200 . Juni 2007 Rosa-Luxemburg-Stiftung · Keine Bewegung hat im 20. Jahrhundert die Gesellschaft...

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VorSatz 483 Essay JÖRN SCHÜTRUMPF Unter ausgeblichener Flagge: die »Linke« 485 Gesellschaft – Analysen & Alternativen MARTIN SCHIRDEWAN Vorwärts in die Gegenwart 497 ULLA PLENER Für eine neue Partei. Hoffnungen und Illusionen 1990 505 WOLFRAM ADOLPHI Asiaticus, China 1937 513 Dokumentierte Geschichte Gute Vorsätze – Eine Chrestomathie! 528 Demokratie & Emanzipation HELMUT BOCK Was ist des Deutschen Vaterland? 175 Jahre Hambacher Fest? 550 Konferenzen & Berichte EFFI BÖHLKE Ein weites Feld. Die Linke und Bourdieu 562 Monatliche Publikation, herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung 200 . Juni 2007

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VorSatz 483

EssayJÖRN SCHÜTRUMPF

Unter ausgeblichener Flagge: die »Linke« 485

Gesellschaft – Analysen & AlternativenMARTIN SCHIRDEWAN

Vorwärts in die Gegenwart 497

ULLA PLENER

Für eine neue Partei.Hoffnungen und Illusionen 1990 505

WOLFRAM ADOLPHI

Asiaticus, China 1937 513

Dokumentierte GeschichteGute Vorsätze – Eine Chrestomathie! 528

Demokratie & EmanzipationHELMUT BOCK

Was ist des Deutschen Vaterland?175 Jahre Hambacher Fest? 550

Konferenzen & BerichteEFFI BÖHLKE

Ein weites Feld. Die Linke und Bourdieu 562

Monatliche Publikation,herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung200 . Juni 2007

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FestplatteWOLFGANG SABATH

Die Wochen im Rückstau 568

Bücher & ZeitschriftenHans Christoph Binswanger:Die Wachstumsspirale. Geld, Energie und Imaginationin der Dynamik des Marktprozesses(ULRICH BUSCH) 570

Margareta Mommsen:Wer herrscht in Rußland.Der Kreml und die Schatten der Macht(KARL-HEINZ GRÄFE) 571

Joseph Stiglitz: Die Chancen der Globalisierung(JÖRG ROESLER) 572

Summaries 574An unsere Autorinnen und AutorenImpressum 576

Hinweis in eigener Sache

Für Juni ist eine Stellenausschreibung für UTOPIE kreativ geplant.Siehe bitte:www.rosalux.de/cms/index.php?id=stellen

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Keine Bewegung hat im 20. Jahrhundert die Gesellschaft so nach-haltig verändert wie die verschiedenen Anläufe für eine Gleichbe-rechtigung der Frau. Dazu bedurfte es nicht erst einer Alice Schwar-zer. Der Erste, der das Thema »Unterdrückung der Frau« erfolgreichauf die Bühne, heute würde man sagen, in die Medien, brachte, warder norwegische Apotheker und Dramatiker Henrik Ibsen (1828-1906), zu seiner Zeit der weltweit meistgespielte Autor.

Schon Tucholsky wußte: »Der Streit um Ibsen ist dahin; heute kra-men ältere Damen im Parkett bei den ›Gespenstern‹ ihre Handta-schen um und fragen ihre Tochter: ›Hast du zu Hause das Licht aus-geknipst?‹ Und ahnen nicht, daß der große Apothekersmann auch fürsie gekämpft hat, dafür, daß hundert Vorurteile gefallen sind, ge-kämpft für hundert Dinge, die der Tochter gewiß selbstverständlicherscheinen. Kunstwerke erhalten sich selten – Resultate bleiben.«

Bis 1945 noch schieden Frauen laut Gesetz mit der Eheschließungautomatisch aus dem Arbeitsprozeß aus. Unterdessen dürfen ver-heiratete Frauen ohne Zustimmung des Ehemannes sogar arbeitengehen und über ein Konto verfügen. Auch wenn es wie ein übler Witzklingt, das war ihnen in der frühen Bundesrepublik noch verwehrt;dergleichen gab’s in der DDR nie.

Eines habe ich nie verstanden: Wovon lebt die Hausfrau, wenn ihreArbeit nicht vergütet wird? Das Patriarchat ist ohne Zweifel ein Aus-beutungsverhältnis, aber doch kein Ausrottungsverhältnis! Marx undEngels meinten 1848: »Der Bourgeois sieht in seiner Frau ein blo-ßes Produktionsinstrument … Worauf beruht die gegenwärtige, diebürgerliche Familie? Auf dem Kapital, auf dem Privaterwerb.« Rechthatten sie damit, denn eine Frau verfügt genauso wie jede männli-che Arbeitskraft über die Fähigkeit, mehr Wert zu produzieren, alssie zur Reproduktion ihrer eigenen Arbeitskraft braucht.

Die bürgerliche Ehe, also die höchste Stufe des Patriarchats – dieJuristen sprechen von »Hausfrauenehe« –, ist nichts anderes als dasGegenstück zur Mehrwertproduktion durch die Lohnabhängigen.Die Hausfrau produziert dabei allerdings nicht selbst Waren, son-dern übt im Zyklus der Warenproduktion wesentliche Funktionen inder Reproduktion aus, ohne die keine Produktion zur Warenproduk-tion werden kann. Dafür erhält die Hausfrau ihren Anteil vom Ehe-mann, der nicht nur seine eigenen Reproduktionskosten, sondern dieseiner Ehefrau mit erlöst, während die Kinder als künftige Arbeits-kräfte versorgt werden. Die Hausfrau arbeitet also nicht kostenlos.Aber über die Höhe ihres »Lohnes« entscheiden die Höhe des Ein-

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kommens ihres Ehemannes als auch der Ehemann selbst. In letz-terem Abhängigkeitsverhältnis verbirgt sich das ökonomische Ge-heimnis der patriarchalischen Ausbeutung. Für Marx und Engelswar der Weg, eine Gleichstellung der Geschlechter zu erreichen, »dieStellung der Weiber als bloßer Produktionsinstrumente aufzuhe-ben«. Auch damit haben sie recht.

Die einzige Frau, die in der Familie Reproduktionsarbeit wirklichkostenlos leistet, ist die vollberufstätige Ehefrau. Ob sie dabei patriar-chalisch ausgebeutet wird, hängt von der Arbeitsteilung ab. Dennwenn die Partner den gleichen Anteil leisten, erlischt zwischen ihnendas ökonomische Ausbeutungsverhältnis. In der DDR vollzog sichwenigstens eine Entwicklung in diese Richtung.

Wirkliche Emanzipation kann nur Emanzipation beider sein. DieGesellschaft muß für sie Bedingungen schaffen, kann Emanzipationaber nicht erzwingen. Unter der Voraussetzung, daß gleicher Lohnfür gleiche Arbeit gezahlt wird, entsteht für beide Partner ein großerSpielraum, um ihr Leben gestalten. Jede Verelendung – so wie sie imMoment auch von den kapitaldominierten Parteien in Deutschlandvorangetrieben wird – befestigt allerdings das Patriarchat.

In der DDR wurden viele Schritte zur Gleichstellung als Geschenkvon Partei und Staat an »unsere Frauen« scheinbar großzügig ge-währt: Haushaltstag, Krippen, Kindergärten, Horte, Gratifikationenbei der Geburt, verkürzte Arbeitszeiten etc. Hinter vielen dieser Ent-scheidungen stand jedoch nicht – zumindest nicht in erster Linie –der Wille zur Gleichstellung, sondern die Notwendigkeit, Frauen fürden Arbeitsprozeß zu gewinnen. Hinzu kam, etwa beim § 218, dieKonkurrenz zur Bundesrepublik. Ohne die Frauenbewegung des We-stens wäre er 1972 nicht quasi über Nacht gefallen.

Doch ohne diese Schritte – wie immer sie einzeln auch motiviertwaren – wäre die patriarchalische Unterdrückung der Frau in derDDR wesentlich stärker gewesen. Entscheidend war für viele Frauendie gelebte Gleichstellung und nicht, wie sie zustande gekommen war.

Die Frauenbewegung im Westen hat zweifellos große Veränderun-gen in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern bewirkt. Heuteist ihr aber der Resonanzboden abhanden gekommen. Dieses Schick-sal teilt sie mit vielen anderen emanzipatorischen Bewegungen: denFreidenkern, den Friedensbewegten, den Kommunisten.

Sie alle haben in ihren Aufstiegsphasen Fortschritt bewirkt. Nurwenige haben jedoch das, was sie leisten wollten, wirklich geleistet.Über die meisten ist längst die Zeit hinweggegangen, ohne daß dieProbleme, die zu lösen sie angetreten waren, aus der Welt wären. Waskein Vorwurf ist – denn Einzelbewegungen können Menschheitspro-bleme der Allgemeinheit zwar zu Bewußtsein bringen, aber natürlichniemals lösen. Das gilt auch für den Feminismus.

Es mutet etwas beklemmend an, wenn Alice Schwarzer in ihremneuen Buch schreibt: »Wir brauchen keinen neuen Feminismus …Was wir brauchen, ist ein neuer Elan für den Feminismus. UndFrauen, die öffentlich sagen: Ich bin stolz, eine Feministin zu sein.«

MARION SCHÜTRUMPF

Dieses Heft trägt die Nummer 200. Wir danken allen Mitstreitern undLesern, Kritikern und Förderern, daß es soweit kommen konnte.

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1789Die Linke ist eine späte Frucht der Menschen Geschichte: ein Kindder Französischen Revolution von 1789 ff. Links saßen im Parla-ment jene, die die Revolution zu immer mehr Gleichheit und Ge-rechtigkeit weiterzutreiben gedachten, rechts versammelten sich die,denen es mit der Revolution genug war: die liberalen Abkömmlingedes Ersten und Zweiten Standes sowie die zu Wohlstand gekomme-nen des Dritten. Sie alle hatten die formalen Menschenrechte zu er-ringen getrachtet – samt Rechtsstaat, der sie ihnen garantieren sollte,und sie hatten beides auch erhalten. Ihr Sinnen war von Anfang anauf das Recht auf Eigentum, seinen Schutz vor staatlicher Willkürsowie auf die Freiheit von Handel und Gewerbe gerichtet gewesen.Häufig wird aber – nicht selten sogar absichtsvoll – vergessen, daßtrotzdem die Rechte im Lager der Revolution stand.

Bis 1789 hatte ohne Zweifel die spätere Revolutions-Rechte wederan Aufruhr noch gar an Revolution auch nur gedacht. Doch als die inden Sinnverlust getriebenen Massen den sich morsch geherrschtenAbsolutismus beiseitefegten, waren sie ins Lager des Aufruhrs über-gegangen. Sie hatten sich – so das Bild des Leipziger GelehrtenManfred Kossok – in den Sattel des unruhig gewordenen »Pferdes«geschwungen und ihm die Richtung zu geben versucht.

Nur die Linke – am unangenehmsten der Club der Jakobiner –hatte sie dabei gestört, weil sie per Wohlfahrtsausschuß und Guillo-tine eine Herrschaft des demos zu erzwingen gestrebt hatte. Dieäußerste Linke um Jacques Roux war sogar noch weiter gegangen:Ihr genügte die süße Schale der formalen Gleichheit nicht, sie wollteden herben Kern der sozialen Ungleichheit beseitigt sehen.

Die Jakobiner, die zuerst »Jakobiner mit dem Volke« gewesen wa-ren, hatten sich – wie ein späterer Jakobiner, gebürtig aus Simbirsk,durchaus richtig erkannte – schnell zu »Jakobinern ohne Volk« ge-mordet und waren am Ende selbst vom Pariser Volk aufs Schafottgeschickt worden. Für den Simbirsker jedoch kein Grund, das Dramanicht zu wiederholen. In die Geschichte eingegangen ist der Mannmit den vielen Pseudonymen unter dem Namen Lenin.

An der Wiege der Linken stand ein Korb, in den der Kopf von Ma-rie Antoinette fiel. Jahrtausendelang hatten die herrschenden Min-derheiten, soweit sie an der Herrschaft bleiben wollten, zur Gewaltgegriffen und sich stets aufs neue die Mehrheiten unterworfen. ImSinne der Herrschenden war das meist eine Zeitlang gut gegangen.An den Jakobinern konnte man lernen, daß für die Emanzipation von

Jörn Schütrumpf – Jg. 1956,Dr. phil. Historiker, Redak-teur bei UTOPIE kreativ, zuletzt: Rosa Luxemburg,die Bolschewiki und »gewisse Fragen«, Heft 193(November 2006).

