wir die Fachtagung „Wohnen und Betreuen – heute und morgen.“ Seit dieser Tagung beobachten wir die bundes- und landesweite Heimdiskussion. Klaus Laupichler hatte hier als Exot sein Outing. Damit bekam die Heimdiskussion eine qualitative Note. Wir wünschen uns für alle Heime und SGB XII-Einrichtungen die Offenlegung sozial-qualitativer und nicht nur ökonomischer Daten.

- Das neue Landesgesetz über den Vollzug freiheitsentziehender Maßregeln – Drucksache 16/5254 – wird unter anderem mit empirischen Daten begründet. Bundesweit fehlen uns Struktur-, Prozess- und Ergebnisdaten. Hier wünschen wir uns eine Task Force oder Enquete-Kommission zum Maßregelvollzug mit dem Ziel einer bundeseinheitlichen Gesetzgebung.

- Am 19.11.2015 wurde der Landesverband zur Anhörung im Sozialausschuss des Landtages eingeladen und gehört. Die Selbsthilfe möchte nicht nur Alibifunktion in der Gesetzgebung haben, sondern auch bei Evaluationen, Forschungsprojekten und Bedarfsanalysen sozialversicherungspflichtig mitarbeiten.

Wir wünschen uns eine andere Sichtweise und Kommunikation in der Sozialpsychiatrie – hier drei Beispiele:

- 2013 hatten wir bei extremem Schneefall und überfülltem Pfalztheater die Fachtagung: „(Über)Lebenskünstler – Vom Systemsprenger zum Lebenskünstler.“ Hier wurde nochmals klar: Psychisch kranke Menschen können nicht nur Systemsprenger sein. Sie wollen auch als Lebenskünstler gesehen werden. Wenn Menschen mit stark herausforderndem Verhalten als „Lebenskünstler“ gesehen werden ergeben sich andere, auf Augenhöhe diskutierte Lösungen.

- 2009 installierte der Landesverband die erste Gene-sungsbegleiterin in Rheinland-Pfalz und 2014/2015 mit Unterstützung der Aktion Mensch eine Ex-In-Ausbildung. Im Sinne von Recovery wünschen wir uns nicht nur eine offizielle Anerkennung der Ex-In-Ausbildung durch die entsprechenden Gremien, Re-ferate, Abteilungen und Ministerien, sondern auch den Einsatz in der Gemeindepsychiatrie.

- Wir wünschen uns eine bessere Abstimmung in den Abteilungen der Landesregierung, aktuell wird das Thema „Psychiatrie“ in drei Referaten zweier Abteilungen des Ministeriums für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demographie diskutiert/verwaltet, mindestens eine Abteilung des Ministeriums für Integration, Familie, Kinder, Jugend und Frauen und mindestens eine Abteilung des Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultut ist für das Thema Psychiatrie zuständig. Hier wünschen wir uns im Hinblick auf primäre und sekundäre Präventionsarbeit eine bessere Koordination bzw. Konzentration des Themas Psychiatrie.

Schließen möchte ich mit Dr. Asmus Finzen, der in seinem Beitrag der Zeitschrift Psychiatrische Praxis 42/2015 „Auf dem Weg zur Reform – die Psychiatrie-Enquete wird 40“ die Reformergebnisse wie folgt zusammen gefasst hat: „Die verbreitete Hoffnung, das sich gleichzeitig eine neue therapeutische Kultur in der Psychiatrie entwickeln würde, wurde in mancher Hinsicht enttäuscht, zumal es Ziel der Enquete war, neue Strukturen bereit zu stellen, nicht sie mit Inhalt zu füllen.“ Zu diesem Thema sagte mir Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner am 4.11.2015: „Das einzige Erfolgreiche der Psychiatriereform ist die Selbsthilfe.“

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit!

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Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin,sehr geehrte Frau Ministerin,sehr geehrte Herren und Damen aus der Politik und dem öffentlichen Leben,sehr geehrte Frau Dr. Schwaben,sehr geehrter Herr Wagner,liebe Angehörige, Psychiatrieerfahrene,Freunde und Unterstützer der Gemeindepsychiatrie in Rheinland Pfalz

Als stellvertretende Vorsitzende des Landesverbandes der Angehörigen psychisch Kranker in Rheinland Pfalz und in Vertretung unserer Vorsitzenden Frau Zindorf begrüße ich Sie recht herzlich.

Frau Zindorf bedauert sehr heute nicht persönlich bei Ihnen sein zu können und lässt sie herzlich grüßen. In den 20 Jahren Psychiatriereform in Rheinland Pfalz, die wir heute feiern, war sie maßgebend am Aufbau der Angehörigengruppen in Mainz beteiligt und vertritt die Interessen der Angehörigen auch Landesweit.

20 Jahre Psychiatriereform haben ein ausdifferenziertes Angebot an gemeindepsychiatrischen Versorgungs-strukturen geschaffen. Die ehemaligen „Verwahranstalten“ haben sich zu spezialisierten Fachkliniken entwi-ckelt.Als Angehörige sind wir dankbar für die vielfältigen gemeindepsychiatrischen Angebote, auch wenn es oftmals nicht einfach ist die Zugangswege zu finden, so wissen wir letztendlich einen Teil unsere Angehörigen mittler-weile gut versorgt.

Unser besonderer Dank gilt heute Frau Roswitha Beck, die in ihrer Zeit als Ministerpräsidentengattin immer ein offenes Ohr für unsere Nöte und Sorgen um unsere Angehörigen hatte und auch noch heute, als Vorsit-zende des Kuratoriums des Vereins zur Unterstützung Gemeindenaher Psychiatrie in Rheinland-Pfalz e.V. sich für unsere Belange einsetzt.

Was ist für uns heute wichtig? Wir haben gute „Kommstrukturen“, alle unsere Angehörigen mit einer Ein-sichtsfähigkeit in ihre Erkrankungen und dem Wunsch einer Behandlung und Versorgung können sich auf den Weg machen und finden vielfältige Einrichtungen und Unterstützungsangebote. Was schwierig bleibt sind all jene Menschen, die keine Behandlung wünschen und oft nach einer langen Odyssee in der Obdachlosigkeit oder in der Forensik enden. Hier erreichen uns in den Angehörigenverbänden immer wieder Hilferufe der verzweifelten Angehörigen. Was wir hier brauchen sind mehr aufsuchende Hilfen und Krisenorte, neben den Akutaufnahmen in den Kliniken.In vielen Punkten stimmen wir den Ausführungen von Dr. Aderhold zu. Grundlegend möchten wir ergänzen,

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dass wir als erstes eigene und menschenwürdige Wohnungen für unsere Angehörigen benötigen. Erst dann, wenn Grundbedürfnisse erfüllt sind, wird es möglich sein in den Kontakt zu unseren schwerst erkrankten An-gehörigen zu treten.

Und hier fordern wir:o Aufsuchende Hilfeno ein immer wiederkehrendes Zugehen auf den Menschen, auch und gerade in Zeiten der extremen Ab-

wehro Beziehungsaufbauo und dann in der Folge den Austausch mit allen im Prozess Beteiligteno aufsuchende Kriseninterventioneno niedrigschwellige Krisenaufnahmen in einer 24h Stunden Betreuung

Einen Menschen in einem psychischen Ausnahmezustand allein zu lassen, sehen wir als unterlassene Hil-feleistung an und nicht als die so viel gepriesene Selbstbestimmung des Menschen. Hier beginnt für uns die Unmenschlichkeit. Dem muss entgegen gesetzt werden, Mitgefühl und der Versuch einer Beziehungsgestal-tung.

Und dazu braucht es:

Ausreichend Zeit o Eine angemessene Bezahlungo Zeitnahe, unkonventionelle Lösungeno unbürokratische und flexible Hilfen

Konkret heißt das für uns: handeln, regional und vor Ort starten. Verbessern wir

o dass die behandelten Institutionen anfangen miteinander zu reden und sich wichtige Entlassungsinforma-tionen zukommen lassen

o dass wir als Angehörige, aktiv in das Entlassungsmanagement eingebunden sindo dass unsere Angehörigen weiter aufsuchend begleitet werden

Unsere Vision ist eine Gesellschaft, in der Menschen das Recht und die Freiheit haben anders zu sein und dennoch einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Einen Platz zu finden, mit den Fähigkeiten, die der Mensch in die Gemeinschaft einbringen kann.Gesunde Anteile haben Alle und darauf muss der Focus gerichtet werden, ohne direkte marktwirtschaftliche Verwertbarkeit.Es lohnt sich dafür zu arbeiten, ob ehrenamtlich oder professionell.

Und was dem Kranken hilft, hilft auch uns als Angehörige. Wissen wir, dass unser Angehöriger einen Platz im Leben gefunden hat, dann können auch wir unser eigenes Leben unbelasteter weiterleben.

Nierstein, 6.12.2015Esther HerrmannStellvertretende VorsitzendeLandesverband der Angehörigen psychisch Kranker in Rheinland-Pfalz

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20 Jahre Psychiatriereform – eine Zwischenbilanz !?

Hinter uns liegen 20 ak�ve und erfolgreiche Jahre, in denen wir gemeinsam mit unseren Partnern in der Selbsthilfe, in den Kliniken, Tagesstä�en und Werkstät-ten, in den Ämtern und im Ministerium eine Menge erreicht haben. Ich denke dabei an die verschiedenen Veranstaltungen der Selbsthilfe, an die vielen kleineren Projekte und Ini�a�ven der gemeindenahen Psychia-trie, die wir mit den Geldern des Vereins unterstützen konnten, und dann auch an das ehrgeizigste Projekt des Vereins, die Studie zu unerwünschten Wirkungen von An�psycho�ka, die Dr. Wolfgang Guth so nach-drücklich angeregt ha�e.

Als Kuratoriumsvorsitzende des Vereins zur Unter-stützung der Gemeindenahen Psychiatrie in Rhein-land-Pfalz war es mir immer ein wich�ges Anliegen, regelmäßig an den Tagungen der Landesverbände der Psychiatrie-Erfahrenen und der Angehörigen psychisch kranker Menschen teilzunehmen und damit die Sor-gen der Betroffenen und der Angehörigen direkt mit-zubekommen. Die Gemeindenahe Psychiatrie weiß, dass wir sinnvolle Projekte unbürokra�sch unterstüt-zen. Das machte Mut und gab und gibt Schwung, gute Ideen zu entwickeln und umzusetzen. Mir ist die Arbeit unseres Vereins immer noch sehr wich�g, auch wenn ich heute nicht mehr so öffentlich tä�g bin wie damals als Ga�n des Ministerpräsidenten.

Wir haben gemeinsam noch viel zu tun! Von der Inklu-sion chronisch psychisch kranker Menschen, also da-von, dass chronisch psychisch Kranke vollständig und gleichberech�gt an allen gesellscha�lichen Prozessen teilhaben und sie mitgestalten können, sind wir noch weit en�ernt. Damit will ich nicht die großen Fort-schri�e in Abrede stellen, die wir in Rheinland-Pfalz in den letzten zwei Jahrzehnten gemacht haben. Es gibt jedoch nach wie vor zahlreiche Barrieren, denen sich chronisch psychisch Kranke gegenübersehen.