»Eine geistreiche franzö-sische Redensart …verspottet die ›Jakobiner ohne Volk‹ (jacobins moinsle peuple). Die historischeGröße der wahren Jakobi-ner, der Jakobiner von 1793,bestand darin, daß sie ›Ja-kobiner mit dem Volk‹ wa-ren, mit der revolutio-närenMehrheit des Volkes, mitden revolutionärenfortschrittlichen Klassenihrer Zeit.«W. I. Lenin: Die Konterrevo-lution geht zum Angriff über[1917], in: Ders.: Werke (LW),Bd. 24, Berlin 1959, S. 537.

UTOPIE kreativ, H. 200 (Juni 2007), S. 485-495 485

JÖRN SCHÜTRUMPF

Unter ausgeblichener Flagge:die »Linke«

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Ausbeutung und Unterdrückung dieses Modell untauglich ist: Sie hat-ten sich im Namen der Mehrheit in die Minderheit begeben, warenaber nicht bereit gewesen, ihre Gleichheitsansprüche aufzugeben undin eine traditionelle Gewaltherrschaft – mit allen erprobten Mitteln,mit denen sich Ungleichheit stabilisieren läßt – zu wechseln.

Ihr Erbe, Napoleon, ging da pragmatischer vor. Via Code civil soviel Gleichheit wie möglich, via Kaisertum so viel Ungleichheit wienötig, läßt sich als seine unausgesprochene Maxime erkennen. Dochauch diese Geschichte lief aus dem Ruder und mündete in einemgrößenwahnsinnigen Imperialismus. Das Ende ist bekannt.

Trotzdem war die Revolution zum Geburtshelfer für die nächsteWelle an Entwicklung geworden. Dem bürgerlichen Zeitalter, das1776 auf dem amerikanischen Kontinent begonnen hatte – in einergegen die britische Krone gerichteten antikolonialen Revolution mitder Unabhängigkeitserklärung der Nordenglandstaaten, gefolgt vonden Bill of Rights –, war mit der Revolution der Franzosen Unumkehr-barkeit zugewachsen. Vom alten Paris – und keineswegs vom jungenWashington aus – begann es seinen Siegeszug um die Welt.

Das Kapitel »Linke« wäre an sich spätestens mit Waterloo erledigtgewesen, denn die Konstellation von 1792 hatte sich aufgelöst. Dochda vieles, was einst als Tragödie sein Ende fand, sich als Farce wie-derholt, borgte sich die nächste Generation an Revolutionären – sichihrer Ansprüche und damit ihrer selbst unsicher – wenn auch nichtdie Jakobinermütze, so doch den Platz links im Revolutionsparlament.

Und der, der den Zusammenhang zwischen Tragödie und Farce er-kannt hatte, setzte sich an ihre Spitze; sein postum von Karbunkelngereinigter Rücken verdeckte lange Zeit die großen Tragödien, diedas 20. Jahrhundert brachte – die Farce aufs Ganze steht uns mögli-cherweise noch bevor.

1848Sechzig Jahre nach dem Schleifen der fast leeren Bastille kam inDeutschland 1848 die Revolution erst gar nicht richtig in Fahrt. JeneKräfte, die in Frankreich 1789 ff. die Revolutionsgewinner und -ge-winnler, also die Rechten gewesen waren, hatten sich von Anfang anins Lager der Konterrevolution gestellt. Denn wesentliche formaleMenschenrechte hatten die preußischen Reformen ihnen schon zuBeginn des 19. Jahrhunderts gebracht. Wozu also noch Revolution?

Als ihre Maxime war erkennbar: Lieber als Untertan auf den Knienvegetieren als auf der Guillotine den Kopf verlieren. Die Linke imRevolutionslager war deshalb eine Linke ohne Rechte geblieben –ohne die es natürlich keine Linke geben kann. Plötzlich war nun dieRevolution links und die Konterrevolution rechts – letztlich eine völ-lig unsinnige Widerspiegelung der wirklichen Konstellation. Dennda befanden sich nicht mehr wie 1789 ff. zwei im selben Boot undrangen um dessen Kurs, sondern da trieb einer ohne Mast und Steuerallein im Sturm, bis sein Bötchen in die Gesellschaft versank, der dieKonterrevolution schon längst wieder ihre Hegemonie aufgeherrschthatte. Hier ging es nicht mehr um rechts oder links, hier ging es nurnoch um oben oder unten.

Doch auch »gescheiterte Revolutionen« sind Geburtshelfer für einenächste Welle an Entwicklung. Letzlich entband die Revolution von

»Hegel bemerkt irgendwo,daß alle großen weltge-schichtlichen Tatsachen undPersonen sich sozusagenzweimal ereignen. Er hatvergessen hinzuzufügen:das eine Mal als Tragödie,das andere Mal als Farce.… Die Tradition aller totenGeschlechter lastet wie einAlp auf dem Gehirne derLebenden. Und wenn sieeben damit beschäftigtscheinen, sich und dieDinge umzuwälzen, nochnicht Dagewesenes zuschaffen, gerade in solchenEpochen revolutionärerKrise beschwören sie ängst-lich die Geister der Vergan-genheit zu ihrem Diensteherauf, entlehnen ihnenNamen, Schlachtparole,Kostüm, um in dieser alt-ehrwürdigen Verkleidungund mit dieser erborgtenSprache die neue Weltge-schichtsszene aufzuführen.«Karl Marx: Der achtzehnteBrumaire des Louis Bona-parte [1852], in: Ders., Friedrich Engels: Werke[MEW], Bd. 8, Berlin 1960,S. 115.

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1848, auch wenn sie die spätabsolutistisch geprägte Herrschaft nichtdurch eine demokratischen Republik zu ersetzen vermochte, in dendeutschen Landen die bürgerliche Klassengesellschaft.

Die Staatlichkeit dieser Gesellschaft formte sich in der Folge zu ei-nem militaristischen Obrigkeitsstaat samt voll entfaltetem Untertanen-geist um. Denn ein Krautjunker aus der Altmark hatte sich gesagt: Ehewir die Revolution erleiden, machen wir sie selbst. Seiner Kaste ret-tete er wesentliche Teile der politischen Macht, indem er NapoleonsMaxime umdrehte: so viel Ungleichheit wie nur irgend möglich, soviel Gleichheit wie absolut unvermeidbar. Kind dieser »Revolutionvon oben« wurde Preußendeutschland – ohne Österreich, »klein-deutsch«, nördlich, kalt, mit Bier statt Wein, einer dazu passendenbarbarischen Küche und noch barbarischerer Musik: Marschmusik.

Eine zündende Idee für dieses von oben herbeirevolutionierte Ge-bilde – ähnlich der, die die Franzosen mit »Freiheit, Gleichheit, Brü-derlichkeit« zustandegebracht hatten – konnte Bismarck jedoch nichtvorweisen. Mit »etwas weniger Unfreiheit und Ungleichheit sowienicht ganz so viel geheuchelter Barmherzigkeit« ließ sich halt keinStaat machen.

Deshalb stellte er dem – gewiß nicht sonderlich sympathischen –Nationalismus der Franzosen, der sich aus einem Akt der Befreiungspeiste, einen verordneten Nationalismus gegenüber, dessen Kraft-zentrum Militär und Militarismus bildeten. Die Dichter und Denker,seit Mitte des 18. Jahrhunderts Markenzeichen der deutschen Lande,verloren nun endgültig den Hauch an scheinbarer Hegemonie, dersie umflort hatte, an eine Kaste, die Mord im Staatsauftrag und Op-fertod als höchste Lebensziele propagierte. Eine mediokre Figur wieWilhelm II. brauchte das Ganze nur noch durch einen maßlosen Im-perialismus zu ergänzen – und fertig war die nächste Revolution.

SPDIn der Depressionsphase nach der Revolution von 1848/49 schiendas Kapitel »Linke« dann nun aber wirklich abgeschlossen zu sein.1849 ff. waren die Revolutionäre von Ost nach West aus dem euro-päischen Festland regelrecht herausgekehrt worden; die meisten ka-men erst an den Gestaden der Neuenglandstaaten wieder zum Stehen.

Da erwachte plötzlich eine Klasse, die zuvor nur in der Werkstattder Welt zu entdecken gewesen war: das Proletariat, die Arbeiter-klasse, der 4. Stand. Kurzum Menschen, die ihre Arbeitskraft ver-kauften und die mehr Wert schufen, als sie zur Reproduktion ihrereigenen Arbeitskraft benötigten, denen aber oft selbst das Minimumihrer Reproduktionskosten verweigert wurde und die einer Vernich-tung durch Arbeit nur entgehen konnten, wenn sie sich zusammenmit Leidensgenossen gegen Löhne wehrten, mit denen ihre Kostenbeim besten Willen nicht zu decken waren.

Im katholischen Irland und im katholischen Polen, später auch imorthodoxen Rußland, entgingen viele Arbeiter der Selbstausrottungper Fusel oft nur dadurch, daß sie in die Neue Welt auswanderten.Im protestantischen Land der Dichter und Denker hingegen beglück-te ab den 1850er Jahren die fünfte und sechste Garnitur der Dichterund Denker – Kleinbürgersöhne, die ihre durch den Verlauf der1848er Revolution geschwächte gesellschaftliche und politische Po-

Preußische Reformen1807 – Beseitigung der Gutsuntertänigkeit(Leibeigenschaft)1808 – Heeresreform, Abschaffung des adligen Offiziermonopols und der Körperstrafen1808 – Städteordnung beteiligt Bürgertum an derStaatsverwaltung1809 Bildungsreform 1810 Gewerbefreiheit1811 Regulierungsediktmacht alle Bauern zu Eigentümern der Höfe1812 Emanzipationsedikt für die Juden

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sition durch eine verbreiterte soziale Basis zu verbessern suchten:die Arbeiterschaft. Die wirklich schöpferischen Leute schlugen sichzu dieser Zeit vielfach außer Landes durch. Da die Offizierslaufbahnund der gehobene Staatsdienst den Proleten verschlossen waren, bliebihnen als möglicher Pfad zur eigenen Wohlfahrt nur die Bildung.Deshalb hatten Arbeiter an den ganz bürgerlich daherkommendenArbeiterbildungsvereinen nicht unerhebliches Interesse.

Doch durch das Tor dieser Bildungsvereine schlüpften bald auchdie Remigranten der 48er Revolution sowie innere Emigranten samtjungen Revolutionären und infizierten die in Bewegung geratenenArbeiter mit sozialistischem Gedankengut. Denn die neue kapitali-stische Produktionsweise hatte in ihrer noch ungebremsten Brutalitätspätestens mit dem Gründerkrach von 1873 Kapitalismusmüdigkeitausgelöst. Eine sozialistische Arbeiterbewegung und ein sozialisti-sches Arbeitermilieu entstanden, eine in dieser Art einmalige Syn-these zwischen sozialistischen Ideen und Arbeiterschaft – natürlichnicht der gesamten Klasse, nicht einmal ihrer Mehrheit, aber in derÖffentlichkeit durchaus dominant. Die, nicht zuletzt von Karl Marxverfochtene, These, daß das Proletariat auserwählt sei, die Mensch-heit von Ausbeutung und Unterdrückung wenn auch nicht gerade zuerlösen so doch zu befreien, schien glänzend bestätigt.

In Wirklichkeit geschah aber etwas anderes: Die Beleidigten, Er-niedrigten und Verlassenen hatten binnen zwei Jahrzehnten um einesozialistische Partei herum der Mehrheitsgesellschaft eine eigeneGesellschaft gegenübergestellt: vom Konsumverein bis zum Absti-nenzlerbund, von der Unterstützungs- bis zur Bausparkasse, von denGewerkvereinen, den späteren Gewerkschaften, bis zum Freidenker-bund für Jugendweihe und Beerdigung, von den Turnvereinen biszum Volkshaus und der Freien Volksbühne, mit eigenen Verlagen,eigenen Zeitungen, eigenen Zustelldiensten – einmalig in der Welt-geschichte und so auch nicht wiederholbar.

Die Partei, die während des »Sozialistengesetzes« zwölf Jahre langverfolgt und am Ende siegreich geblieben war, da sie im proletari-schen Milieu schwamm wie der Fisch im Wasser, hatte – nicht zu-letzt international – ein enormes moralisches Kapital angehäuft.

Trotzdem handelte es sich um eine sozialistische Notgemeinschaft,in der freiwillig nur wenige verblieben. Da in der ersten und oft auchzweiten Generation der soziale Auf- und Ausstieg meist unmöglichwaren, verlagerten sich die Hoffnungen vieler auf die nächste Gene-ration, »die es einmal besser haben sollte«.

Die Führer der Partei und der Gewerkschaften waren innerhalb we-niger Jahre zu mächtigen Männern aufgestiegen, sie verfügten übergewaltige Ressourcen, wußten jedoch seit dem Sozialistengesetzauch, daß das von ihnen konstruierte Gebäude ständig gefährdet war.Die sozialistische Idee benötigten sie als ideologischen Bindekitt, mitdem sie ihrer Notgemeinschaft einen höheren Zweck zu verleihensuchten. Noch 1903 hatten sie nach einem langen Streit um Weg undZiel – der sogenannten Revisionismusdebatte – einem revolutio-nären Weg zum Sozialismus ihren Segen erteilt. Privatim glaubtensie, seitdem sie großen Organisationen vorstanden, allerdings längstnicht mehr an ihn; noch weniger wünschten sie ihn. Statt dessen ge-dachten sie, ihre Minderheitsgesellschaft durch ständigen Zuwachs

Ferdinand Lassalle(1825-1864) – Schriftsteller, Politiker, Staatssozialist und Arbeiterführer. Als erster Präsident des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) war er 1863 der Gründerder ersten Vorgänger-organisation der bis heutebestehenden SPD und gilt damit als einer der Gründerväter der deut-schen Sozialdemokratie.http://de.wikipedia.org/wiki/Ferdinand_Lassalle

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– nichts zuletzt an Parlamentssitzen – in eine sozialistische Mehrheits-gesellschaft zu verwandeln und so zum Sozialismus zu gelangen.

Von diesem Plan trennten sie sich jedoch um 1907, nach einemWahldebakel. Sie hatten begreifen müssen, daß sie dabei waren, sichzu Tode zu siegen. Denn spätestens mit dem Fall des Sozialistenge-setzes 1890 waren die deutschen Eliten vom (vorerst verlorenen) Be-wegungskrieg zum Stellungskrieg samt Zugeständnissen an proleta-risierte Existenz und Seele übergegangen. Die Mehrheitsgesellschaftbegann, wenn auch vorerst nur langsam, sich gegenüber den Unter-privilegierten zu öffnen. Die Kehrseite dieses sozialistischen Erfol-ges: In der Minderheitsgesellschaft verflog die Kapitalismusmüdig-keit; die Sehnsucht, zur Mehrheit zu gehören, wurde übermächtig.Das Nervengift des Totschlag-Nationalismus, das diese Mehrheits-gesellschaft zusammenhielt, kontaminierte nun auch das proletari-sche Milieu und wurde neben dem Sozialismus zu dessen zweiterideologischer Konstante – ein verheerendes Amalgam.

Halb zog die Mehrheitsgesellschaft die Minderheit, halb sank siehin. Strategisch befanden sich die proletarischen Führer nun auf derVerliererstraße; fortan setzten sie nicht mehr auf eine zu erringendesozialistische Mehrheitsgesellschaft, sondern auf eine Machtteilung– und die proletarischen Massen folgten ihren sozialdemokratischenFührern überall hin, bis zu den Schlachtbänken des Weltkrieges.

1917Am zwölften Jahrestag des Petersburger Blutsonntags, man schriebnach Julianischer Zeitrechnung den 9. Januar 1917 und befand sichim dritten Weltkriegswinter, sprach im friedlichen Zürich der Jako-biner aus Simbirsk, ein weithin unbekannter Emigrant, zu einigenunbekannten Emigranten, zumeist aus dem russischen Reich. Erstand wenige Monate vor seinem 46. Geburtstag, hatte sein Lebenmit dem Herbeiführen der Revolution verbracht – was er sich hatteleisten können, weil er nicht einen einzigen Tag mit Erwerbsarbeithatte vertun müssen – und konnte auch an diesem Morgen seine De-pressionen nur schwer verbergen. Er und die anderen Alten würdendie Revolution wohl nicht mehr erleben, aber die Jüngeren unter denAnwesenden sehr wohl, denn die Revolution werde in jedem Fallkommen. Sechs Wochen später brannte Rußland – der Sturz des Za-rismus hatte dieser Berufsrevolutionäre nicht bedurft.

Nach ihrer Heimkehr an die Newa bekam die Rechts-Links-Un-terscheidung noch einmal einen Sinn, schlug Lenin doch im Namenseiner Gruppierung, der Bolschewiki – jedoch ohne deren Wissenund erst recht ohne deren Zustimmung – die Hand, die ihm die er-folgreichen Revolutionäre des Februar 1917 bei seiner Ankunft ent-gegenstreckten, brüsk aus. Er kannte die These von Engels, daß dieerreichbaren Ergebnisse einer Revolution nur zu sichern waren,wenn sie weit über das Erreichbare hinaus nach links getriebenwurde, so daß beim unvermeidbaren Rückschlag das Pendel im Be-reich des Möglichen zu stehen kam, die Revolution also nicht aufihren Ausgangspunkt zurückgeworfen würde.

Doch das allein war nicht Lenins Antrieb. Für ihn waren die for-malen Menschenrechte nur zu sichern, wenn sie um die sozialenMenschenrechte erweitert wurden – und zwar mit aller Konsequenz.

Jörn Schütrumpf: Kapitalis-musmüde, in: Das Blätt-chen, 2007, H. 4.

»Nikolaj Ccheidze, ein Men-schewik und Vorsitzenderdes Petrograder Sowjets, erschien, um den zurück-kehrenden Führer der Bolschewiki zu begrüßen.Vor dem Bahnhofsgebäude hatten sich zahlreiche Arbeiter und Soldaten versammelt …Dann begannen die Feier-lichkeiten schiefzugehen.Lenin wollte mit dem Geistder allgemeinen Verbrüde-rung nichts zu schaffen haben … Ccheidzebegrüßte ihn als hochange-sehenen Emigranten und appellierte an alle Soziali-sten, zusammenzuarbeiten,doch Lenin würdigte ihnkaum eines Blickes und erwiderte die Ansprache mitdem Aufruf zur ›sozialisti-schen Weltrevolution‹ …Lenins Worte bestürztenpraktisch jeden, der sie injener Nacht zu hören be-kam; viele Zuhörer glaubten,daß er verrückt gewordensei. Kamenew und andereführende Bolschewiki waren

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Für ihn war die russische Revolution die Eröffnungsrevolution einerweltweiten Revolution zu sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit.

Die Rechts-Links-Konstellation im Lager der Revolution war aberkeineswegs so naturwüchsig wie 1789 ff. Im Interesse seiner eige-nen Handlungsfreiheit denunzierte Lenin Menschen, die zwar weit-gehend seine Auffassungen teilten, aber auf der gleichen Augenhöhebestanden, als »Rechte« und verlieh der Rechts-Links-Unterschei-dung so etwas Künstliches und Willkürliches – eine Praxis, die mitanderen Begriffen ursprünglich die Inquisition inauguriert hatte unddie eine neue Inquisition zeugen sollte.

Die Kriegsmüdigkeit und die Landfrage hatten fast alle GebieteRußlands in hellen Aufruhr versetzt; ab Sommer 1917 fand er seinenpolitischen Ausdruck am adäquatesten in den Forderungen der Bol-schewiki, wodurch sie vom Rand ins Zentrum der politischen Aus-einandersetzungen gelangten. In der im Bauernland Rußland sozialalles entscheidenden Landfrage hatten die Bolschewiki sogar ihreeigene Position – Verstaatlichung des Bodens – zugunsten der Mas-senstimmung – Bodenreform via Aufteilung und Schaffung einerbreiten grundbesitzenden Klasse – aufgegeben. Damit hatten sie ihre»proletarische Revolution« mit einem Kleinstproletariat (zwei Mil-lionen gegenüber 160 Millionen Bauern) taktisch in die Vorhand,strategisch aber in die Falle manövriert.

Ihre Machtergreifung im Oktober 1917 war eine Konsequenz die-ser Konstellation und keineswegs ein Putsch; die Art, wie sie die ein-mal errungene Macht dann verteidigten, trug aber putschistischenCharakter. Sie hatten die Revolution nach links getrieben und dieLösung der Landfrage, die seit Frühjahr 1917 in den Dörfern vor Ortentschieden worden war, durch ihr Dekret über den Boden legiti-miert. Doch entscheidend für sie war die »Weltrevolution«, die einstHeinrich Heine in Anlehnung an Goethes »Weltliteratur« kreierthatte. Die Bolschewiki verstanden sich als Vorkämpfer dieser Welt-revolution, die sie aber nicht von Heine, sondern von Marx geerbtglaubten: Sie sahen sich als Platzhalter und damit als jemanden, dereine Tür geöffnet hatte, durch die die eigentlichen Helden, die Revo-lutionäre des industriegesellschaftlich entwickelten Westens, erho-benen Hauptes noch schreiten sollten.

Mit der Machtergreifung der Bolschewiki hatte die russische Re-volution ihren Zenit erreicht, von nun an konnte das Pendel nur nochzurück in Richtung Restauration schlagen. Um das wenigstens äußer-lich zu verhindern, waren die Bolschewiki bereit, fast alles zu tun,sogar die formalen Menschenrechte, die einst in den RevolutionenNordamerikas und der der Franzosen erstmals erkämpft worden wa-ren, zu suspendieren.

Damit machten sie aber nur scheinbar »links« von den Jakobinernweiter. Denn die waren heroisch genug gewesen, Revolutionäre zubleiben, also sich im Rahmen der Revolution zu halten: Statt die De-mokratie ihrer Selbst- und Machterhaltung darzubringen, opferten siesich im Namen der Demokratie selbst. Indem die Bolschewiki ver-suchten, der Revolution Dauer zu verleihen, verließen sie letztlichden Rahmen der Revolution – in Richtung permanentem Ausnah-mezustand. Rückblickend meinte Trotzki, auch er habe sich ander Macht stets wie ein Illegaler bewegt.

perplex und hofften nur, Lenin werde wieder zur Vernunft kommen, sobald erdie lange Trennung von derHeimat überstanden hatte.Sogar Nadezda Konstanti-novna [Lenins Frau – J. S.]scheint an seiner geistigenVerfassung gezweifelt zuhaben.«Robert Service: Lenin. EineBiographie, München 2000,S. 347 f.

Schon auf dem III. Parteitagder SDAPR – 1905 – mach-te Lenin keinen Hehl dar-aus, wie er in einer Revolu-tion vorzugehen gedachte:»Die demokratische Diktaturist … eine Organisation desKrieges. Selbst wenn wirPetersburg eroberten undNikolaus guillotinierten,

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Mit dem Auseinanderjagen der Konstituante im Januar 1918 gelang esden Bolschewiki zwar, die – jeder Revolution eigene – Fraktions-abfolge zu unterbrechen, aber keineswegs das Zurückfluten der Re-volution zu verhindern. Indem sie die Fraktionsabfolge unterbra-chen, waren die Bolschewiki gezwungen, die jeweiligen FunktionenSchritt für Schritt selbst auszuüben. Während in der aufsteigendenPhase der Revolution die Führung von rechts immer weiter nachlinks wandert und zumeist in jeder neuen Stufe eine neue Gruppe dieMacht übernimmt, wandert sie in der absteigenden Phase von linksnach rechts: von W. I. Lenin bis zu Boris Jelzin, der dann aber wedergewillt noch – so wie seine Vorgänger – in der Lage gewesen war,die von der Oktoberrevolution freigesetzte bürgerliche Gesellschaftzu unterdrücken.

Aus ihrem Selbstverständnis als Avantgarde einer künftigen Ge-sellschaft, in der alle Ausbeutung und Unterdrückung beseitigt seinsollten, zogen sie die ihnen für ihr Handeln hinreichend scheinendeLegitimation. Die Frage nach Mehr- und Minderheiten erklärten siezu formalem, wenn nicht gar konterrevolutionärem Unfug: Mit unszieht die neue Zeit. Wenn möglich, mit der Mehrheit, wenn nötig;ohne sie, schlimmstenfalls gegen sie. Damit wurde der Lebensnervzwischen Revolution und Demokratie, zwischen Sozialismus undDemokratie zerschnitten. Revolution und Sozialismus schlüpften ineine autoritäre Gestalt, die ihrerseits schnell übermächtig wurde unddie beiden sich nur noch als zierenden Federschmuck zu »Kampf-und Feiertagen« ans Haupt klebte.

Da im Ausnahmezustand formale Menschenrechte bestenfalls alsjederzeit suspendierbares Zugeständnis existieren, konnten unter derHerrschaft der Bolschewiki auch die »Kinder« der formalen Men-schenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Zivilgesellschaft, nicht frei-gesetzt werden. Das einzige zivilgesellschaftliche Element, das sichunter diesen Bedingungen prächtig zu entwickeln vermochte, wareine Sumpfblüte: die organisierte Kriminalität.

Mit dem Ausschalten aller anderen revolutionären Strömungenhatte die Rechts-Links-Unterscheidung endgültig jeden Sinn verlo-ren. Links wurde zur Nebelwand, hinter der sich die wahren Verhält-nisse, ein neues Unten und Oben, verbargen. Die Revolution, die dieformalen um die sozialen Menschenrechte hatte ergänzen sollen, dochdas Gegenteil gezeugt hatte, war vor 1789 zurückgefallen.

In den Jahrzehnten bis 1991 durchlief die Herrschaft der Bolsche-wiki alle Phasen einer absteigenden Revolution – qualvoll: für sieselbst, für die ihnen ausgelieferte Gesellschaft und für alle, die gewilltwaren, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein be-leidigtes, erniedrigtes und verlassenes Wesen ist. Die Bolschewikifolgten dabei Schritt für Schritt stets sich selbst.