Barrieren auf dem Weg zur Gemeindenahen Psychi-atrie:

Es gibt soziale Barrieren, die sich in S�gma�sierung und Diskriminierung äußern. Es gibt neben den sozi-alen Barrieren die strukturellen Barrieren, die einer personenzentrierten Behandlung und Assistenz ent-

gegenstehen. So werden zum Beispiel die Ressourcen immer noch nicht nach der Maßgabe „ambulant vor sta�onär“ verteilt.

Es gibt weiterhin sozioökonomische Barrieren. Damit meine ich fehlende Arbeitsmöglichkeiten und zum Bei-spiel auch fehlenden Wohnraum. Es geht also auch heute noch um ganz grundlegende Bedürfnisse chro-nisch psychisch Kranker, für deren Befriedigung wir weiter streiten müssen!

Kri�sch finde ich auch, dass die Behandlung und Un-terstützung chronisch psychisch kranker Menschen noch o� in psychiatrischen Sonderwelten sta�indet. Wenn ich mich mit Betroffenen und Angehörigen un-terhalte, erfahre ich jedoch immer wieder den Wunsch und die Sehnsucht nach Normalität. Die Menschen möchten Arbeitsplätze, Bekanntscha�en und Freund-scha�en auch außerhalb der Psychiatrieszene. Diesen Wunsch nach Normalisierung unterstützt unser Verein ausdrücklich. Deshalb werden wir der Fortsetzung der Veranstaltungsreihe „Der Weg aus dem Heim- aber wie?“ besondere Aufmerksamkeit schenken. Die Un-terstützung von Menschen, die einen Weg aus dem Heim suchen, halte ich für wich�g, weil ich möchte, dass jeder Mensch dort wohnen kann, wo er wohnen möchte. Das ist ein zentrales Anliegen unseres Ver-eins zur Unterstützung gemeindenaher Psychiatrie in Rheinland-Pfalz.

Wohnen wo ich will

Wir alle – ob psychisch krank oder nicht – haben unse-re eigene Vorstellung vom Wohnen. Es gibt Menschen, die nicht gern allein leben und die Gemeinscha� su-chen. Andere wiederum können die Nähe, die ein Zu-sammenleben mit sich bringt, nur schwer ertragen. Sie brauchen ihre eigenen vier Wände. Die Frage, wie jemand wohnen möchte, stellt sich deshalb ganz unab-hängig von der Unterstützung, die er benö�gt. Leider werden aber Hilfsangebote heute noch viel zu o� an bes�mmte Wohnformen gekoppelt. Diese Kopplung von Wohnen und Hilfe folgt aber ins�tu�onellen Inte-ressen und geht an den Bedürfnissen der Menschen vorbei.

Roswitha Beck Kuratoriumsvorsitzende des Vereines zur Unterstützung Gemeindenaher Psychiatrie in Rheinland-Pfalz

Psychiatriereform gemeindenah! - Au�rag und Verpflichtung

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20 Jahre Psychiatriereform – eine Zwischenbilanz !?

Es gilt, im Gespräch - im Dialog und Trialog - zu bleiben. Alle haben die Aufgabe, die Entwicklung der gemein-denahen Psychiatrie voranzutreiben. Wir befinden uns im 20. Jahr dieser Entwicklung zu einer Sozialpsychia-trie, die sich das Ziel entschlossen und wirksam vorge-nommen hat, Teilhabe zu verwirklichen, Gleichstellung durchzusetzen und Selbstbes�mmung zu ermögli-chen.

Einsatz für Gleichstellung

Was können wir dafür tun? Nicht nur Geld sammeln und Förderungen von Ini�a�ven vornehmen. Wir alle kön-nen vor allem um Verständnis für chronisch psychisch kranke Menschen und um die Anerkennung werben, uns dafür einsetzen und sogar dafür kämpfen. Gleich-stellung durchsetzen, heißt es deshalb auch seit dem Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen. Deshalb will ich auch in der Zukun� die Schirmherr-scha� für vielfäl�ge Tagungen und Veranstaltungen gern übernehmen.

Und es gibt noch einen dri�en - vielleicht den wich�gs-ten - Aspekt unserer Arbeit: Mit unserem Engagement wollen wir Menschen, die entweder selbst chronisch psychisch krank sind oder einen chronisch psychisch kranken Angehörigen haben, ermu�gen, von ihrem Schicksal in der Öffentlichkeit zu berichten. Die Men-schen, die chronisch psychisch krank oder behindert sind, sollen sich nicht verstecken. Sie haben Rechte und Möglichkeiten, wenn sie diese nur wahrnehmen.

Ex-In-Ausbildung soll verstärkt genutzt werden

Exper�nnen und Experten aus Erfahrung können chro-nisch psychisch Kranke sein. Die Ex-In-Ausbildung hat sie dazu zusätzlich qualifiziert. Menschen mit Psychia-trie-Erfahrung berichten darüber, wie sie sich im Laufe ihres Lebens und nach schwierigen und auch schmerz-ha�en Erfahrungen den Weg zu echter beruflicher Teil-habe geebnet haben. Sie geben uns einen Einblick in ihren ganz persönlichen Weg. Sie sind Genesungshel-fer. Mit Hilfe des Budgets für Arbeit zum Beispiel, mit Unterstützung durch den fachlichen Ansatz, die Person in den Mi�elpunkt zu stellen, personenzentriert zu entscheiden und zu handeln.

Die große Bedeutung einer unabhängigen Studie

In meinen Gesprächen mit Psychiatrie-Erfahrenen und deren Angehörigen kommt das Thema Psychopharma-ka sehr häufig zur Sprache. Viele Psychiatrie-Erfahrene

erzählen mir, dass ihnen die Medikamente in akuten Krankheitsphasen sehr geholfen haben. Viele klagen jedoch auch über gravierende Nebenwirkungen: zum Beispiel eine starke Gewichtszunahme, Störungen der Magen-Darm-Funk�onen, Veränderungen im Gefühls-leben. Ich weiß auch, wie stark die Angehörigen mit dem Thema Psychopharmaka befasst sind. Nicht we-nige haben die Erfahrung gemacht, dass ihre Kranken, die ihre Medikamente plötzlich abgesetzt haben, Rück-fälle erli�en. Viele sehen es daher als eine wich�ge Aufgabe an, dafür zu sorgen, dass ihre Angehörigen ihre Medikamente regelmäßig einnehmen. Die aktuel-le Neurolep�ka-Deba�e bewegt daher viele Angehöri-ge und Psychiatrie-Erfahrene. Fragen drängen sich auf: Ist es wirklich rich�g, die Erkrankten zur Einnahme der Medikamente zu drängen? Wie gefährlich sind die Ne-benwirkungen? Welche Alterna�ven gibt es?

In diesem Zusammenhang hat die vom Verein, vom Land Rheinland-Pfalz und vom Landeskrankenhaus finanzierte Studie über die Verträglichkeit von An�-psycho�ka einen Meilenstein gesetzt. Nach meinen Informa�onen ist dies die erste von Pharmaherstel-lern unabhängige Studie über Psychopharmaka und hoffentlich der Beginn einer neuen Ausrichtung der Wissenscha�. Die Universitäts-Medizin Mainz und die Rheinhessen-Fachklinik haben hier eng und erfolgreich zusammengearbeitet.

Empfehlungen für Tagesstä�en

Ich möchte ein weiteres Beispiel nennen für unsere enge fachliche Zusammenarbeit mit den Partnern der Sozialpsychiatrie. Wir waren beteiligt an der Erarbei-tung von Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Ta-gesstä�en in Rheinland-Pfalz. Die ersten Tagesstä�en für chronisch psychisch kranke Menschen wurden in Rheinland-Pfalz Mi�e der 1990er Jahre eingerichtet. Dies geschah im Zuge der rheinland-pfälzischen Psychi-atriereform und der hiermit einhergehenden Dezentra-lisierung der psychiatrischen Krankenhausbehandlung. Gleichzei�g begann der Au�au der Gemeindepsychia-trie, um chronisch psychisch Kranken die notwendige Unterstützung und Hilfe im Alltag zu geben. Hierbei spielten und spielen die Tagesstä�en eine tragende Rolle: Sie bieten ihren Besucherinnen und Besuchern Halt, Geborgenheit, sozialen Kontakt und eine tages-strukturierende Beschä�igung. Allerdings haben sich seit Entstehung der Tagesstä�en vor nunmehr knapp 20 Jahren die Anforderungen an ihre Arbeit und die Rahmenbedingungen deutlich verändert. Die Emp-fehlungen versuchen eine Antwort zu geben auf diese Herausforderungen. Sie richten sich an das Land, die

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20 Jahre Psychiatriereform – eine Zwischenbilanz !?

Kommunen, die Träger der Tagesstä�en und die Tages-stä�en selbst.

Kinder psychisch kranker Eltern

Die Situa�on von Kindern psychisch kranker Eltern liegt mir besonders am Herzen. Seit etlichen Jahren unter-stützt der Verein die Bemühungen der Landesregie-rung um eine Verbesserung der Situa�on der Kinder. Diese Kinder werden leicht vergessen. Das Gesund-heitswesen hat sie nicht im Blick, weil es für den psy-chisch kranken Elternteil zuständig ist. Die Jugendhilfe kennt diese Kinder o�mals nicht.

Ich habe den Eindruck, dass sich in den letzten Jahren auch nach dem Modellprojekt eine Menge bewegt hat. Noch vor einigen Jahren hat sich kaum jemand mit der besonderen Situa�on der Kinder psychisch kranker Eltern beschä�igt. Das hat sich zum Glück geändert. Medienberichte und vielfäl�ge Veranstaltungen zei-gen, dass sich immer mehr Fachleute, aber auch die Öffentlichkeit, mit der Situa�on von Kindern auseinan-dersetzen, deren Eltern psychisch erkranken.

Wir brauchen geeignete Unterstützungsstrukturen für Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil und müssen sowohl die Bedarfe der Eltern als auch die der Kinder in den Blick nehmen. Dies erfordert eine enge Zusammenarbeit von Jugendhilfe, Erwachsenenpsy-

chiatrie und Eingliederungshilfe. Es kommt es – wie so o� – auf die konkrete Zusammenarbeit vor Ort an. Wir brauchen auch in Zukun� die Foren, in denen die Zu-sammenarbeit der beteiligten Professionen angeregt und gestärkt werden kann.

Die S��ung sichert Kon�nuität

Vor fast neun Jahren haben wir meine Roswitha-Beck-S��ung gegründet. Die S��ung kann bei einem aktu-ellen Gesamtvermögen von über 100.000 € noch keine Erträge für Projekte der gemeindenahen Psychiatrie einsetzen. Sie ist noch im Wachsen, aber sie wird uns bei der dauerha�en Absicherung unserer Arbeit helfen und sie gibt uns eine langfris�ge Perspek�ve.