Mit der Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes im Jahre1921 entmachteten sie die Arbeiterschaft politisch – eine Entmach-tung, die in Rußland bis zum heutigen Tage anhält. Mit der NeuenÖkonomischen Politik begann die Suche nach einer neuen sozialenBasis. Anfänglich sollte es ein Staatskapitalismus werden. Doch dieHerrschaft der Bolschewiki wurde in Wirklichkeit zum bonapartisti-schen Tanz über den Klassen. In Land und Stadt entfalteten sich diekapitalistische Produktionsweise und die von ihr geprägte Klassen-

hätten wir einige Vendéesvor uns. Marx … sagte, der Terrorismus von 1793 seinichts als eine plebejischeManier gewesen, mit demAbsolutismus und der Konterrevolution fertig zuwerden. Auch wir ziehen die ›plebejische‹ Manier, mitder russischen Selbstherr-schaft fertig zu werden, vor und überlassen der ›Iskra‹ die girondistischenManieren.W. I. Lenin: Referat über dieTeilnahme der Sozialdemo-kratie an einer provisori-schen revolutionären Regie-rung. 18. April [1. Mai] 1905,in: LW, Bd. 8, S. 389.

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und Sozialstruktur prächtig. Es war nur ein Frage der Zeit, wann dieneuen Reichen der Herrschaft der Bolschewiki ein Ende gemachthätten.

Dem kamen Stalin, Kaganowitsch und die anderen Exponenten derin den zwanziger Jahren entstandenen neuen politischen Klasse zuvor.Sie zerschlugen – beginnend mit der Kollektivierung, die keine Kol-lektivierung, sondern eine Versklavung war – Stück für Stück dieGesellschaft und ersetzten sie durch eine Militärgesellschaft. An dieStelle von Entwicklung setzten sie den »Aufbau«, sie versuchten im-mer wieder, die zum Durchbruch drängenden Tendenzen zu unter-drücken und das »Wasser bergauf fließen zu lassen«, letztlich alsoselbst Gott zu spielen. Terrorwelle um Terrorwelle ließen sie zu die-sem Zweck über das Land rollen und Freund und Feind vernichten.Sie haben für »die Sache« niemanden geschont.

Marx und Engels hatten einst einen Kasernenkommunismus alsKarikatur auf die Idee einer von Ausbeutung und Unterdrückung be-freiten Gesellschaft antizipiert und sich darüber lustig gemacht. Ander russischen Variante war jedoch überhaupt nichts lustig. Daß derHitlerfaschismus noch schlimmer wütete und an den Völkern der So-wjetunion – und keineswegs am »Organisator des Sieges« – schei-terte, machte den russischen Kasernenkommunismus nicht besser.

Chruschtschow – auch er ein blutbesudelter Massenmörder vonStalins Gnaden – hatte immerhin so viel Vernunft, die Entwicklungzurück ins alte Flußbett zu lenken; der Kasernensozialismus wan-delte sich in eine staatskapitalistisch verfaßte Gesellschaft. Am Endewarf die herrschende politische Klasse die staatliche Form des kapi-talistischen Eigentums ab und privatisierte es. Jelzin war der Voll-strecker einer Entwicklung, die trotz allen Blutes und Terrors nichthatte verhindert werden können. Er machte den letzten Schritt derOktoberrevolution, deren Exponenten geglaubt hatten, eine bessereWelt zu finden, und in Rußland doch nur eine bürgerlich-kapitalisti-sche Gesellschaft hatten freisetzen können.

1918Auch in Deutschland stellte sich scheinbar noch einmal eine Rechts-Links-Konstellation her: durch eine kleine Gruppe um Rosa Luxem-burg und Franz Mehring, die auf revolutionären Positionen verharrteund zu der nach Weltkriegsbeginn auch Karl Liebknecht stieß. Baldwurde sie Spartakusgruppe genannt. Ihre Anhänger sahen sich in derTradition der Linken von 1789 ff. und in der von Karl Marx, lehntenaber das Avantgarde-Verständnis der Bolschewiki ab. Sie verstandensich zwar ebenfalls – wie die Bolschewiki auch – als der aufgeklär-teste Teil der sozialistischen Bewegung, glaubten aber, daß nur dieBewegung, nicht aber die Avantgarde die Entscheidungen der Be-wegung treffen durfte. In der Entscheidung von Minderheiten »imInteresse von Mehrheiten« (»der Arbeiterklasse« etc.) sahen sie ei-nen Pfad, auf dem die Mittel selbst bei allerbestem Willen der Ak-teure die Ziele nur verderben konnten.

Jegliche Geheimbündelei und jegliche Organisationsfixiertheit,hinter der sich immer noch stets der Zentralismus zu verbergen ge-wußt hat, waren ihnen fremd. Aber ausgerechnet sie gerieten währenddes Weltkrieges – nicht zuletzt durch das Zutun der Führung ihrer

»Die ideelle Weihe darf demKasernenleben nicht fehlen,sie wird hergestellt durchden Kasernenkommunis-mus, wodurch der Verach-tung gemeiner bürgerlicherTätigkeit eine höhere Be-deutung erwächst. Da diesekommunistische Kaserne indes nicht mehr unter denKriegsartikeln steht, son-dern nur unter der morali-schen Autorität und demGebot der Aufopferung, sokann es nicht fehlen, daßzuweilen Prügeleien überdie gemeinschaftliche Kasseentstehn, wobei die morali-sche Autorität nicht immerohne ein blaues Auge da-vonkommt. Findet sich ir-gendwo in der Nähe einHandwerkerverein, so kanndieser als Rekrutierungsan-stalt für das anzuschaffendeKorps benutzt … werden.Vielleicht läßt es sich aucheinrichten, daß im Hinblickauf die höhere prinzipielleBedeutung, die die Kasernefür die Zukunft des Proleta-riats hat, der Verein Gelderin die Menage liefert. In der Kaserne wie im Verein wird das Predigen und die patriarchalisch-klätschelnde Manier des persönlichenVerkehrs nicht ohne Wir-kung bleiben. Der Partei-gänger verliert auch im Frieden seine unentbehr-liche Zuversicht nicht, undwie früher stets nach jederSchlappe für den morgen-den Tag den Sieg, so verkündet er nunmehr stetsdie moralische Gewißheit u. d. philosophische Not-wendigkeit, daß es binnenvierzehn Tagen ›losgehn‹werde, nämlich es.«Karl Marx, Friedrich Engels:Die großen Männer desExils [1852], in: MEW,Bd. 8, S. 322.

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eigenen Partei, der SPD, der ein gutes Verhältnis zum kaiserlichenStaat längst deutlich wichtiger war als zu den eigenen Leuten, zumalwenn sie an »veralteten Auffassungen« festhielten – in die Situationeines Geheimbundes, der immer tiefer in die Illegalität hineingetrie-ben wurde. Frauen wie Bertha Thalheimer und Rosa Luxemburg ka-men ins Gefängnis oder in »Schutzhaft«, Männer an die vordersteFrontlinie; Rückkehr unerwünscht. Gustav Noskes Zustimmung imJanuar 1919 zur Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxem-burg stand ganz in der Kontinuität des vertrauensvollen Zusammen-wirkens zwischen SPD- und Reichswehrführung während des Krie-ges und der Vereinbarung zwischen SPD-Chef Friedrich Ebert undGeneralquartiermeister Wilhelm Groener vom 10. November 1918,die Revolution niederzuwerfen.

Das war möglich, weil die proletarischen Massen, die sich von ihrensozialdemokratischen Führern sogar in den »Heldentod« hatten schik-ken lassen, 1918 zwar von einer Kriegs-, aber keineswegs von einerKapitalismusmüdigkeit befallen worden waren. Rosa Luxemburg,Karl Liebknecht und Genossen vermochten nicht, zwischen beidemzu unterscheiden, und zahlten dafür den höchsten Preis.

Im November 1918 wiederholte sich letztlich die Konstellation von1848: Die Linke blieb im Revolutionslager ohne Rechte; die SPD-Führung stand – wie 1848 das liberale Bürgertum – aus gut verstan-denem Eigeninteresse vom ersten Moment an im Lager der Konter-revolution. Diese »gescheiterte Revolution« bescherte Deutschlandeine für ihre Zeit sehr demokratische Republik samt Frauenwahlrechtund Betriebsräten. Aber da diese Revolution wesentlich von einerschnell zerfallenden Soldatenbewegung getragen worden war, man-gelte es dieser Republik an sozialer Verankerung.

»Links« war längst zur unsichtbaren Mauer geworden, die dieemanzipatorischen Kräfte von der Gesellschaft trennt. Das hatte sichschon erstmals 1914 gezeigt: in den wohlwollenden Reaktionen derSPD-Klientel auf die – eindeutig »rechte« – Entscheidung ihrerReichstagsfraktion, den Kriegskrediten zuzustimmen. Die Rechts-Links-Konstellation spiegelte nun nicht einmal mehr scheinbar signi-fikante Konstellationen wider. Denn Umbrüche in den Tiefen derGesellschaft hatten schwerwiegende Umorientierungen bewirkt.Und das keineswegs nur in Deutschland: Jósef Pil⁄sudski, BenitoMussolini und die ersten Nationalsozialisten – sie agierten im mähri-schen Iglau – wechselten nicht zufällig von der Linken ins Lager dervorauseilenden Konterrevolution. Sie wußten, woher sie kamen.

Der Faschismus gilt heute noch als rechts, ebenso wie der Stalinis-mus – nicht nur seinen Anhängern – als links gilt. Dabei passen wederer noch der Faschismus ins Rechts-Links-Schema der bürgerlichenRevolutionäre. Deshalb wurde dieses Schema »weiterentwickelt«:Rechts und links wurden ihm »Extreme« angeklebt – eine eher hilf-lose und die wirklichen Verhältnisse beschönigende Operation.

Von der Kapitalismusmüdigkeit, die – anders als 1917 in Rußland– 1918 in Deutschland nicht massenhaft aufgetreten war, profitierte,als sie dann doch ausbrach, der sich antikapitalistisch gebärdendeFaschismus der Nationalsozialisten. Bis das soweit war, hatte es aller-dings noch einer alle Geld- und Moralwerte vernichtenden Inflation,einer sogenannten Stabilisierung, in der die nicht abgesicherte Ar-

Das Zusammenwirken von SPD- und Reichswehr-führung während des Ersten Weltkrieges wäre ein interessantes Thema für eine Dissertation.

»Eine Niederlage erblicke ich ferner darin, daß es unsnicht gelungen ist, dem riesenhaften Anschwellender Nazis Einhalt zu gebie-ten. … Außerdem befindensich unter der Hitlergefolg-schaft unstreitig auch vieleproletarische Elemente,die sich sowohl von derSPD wie von der KPD enttäuscht fühlen. Geradedie Sturmkolonnen der Nazis enthalten ein gut Teilarbeitsloser Proletarier.Die zwiefache Niederlageunserer Partei kann unddarf um so weniger ver-schwiegen werden, als dieobjektive Situation günstig-ste Vorbedingungen für un-sere Aktion geschaffen hatund täglich weiter schafft.Die ungeheure Spanne zwischen der günstigen ob-jektiven Situation und demrückständigen subjektiven

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beitslosigkeit kaum unter acht Prozent gesunken war, und der Kata-strophe der Weltwirtschaftskrise bedurft.

Der Arbeiterbewegung war längst die Bewegung abhandengekom-men. Zudem war das organisierte Proletariat gespalten: in einen so-zialdemokratischen Koloß auf tönernen Füßen, dessen Vorstehersich nur noch auf die Rolle des »Arztes am Krankenbett des Kapita-lismus« verstehen mochten, und in eine fremdfinanzierte »Bruder-partei«. Die bediente statt der Interessen ihrer eigenen Klientel dieWünsche eines ausländischen Staates – dessen innere Zustände siemit viel Sozialromantik erfolgreich zu verschleiern wußte. 1932/33dann stürzte sie sich mit absurder Propaganda für ein Sowjetdeutsch-land und mit Sozialfaschismuspöbeleien auf den Lippen in den Ab-grund und riß viele ihrer Anhänger ins Unglück. Selbst große Teileihrer eigenen Führung wurden ausgelöscht, wobei in der Arbeitstei-lung zwischen deutschen Nationalsozialisten und russischen Stalini-sten letztere der KPD den höheren Blutzoll auferlegten und das Ver-hältnis letzten Endes nur deshalb wieder etwas zu ihren Ungunstenverschoben, weil sie in der Zeit der unverbrüchlichen Freundschaftzwischen Josef Stalin und Adolf Hitler (1939-1941) Kolonnen vonTodgeweihten an die Gestapo überstellten, die ihrerseits aber nichtalle umbrachte, so daß einige Todgeweihte 1945 sich ein zweitesMal der Liebe des »Vaterlandes der Werktätigen« ausgesetzt sahen.Im Namen der »Linken«, versteht sich.

2007Trotzdem ist der Bezug auf das Erbe der Linken von 1789 ff. durch-aus immer noch sinnvoll und aller Ehren wert – zumindest wenn die-ses Erbe als Traditionsbestand und nicht als Selbstreferenz behandeltwird. Denn »links«, ursprünglich ein Ehrentitel für jene, die gewilltwaren, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein er-niedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesenist – so Karl Marx in Anlehnung an Ludwig Feuerbach, dessen kate-gorischen Imperativ er aus der Religionskritik in die Kritik der Le-benswirklichkeit holte –, hat sich längst in ein goldenes Gehäuseverwandelt. Die Taue, mit denen die »Linke« trotz aller Fragwür-digkeiten einst in der Gesellschaft verankert war, sind spätestens seit1933 – wenn man ganz ehrlich ist: seit 1918 – zu unscheinbarenFädchen zerschlissen.

Bei der Aufrechterhaltung des Rechts-Links-Schemas hat die »Lin-ke«, völlig guten Gewissens, ihre – zugegeben, nicht vorsätzlich er-wählten, aber dafür zuverlässigsten – Partner in den kapitalverur-sachten Eliten gefunden. Denn die hätscheln mit nicht erlahmenderZuwendung das Gottesgeschenk, das ihnen die Französische Revo-lution machte. Sowohl in den USA – »Demokraten« versus »Repu-blikaner« – als auch in Europa wird seit Jahrzehnten von diesen Eli-ten mit Vorsatz die Fortschreibung der Rechts-Links-Konstellationbetrieben: gerade weil sie mit den Verhältnissen, die heute in der Ge-sellschaft herrschen, kaum noch etwas zu tun hat und deshalb fürdiese Eliten völlig ungefährlich ist. Politik in der Rechts-Links-Kon-stellation bildet eine Nebelwand, die den Blick auf die Gesellschaftin Schleier legt. Und die oft naive – oder ist sie vielleicht gar nichtso naiv? – »Linke« spielt überall mit.

Faktor der geschichtlichenEntwicklung zu verkleinern,zu überwinden ist die historische Aufgabe unsererPartei. Sie hat bis jetzt das Examen auf die Erfül-lung dieser Aufgabe leidersehr schlecht bestanden.Das darf nicht eine Minuteverschleiert oder beschönigtwerden.«Clara Zetkin an WilhelmPieck, 14. März 1932, in:Florence Hervé (Hrsg.):Clara Zetkin oder: Dortkämpfen, wo das Leben ist,Berlin 2007, S. 126.

Margarete Buber-Neumann:Als Gefangene bei Stalinund Hitler. Eine Welt imDunkel, Stuttgart 1958.

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Etwa die Hälfte der deutschen Wähler kann sich heute schon nichtmehr im Rechts-Links-Schema wiederfinden, denn diese Konstella-tion hat mit ihrer Lebenswirklichkeit kaum noch etwas zu tun. DieseWähler haben sich immer wieder überzeugen lassen, an dem Rechts-Links-Spiel zu beteiligen, das SPD und CDU mit nicht erlahmenderChuzpe simulierten. Bis diese Wähler irgendwann begriffen, daß esschon seit langem nicht mehr um links oder rechts, sondern nur nochum unten oder oben geht – beides aber, sehr absichtsvoll, nicht zurAbstimmung gestellt wird.

Der Sozialstaatsgesellschaft der Bundesrepublik läutete mit demFall der Mauer das Totenglöckchen. Doch was macht seitdem die»Linke«? Statt auf die sich ausbreitende Kapitalismusmüdigkeit miteiner intelligenten Kritik an der grassierenden Asozialität der deut-schen Eliten als den Nutznießern der jetzigen Produktionsweise zureagieren, tut sie seit der friedlichen Herbstrevolution so, als seiendie westdeutschen Zustände der siebziger Jahre für ewig festge-schrieben. Ihre Politik unterscheidet sich kaum von der, die einst dieSPD-»Linke« praktizierte: da, mitunter sogar scharf formulierte, Kri-tik, hier Verteidigung einer einmal errungenen, heute aber längst nichtmehr haltbaren Position, dort ein kleiner Entlastungsangriff – allesin der Hoffnung, in einer der nächsten Koalitionen doch noch alsMittäter zugelassen zu werden. Das Stadion der siebziger Jahre, indem all diese Spiele eine gewisse Berechtigung hatten, existiert aberlängst nicht mehr. Denn die deutschen Eliten haben nach dem Fallder Mauer – nahezu geräuschlos – den Übergang zu einem Bewe-gungskrieg gegen den »Rest der Gesellschaft« vollzogen.

Die Linke aus West und Ost, alles andere als unschuldig und mor-genschön, wird im Moment von der Ohnmacht eines abzusehendenScheiterns aufs gemeinsame Lager gezwungen. Die einen sind garnicht erst auf die Beine gekommen, die anderen können sich kaumnoch auf ihnen halten. Doch Vernunftehen sind manchmal ganz er-folgreich. Denn trotz aller Probleme kann das gemeinsame Kind ge-sund zur Welt kommen; vorausgesetzt man beabsichtigt, eins zu zeu-gen und nicht, gut gebettet, sich auf den Stufen des Reichstages zurletzten Ruhe zu legen. Dafür haben die kapitalverursachten Eliten je-doch schon alles vorbereitet: Die Falle – die Ablösung der SPD durchdie gesamtdeutsche Linke – steht weit geöffnet im Raum. Denn: Theshow must go on. Manche scheinen es gar nicht erwarten zu können.

Wendet man jedoch den Kopf aus dem »Raumschiff Politik« aufdie gesellschaftliche Wirklichkeit, wird man kaum am eigentlichenElend vorbeischauen können: Denn längst wird nicht mehr nur derLohnarbeiter ausgebeutet. Neben die Gewinne, die aus der Ware Ar-beitskraft geschöpft werden, treten immer häufiger Gewinne, die aufMonopolen beruhen. Energie, Wasser, Bildung, Gesundheit, Altern etcetera sind zu Quellen von Profit pervertiert worden. Eine ganze Ge-sellschaft steht einer parasitären Oligarchie gegenüber. Nur wennsich diese Gesellschaft – das »Unten« – gemeinsam wehrt und dafüreinen politischen Ausdruck findet, der individuelle und soziale Eman-zipation untrennbar und gleichberechtigt verfolgt, wird sich ein Wegzu einem menschenwürdigen Leben für alle freilegen lassen. DieLinke hätte dann noch einmal eine Funktion: aus dem Rechts-Links-Spiel auszusteigen, um diese neue politische Kraft zu entbinden.

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Die Zeit drängt. Nicht, dass ein Häuschen im Grünen mit dichter, vorfremden Blicken und Geräuschen schützender Hecke kein lohnens-wertes Ziel wäre. Doch schafft man sich ein Refugium, endet die ei-gene Neugier häufig an der Gartenpforte.

Dieser Artikel versteht sich als neugierig und fragend. Fragendnach den drängenden Erfordernissen und Entwicklungen der Zeit.Wobei die Frage als Schritt zur Kritik verstanden und der Kritik dieFunktion des Denkanstoßes zugewiesen wird. Kritik wird hier ver-standen als kultureller Prozess auf dem Weg zu einem humanen Ver-ständnis von Gesellschaft. Am Ende einer solchen Überlegungkönnte eine freie, friedliche, kulturvolle, gerechte, also eine sozia-listische Gesellschaft stehen.

Wer fragt, kann an und mit den Antworten scheitern. Selbst werAntworten findet, kann irren. Häufig sogar. Deshalb erhebt der Fra-gende und Antwortende hier nicht den Anspruch, wahres und wirk-liches Bewusstsein zu schaffen. Das wäre anmaßend. Die folgendenÜberlegungen sind lediglich: Überlegungen. Wenn sie einen Diskursinitiierten, indem verschiedene Antworten auf die gleichen Fragengegeben würden, hätten sie ihr Ziel erreicht. Denn dann würden dieAntwortgebenden einen offenen Raum betreten, innerhalb dessensie aus der Kritik heraus eine gemeinsame Erkenntnis gewinnenkönnten. Und aus dieser Erkenntnis könnte Veränderung resultieren,wenn neu gewonnenes Bewusstsein in Handeln umgesetzt würde.

Die Konjunktive verdeutlichen eines: Es gibt keine Gewissheit,das Richtige zu tun. Passivität jedoch erscheint als das einzig wirk-lich Falsche.

Parallelgesellschaft ParlamentarismusDas funktionsfähige und vitale System des Parlamentarismus wirftpermanent Fragen nach seiner Effizienz auf. Warum entscheiden diedemokratisch legitimierten Volksvertreter gegen die Mehrheitsmei-nung des von ihnen repräsentierten Volkes? Wie kürzlich wieder ge-schehen bei den Beschlüssen des Bundestages zur Ausweitung derLebensarbeitszeit (Rente mit 67) und zum Einsatz der Tornado-Flug-zeuge in Afghanistan. Irrig, fast schon irrsinnig erscheint die Ent-scheidung für die Rente mit 67 angesichts der hohen Altersarbeits-losigkeit und der hohen Arbeitslosigkeit allgemein. Und nein,natürlich ist der Einsatz der Tornados kein Kampfeinsatz, denn beider Bundeswehr handelt es sich lediglich um eine friedensschaf-fende Armee, die den Aufbau ziviler Strukturen im umkämpften Sü-

Martin Schirdewan – Jg. 1975, Diplom-Politik-wissenschaftler, seit 2001Redakteur bei UTOPIEkreativ; zuletzt: ZwischenMacht und Anarchie, Heft150 (April 2003)

UTOPIE kreativ, H. 200 (Juni 2007), S. 497-504

MARTIN SCHIRDEWAN

Vorwärts in die Gegenwart

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den Afghanistans vorantreibt. Im Interesse der afghanischen und,wie man seit Peter Struck weiß, auch der deutschen Bevölkerung.

Die Kette solcher Beispiele ließe sich über etliche Seiten fortset-zen. Nur lohnt es nicht. Denn die aufgeworfenen Fragen sind einfachzu beantworten. Der Dialektik verbunden, hier aus verschiedenenPerspektiven. Der Großkoalitionär behauptet sicherlich, er handelein übergeordnetem Interesse, das sich der Kenntnis des Individuumsentziehe. Dieses werde jedoch zukünftig davon profitieren und dannanerkennen, dass die paternalistisch-benevolente Entscheidung dierichtige gewesen sei. Und entmündigt damit den Bürger, der sich inseinem unmittelbaren Interesse nicht vertreten sieht. Die Oppositionkritisiert die Entscheidung und argumentiert bestenfalls mit den In-teressen des Bürgers. Jedoch kann sie diese gegen die Koalitionnicht durchsetzen.

Soweit zur Funktionsfähigkeit des politischen Systems. Es wirkt.Schmerzhaft, ineffizient, undurchsichtig und unverständlich. Aber eswirkt. Die Konjunktur zieht nach offizieller Lesart an, die Arbeitslo-senquoten sinken, das Paradies liegt bereits in Griffweite. Nur dieje-nigen Millionen, die von der robusten konjunkturellen Entwicklungnicht profitieren können, die aus der Arbeitslosigkeit in eine Arbeits-beschaffungsmaßnahme überantwortet werden, die täglich ihre De-klassierung durch Ein-Euro-Jobs erleiden müssen, haben keine Be-rechtigung zur Teilhabe am Paradies.

Es ist kein Geheimnis, dass sich auch die Linke am Parlamenta-rismus beteiligt. Sie tut es völlig zu Recht. Sie ringt um gesellschaft-liche Mehr- und Minderheiten und bietet manchmal sogar politischeAlternativen an. Und krankt als chronische gesellschaftliche Oppo-sition – sieht man von den aktuellen und gewesenen Beteiligungenan Landesregierungen ab – an den gleichen Symptomen der Ineffi-zienz, wie ihre politischen Gegner.

In der Konsequenz bedeutet das: Auch die Linke kann mit Hilfeihrer parlamentarischen Tätigkeit die sozial Deklassierten nicht inte-grieren.

Das Paradoxon sticht ins Auge. Trotz des Funktionierens des par-lamentarischen Systems sind die darin organisierten Parteien kaummehr zu einer realen Interessenvertretung großer Teile der von ihnenrepräsentierten Bürgerschaft in der Lage. Der Teil der Gesellschaft,dem nicht das statistische Paradies winkt – und dieser nimmt nichtab, sondern zu –, bleibt zurück und bildet eine Parallelgesellschaftheraus, deren Funktionalismen, normative und sprachliche Codie-rungen von der politischen Klasse nicht mehr erfasst und reflektiertwerden. Somit wird der Parlamentarismus selbst zu einer Parallelge-sellschaft, deren Wirken in weiten Teilen an den Bedürfnissen dervon sozialer, kultureller und ökonomischer Teilhabe ausgeschlosse-nen Menschen vorbeigeht.