Gemeinsam im Trialog

Die Ausdauer der Psychiatriereform muss sich heute bewähren, wenn sich neue Fragen stellen, zum Bei-spiel die Frage der Behandlung junger Menschen mit herausforderndem Verhalten, die Frage der Zus�m-mung zur Behandlung auch in den Situa�onen, in de-nen Pa�en�nnen und Pa�enten eine Entscheidung nicht möglich zu sein scheint. Auch in der Zunahme vom Depressionen und berufsbedingten psychischen Erkrankungen haben wir eine ganz andere Situa�on als 1995. Wir werden neue Aufgaben bekommen und sie gemeindenah lösen und gemeinsam im Trialog.

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20 Jahre Psychiatriereform – eine Zwischenbilanz !?

Der Paradigmenwechsel verändert Strukturen und Angebote

Menschen mit Behinderung, chronisch psychisch kranke Menschen sollen nicht mehr Objekt der Für-sorge sein. Die Änderung der Vorgaben wird Paradig-menwechsel genannt. Das ist keine einfache Spra-che, aber bezeichnend für das Besondere. Der Aus-tausch der Wegmarken (Paradigma = Wegmarke) soll die beabsichtigte, große Veränderung bewirken.

Neben dem Auftrag aus Artikel 3 des Grundgeset-zes leitet sich der Gestaltungsauftrag auch aus dem Bundesgleichstellungsgesetz, den Ländergleichstel-lungsgesetzen und nicht zuletzt aus der UN-Konven-tion über die Rechte der Menschen mit Behinderung ab. Diese Gesetze oder Verträge regeln zwar nicht die Eingliederungshilfe, aber es steht fest, dass die Gestaltung der Eingliederungshilfe nicht im Wider-spruch zu den Vorgaben der neuen bürgerrechtlichen Ausstattung stehen darf. „Teilhabe verwirklichen, Gleichstellung durchsetzen, Selbstbestimmung er-möglichen“, die Ziele des Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderungen gelten nach dem Wil-len aller Beteiligten.

Nicht mehr die Art der Behinderung steht im Mittel-punkt, sondern der Mensch, der ein möglichst un-abhängiges und selbstbestimmtes Leben führen will und soll. Ich will dieses Ziel im Folgenden in den Zu-sammenhängen von beruflicher Teilhabe, Persönli-chem Budget und Persönlicher Assistenz erläutern. Beachtet ist dabei, was in der Vorbereitung des Teil-habegesetzes diskutiert wird. Nicht für wichtig halte ich die Überwindung der Begriffe ambulant und stati-onär, wichtig dagegen die Überwindung der in diesen Begriffen festgehaltene Aufteilung des Lebens. Als problematisch sehe ich die geplante Trennung von Fachmaßnahmen und Grundsicherung an. Das wird chronisch psychisch kranke Menschen auf die Sozi-alhilfe zurückwerfen. Und besonders notwendig halte ich die Wiederentdeckung der Zuständigkeit des Lan-des für die Gestaltung der Aufgaben aus dem Teil-habegesetz. Die kluge Aufteilung der Kompetenzen auf Land und Kommunen war der Erfolg der Psychi-

atriereform. Das tatsächliche Verschwinden der Lan-deskompetenz im Alltag der Eingliederungshilfe darf nicht weiter bestehen. Eine neue Bundeskompetenz darf dafür auch nicht als Ausgleich geschaffen wer-den.

Perspektiven beruflicher Teilhabe

Der Auftrag für den Inklusionsansatz in der berufli-chen Teilhabe ergibt sich aus Artikel 27 der Behinder-tenrechtskonvention mit der Überschrift: Arbeit und Beschäftigung:

Es heißt dort (Absatz 1): „Die Vertragsstaaten an-erkennen das gleiche Recht von Menschen mit Be-hinderungen auf Arbeit; dies beinhaltet das Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, integrativen und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeits-markt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder angenom-men wird. Die Vertragsstaaten sichern und fördern die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit . . .“

Die von der Behindertenrechtskonvention beschrie-bene notwendige Veränderung sieht deutlich anders aus als das, was wir unter Arbeit und Beschäftigung für chronisch psychisch kranke Menschen gewohnt sind.-

Von der geschützten Werkstätte zum Integrati-onsbetrieb

Die Veränderung der beruflichen Teilhabe wirkt in ei-nen Bereich, in dem bei uns der größte quantitative Fortschritt der Hilfen für Menschen mit Behinderun-gen stattfand. Nirgendwo sonst sind wir scheinbar so nahe am Ziel. Die Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) sind eine Erfolgsgeschichte und gleichzeitig unser Problem für die Zukunft. Denn mit dem Erfolg der WfbM haben wir dem Arbeitsmarkt die Entwicklung zum aussortierenden Markt erleichtert.

Inklusion ist etwas anderes, als wir es heute in den Werkstätten für Menschen mit Behinderungen alltäg-lich vorfinden. Die Kritik der UN-Fachkommission in der Staatenprüfung 2015 zeigt es, aber wir machen

Richard Auernheimer

Der Anspruch auf Teilhabe, Gleichstellung und Selbstbestimmung und was daraus für chronisch psychisch kranke Menschen entstehen soll

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20 Jahre Psychiatriereform – eine Zwischenbilanz !?

wahrscheinlich weiter so wie bisher. Wenn wir in der Zukunft die Behindertenrechtskonvention umsetzen wollen, müssen wir die Alternativen zu den Werkstät-ten für behinderte Menschen stärker entwickeln.

Sicherheiten aufgeben?

Carmen W., 42 Jahre alt, seit 15 Jahren an einer Angsterkrankung leidend, nach langem Zögern mit Anerkennung der Schwerbehinderung, arbeitet in ei-ner Behinderten-Werkstatt. Sie hat vom Werkstattrat gehört, dass der Gesetzgeber die UN-Konvention zum Gesetz gemacht hat. Die großen Ankündigun-gen über die neue Rechtssituation hat sie aufmerk-sam gelesen. Sie fühlt sich verunsichert, seitdem sie gehört hat, dass manche darüber reden, dass ihr jetzt ein Arbeitsplatz in den Ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden muss. Kurz nach der Ausbildung war sie in einem Unter-nehmen der Pharmaindustrie beschäftigt. Sie hielt es nicht lange aus. Noch schlimmer war es, dass keiner verstand, warum sie dort aufhörte, nachdem sie seit einigen Monaten in psychiatrischer Behandlung ge-wesen war. „Ein so guter Arbeitgeber“, meinten ihre Bekannten. Jetzt fühlt sie sich sehr beunruhigt. Sie hat gelesen, dass auch keine weiteren Werkstattplät-ze gebaut werden sollen. In ihrer Gruppe sind alle entsetzt.

Ähnliche Situationen muss man sich fast so häufig vorstellen, wie es Werkstattbeschäftigte gibt: Zurzeit um die 15.000 in Rheinland-Pfalz (350.000 in der Bundesrepublik). Wenn wir vom Wohnen reden, dann lassen sich immerhin schon viele Alternativen finden. Aber in der Frage der angemessenen Arbeit ist es anders. Für die Teilhabe am Arbeitsleben gibt es zu wenige Lösungen im klassischen Angebot der Behin-dertenhilfe (da ist es wirklich nur „Behindertenhilfe“). Teilhabe, Gleichstellung und Selbstbestimmung fin-den sich darin nur ansatzweise.

Was erwarte ich von Inklusion in der beruflichen Teilhabe?

Eine möglichst vollständige Angleichung an die Ar-beitsbedingungen aller anderen Menschen muss ein-hergehen können mit

- freier Berufswahl,- einem echten Arbeitsvertrag,- der sozialversicherungsrechtlichen Gleichstellung,

- der freien Wahl des Arbeitsplatzes, - der Anerkennung am Arbeitsplatz,- der Chance auf berufliche Erfüllung.

Übergänge vom heutigen System in die zukünftige Wirklichkeit scheinen manchmal noch gar nicht denk-bar. Menschen mit Behinderungen werden heute aufgeteilt in leicht- und schwervermittelbar, in Perso-nen mit einem Rest an Erwerbsfähigkeit und Perso-nen ohne jegliches Potential für eine sozialversiche-rungspflichtige Beschäftigung. Das steht deutlich im Widerspruch zur Behindertenrechtskonvention.

Ich sehe die Mitglieder des Fachausschusses der UN, der auch bei seiner nächsten Auswertung 2019 die zusätzlich gegebenen Erklärungen Deutschlands nicht akzeptieren wird. In den Werkstätten für behin-derte Menschen gibt es dann statt des Rückgangs der Zahl der Beschäftigten immer noch einen ständi-gen Zuwachs, wenn wir nichts tun.

Nur eine Veränderung gibt es dann. Die Zahl der ausgelagerten Werkstattplätze wird angesichts der Zunahme an Werkstattbeschäftigten ausgebaut wer-den. Die betriebsnahe Beschäftigung auf ausgelager-ten Werkstattplätzen wird für einen großen Teil der Werkstattbeschäftigten die einzige Form annähernd beruflicher Teilhabe und die höchste erreichbare Nor-malität. Aber immer noch ohne Arbeitsvertrag. Beruf-liche Teilhabe nach Artikel 27 der Behindertenrechts-konvention ist das nicht.

Wir müssen umdenken

Die Werkstätten für Menschen mit Behinderungen werden die berufliche Teilhabe nur dann erfüllen, wenn sich ihre Leistungen nicht zwangsläufig auf das ganze berufliche Leben eines Menschen erstrecken. Die Werkstätten haben eine besonders wichtige Funktion für die berufliche Teilhabe, wenn sie Teilauf-gaben übernehmen.

Die WfbM ist ein spezialisierter Anbieter, dessen Kompetenz erhalten bleiben muss und auch in der Zukunft in der inklusiven Wirklichkeit gebraucht wer-den wird.

Die WfbM hat hervorragende Modelle der beruflichen Inklusion im Bereich der Berufsvorbereitung, berufli-chen Anpassung und Weiterbildung oder beruflichen Ausbildung entwickelt.

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Die WfbM hat große Verdienste, wenn sie Menschen zum Übergang ins Arbeitsleben führt, sie dafür trai-niert und qualifiziert.Sie löst viele alltägliche Probleme des Arbeitsplat-zes, von der ergonomischen Unterstützung bis zum Vorrichtungsbau, von der Beachtung der Würde des Arbeitnehmers, von der Menschlichkeit der Arbeit bis zum Team, dass sie diese Lösungen auch weiterge-ben kann.

Wegen der anderen Problemstellungen sollte die WfbM in Zukunft ein regionales Budget für die Hinfüh-rung zum Arbeitsmarkt erhalten. Auf keinen Fall darf sie in die Ausschreibungsprozeduren der Arbeitsver-waltung einbezogen werden. Denn dies machte ihre vielseitige Verwendung und regionale Kontinuität, ihre Bindung an den Sozialraum unmöglich.

Die wirtschaftlichen Risiken der erfolgreichen Vermitt-lung in den Ersten Arbeitsmarkt soll die WfbM durch die ausdrückliche Erlaubnis der Übernahme von Ar-beitstrainingsmaßnahmen für Personen aus SGB II und SGB III ausgleichen können. Ebenso sind alle Ausbildungen in modularer Form denkbar.

Die WfbM könnte als Dienstleister im Sozialraum für bessere berufliche Einmündung auftreten. Berufsvor-bereitung, berufliche Anpassung und Weiterbildung oder berufliche Ausbildung werden angeboten. Da-mit könnte auch erreicht werden, dass aus der WfbM schneller vermittelt wird, als es heute der Fall ist.

Das Budget für Arbeit:

Ich wünsche mir, dass in spätestens zehn Jahren fast ein Fünftel der Werkstattbeschäftigten die Werkstatt verlassen haben und in echter beruflicher Teilhabe arbeiten. Die Finanzierung durch ein Budget für Arbeit soll jetzt 2016 gesetzlich geregelt werden. Die Ausga-ben werden deshalb nicht ansteigen. Der Mehrbedarf an Haushaltsmittel für WfbM, die bei größerer Vielfalt andere Aufgaben in Arbeitsmarktproblemen überneh-men, wird durch die Mittel der Job-Center und Agen-turen für Arbeit ausgeglichen.

Die Flexibilität von WfbM-Beschäftigung und Budget für Arbeit ist dann so hoch, dass es Menschen mit ei-nem Wechsel innerhalb des Jahres gibt, dann jeweils im Integrationsbetrieb der WfbM. Carmen W. ist ein solcher Fall. Sie hat es inzwischen geschafft, Krank-heitsschübe rechtzeitig zu erkennen und ihren Bud-

getbegleiter zu informieren. Dann geht sie, wenn die Krankheitsphase länger dauert, wieder in die WfbM.

Orientiert an den Fragestellungen der aktuellen sozi-alpädagogischen Diskussion zur beruflichen Teilhabe drängt sich folgende Lösung auf:

Das Leistungsspektrum der Eingliederungshilfe im Rahmen der Teilhabe am Arbeitsleben soll erweitert werden, damit wesentlich behinderte, nach vorüber-gehend geltender Definition „voll erwerbsgeminderte“ Menschen eine berufliche Teilhabe auch außerhalb des Antrags auf Werkstattbesuch verwirklichen.

Werkstätten sollen Inklusion in der beruflichen Teilha-be befristet und nicht wie heute in den meisten Fällen auf die Dauer der Lebensarbeitszeit verwirklichen. Sie werden Orte der Hinführung zur beruflichen Teil-habe.

Die Zahlung für die Beschäftigung der WfbM wird re-gelhaft als Budget für Arbeit eingesetzt werden.

Diese Leistung an den chronisch psychisch kranken Menschen wird ohne zeitliche Begrenzung gezahlt werden, solange für den Betroffenen ein Teilhabe-Management notwendig ist. (Der 2-Jahres-Ansatz der Arbeitsmarktpolitik kann hier angesichts der Langzeit-Aufgabe der beruflichen Teilhabe für Menschen nicht gelten).

Neben anerkannten Werkstattträgern und Integrati-onsbetrieben müssen auch andere Betriebe beteiligt sein, um berufliche Teilhabe zu realisieren. Der Be-trieb ist die richtige Ort, nicht die Einrichtung.

Der Rechtsanspruch auf einen Platz in der WfbM wird durch einen freien Arbeitsplatz und durch die Zahlung eines Budgets für Arbeit erfüllt.

Die bisher bestehende sozialversicherungsrechtliche Absicherung wird in den Bestandsverträgen beibe-halten. Bei neuen Arbeitsverträgen, die im Rahmen des Teilhabemanagements geschlossen werden, gilt eine Art Rentenschutzklausel für diejenigen, die bis-her mehr als 120 Monate in einer WfbM gearbeitet haben. Für neue Beschäftigte soll ein langfristiger Übergang gestaltet werden.

Dies alles wird uns zum Ziel führen. Wir verändern die WfbM, wir nutzen ihre Kompetenzen. Wir schaffen vielfältige Formen der beruflichen Teilhabe im Ersten Arbeitsmarkt, in Integrationsbetrieben und in Werk-

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stätten für behinderte Menschen. Die Einzelschritte sollen im Aktionsplan zur Behindertenrechts-Konven-tion vereinbart werden.

Das Persönliche Budget

Das Persönliche Budget ist der Masterplan für das Budget für Arbeit. Zunächst ist es eine alternative Leistungsform von Sach- und Dienstleistungen. Das Wunsch- und Wahlrecht steht dabei im Vordergrund. Mit diesem neuen und schon bewährten Instrument erhalten chronisch psychisch kranke Menschen ihr „Budget“, die finanzielle Sicherung für ihr Leben, so-lange der Teilhabebedarf besteht. Das ist ein ganz-heitlicher Anspruch. An dieser Stelle fällt es beson-ders auf, dass es keinen Sinn macht, Fachmaßnah-men und Grundsicherungsleistungen zu trennen, so als könnte man die Lebenssituationen der Menschen aufteilen.

Chronisch psychisch kranke Menschen sollen sich selbstbestimmt die Leistungen einkaufen können, auch die notwendigen Assistenzleistungen, für die es bisher kaum Vorbilder gibt. Das Persönliche Bud-get macht dies im Sinne der UN-Behindertenrechts-konvention möglich: mehr Selbstbestimmung, mehr Selbständigkeit, mehr Selbstbewusstsein! Jede / jeder soll nach Maßgabe der Behinderung, näm-lich der Störung seiner Teilhabe, Gleichstellung und Selbstbestimmung die von ihm benötigten Leistun-gen erhalten können. Das Persönliche Budget steht allen offen. Es entspricht der personenzentrierten Leistungssystematik.

Das Persönliche Budget ist ohne Beratung nicht mög-lich. Die bisher in stationären Einrichtungen arbeiten-den Profis haben hier ihr zukünftiges Aufgabengebiet. Auch Peer Counseling (Beratung durch Menschen in der gleichen Lebenssituation) muss mehr eingesetzt werden. Die Begleitung der Budgetnehmerinnen und -nehmer darf dennoch nicht zu breit angelegt werden. Menschen mit Behinderung haben ein Recht auf Ei-genständigkeit.

Die Schwierigkeit des Paradigmenwechsels

Die Zurückhaltung vor den Entscheidungen zum Per-sönlichen Budget hält an, auch wenn Rheinland-Pfalz eindeutig Wegbereiter dafür ist. Einrichtungsträger sehen in ihm ein Konkurrenzangebot. Die Sozialhil-feträger andererseits sehen ihre Aufgabe nicht darin, für das Persönliche Budget stärker einzutreten. Sie

wollen niemand beglücken, wie manch einer sagt. Niemand soll es besser haben als er selbst. Man-che Bearbeiter der Anträge vergleichen ihre eigene Lebenssituation mit der des Beziehers eines Persön-lichen Budgets. Es kommt schon mal vor, dass ein Antrag abgelehnt wird mit der Begründung. Das, was der Antragsteller mit dem Persönlichen Budget errei-chen wolle, stünde auch dem Mitarbeiter der Verwal-tung nicht zur Verfügung.

Interessen dürfen eine Rolle spielen, damit sie überwunden werden können

Das Persönliche Budget muss dadurch geprägt sein, dass es chronisch psychisch kranken Menschen den Zugang zum normalen Leben sichert. Kostenträger und Betroffene haben ein gemeinsames Lösungsin-teresse, ohne sich dessen bewusst zu sein. Das ist die win-win-Situation des Persönlichen Budgets.

Das Persönliche Budget baut auf dem Lösungsan-satz des Interessenausgleichs auf. Deshalb kommt es der Gleichstellung nicht nur in der Idee, sondern auch im Alltag sehr nahe. Die Macht des Kostenträ-gers darf nicht das Handlungsmuster sein. Das von Oben herab der Eingliederungshilfe in der alten Ver-waltungspraxis hatte ihre Wurzeln in der öffentlichen Fürsorge. Die Akten führende Sachbearbeiterin, der Sachbearbeiter brauchen Qualifizierung, um an die neue Praxis herangeführt zu werden. Der Hilfeemp-fänger von früher soll nach SGB IX Teilhabeberech-tigter sein. Der Paradigmenwechsel vollzieht sich in der Alltagsform.

Nicht die gesetzlichen Vorgaben für Eingliederungs-hilfe sind das aktuelle Entwicklungshindernis, son-dern das administrative Verhalten der Kostenträger und die fachlichen Vorlieben der Leistungsanbieter. Das Selbstverständnis der vollstationären Einrichtung lebt von der Bindungskraft der Funktionen, Ämter und Aufgaben, die in der Institution enthalten sind. Die Ar-beitsplatzfragen sind deshalb rechtzeitig und umsich-tig zu behandeln (z.B. durch Perspektivgespräche und Entwicklungsvereinbarungen), wenn sich Heime ändern sollen.

Von der alten Hilfeplanung zur neuen Individuel-len Teilhabekonferenz

Die Hilfeplanung ist out, das Denken muss sich an Teilhabe orientieren. Teilhabekonferenzen sollen eine gemeinsame Geschäftsordnung haben, die allen zu-

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gänglich ist. Sie darf nicht nur auf dem Papier stehen, sondern muss auch praktiziert werden.Besonders in diesem Abschnitt der neuen Aufgaben der Verwaltung sehe ich ein Stück Verwaltungsre-form, die noch immer auf volle Umsetzung wartet. Bürgernähe und das gemeinsames Abwägen können das Verfahren vereinfachen, das früher mindestens genau so viel Zeit beanspruchte, wenn auch in ande-rer Aufteilung. Das direkte Gespräch zwischen den Beteiligten hilft, Unklarheiten zu vermeiden.

In der Teilhabekonferenz allein vor so vielen? Wird das gut gehen? Halte ich es aus? Die Fragen bewe-gen diejenigen chronisch psychisch kranken Men-schen, die als Antragsteller im Mittelpunkt der Teilha-bekonferenz stehen. Die Ängste sind nachvollziehbar als Signale der Unsicherheit. Fairness ist erforderlich, um eine Situation der Teilhabe und Gleichstellung zu erreichen.

Die gute Praxis überzeugt, wo sie gelingt, durch den hohen Stand der inneren Spielregeln. Es gibt noch zu wenige Teilhabekonferenzen, bei denen der Aus-gleich der Interessen schon in der Geschäftsordnung sichtbar ist. Menschen mit Behinderungen müssen in den Teilhabekonferenzen Gleichstellung erleben. Das vorsitzende Mitglied wird die Konferenz umso besser leiten, je mehr es auf die Notwendigkeit ach-tet, alle Interessen zu beachten. Die Feststellung des Bedarfs an Unterstützung zur Teilhabe kann nicht ein auf sich gestellter Bearbeiter treffen. Es müssen alle beteiligt werden, die an dem Wissen teilhaben. Das neue Denken, gefordert in der Teilhabekonfe-renz, muss erlernt werden.