Vorsicht! Die vorhergehenden Bemerkungen sind Pauschalierun-gen, zugleich Zuspitzungen, Antwortversuche. Keine endgültigenWahrheiten. Können erwähnte Ineffizienzen aufgehoben werden?Ganz leicht sogar, möchte man meinen, indem sich die inhaltlicheAusrichtung der Politik verändert. Und an diesem Punkt darf jederwieder sein eigenes Süppchen kochen.

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Rückzug des Staates und der GesellschaftWenig schmackhaft jedoch erwiesen sich die politischen Zutaten derjüngeren Vergangenheit. Arbeitsmarkt- und Sozialreform, Gesund-heitsreform, Steuerreform, Haushaltskonsolidierung etc. taten dasihrige, das Image des fürsorgenden Staates in ein Image des libera-lisierten Staates zu wandeln. Der Staat und sein Apparat als Nutz-nießer der Gesellschaft ziehen sich aus ihrer gesellschaftlichen Ver-antwortung zurück. Auf der einen Seite steigen die Lasten für dieBürger, andererseits werden trotz dieser Mehreinnahmen an Steuer-geldern die Mittel für gemeinnützige, soziale, kulturelle, politischeEinrichtungen gekürzt. Der Rückzug des Staates aus seiner regiona-len Verantwortung wird erklärt mit den alternativlosen Sachzwängender Globalisierung. Die Argumentation ist entlarvend: Wer Politi-ken, die unter internationalem ökonomischen Diktat entstehen, alsalternativlos bezeichnet, erklärt sich selbst für überflüssig. Die Ge-sellschaft braucht keine Politiker, die Sachverwalter ökonomischerInteressen sind. Die Gesellschaft benötigt Politiker, die kreativ undinnovativ den Herausforderungen einer sich permanent im Wandelund der Entwicklung befindlichen Gesellschaft begegnen und nachLösungen suchen. Antworten auf Fragen geben, aus ihrer jeweiligenparteipolitischen Perspektive und damit ein Spektrum an Problemlö-sungsmöglichkeiten aufzeigen. Um die bessere Lösung kann dann inder Öffentlichkeit, mit Hilfe der Medien, gestritten werden. Soweitzur Theorie. Die Praxis ist die des Rückzuges. Wobei der Rückzugdes Staates aus seiner gesellschaftlichen Verantwortung einen weite-ren Rückzug bedingt, nämlich den der Gesellschaft von sich selbst.Die Gesellschaft, die sich bekanntlich aus ihren einzelnen Mitglie-dern, Individuen, Vereinen, Initiativen etc. zusammensetzt, leidetunter der Preisgabe des öffentlichen Interesses durch den Staat. Dort,wo der Rückzug mit Kürzungen einhergeht, kann die Gesellschaftselbst nicht mehr funktionieren und zieht sich somit zwangsläufigvon sich selbst zurück. Die Zurückweisung der eigenen sozialenVerantwortung durch den Staat bedingt also einen doppelten Rück-zug. Mit fatalen Folgen. Dort, wo sich niemand mehr engagierenkann, tritt ein Zustand der Brache ein. Diese Brachlandschaften um-fassen die verschiedensten sozialen Bereiche. Davon betroffen sindz. B. politische Initiativen, Jugend- und Kinderhäuser, -clubs, kultu-relle Einrichtungen, Sportvereine. Die Reihe ließe sich fortsetzenund jedem fiele etwas ein.

Die Brachlandschaften wieder zum Blühen bringen, erinnert sei anden Doktor aus Oggersheim, muss Aufgabe politischer Bewegungenund Parteien sein. Die Parteien kranken an ihrem Paralleluniversum,dem Vorbei-Agieren an breiten Schichten der Bevölkerung. SozialeBewegungen haben es da leichter, in den öffentlichen Raum, sei ernoch gesellschaftlich organisiert oder schon Brachlandschaft, hinein-zukommen. Eine solche Bewegung kann gleichzeitig parteiförmig or-ganisiert sein. Wesentlich ist ihr jedoch, dass sie eine Ansprache an dieBevölkerung außerhalb des Parlaments finden kann, indem sie einThema aufgreift, das keinen Platz in der Parallelgesellschaft Parla-ment einnehmen kann oder aber sozusagen auf der Straße liegt.

In den Brachen selbst entwickelt sich neues, anderes soziales Le-ben. Ein soziales Leben in der permanenten Improvisation. Das mag

»Konformismus hat es stetsgegeben: Heute handelt essich um eine Auseinander-setzung zwischen ›zweiKonformismen‹, das heißtum einen Kampf um dieHegemonie, um eine Kriseder bürgerlichen Gesell-schaft. Die alten geistig-moralischen Führer derGesellschaft spüren, wieihnen der Boden unter denFüßen schwindet, sie mer-ken, dass ihre ›Predigten‹halt zu bloßen ›Predigten‹geworden sind, das heißtzu wirklichkeitsfremdenDingen, reiner Form ohneInhalt, Hülle ohne Geist;daher ihre Verzweiflung undihre reaktionären und kon-servativen Tendenzen: Dadie besondere Form vonZivilisation, Kultur, Moral,die sie repräsentiert haben,zerfällt, erklären sie lauthalsden Tod jeglicher Zivilisa-tion, Kultur, Moral und ver-langen vom Staat repressiveMaßnahmen oder schließensich zu vom realenGeschichtsprozess abge-sonderten Abwehrgruppenzusammen und verlängernso die Krise, denn derUntergang einer Lebens-und Denkweise kann sichniemals ohne Krise vollzie-hen.« Antonio Gramsci:Der Mensch als Individuumund der Massenmensch, in: Ders.: Gedanken zur Kultur, Reclam, Leipzig1987, S. 39.

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auf den ersten Blick romantisch erscheinen, hat jedoch mit derBlauen Blume rein gar nichts zu tun, sondern ist eher von Depriva-tion und Perspektivlosigkeit gekennzeichnet. In dieser SituationHilfestellung zu geben, darin liegt dann die Stärke einer politischenBewegung bzw. Organisation, die bewusst in die Brache hineinagiert, in bewusster Abkehr von der reinen parlamentarischen Lehre.Die Stärke einer solchen Bewegung besteht darin, sich die oben be-schriebene Parallelität zu Nutze zu machen und sich mehr oder we-niger stark auf beiden Standbeinen bewegen zu können.

Wer kann ein Träger von Veränderung sein in Zeiten des Postfor-dismus? Der ökonomischen Abwicklung breiter Landstriche in Ost-deutschland mit Entvölkerungs- und Niedergangsszenarien? DerDeindustrialisierung des Ruhrgebietes? Wer bietet seine Hilfe an? Ge-genwärtig gibt es in Deutschland nur eine politische Bewegung, diediesen Weg bewusst geht: Die extreme Rechte, formiert um die NPD.

Konzeptionelle Orientierung der Linken im öffentlichen RaumDie parteiförmig organisierte Linke in den neuen Ländern verstandsich traditionell als Anwalt der kleinen Leute. Aber eben nicht nur,sondern gleichzeitig wies ihr Selbstverständnis in Richtung einerVolkspartei, die auf Augenhöhe, gemessen an Wählerstimmen undProzenten, mit den anderen beiden Volksparteien SPD und CDUagiert. Dem Volksparteienkonzept liegt die Vertretung mannigfalti-ger Interessen verschiedenster, wenn möglich aller Milieus, zu-grunde. Eine Volkspartei muss, um Volkspartei sein zu können, inder Lage sein, einen permanenten inhaltlichen Spagat zu vollführen.

Der Linkspartei, vormals PDS, jetzt auf dem Weg zur gesamtdeut-schen Linken, gelang dies für einige Jahre mehr recht als schlecht.Doch in den zurückliegenden Jahren machen sich mehrere Trendsbemerkbar, die zu einem strukturellen Problem der Linken, gerade inden neuen Ländern, geführt haben.

Zum einen sieht auch sie sich mit dem Rückzug des Staates undder Gesellschaft konfrontiert und hat ebenso wenig wie ihre politi-schen Kontrahenten adäquate, in diesem Falle integrierende Ant-worten geben können. Die sich ausbreitende Abwesenheit vonArbeit, Sozialem und Kultur in breiten Regionen wie z. B. Vorpom-mern oder der Prignitz und anderen führt häufig zu einem Rückgangdes politischen Interesses der Betroffenen. Sie sind für die etablier-ten Parteien, die jede für sich und in ihren durchaus unterschiedli-chen Rollen alle die bestehende Parallelwelt Parlamentarismus re-präsentieren, nicht mehr ansprechbar. Die Lebenswelt der Menschenunterliegt einem so rapiden Wandel, den die Parteien als Organisa-tionen – auch in ihrer Sprache – nicht vergegenwärtigen können.Zum anderen leidet die Linkspartei am bekannten Überalterungs-phänomen, d.h. ihre Mitgliedschaft kann aufgrund biologischer Pro-zesse nicht die Präsenz in der Fläche, in den Vereinen, Initiativen etc.zeigen, die sie in den zurückliegenden Jahren gezeigt hat. Die Linkeverliert an organisatorischer Schlagkraft.

Als These ließe sich formulieren, dass der Rückzug des Staates ne-ben dem zusätzlichen Rückzug der Gesellschaft von sich selbst aucheine Schwächung der Parteien, der wesentlichen politischen Trägerdes Staates, und damit des Staates selbst bedeutet.

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Die gesellschaftliche Brache nicht anwachsen zu lassen oder gar sie an-deren politischen Bewegungen wie den Rechtsextremen zu überlassen,wird eine der originären zukünftigen Aufgaben der Linken sein.

Doch wie? Ist die Linke in der Lage, neben dem klassischen – undexistenziellen – parlamentarischen Konzept ein gesellschaftlichesPolitikmodell zu entwickeln, das die Menschen dort trifft, wo diesesich befinden? Kann die Linke sich aus dem bequemen Parlaments-sessel erheben und auf die Straße, ins Einkaufszentrum, in die Hartz-IV-Beratungsstelle, ins Arbeitsamt, auf den Sportplatz, in die Ju-gendclubs, auf die Bürgerfeste, in die Freiwillige Feuerwehr gehen?Sie tut es. Doch momentan tun andere es – zumindest scheinbar – er-folgreicher. Warum? Wird die Linke nicht gehört, weil sie nichts zusagen hat? Gilt sie als zu etabliert? Mehrere Gründe fallen sofort insAuge. Ihre Jugendlosigkeit, die gesellschaftliche Entwicklung, alldas, was schon benannt wurde. Die Altersstruktur lässt sich nurdurch junge Mitglieder verändern. Wie wird man attraktiv für Jün-gere? Indem man ihre Sprache spricht, sie versteht, ihre Interessenteilt. Doch wer hat das begriffen und setzt es vor allem auch in dieTat um? Die Antwort erübrigt sich. Die gesellschaftliche Entwick-lung hat sich nicht ohne die Linke vollzogen, ob in der Regierungoder der Opposition, ist es ihr aber bisher nicht gelungen, den Ent-wicklungen eine andere Richtung zu schenken.

Damit stellt sich die konzeptionelle Frage.

Strategische EntscheidungenZunächst: Wer ist Adressat einer linken Politik? Die Antwort fälltleicht: Alle. Die Linke kann sich nicht gegen die Gesellschaft ab-schotten, sie muss die Gesellschaft widerspiegeln, die Interessen derMenschen aufgreifen und vertreten. In den verschiedensten Arenenund Parallelwelten. In einem urbanen Raum sieht man sich somit mitganz anderen inhaltlichen Herausforderungen konfrontiert als imländlichen Raum. Die konkrete Ausgestaltung linker Politik kannnur vor Ort erfolgen, ein Patentrezept gibt es nicht. Jedoch muss siein einen reflexiven, kritischen Prozess eintreten und ihre Politik undvor allem die Ziele ihrer Politik ständig hinterfragen und überprüfen.Ziele zu hinterfragen bedeutet, sich in seinen Konzepten und Strate-gien zu hinterfragen. Keine Mantren, Dogmen, ideologischen Ver-kürzungen, Beharrungen auf unabänderlicher Alternativlosigkeit zuder eigenen – zumeist parlamentarisch geprägten – Politik.

Die Gefahr der Beharrung auf einer einmal bezogenen Positionlässt das Dogma wachsen, zum Schutze des Dogmas errichtet mansich ein eigenes ideologisches Gebäude. Der Vorteil besteht darin,dass man sich innerhalb dieses Gedankengebäudes alles erklärenkann. Es funktioniert, und die anderen haben immer Unrecht. Doch:Selbst wenn es stimmen sollte, dass die Positionen der anderen, wieaus der in sich geschlossenen Erklärungswelt heraus vermutet, un-zutreffend sind, müssen die eigenen nicht zutreffend sein.