Die umfassende Diskussion der entscheidungs-relevanten Einzelheiten

Aus der Sicht des neuen Denkens habe ich nichts gegen die genaue Analyse des Teilhabebedarfs. Ich will sie sogar möglichst genau haben. Deshalb bin ich gegen budgetähnliche Vorschläge wie ein Teilha-begeld. Es entstünden schnell neue Ansprüche und neue mit Anspruch ausgestattete Zielgruppen. Kre-ativität offener Hilfen kann erst entstehen, wenn die Voraussetzungen sehr genau geklärt sind. Ob und welche Leistung gebraucht wird, muss beantwortet sein. Aber eben gemeinsam muss die Feststellung des besonderen Unterstützungsbedarfs getroffen werden.

Die Entscheidung darf im Teilhabeplanverfahren

nicht übergestülpt werden. Es ist eine gemeinsame Suche nach der richtigen Entscheidung. Ein aufwän-diges Verfahren, das haben inzwischen viele erfah-ren. Manche werden das Verfahren als zu umständ-lich kritisieren. Zu viel Papier, zu viel Zeit, zu viele Beteiligte. Aber das sind nur äußere Kennzeichen. In Wirklichkeit fasst das Teilhabeplanverfahren alles zusammen, was bisher an verschiedenen Stellen geschrieben, begutachtet, dokumentiert und aufbe-wahrt wurde. Das gestaltende Verfahren ist vielfältig und mehrdimensional, es beendet die Einzelakte, es überwindet den einseitigen Entwicklungsbericht und die Distanz zum Leistungsempfänger.

Das Persönliche Budget soll durch Zugänglichkeit gekennzeichnet sein. Davon sind wir noch weit ent-fernt. Nicht nur die geringe Zahl der Budgetnehme-rinnen und –nehmer gibt einen Hinweis darauf, dass es Schwierigkeiten der Umsetzung gibt. Die Budgets werden noch zu wenig bewilligt. Die Einfachheit des Persönlichen Budgets wird in komplizierten Verfahren aufgehoben. Das muss sich ändern.

Vorrang der Zusammenarbeit nach vergleichba-ren Kriterien

Nicht das gleiche Verfahren, sondern die gleichen Maßstäbe sollen im Vordergrund stehen. Das spricht für den ITP, den individuellen Teilhabeplan. Das Ver-fahren muss den Zielen der Teilhabe, Gleichstellung und Selbstbestimmung entsprechen. Das sind die gewünschten bundeseinheitlichen Kriterien. Voraus-setzung muss sein, dass die Verfahren der Entschei-dungsfindung wertschätzend, organisatorisch opti-miert und auf gleicher Augenhöhe stattfinden.

Die Kostenträger haben in jahrzehntelanger Praxis und in den verschiedenen Phasen der Sozialpolitik Gewohnheiten entwickelt. Noch immer ist es für den Sachbearbeiter beruhigend, jemand „untergebracht“ zu wissen. Das neue Denken, gefordert in der Teilha-bekonferenz muss erst erlernt werden.

Die Teilhabekonferenz soll sich immer bemühen, den ergänzenden Bedarf zu sehen. Anders als in der überwundenen alten Betrachtung der Defizite eines Menschen mit Behinderung – hier war der Anfangs-punkt der Entwicklung immer auf ein defizitäres Nichts gestellt – bringt jede und jeder Antragsteller Fähigkei-ten und Anteile an Teilhabe mit. Diese Anteile sind zu ergänzen und zu vervollständigen. Wir muten im neu-

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en System den Menschen etwas zu: Beteiligung. Wir trauen ihnen Beteiligung zu.

Auf Wirtschaftlichkeit darf geachtet werden

Die Wirtschaftlichkeit des persönlichen Budgets hat viele Bedenken ausgelöst. Sparzwänge werden be-hauptet. Von Anfang wurde in dieser Hinsicht heftig diskutiert. Die Erfahrungen zeigen dies deutlich. Be-wunderer der Idee – „da gibt es mehr Gestaltungsfrei-heit“ – hatten gleichzeitig den Eindruck, die Einzellö-sung würde jetzt die Oberhand erhalten.

Die ersten Lösungen waren zunächst nur auf kleine Ergänzungen angelegt. Nach dem Vorbild der Pfle-gegeldsätze der Pflegeversicherung gab es in dieser Annäherung an die Hilfe nach Maß – eine dreifache Abstufung der Geldleistungen. Keine dieser Stufen war für sich allein genommen in der Lage, den Hilfe-bedarf ganz zu decken. Betreutes Wohnen eines be-stimmten Leistungstyps konnte damit aber so gestal-tet werden, dass es den Menschen mit Behinderung damit möglich war, individueller zu leben. Das war vorher überhaupt nicht möglich gewesen. Es gab vor-her nichts Zusätzliches, was nicht alle anderen auch zusätzlich erhielten. Jetzt aber war es möglich. Der Einzelne rückte in den Mittelpunkt. Die personenzent-rierte Hilfe war damit möglich. Und in einer wirtschaft-lich vertretbaren Form. Wer das richtig umsetzt, gibt das richtige Maß an Persönlichem Budget, der han-delt in seinem Aufgabengebiet wirtschaftlich, aber auch im Interesse des Teilhabeberechtigten richtig.

Die Möglichkeiten des Persönlichen Budgets schlie-ßen auch Beratung und Unterstützung bei der Antrag-stellung ein. Eine neue Struktur von Anbietern einer solchen Beratung muss aber deshalb nicht aufgebaut werden. Wenn das Persönliche Budget eine Alterna-tive zur traditionellen Form der Hilfeleistung sein soll, dann müssen in ihm alle Ausgaben des Einzelfalls enthalten sein. Auch die der Begleitung und der vorü-bergehenden Budgetassistenz.

Die wichtigste Aufgabe: Mut machen!

Die Vertreterinnen und Vertreter der Selbsthilfe, die Genesungshelfer und die, die eine Ex-In-Ausbildung haben, sollen sich besonders unter dem Aspekt der Ermutigung beteiligen. Es sollen Leute sein, die zu anderen Übergängen, als sie bisher üblich waren, ermutigen können, und dazu auch eigene Erfahrun-gen mitbringen. Auch beim Abschluss von Zielver-

einbarungen müssen Vertreterinnen und Vertreter der Selbsthilfe teilnehmen. Das Persönliche Budget braucht Unterstützung und vor allem gute Beispiele. Es braucht Beispiel und Mutmacher.

Es sollen in Umsetzung der Behindertenrechtskon-vention mehr chronisch psychisch kranke Menschen zur Antragstellung auf Persönliches Budget motiviert werden. Ihr Teilhabebedarf wird zusammen mit einer Person ermittelt, die für sie in Zukunft Ansprechpart-ner und Koordinator darstellt. Eine professionelle Be-gleitung soll sich als nachrangig wirksam verstehen.

Die Vision für 2025

Alle chronisch psychisch kranken Menschen erhalten das Persönliche Budget. Sie fühlen sich damit ge-nauso sicher und abgesichert, wie sie sich in den frü-heren Einrichtungen gefühlt haben. Nämlich in ihrer Situation der Teilhabe, Gleichstellung und Selbstbe-stimmung geborgen. Erwachsene Menschen können zum ersten Mal wie Erwachsene leben. Die Entschei-dungen des Alltags hängen nicht von Gruppenbe-schlüssen oder Teamentscheidungen ab. Es gibt mindestens 750.000 (in Worten siebenhun-dertfünfzigtausend!) verschiedene Budgets in der Bundesrepublik, so viele wie wesentlich behinderte Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf). Die Beträge der Persönlichen Budgets sind selbst-verständlich oft gleich, aber sie sind 750.000fach individuell vereinbart worden. Dies ist Ausdruck der Vielfalt von Menschen mit Behinderungen und ihrer Teilhabebedarfe. Die Jahresausgaben für Leistungen unterscheiden sich im Übrigen nicht von den Durch-schnittswerten der Ausgaben von heute (bei entspre-chend fortgeschriebenen Preisen). Entgegen einem Modell mit Leistungspauschalen und vielen Verwal-tungsvorschriften ist die individuelle Differenzierung die angemessene Form, die den Gedanken der Per-sonenzentrierung aufnimmt.

In den langwierigen Verhandlungen mit Bund, Län-dern und Kommunen über die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe wurde schließlich deutlich: Die Verwaltungen verzichten darauf, die Entscheidun-gen allein zu treffen und damit die Eingliederungs-hilfe angeblich besser administrieren zu wollen. Das verwaltungszentrierte Verfahren konnte das Objekt-Verhältnis der Menschen mit Behinderungen nicht beenden.

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20 Jahre Psychiatriereform – eine Zwischenbilanz !?

Das Persönliche Budget wurde die schnellste und größte Veränderung der Eingliederungshilfe, die so-gar ohne eine umfassende Novellierung des SGB XII stattfinden konnte. Das Persönliche Budget 2025 setzt um, was wir schon seit 2009 tun können: Teil-habe verwirklichen, Gleichstellung durchsetzen und Selbstbestimmung ermöglichen.

Zum Schluss noch einige Aussagen zur Persönlichen Assistenz als einer besonders wichtigen Lebensform für Budgetnehmer mit großen Unterstützungsbedarf.

Persönliche Assistenz bedeutet Lebensqualität.

Die folgenden Kriterien sind Qualitätsmerkmale Per-sönlicher Assistenz:

1. Organisationskompetenz: Ausgangspunkt sind die Gestaltungswünsche und Bedürfnis-se chronisch psychisch kranker Menschen als Assistenznehmerinnen und Assistenznehmer. Persönliche Assistenz wird von den betroffe-nen Menschen selbst geprägt und gestaltet. Die Assistenznehmerinnen und Assistenz-nehmer entscheiden, wo und wann Assistenz erfolgt.

2. Personalkompetenz: Die betroffenen Men-schen entscheiden, wer als Assistentin oder Assistent eingesetzt wird.

3. Anleitungskompetenz: Die Assistenzneh-merinnen und Assistenznehmer bestimmen selbst, was zu tun ist und wie es zu tun ist.

4. Finanzkompetenz: Der Einsatz und die Ver-wendung der finanziellen Mittel muss von den Assistenznehmerinnen und Assistenzneh-mern gesteuert und kontrolliert werden.

Im Unterschied zu den traditionellen Unterstützungs-angeboten erhält die Idee der Selbstbestimmung und der Selbstverantwortung bei der Persönlichen Assis-tenz eine ganz neue Qualität. Persönliche Assistenz gibt Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit, ein normales Leben zu führen. Die persönliche Ent-wicklung und Durchsetzungsfähigkeit eines jeden Menschen muss bei der Umsetzung der persönlichen Assistenz berücksichtigt werden. Es trägt zur Quali-tät bei, dass persönliche Assistenz das Ergebnis der persönlichen Auseinandersetzung mit der eigenen Situation ist. Und es ist eine Revolution, dass die Kompetenz dazu nicht bei den Behörden, nicht bei den bisherigen Anbietern von Leistungen, sondern bei den Betroffenen selbst zu finden ist

In den jetzt über 30 Jahren „Persönlicher Assis-tenz“ konnte erlebt werden, welche Erfolge ihrer Ent-wicklung die Betroffenen erzielt haben und welche Schwierigkeiten dabei zu überwinden waren und im-mer noch zu überwinden sind. Wir stehen am Anfang einer Entwicklung, die die Wirklichkeit verändern wird. Hierzu sind neue Instrumente erforderlich.

Der Aufbau eines solchen Systems soll erklärtes poli-tisches Ziel sein und muss in einem entsprechenden Prozess umgesetzt werden. Aus diesem Grund brau-chen wir ein Bündnis zwischen den Betroffenen, den Leistungserbringern und den Kostenträgern, um für die Zukunft Lösungen zu finden.

Wichtige Aspekte dabei sind:

o die Erstellung eines Katalogs, in dem Informatio-nen zur Persönlichen Assistenz gesammelt wer-den, der Betroffenen und Kostenträgern zur Ver-fügung gestellt wird. Ein solcher Katalog soll auch einen Kostenvergleich von Arbeitgebermodell im Vergleich zu ambulantem und stationärem Ange-bot enthalten. Zudem muss ein entsprechendes Fortbildungsangebot Eingang finden.

o die Qualität der Personalausstattung im Arbeit-gebermodell soll sich an den Erfahrungen der Betroffenen bezüglich Gestaltung und Zeitbedarf orientieren. Dabei muss es auch möglich sein, dass angepasst an den individuellen Bedarf eine Begrenzung der Fachlichkeit umgesetzt wird. So muss beispielsweise die notwendige Personal-ausstattung nicht nur Fachpflegekräfte umfas-sen.

o die Differenzierung der Hilfen über die stärkere personenzentrierte Betrachtung der jeweiligen Entscheidung, so dass einfachere Hilfen in der Zukunft möglich werden und auf der anderen Seite dadurch ein Finanzierungspotenzial für not-wendige teurere Lösungen gewonnen wird. Da-bei geht es um die Anwendung des Individuellen Teilhabeplans, um Entscheidungen zu treffen. Dies verlangt Autonomie der Verwaltung. Dies erfordert auch ein gewisses unternehmerisches Risiko beim Arbeitgebermodell. Oberstes Ziel da-bei ist die jeweils günstigste Lösung gemeinsam zu erarbeiten.

o Bei Wirtschaftlichkeit und Qualität geht es darum, die Qualitätssicherung der gefundenen Lösung

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20 Jahre Psychiatriereform – eine Zwischenbilanz !?

im Interesse der psychisch chronisch kranken Menschen zu gewährleisten. Es ist wichtig, dass wir innerhalb der nächsten Jahre auch in den en-gen Vorgaben der Haushalte die Entwicklung zu selbstbestimmten Leben fortsetzen.

Teilhabe verwirklichen - Gleichberechtigung durchsetzen - Selbstbestimmung ermöglichen

Die Teilhabe psychisch chronisch kranker Menschen am gesellschaftlichen Leben zu verwirklichen ist unser vorrangiges Ziel. Nicht der Verweis auf Son-derlösungen darf das Leben behinderter Menschen bestimmen, sondern gleiche Chancen in allen Le-bensbereichen sollen gelten. Es geht darum, die An-gebote des Alltags für alle zugänglich zu machen. Es geht darum, Arbeitsplätze für behinderte Menschen im allgemeinen Arbeitsmarkt zu schaffen und es geht darum, Wohnen in selbst gewählten Wohnformen zu ermöglichen. Die konsequente Umsetzung der gleichberechtigten Teilhabe erfordert ein neues Den-ken und Handeln bei den politisch Verantwortlichen, bei den Trägern der Behindertenhilfe und auch in der Behindertenhilfe selbst. Behindertenpolitik ist kein al-leiniges Betätigungsfeld der Sozialpolitikerinnen und Sozialpolitiker, sondern eine Querschnittsaufgabe, an der wir alle mitarbeiten müssen. Deshalb heißt es

auch, die Gleichstellung durchzusetzen.

Selbstbestimmung zu ermöglichen ist eine zweite Leitlinie. Dazu gehört, eine Vielzahl von Möglichkeiten des normalen Alltags für psychisch chronisch kranke Menschen zu schaffen. Sie sollen selbstverständlich die gleichen Chancen haben, eine Ausbildung und ei-nen Arbeitsplatz zu erhalten, die Freizeit zu gestalten, auf Reisen zu gehen, eine Wohnung zu finden und ihr soziales Umfeld zu wählen wie jede und jeder von uns. Mit der Schaffung von Angeboten muss auch die Kompetenz chronisch psychisch kranker Menschen gesehen werden, eigenverantwortlich Entscheidun-gen zu treffen.

Die Beteiligung behinderter Menschen, wie beispiels-weise durch Heimbeiräte und Werkstatträte, durch Behindertenbeiräte und Behindertenbeauftragte, ist vorübergehend ein wichtiges Element, damit der An-spruch „Nichts über uns - ohne uns“ in die Tat um-gesetzt werden kann. Es gilt, die Emanzipation chro-nisch psychisch kranker Menschen voranzubringen, für sie eine Zukunft zu gestalten, in der Barrieren abgebaut sind und Teilhabe, Gleichberechtigung und Selbstbestimmung für alle eine Selbstverständlichkeit sind.

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Wolfgang Guth

Sozialpsychiatrie in Rheinland-Pfalz 1995- 2015Als Leitsatz über allem steht die Präambel zur Psychiatrie-Enquête 1975: Die Versorgung psychisch Kranker und hier vor allem der chronisch psychisch Kranken war und ist ein Prüfstein, an dem sich die Humanität und Kultur einer Gesellscha� messen lassen müssen.

An dieser Vorgabe bemessen war unsere Gesellscha� in weiten Strecken eher inhuman. Ganz extrem gilt dies für die Gräuel des Nazi-Regimes gegenüber psychisch Kranken. Gräuel, die so unfassbar sind, so unvorstellbar, aber dennoch Realität waren.

Wohl auch geprägt durch diese fürchterlichen Verbrechen der Euthanasie hielt sich die deutsche Psychiatrie in der Nachkriegszeit sehr bedeckt. Bis in die sechziger, siebziger und Anfang achtziger Jahre hinein hat sich unsere Gesellscha�, was die Betreuung psychisch Kranker angeht, nicht gerade hervorgetan.

Ende der achtziger Jahre war die Situa�on immer noch so, dass eine dualis�sche Versorgung bestand, ambulant durch den niedergelassenen Nervenarzt, sta�onär durch psychiatrische Großkliniken. Die Universitätskliniken unterwarfen sich keiner Versorgungsverpflichtung, behandelten ausgewählte Pa�enten unter Hinweis auf die Forschung. Damals entstand die Zweiklassen-Psychiatrie.

Die drei psychiatrischen Großkliniken in Rheinland-Pfalz (Andernach, Alzey und Klingenmünster) waren überfüllt, die räumlichen Verhältnisse katastrophal, die Personalaussta�ungen gemessen an dem, was auch zu dieser Zeit schon hä�e gemacht werden müssen, nahezu ein Hohn. Das war die Basis für die 1975 veröffentlichten Ergebnisse einer Untersuchungskommission des Deutschen Bundestages, der Psychiatrie-Enquête. Hier tauchten zum ersten Mal Begriffe wie Gleichheit zwischen psychiatrischen und soma�schen Erkrankungen, Gemeindenähe und Dezentralisierung auf. Die Umsetzung dieser geforderten Veränderungen ließen jedoch lange auf sich warten, führten aber auch dazu, dass eine ganze Genera�on sozialpsychiatrisch orien�erter Psychiater mit Hilfe der zuständigen Poli�ker sich dieser Umsetzung annahm. Dies begann Mi�e bis Ende der achtziger Jahre und wurde in Rheinland-Pfalz verstärkt durch ein entsprechendes Gesetz der Landesregierung in 1995. Basis all dieser Überlegungen und ihrer Umsetzung waren letztendlich neben der Psychiatrie-Enquête die Empfehlungen der Expertenkommission von 1988.

Grundsätzlich gilt, dass Sozialpsychiatrie nicht einen Teil der Psychiatrie darstellt, sondern Psychiatrie immer per se Sozialpsychiatrie beinhaltet, was nichts anderes heißt als für chronisch psycho�sch Kranke zu sorgen, dass eine weitest gehende Annäherung an die Norm der Gesellscha� erreicht wird. Heute nennt man dies Inklusion.

Zu diesem Zeitpunkt wurde auch der Verein zur Unterstützung Gemeindenaher Psychiatrie Rheinland-Pfalz gegründet, der sich zum Ziel setzte, bei der Umsetzung dieser sozialpsychiatrischen Prinzipien mitzuarbeiten. Dies ist in hohem Maße gelungen, es kann gesagt werden, dass in Rheinland-Pfalz nahezu jedes sozialpsychiatrische Vorgehen entweder finanziell oder inhaltlich durch den Verein unterstützt worden ist. Der Verein und hier vor allem die Person der Kuratoriumsvorsitzenden Roswitha Beck wurde zum Symbol der gesellscha�lichen Achtung chronisch Psychosekranker, sowohl, was die Psychiatrie-Erfahrenen, die Angehörigen als auch die Professionellen angeht.

Auf der Basis der Empfehlungen der Expertenkommission von 1988 wurde Zug um Zug auch in Rheinland-Pfalz eine Realität geschaffen, die den Wandel von der Verwahrpsychiatrie zur wiedereingliedernden Psychiatrie dokumen�ert.

Beginnt man mit den Kliniken, so wurden die drei sta�onären Zentren in Rheinland-Pfalz verkleinert und um gemeindenahe Abteilungen in den Städten erweitert. Dies aufrecht zu erhalten ist nicht einfach, da der derzei�ge Mangel im Bereich Pflege und Ärzte selbst bei genügender Stellenzahl o�mals Schwierigkeiten bei der Besetzung mit sich bringt.

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Als Erweiterung und Alterna�ve zur sta�onären Behandlung wurden dann Tageskliniken eingerichtet. 1985 gab es in ganz Rheinland-Pfalz nur eine einzige Tagesklinik, derzeit gibt es in jedem Landkreis eine. Diese Tageskliniken bieten ein volles Behandlungskonzept ohne Hotel, d.h. die Pa�enten können abends nach Hause gehen. Der Vorteil liegt auf der Hand, eine psychiatrische Behandlung ist dadurch möglich, ohne die Betroffenen aus ihrem gewohnten häuslichen Milieu heraus zu reißen.