Für die eigenen Positionen und Angebote bedeutet dies, aus einerUnsicherheit heraus zu argumentieren und überzeugen zu wollen.Den öffentlichen Raum mit Angeboten zu betreten, deren Funktio-nalität noch nicht bewiesen ist. Und noch nicht bewiesen werdenkonnte, denn es handelt sich zugleich um einen gegenwärtigen und

»Daß eine große Umschich-tung im Politischen in derLuft liegt, ahnen viele; daßein Hegemoniekonzepterarbeitet werden muß, dasnicht auf eine ›auserwählteKlasse‹ zielt, sondern jenenMenschen ein Angebot zumHandeln macht, die nichtlänger gewillt sind, sichunter den Schlägen einesdogmatischen Liberalismuszu ducken, ahnen ebenfallsviele; daß dafür ein Denken›ohne Geländer‹ (HannahArendt) vonnöten sein wird, ahnen die meisten – fürchten sich aber möglicherweise davor.« Jörn Schütrumpf: Denkenohne Geländer. Die Linke ander Schwelle zur Mündig-keit?, in: UTOPIE kreativ,Heft 179 (September 2005).

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einen antizipativen Prozess. Gegenwärtig, da das Angebot aus derwahrgenommenen Realität heraus und in diese hinein kommuniziertwerden muss, antizipativ, da das Angebot über diese Realität hinaus-weisen und eine andere – bessere, ästhetischere, ökologischere, soli-darischere, freiere, friedlichere, sozialistischere etc. – Realität auf-zeigen muss.

Ein lebendiges Konzept des Versuches, des Mutes zu Trial and Er-ror unter Beteiligung der Adressaten, der Menschen, Bürger, der Ge-sellschaft. Ein Konzept also, das aus den vermeintlich funktionie-renden Fehlfunktionalismen ausbricht und darüber hinausweist. EinKonzept, das Parlament und Gesellschaft, ganz wichtig, auch de-klassierte Gesellschaft, miteinander versöhnt.

Um die abstrakten Gedanken zu konkretisieren: Auf Deutschlandbezogen haben wir eine sozio-ökonomische Entwicklung, die vielerAngebote bedarf. Gerade in den neuen Bundesländern, in denen dieLohnstruktur, die Rentenstruktur sich gravierend unterscheidet vonden Niveaus der alten Länder, womit nicht nur die Binnennachfragemerklich gebremst wird, sondern die gesellschaftliche Teilhabe umein Vielfaches erschwert wird. In den neuen Ländern sind lediglichsieben Prozent der betrieblichen Forschung beheimatet, womit einselbst tragender Aufschwung sich nicht abzeichnen kann, da Inno-vation im verlängerten Werkbankprozess keine Rolle spielt. Politi-sche, gesellschaftliche und sozio-ökonomische Brache also. An diebeschriebenen Szenarien gekoppelt. Mit der entsprechenden Anfäl-ligkeit für diejenigen mit den zu einfachen Lösungen.

Die Linke läuft in den Auseinandersetzungen mit den gesell-schaftlichen Entwicklungen und der politischen Bewegung desRechtsextremismus (gerade in den neuen Ländern) oft Gefahr, sichin abstrakten Programmdebatten zu verlieren. Na klar, man mussargumentativ aufgestellt sein. In der Diskussion mit den von sozia-ler Exklusion Betroffenen nützt das schönste Programmzitat jedoch:rein gar nichts. Die Frage, die diese stellen, lautet schlicht und ein-fach: Was kannst Du heute für mich tun?

Die zentrale Frage für Politik im Allgemeinen und linke Politik imBesonderen ist demnach keine originär politische. Sie kommt daherals lebensalltäglich. Sie trägt viele Bestandteile in sich. Sozio-öko-nomische, kulturelle, politische. Sie ist, da sich Gesellschaft be-kanntlich aus jedem Einzelnen konstituiert, eine gesellschaftlicheFragestellung. Und die Antwort darauf kann nur gesellschaftlich ver-standen und gegeben werden. Von Angesicht zu Angesicht. Politikwird dann mit den sie flankierenden vielfältigen Angeboten zu einemRingen um die gesellschaftliche Hegemonie, die sich in der Mei-nungsführerschaft ausdrückt.

»Der Einstieg in einen Kampf um politisch-kulturelle Hegemonieist in der Vergangenheit immer dann gelungen, wenn ein gesell-schaftliches Tabu gebrochen wurde – am Ausgang des 18. Jahrhun-derts war das die angebliche Gottgewolltheit feudaler Ausbeutungund Herrschaft, im 19. Jahrhundert ging es um die viehische Aus-beutung von Frauen und Kindern, in den sechziger Jahren war es inder Bundesrepublik der verdrängte Nationalsozialismus. Heute heißtdas Tabu Angst. Die Frage ist nicht, ob dieses Tabu gebrochen wer-den wird, sondern wer es brechen wird.«

Jörn Schütrumpf: Deutsch-land verändert sich zurKenntlichkeit. VierThesen, in: UTOPIE kreativ,Heft 185 (März 2006).

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Wie? Indem man die Angst benennt. Und ihr Linderung verschafft.Der Weg: Die Lebenssituation der Menschen verbessern. Ein mögli-cher erster Schritt: Bürgerschaftliches Engagement im Sinne einersolidarischen Kultur. Ein zweiter Schritt: Ein kulturelles Angebot imSinne gesellschaftlicher Teilhabe. Ein dritter Schritt: Den Menschenden Glauben an die eigene Kraft zur Veränderung schenken. Nur zuspät sollte man dabei nicht sein. Sonst bestraft das Leben die Partei.

Linke Öffentlichkeitsarbeit und GegenkulturWesentliche Bedeutung – womit die Frage der politischen Taktikaufgeworfen ist – in der Auseinandersetzung um kulturelle Hege-monie kommt der Öffentlichkeitsarbeit zu.

Ziel von Gegenöffentlichkeit: die kulturelle Mehrheit in der Ge-sellschaft zu erreichen, um mittel- und langfristig politische Interes-sen durchsetzen zu können. Denn über die kulturelle Mehrheit imSinne der oben dargestellten Elemente von Kultur sind politischeMehrheiten in der Gesellschaft zu erringen.

Das erfordert ein direktes Zuwenden zur Gesellschaft, eine Her-ausbewegung aus dem rein Parlamentarischen, hinein in die entste-henden Brachen.

Wie verhält es sich um den Zustand der Kultur in der Gesell-schaft? Wie verhält sich die Linke zur Kultur? Staat und Gesellschaftziehen sich aus ihrer kulturellen Pflicht zurück. Damit erwächst eineneue Aufgabe in der Zeit angesichts wachsender Kulturlosigkeit unddamit einhergehender kultureller Verwahrlosung: Bewusstseinsbil-dung durch Kultur. Der kulturelle Prozess der Bewusstseinsbildungsollte dabei zwei Formen annehmen: Eine äußere Impulssetzung undeine innere Reflexion.

Die äußere Impulssetzung erfolgt durch Kommunikation über Me-dien. Schön wäre die Welt, die Massenmedien agierten in linkemInteresse. Aber das ist nicht der Fall. Das Interessante an den Mas-senmedien ist – neben der gewaltigen Machtkonzentration in denHänden Weniger – der allgemeine Prozess von Meinungsbildung,vom Agendasetting, also der Wahl der Themen; dass die hochideo-logisierte Meinungsmaschinerie in Permanenz Schlagworte wieder-käut, die im besten Orwellschen Neusprech ihres ursprünglichenSinnes beraubt sind. Schlagworte wie Freiheit, Demokratie, selbstFrieden bedeutet nicht mehr das Schweigen der Waffen, Friedenschaffen kann heutzutage auch den Einsatz von Waffen bedeuten.Hinzu treten Scheinargumente, in Leerlaufformeln wie globalerWettbewerb, Sachzwang, Alternativlosigkeit, Standortkonkurrenz.Und diese Meinungsmaschinerie nimmt für sich selbst absolute Ob-jektivität in Anspruch. Auf der Basis jeglicher Ideologieferne, ver-steht sich.

Daraus resultiert für die Linke die Frage, wie sie äußere Impulsesetzen kann angesichts eines Mainstream-Journalismus, eines indogmatisch-ideologischen Formeln agierenden Bildungsmusters öf-fentlicher Meinung? Wobei als These formuliert sei, dass der mei-nungsmediale Mainstream eine integrative Wirkung erzielt, diese je-doch bei sozial Deklassierten schwächer ausgeprägt ist. Das liegtdaran, dass der Mainstream integrativ in der Normsetzung ist, dieNormen jedoch häufig – man denke an die Hetzkampagnen gegen

Vgl. Jörn Schütrumpf:Denken ohne Geländer.Die Linke an der Schwellezur Mündigkeit?, in:UTOPIE kreativ, Heft 179(September 2005).

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Arbeitslose und Hartz-IV-Empfänger – zu Lasten ganzer gesell-schaftlicher Milieus gehen. Und somit segregierend wirken. Diestaatliche und gesellschaftliche Brache wird massenmedial reprodu-ziert.

Eine gekonnte Ansprache erfasst die Medien und Codes, die einentatsächlichen Bezug zum Leben der Menschen haben. Mit denen sieselbst kommunizieren. Träger von Botschaften können neben klassi-schen Medien wie Fernsehen, Radio, Zeitung auch Mode, Musik,Kulturveranstaltungen sein und sind es. Um die Menschen zu ver-stehen, muss Kenntnis über die Bedeutung der Dinge und Begriffevorherrschen, die den gemeinsamen Lebensalltag prägen. Und seidas Milieu noch so unterschiedlich. Nur über die Gemeinsamkeitgelingt die Kommunikation. Wo also steht der Empfänger einer Bot-schaft? Welche Sprache spricht dieser? Wo also steht der Sendereiner Botschaft? Welche Sprache spricht jener? Kann ein gegensei-tiges Verständnis überhaupt zu Stande kommen? Fragen, die um diekulturelle Hegemonie zu erreichen, unabdingbar zu beantwortensind. Denn die eigentliche Bedeutung der Kultur liegt darin, dass sie,sobald sie in den öffentlichen Raum, die Gesellschaft und die ge-sellschaftliche Brache transportiert wird, in Politik übersetzt wird.

Davor schützt keine noch so dichte Hecke, kein noch so schönesHäuschen. Sobald Normen transportiert werden, werden sie ange-nommen, abgelehnt, ignoriert. In irgendeiner Form jedoch geht manzwangsläufig mit ihnen um. Und je näher der Normenvermittelndeam Rezipienten und dessen Lebenssituation dran ist, desto glaubhaf-ter erscheinen die zu vermittelnden Normen. Und desto leichter wer-den diese adaptiert. Womit die zweite und wichtigere Form der Be-wusstseinsbildung durch Kultur erreicht ist. Die Phase der innerenReflexion. Je mehr Adressaten der eigenen Politik sich in diesePhase hineinbegeben, weil die ihnen unterbreiteten Angebote sieüberzeugen, desto leichter fällt es dann der jeweiligen politischenBewegung bzw. Partei, den Kampf um die kulturelle Hegemonie fürsich zu entscheiden.

Dieser Prozess findet bereits statt. In den Brachen, aus denen sichaus den verschiedenen Gründen auch die Linke zurückgezogen hat,werden bereits neue Normen vermittelt. Wenn die Linke nicht baldreagiert und die entsozialisierten Räume mit ihren Angeboten rekul-tiviert, wird so manches Häuschen im Grünen eingerissen werden.

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Im folgenden werden zwei Beiträge vom November und Dezember1990 wiedergegeben, die im Rahmen der Initiativbewegung für dieErneuerung der damaligen PDS1 entstanden waren. Die tragendeIdee war: Partei und Bewegung/Partei in Bewegung werden ...

(I) PDS – Partei und Bewegung. Zu Politik- und Parteiverständnisin der UmbruchzeitPolitik ist werteorientierte Interessenvertretung von Bürgern ge-genüber dem Staat und – weiter gefasst – von Bevölkerungsteilengegenüber verschiedenen gesellschaftlichen Kräften (z. B. der Arbeit-nehmer gegenüber Unternehmerverbänden oder umgekehrt). Siewill Entscheidungen im Staat – und darüber hinaus in verschiedenengesellschaftlichen Bereichen wie Wirtschaft, Medien, Kultur, Bil-dung u. a. –, jeweils von bestimmten Werten ausgehend, in einer be-stimmten Richtung beeinflussen. Sie wird heute in einer Welt betrie-ben, die von Umbrüchen verschiedener Art und besonders davongekennzeichnet ist, dass (neue) globale Menschheitsprobleme und,damit verbunden, gesamtgesellschaftliche Interessen sich eng mit(alten) sozialen Widersprüchen verflechten. Bei der Politik geht esheute also zum einen um Menschheitsinteressen sowie um Interes-sen der jeweiligen nationalen Gesellschaft als Ganzes, deren umfas-sendste Organisationsform heute der Staat ist. Insofern geht es umVermittlung der Interessen zwischen »der Gesellschaft« und »demStaat«. (Bis hierhin stimmt dieses Politikverständnis mit dem sozial-demokratischen, wie es z. B. im Berliner Grundsatzprogramm derSPD umschrieben wird, weitgehend überein.) Aber weder diemenschliche Weltgemeinschaft noch die jeweiligen nationalen Ge-sellschaften sind einheitlich hinsichtlich der Interessenlagen; siesind, im Gegenteil, interessengespalten. Deshalb geht es bei derPolitik zum anderen um Interessen bestimmter Klassen, Schichten,Gruppen der Bevölkerung gegenüber anderen. Und sie kann dabei,ob eingestanden oder nicht, von den gegebenen Macht- undKräfteverhältnissen – das lehren Geschichte und Gegenwart glei-chermaßen – nicht abstrahieren, im Besonderen nicht von den öko-nomischen Machtverhältnissen, die die alten Gegensätze prägen.(Diesen Punkt übergeht das o. g. sozialdemokratische Politikver-ständnis, oder es benennt ihn nicht eindeutig.)