Die bis Mi�e der achtziger Jahre noch in den Langzeitbereichen der Kliniken untergebrachten chronisch Kranken wurden in zunehmenden Maße in Betreute Wohnungen innerhalb der Städte verlegt, eine für viele chronisch Kranke bisher nicht gekannte Selbstständigkeit und Individualität. Diese Maßnahme galt auch für psychiatrische Großheime, die sich entsprechend dadurch verkleinerten. Zielsetzung ist immer ein an Normalität angenähertes Wohnen. Hier wurde bis heute auch die Errichtung von geschlossenen Spezialheimen für nicht in den bisherigen Rahmen passende chronische Pa�enten disku�ert. Wir halten das für grundsätzlich kontraproduk�v, es gilt der Grundsatz: Die Psychiatrie geht auf ihre Pa�enten ein, nicht umgekehrt. Im Weiteren wurden in den Gemeinden Tagesstä�en eingerichtet, die den Behinderten nicht nur Tagesstruktur, sondern auch Teilnahme am sozialen Leben ermöglichten.

Für alle bisherigen geschilderten und weitgehend umgesetzten Strategien gelten die Forderungen ambulant vor sta�onär, gemeindenah, dezentral. Einrichtungen und Angebote haben für eine ihnen zugewiesene Region eine Vollversorgungspflicht. Dem haben sich mi�lerweile auch die Universitätskliniken angeschlossen.

Im Bereich Arbeit ist die Zielsetzung, möglichst viele chronisch Kranke wieder auf den ersten bzw. zweiten Arbeitsmarkt zu bringen. Hier kann sicherlich noch mehr erreicht werden. Wich�g sind die beruflichen Integra�onsmaßnahmen, die den Betroffenen hil�, auf Arbeitsplätzen wieder Fuß zu fassen.Wie für alle Bereiche gilt auch hier, dass eine ausreichende Finanzierung gemessen an den Zielsetzungen erreicht werden muss.

Im Hinblick auf die Forderung ambulant vor sta�onär spielen neben den niedergelassenen Ärzten und Psychotherapeuten die Ins�tutsambulanzen eine Rolle, die an den Kliniken angesiedelt sind. Sowohl den Erfahrungen entsprechend als auch den Empfehlungen der Expertenkommission folgend sollen sie überwiegend aufsuchend tä�g sein. Dies ist sicherlich in Kombina�on mit anderen neu konzipierten ambulanten Diensten wie ambulante psychiatrische Pflege und dem Home Treatment zu sehen, beispielha� in Alzey das sta�krankenhaus als neues Angebot, welches eine weitestgehend sta�onäre Behandlung mit den entsprechenden therapeu�schen Angeboten zu Hause anbietet. Im weiteren Verlauf können diese ambulanten Angebote sicherlich zu einer Verringerung der sta�onären Be�enkapazität führen, wobei es hier eine Übergangsfrist zu beachten gilt. Derzeit ist das erwähnte sta�krankenhaus nur mit einer Krankenkasse vereinbart, was natürlich völlig unzureichend ist. Sinnvoll und denkbar wäre ein Globalbudget für eine Region, durch welches alle Angebote finanziert werden und die einzelnen Anbieter sich auf einen Verteilungsschlüssel je nach Beanspruchung einigen. Zugegebenermaßen klingt das noch sehr illusionär.

Die von der Bundesregierung angestrebte Finanzierung der Krankenhausbehandlungen durch Fallpauschalen widerstrebt allen bisherigen Erfahrungen. Dementsprechend haben sich alle Fachverbände der Bundesrepublik hierzu ablehnend geäußert. Es bleibt zu hoffen, dass auch das Bundesgesundheitsministerium hier noch Änderungen vornimmt.

Zum Abschluss sei der Grundkonsens des Ständigen Arbeitskreises des Landespsychiatriebeirates zi�ert: „ Dieser Grundkonsens wird von allen Teilnehmern des Arbeitskreises, der trialogisch besetzt ist getragen. Der Verein zur Unterstützung Gemeindenaher Psychiatrie in Rheinland-Pfalz hat sich dem angeschlossen:

1. Neurolep�ka sind in der Behandlung von Psychosen weiterhin unverzichtbar. 2. Der Einsatz von Neurolep�ka muss unter den entsprechenden Kontrollvorgaben (Memorandum DGSP, S 3

Leitlinien DGPPN) erfolgen.3. Medikamente und Psychotherapie sind in der Psychosebehandlung addi�v, nicht alterna�v einzusetzen.4. Die vereinfachte Au�eilung der Psychiater in biologische und Sozialpsychiater ist unrealis�sch.5. Es ist anzustreben, dass mehr Studien durchgeführt werden, unabhängig von Pharmafirmen.

Es muss das ausgesprochene Ziel der Sozialpsychiatrie sein, das bisher Erreichte zu erhalten und zu verbessern. Die neuen Strukturen sind trialogisch und konsequent umzusetzen. Das ist unser gemeinsamer Au�rag.

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Der Landesverband der Psychiatrie-Erfahrenen, der Verein zur Unterstützung gemeindenaher Psychiatrie, das Sozialministerium, der Landesbeau�ragt für die Teilhabe und etwa zehn Träger mit mehr als zehn Ein-richtungsstandorten luden in den letzten Jahren Be-wohnerinnen und Bewohner von Heimen ein, um mit ihnen die Frage „Der Weg aus dem Heim – aber wie?“ zu beraten und zu beantworten. Die Idee kam von Klaus Laupichler nach der Fachtagung „Wohnen und Betreuen – heute und morgen“ in Hachenburg, wo er sein Ou�ng ha�e. Seine Vorstellungen zeigten schnell, dass sie für alle Menschen mit Behinderungen, die in Heimen woh-nen, Impulse geben können.

Allen war klar, dass sie eine für viele Beteiligte schwierige Frage behandelten. Die Ini�a�ve wollte die Bewohnerin-nen und Bewohner von entsprechenden Einrichtungen auf die Möglichkeiten selbstbes�mmten Lebens hinwei-sen, die sie aus dem Grundgesetz, aus der Landesverfas-sung, aus den Gleichstellungsgesetzen und nicht zuletzt aus der UN-Konven�on für sich ableiten konnten. Doch diese räumliche Veränderung bedarf offensichtlich gründlicher Vorbereitung und guter Planung, bedarf der Ermu�gung und des Anstoßes von außen.

Träger der Einrichtungen ha�en die Einladungen und besonders die Vorbereitung und Organisa�on der Ta-gungen übernommen. Dafür gebührt ihnen großer Dank und Anerkennung für den besonderen Aufwand, für die Vielfalt der Programme und für die Vermi�lung neuer Tagungsformen. Bei allen Terminen ist es gelun-gen, eine besonders freundliche und offene Atmosphä-re herzustellen. Es fiel dadurch allen Beteiligten leichter, miteinander ins Gespräch zu kommen.

Klaus Laupichler, ehemaliger Heimbewohner und Mitglied des Landesverbandes der Psychiatrie-Erfahrenen in Rheinland-Pfalz, gab den Impuls. Der LVPE RLP e.V. hat dann den Gesprächsbedarf angemeldet, das Thema und wesentliche Inhalte formuliert. Die Kompetenz der Psychiatrie-Erfahrenen, ihre Anliegen und auch der Anspruch, die Interessen der Bewohnerinnen und Bewohner in Heimen zu vertreten, wurde durch die Veranstaltungsreihe gestärkt. Heute, zehn Jahre später, disku�eren wir über Qualitätsstandards in Heimen. Wir

sind etwas weitergekommen, aber nicht weit genug.

Von Anfang an wurde Barrierefreiheit der Veranstal-tungen angestrebt, die deshalb in besonderer Weise zugänglich waren. Die Teilnehmerinnen und Teilneh-mer versuchten, mit ihren eigenen Worten, in einfacher Sprache miteinander zu reden. Die lockere Form, die of-fenen Gesprächsrunden und der direkte Austausch von Erfahrungen unterstützten die Offenheit. In dieser Form fanden bisher Gesprächsrunden selten sta�.

Neben den Informa�onen durch die Vertreterinnen des Ministeriums (am Beginn) und neben dem Bericht durch Psychiatrie-Erfahrene, den meist Klaus Laupichler für die Psychiatrie-Erfahrenen übernahm, wurde jede Veranstaltung durch die Leiterinnen und Leiter der gastgebenden Einrichtung, und durch Roswitha Beck als Vorsitzende des Kuratoriums des Psychiatrievereins eingeleitet. Neben den individuellen und regionalbezogenen Arbeitsgruppen nahmen offene Gespräche und persönliche Begegnungen einen großen Raum ein. Die posi�ve Wirkung der umsich�gen und sehr teilnehmerorien�erten Vorbereitung der Tagungen begüns�gte die konstruk�ve Diskussion sehr.

Durch die Veranstaltungen wurden viele interne Dis-kussionen in Gang gesetzt. Die Einbeziehung und Mit-wirkung der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner wurde allgemein als vorbildlich empfunden. Selbstbe-s�mmte Teilhabe, die viele, wenn auch bisher meist auf getrennten Wegen, zu erreichen versuchen, rückte für alle in grei�are Nähe. Die Veranstaltungen wirkten in die Region. Die Einladungen gingen in der Regel an re-gionale Nachbareinrichtungen und an die zuständigen Behörden. Die Vernetzung von Einrichtungen und Be-hörden ergab sich situa�v und wirkte nach. Hervorzuhe-ben ist auch die große Resonanz in der Regionalpresse und in bundesweiten Gremien.

Die gewählte offene Tagungsform hat sich besonders bewährt. Damit war es auch möglich, den Bewohnerinnen und Bewohner der Heime Mitsprache und Beteiligung zu sichern. Es entstand ein Dialog, wie es ihn bis dahin in dieser intensiven Form wohl nur selten gegeben ha�e. Die Fachleute waren nicht unter sich. Sie setzten

Richard Auernheimer / Franz Josef Wagner

Der Weg aus dem Heim – aber wie?

Eine Auswertung der Veranstaltungen und Vorschläge zur Weiterführung

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sich den Fragen der Betroffenen aus. Der Anteil und die Mitwirkung der Psychiatrie-Erfahrenen waren immer wieder sichtbar und wirksam.

Die UN-Konven�on wurde durch die Veranstaltungsrei-he für den Alltag als Leitlinie erschlossen. Die einzelnen Begegnungen erhielten Leuch�urmcharakter. Der so ge-nannte Paradigmenwechsel wurde von den Betroffenen selbst geleistet und bes�mmt. Neue Formen der Teilha-be wurden sichtbar. Die Annäherung an den Sozialraum lässt und ließ vorhandene Probleme schrumpfen. Die Hindernisse für den Weg aus dem Heim wurden immer wieder angesprochen. Wird mein Geld reichen? Wie er-halte ich eine Wohnung? Kann ich mein Leben selbstän-dig führen? An einer Stelle wurde dazu eine Kontakt- und Beratungsstelle eingerichtet. Wohnungsbörsen wurden notwendig. Es gibt zu wenig bezahlbare Wohnangebo-te. Die Angst vor dem Ungewissen verhindert aber noch immer den Weg aus dem Heim. 2008 formulierte Klaus Laupichler 18 Bi�en und Hinweise für den Auszug aus dem Heim (Siehe Broschüre „Gesundung als Reise des

Herzens“). Hier besteht besonderer Handlungsbedarf. Unterschiedliche Formen der Teilhabeplanung und gro-ße Unterschiede in der Beteiligungs-Qualität der Konfe-renzen erschweren die Übergänge. Das Instrument Teil-habekonferenz trägt zur Problemlösung noch zu wenig bei. Hier werden deutliche Verbesserungen für notwen-dig gehalten.

Teilhabeleistungen sollen Wohnen, Freizeit und Ar-beit umfassen. Der Weg aus dem Heim soll sich nicht nur mit Wohnen beschä�igen, sondern mit der ganzen Lebenssitua�on. Es muss alles bedacht werden, wenn Bewohnerinnen und Bewohner den Schri� in ein selbst-bes�mmtes Leben wagen. Notwendig sind weitere Im-pulsveranstaltungen, wie sie in der Reihe „Der Weg aus dem Heim – aber wie?“ durchgeführt wurden. Wenn Nachbarscha� und Sozialraum beteiligt und gestaltet werden, wird sich zeigen, wie der Sozialraum von Men-schen mit Behinderungen und Menschen mit Behinde-rungen vom Sozialraum profi�eren.

Der Weg aus dem Heim – aber wie?Statements von Bewohnerinnen und Bewohnern eine beispielha�e Auswahl

o „Ich brauche die Sicherheit in der Gruppe um mich wohl fühlen zu können.“o „Ich möchte nicht ausziehen, ein Einzelzimmer würde mir bereits genügen.“o „Ich habe Angst, dass es mir wieder schlechter geht, wenn ich ausziehe.“o „Ich habe Angst, dass ich „draußen“ überfordert bin.“o „Es gefällt mir eigentlich ganz gut hier.“o „Ich möchte nicht weg.“o „Die anderen Bewohner nerven mich manchmal.“o „Es ist o� so unruhig hier.“

o „Am liebsten hä�e ich eine eigene Wohnung.“o „Ich kann mich ja nicht selbst versorgen.“o „Ich möchte zurück in die Selbstständigkeit. Selbst bes�mmen, was ich machen möchte, selbst einkaufen

gehen.“o „Ich würde gerne soziale Kontakte außerhalb des Heims knüpfen.“o „Mein Wunsch ist es, mehr am kulturellen Leben teilnehmen zu können, eine Arbeit zu haben und Freizeit

genießen zu können.“o „Eine große Hilfe wären mir ausführliche Informa�onen zu Behördengängen.“o „Dann wäre ich persönlich frei, wäre selbstständig und hä�e mehr Geld.“

o „Wenn das Heim besser eingerichtet wäre, vor allem mehr Einzelzimmer zur Verfügung stünden, dann wollte ich gar nicht raus.“

o „Im Heim „verro�et“ man irgendwann, da kann das Heim noch so gut sein.“o „Hier fühle ich mich so gut wie in meinem ganzen Leben nicht, warum sollte ich weg wollen?“o „Ich will raus, aber ich habe viel Angst, dass ich es nicht schaffe.“o „Das hier ist doch nur eine Durchgangssta�on. Ich bereite mich vor auf ein selbstständiges Leben.“

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o „Ich bin im Heim, weil ich psychisch krank bin, ich in einer eigenen Wohnung nicht zurecht kommen würde, mir das Heim Sicherheit gibt und ich mich dort wohl fühle.“

o „Ich möchte hier bleiben, weil ich hier gut arbeiten kann und außerdem meinen Interessen, dem Malen und der Musik nachkommen kann, solange ich nicht gestört werde, von Menschen die mich nicht inspirieren.“

o „Ich möchte ausziehen, weil ich zu Hause ruhiger denken kann und meine Mu�er dann nicht so alleine ist.“o „Hier im Heim habe ich Angst, dass sich Krankheiten auf mich übertragen.“o „Ich möchte raus, weil ich jede Woche Urlaub bekommen möchte.“o „Dagegen spricht der gewisse Schutz des Heimes und die fehlende Ansprache.“o „Das wäre für mich Freiheit, Selbstständigkeit und Eigenverantwortung.“o „Ich könnte meine seelischen Wunden wieder heilen.“o „Würde ich mich beim Auszug finanziell verbessern oder verschlechtern?“o „Ich könnte tun und lassen, was ich will.“o „Damit könnte ich vielen Vorurteilen begegnen.“o „Ich hä�e Angst vorm Alleinsein und würde mich zu isoliert fühlen.“o „Ich bin körperlich behindert – wie soll ich da alleine wohnen?“o „Mit meiner psychischen Behinderung wäre ich zu eingeschränkt.“o „Ich habe Angst, auf dem Weg aus dem Heim alleine gelassen zu werden.“o „Draußen? Da hä�e ich keine Chance.“o „Ich habe nach dem Auszug den Wunsch der Partnerscha�. Das ist aber wegen meiner Medika�on nicht

möglich.“o „Würde ich ausziehen, überkäme mich Unsicherheit, ich würde mir Sorgen wegen dem Geld machen, meiner

Wohnung und wegen dem Unterhalt.“o „Ich wäre überfordert, weil ich nicht gewohnt bin, selbst administra�ve Angelegenheiten zu übernehmen.“

o „Das ist mir zu viel Papierkram. Der Organisa�onsaufwand beim Umzug ist mir einfach zu groß.“o „Ich will gar nicht raus – Arbeitslosigkeit ist langweilig. Hier bin ich nicht gefährdet obdachlos zu werden oder in

ein schlechtes Milieu abzudri�en.“o „Manchmal fallen mir die einfachsten Dinge schwer, wie soll das erst draußen gehen?“o „Ich wohn‘ seit 15 Jahren im Heim, war davor in verschiedenen Kliniken, dazwischen nur zu Hause bei meinen

Eltern oder bei meiner Schwester. Ich hab‘ noch nie auf eigenen Füßen gestanden.“o „Was nutzt mir die Freiheit, wenn ich Ängste habe, was nutzt mir die Freiheit, wenn ich versauer‘?“o „Es ist schwer, den Weg ohne Hilfe zu gehen.“o „Der Absprung endete in Bauchlandungen. Ich spring‘ lieber nicht mehr.“

o „Das Schwierigste ist, eine Wohnung zu finden.“o „Einzelbetreutes Wohnen – ist das einfach?“o „Vor 10 Jahren gerne – aber jetzt nicht mehr!“o „ Ich würd‘ ja gerne aber meine Verwandten lassen mich nicht.“o „Raus aus dem Heim – NEIN!“o „Es gibt keinen Weg.“o „Ich würd’s ja gern‘ noch mal probieren – aber ich weiß nicht ob die mir eine Wohnung geben.“

o „Ich habe meinen Auszug gut durchdacht und vorbereitet und mit einem starken Selbstbewusstsein und in professioneller Begleitung bewäl�gt.“

o „Ich müsste mein Leben selbst bewäl�gen, wäre alleine, soziale Kontakte würden fehlen.“o „Wenn ich alleine wohne habe ich meine Ruhe, ein selbstbes�mmtes Leben und Besuche wären jederzeit ohne

Einschränkung möglich.

(In der Vorbereitung der Tagung „Der Weg aus dem Heim –aber wie?“ am 15. Juni 2010 im Masurenhof von Bewohnerinnen und Bewohnern formuliert und präsen�ert auf Plakaten im Tagungszelt)

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.... schizophren ?? Na und??! 12.01.2016...........................

Ich verkünde: Wir sind Seelen von Ernst J.mit menschlicher Behinderung MessingerKeiner lasse sich erzählen, menschlich war1 das Andersrum.Also schöne alte Erde........Wir Menschen ruinier‘n die Welt.Es gibt sehr wohl noch edle Werte........,doch nach und nach die Welt zerfällt.HomoSapiens quält die Mutter.Das ganze Leben der Natur.Das wichtigste ist ja wohl Futter -- und das Überleben pur.Bergeweise wird vernichtetTag für Tag der Überfluss.In der Werbung wird berichtet,„ Wie günstig doch der Winterschluss „,„ Wisch „ und „ Wasch „ - Die weißen Kittel,haben selbstverständlich Rechtbei der Wahl der besten MittelFrüher wurd‘s mir elend schlecht.Vor Vierzig Jahren war Zerstörungdas Mittel der gewählten Wahl,Nicht halfen Wut, Protest, Empörung......„ Beruhigt „ per Dauer-Seelen-Qual.Fragt mich nicht nach Ort und Zeit, wo denn Was gewesen t Wer schauen möcht mein Lebens-Leid, mag meine Bücher lesen,

ÖÖÖÖÖÖOÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖrny _______________________________________

Das Leben will leben. Die Liebe will lieben. Das Lieben leben, heißt das Leben lieben.

Nicht zuletzt das Liebesleben,läset die Lebensliebe beben, denn wenn die Große Liebe bebt, dann hat man nicht umsonst gelebt,

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Autoren der Dokumentationen

Volkmar Aderhold, Dr. med.Institut für Sozialpsychiatrie der Universität Greifswald

Richard Auernheimer, Dr.Staatssekretär a.D. des MSAGD und Geschäftsführer des Vereins zur Unterstützung Gemeindenaher Psychiatrie in Rheinland-Pfalz e.V.

Sabine Bätzing-LichtenthälerStaatsministerin des Ministeriums für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demographie (MSAGD)

Roswitha BeckKuratoriumsvorsitzende des Vereins zur Unterstützung Gemeindenaher Psychiatrie in Rheinland-Pfalz e.V.

Malu DreyerMdL und Ministerpräsidentin des Landes Rheinland-Pfalz

Wolfgang Guth, Dr. med. Ärztlicher Direktor a.D. der Rheinhessen-Fachklinik und Vorstandsmitglied des Vereins zur Unterstützung Gemeindenaher Psychiatrie in Rheinland-Pfalz e.V.

Esther Herrmann Stellvertretende Vorsitzende des Landesverbandes Angehöriger psychisch Kranker Rheinland-Pfalz

Ernesto J. MessingerPsychiatrie-Erfahrener Poet und Mitglied des Landeverbandes Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V.

Franz-Josef WagnerVorsitzender und Geschäftsführer des Landeverbandes Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz e.V.

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Impressum

Redaktion: Franz-Josef Wagner (1. Vors.), Carsten Hoffmann (2. Vors.)Hans-Winfried KrollaErwin FeiderFrank Rettweiler

Anmerkung der Redaktion: Diese Dokumentationen der Festveranstaltung wird kostenlos an die Mitglieder, Fördermitglieder und bundesweite Multiplikatoren verteilt.

Zusammenstellung und Layout

Reinhard Wojke Franz-Josef Wagner

Redaktionsanschrift

Landesverband Psychiatrie Erfahrener e.V.Franz-Josef WagnerGratianstr. 754294 Trier

E-Mail: [email protected]

Homepage: www.lvpe-rlp.de

Fotos: © Staatskanzlei RLP/ Sämmer

Diese Dokumentation konnte nur mit finanziellen Mitteln des Vereins zur Unterstützung Gemeindenaher Psychiatrie in Rheinland-Pfalz e.V., des MSAGD und der GKV der Krankenkassen gedruckt und verteilt werden.