Die PDS lässt sich – das ist ihre Wertorientierung – vom sozia-listischen Ideal leiten, dessen Inhalt in Richtung des gesellschaft-

Ulla Plener – Dr. sc. phil.,Historikerin in Berlin.Arbeiten zur Geschichteder Sozialdemokratie sowiebiographische Forschungen,Mitglied der Leibniz-Sozietät; Redakteurin vonUTOPIE kreativ, darin zu-letzt: Wirtschaftsdemokratiein der Programmdiskussionder neuen Linken, Heft 195(Januar 2007).

1 Siehe Jörn Schütrumpf:Gründerkrach. Dokumentezur Entstehung der PDS, in:UTOPIE kreativ, Heft 112(Februar 2000).

UTOPIE kreativ, H. 200 (Juni 2007), S. 505-512 505

ULLA PLENER

Für eine neue Partei.Hoffnungen und Illusionen 1990

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lichen Fortschritts weist: Es ist das Ideal einer Gesellschaft, die hu-man und friedlich, naturverträglich und sozial gerecht ist, in der sichjeder Mensch und alle Völker frei entfalten können. Sinn ihrer Poli-tik ist es, diesem Ideal schrittweise näher zu kommen. Die Parteiversteht sich deshalb als eine – unter vielen anderen – Vertreterinvon Menschheitsinteressen. Das sind Frieden, Umweltschutz, Ge-schlechter- und Völkergleichstellung, Überwindung von Unter-entwicklung, Unterdrückung und Ausbeutung. Sie wirkt dafür imRahmen ihrer nationalen, von verschiedener Art Spaltung und Kon-frontationen geprägten Gesellschaft. Deshalb will sie in besondershohem Maße Interessenvertreterin der lohnarbeitenden Bürger, dasheißt der Arbeitnehmer, und darüber hinaus auch anderer Werktäti-ger gegenüber dem Profitinteresse des Kapitals sein, sofern es zumSchaden der Menschheitsanliegen und dieser Bevölkerungsteile ver-fochten wird.

Bisher wurde die Interessenvertretung in den Ländern des realen,zentralistisch-bürokratischen Sozialismus auf die »führende Rolle«einer Partei reduziert, was schließlich zur Entartung aller demokra-tischen Anliegen führte. In kapitalistischen Gesellschaften wurde (undwird noch) die Interessenvertretung der Bürger ausschließlich vonParteien über Parlamente wahrgenommen (das parlamentarische Sys-tem ist repräsentative Demokratie, Parteiendemokratie). Dieses politi-sche System ist das heute bestimmende, das verfassungsmäßig legiti-mierte. Es orientiert die Parteien auf politischen Machtkampf, bei demInteressen der Bürger oft unter die Räder geraten. Und: Es berücksich-tigt nicht die aufgrund objektiver Prozesse der modernen Produktiv-kraftentwicklung entstandenen neuen Persönlichkeitsansprüche, dieu. a. nach neuen und weitergehenden Formen der Interessenartikula-tion – neben den und über die Parteien hinaus – drängen. Das sindverschiedene Formen der unmittelbaren Interessenvertretung von Bür-gern in- und außerhalb der Parlamente. Die PDS will diese unmittel-bare Interessenvertretung mit realisieren helfen. Daraus ergeben sichneue Anforderungen an das Parteiverständnis.

Diese neuen Anforderungen stoßen an eine grundlegende Schwie-rigkeit unserer Zeit, die sich aus der Umbruchsituation ergibt: Es isteine Übergangszeit. Zwei für unser Thema entscheidende Aspekteihres Übergangscharakters seien genannt:

Erstens: Die Gesellschaft ist immer noch vom Profitstreben domi-niert, aber die globalen Probleme machen schon seine existenzge-fährdenden Grenzen deutlich. Die Gefahren der vom Profitstrebenausgehenden Konfrontation – in globalem und in nationalem Rah-men – sind schon erkannt, aber es fehlen noch wirksame Instrumen-tarien, um sie zu bannen.

Zweitens: Der Parlamentarismus – die »repräsentative Demokra-tie« – ist noch die bestimmende Form der politischen Organisationder Gesellschaft (und bleibt es offensichtlich in absehbarer Zeit).Aber er ist schon nicht mehr ausreichend, um die Vielfalt der Inte-ressen adäquat widerzuspiegeln und das erforderliche Mehr an un-mittelbarer demokratischer Einflussnahme aller Betroffenen auf Ent-scheidungen in Staat und Wirtschaft zu verwirklichen.

Daraus ergeben sich die hauptsächlichen Inhalte für die Politik.Unter den gegebenen Umständen müssten es vor allem konkrete

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Beiträge zur Demokratisierung des Staates (in der »Drei-« bzw.heute »Vierteilung« der Gewalten: Parlamente, Regierung/Verwal-tung, Justiz, Medien) und der gesellschaftlichen Bereiche, vor allemder Wirtschaft, sein. Konkret wären es heute z. B.:

– in der Verfassungsdiskussion für die Aufnahme sozialer Rechteals Grundrechte (einschließlich Umweltproblematik, Frauen- undAusländergleichstellung, Verpflichtungen gegenüber der DrittenWelt), für den Zugang von Bürgerbewegungen u. a. demokratischenKräften, z. B. Gewerkschaften, zu Parlamenten, ihre Vorschlags- undKontrollrechte einzutreten;

– die Demokratisierung der Verfügungsgewalt über das Eigentuman Produktionsmitteln als einen Hebel der Ein- bzw. Unterordnungdes Profitstrebens in/unter gesellschaftliche und Menschheitsinteres-sen einfordern (ohne es abschaffen zu wollen, solange der Mensch-heit kein anderes Prinzip für eine effektive Wirtschaft bekannt ist);in diesem Sinne wären z. B. konkrete Vorschläge zu kommunalem,Länder-, Bundes- oder auch Belegschaftseigentum zu unterbreiten,ist für die Erweiterung der Rechte der Gewerkschaften und Betriebs-räte einzutreten.

Für das Parteiverständnis ergibt sich aus den o. g. zwei Aspekten:Die Partei kann nicht, darf nicht Selbstzweck, »für sich selbst« dasein. Sie muss die Menschen – vor allem die Werktätigen – bewe-gende Inhalte vertreten.

Die Politik der Partei muss noch über Parlamente vermittelt wer-den. Die Partei muss also um Parlamentssitze ringen. Da das parla-mentarische System hierarchisch gegliedert ist (Kommunen, Kreise,Länder, Bund) und über Wahlkämpfe »funktioniert«, muss sie wohleine Partei im herkömmlichen Sinne – eine Organisation mit ent-sprechenden hierarchischen Strukturen – sein und folglich einenhauptamtlichen Apparat haben. Dieser birgt aber immer bürokrati-sche Tendenzen, d. h. die Gefahr der Entfremdung gegenüber denMitgliedern und den eigentlichen Anliegen der Partei, in sich.

Jedoch kann sich Politik nicht mehr nur auf parlamentarischesWirken reduzieren, und die Partei darf deshalb nicht eine Partei al-ter Art – allein auf Wahl- und damit Machtkämpfe ausgerichtet (wiez. B. die SPD und die anderen großen Parteien) – sein. Sie mussparlamentarische und außerparlamentarische Tätigkeit eng verzah-nen. Als Partei kann sie nicht nur Mittler zwischen Staat und Ge-sellschaft sein, nicht nur – wie die SPD es will – Initiativen aus demBürgerdialog für die eigene parlamentarische, staatliche Arbeitschöpfen. Sie muss auch außerhalb der Parlamente zum einen selbstaktiv an Bürgerbewegungen und -initiativen teilnehmen, in den Ge-werkschaften konstruktiv mitarbeiten, also Teil der gesellschaftli-chen und der Bürgerbewegungen sein. Sie sollte zum anderen fürdiese Bewegungen streiten, dafür, dass ihnen bei staatlichen Ent-scheidungen – in- und außerhalb der Parlamente – Sitz und Stimmeeingeräumt werden. Und sie müsste drittens selbst Bewegung sein,d. h.: die Menschen bewegende Inhalte vertreten und sich selbstständig bewegen, nicht zuletzt auch, um den Gefahren der innerenVerkrustung als Partei zu begegnen. Wie ist das zu schaffen? Hierstehen wir vor offenen Fragen: Wie die Politik der Partei von untenbestimmen? Wie die hierarchischen Strukturen, besonders den

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hauptamtlichen Apparat, beweglich, durchschaubar, offen gestalten?Wie ihn ständig erneuern, sowohl personell als auch die Inhalte undFormen seiner Arbeit betreffend? Kann man ihn ausschließlich aufehrenamtliche Arbeit aufbauen? Kann er dann – und wie kann er esdann – funktionieren? Wie kann der hauptamtliche Apparat (er musses!) in den Dienst der Basisgruppen, Interessen- und Arbeitsgemein-schaften gestellt werden?

Wie sind die hierarchischen Strukturen sinnvoll mit den horizon-talen – den Arbeits- und Interessengemeinschaften – zu verbinden?Wie sind die Basisgruppen für die Interessengemeinschaften zu öff-nen und umgekehrt? Wie beständig sind die AG und IG, ihre Vor-stände, Sprecherräte? Sind sie politikfähig, also in der Lage, wirk-sam Interessen der Bürger, der Werktätigen zu vertreten? Oderbeschäftigen sie sich vorwiegend mit sich selbst, und welchen Sinnhat dann ihr Wirken?

Sind/werden die territorialen Basisorganisationen ein »bewegen-des« Strukturelement der Partei? Sind sie ein guter Rahmen für dieBegegnung von Marxisten, Christen und Vertretern anderer Weltan-schauungen? Was bewegen sie in den Territorien? Wie öffnen siesich für Nichtparteimitglieder der PDS?

Wie beweglich sind unsere Parlamentsfraktionen auf allen Ebe-nen? Werden sie – und wie – von den AG, IG, Basisgruppen stimu-liert? Wie erweitern sie ihre Kompetenz? Arbeiten z. B. ihre Wirt-schaftsexperten mit den AG Betriebe/Gewerkschaften zusammen?Wie breit beziehen die Fraktionen ehrenamtliche Mitarbeit von PDS-Mitgliedern und Parteilosen ein?

Welche politische Verantwortung kommt den Vorständen auf allenEbenen zu?

Welche Verantwortung trägt jede/r Genossin/e? Eine bewegendeund bewegte Partei zu sein, heißt doch vor allem: Jede/r Einzelnemuss sich bewegen!2

II Initiativtreffen zum Parteiverständnis: Werden wir eine bewegteund eine bewegende Partei?Um diese Frage ging es beim Gespräch am 10. November in derOberwasserstr. 12, zu dem die Berliner Initiative Erneuerung derPDS eingeladen hatte. Es nahmen VertreterInnen verschiedener In-itiativgruppen aus Berlin-Ost, aus Dresden. Brandenburg, Erkner,Kleinmachnow, der AG ChristInnen, Junge GenossInnen, Betriebe,eine Ost-Berliner Stadtverordnete und ein ehrenamtliches Parteivor-standsmitglied sowie zwei WestberlinerInnen teil. Es war leider,trotz ausdrücklicher Einladung, kein einziger Vertreter eines Kreis-vorstandes dabei, obwohl gerade diesem Gremium eine Schlüssel-rolle zukommt, wenn die PDS von unten auf und in aller Breite eineneue Partei werden soll. Die Diskussion war gewinnbringend, daes um Inhalte ging, die in Vorbereitung auf den 2. Parteitag der PDSmit im Vordergrund stehen werden: Es ging um das neue Parteiver-ständnis.

Die Runde war sich einig: Die Partei kann/darf nicht Selbstzweck,also für sich selbst da sein. Sie muss mit ihren Inhalten Interessender Menschen vertreten. Und das sind – darin stimmten ebenfalls

2 gez. Dr. Ulla Plener, in:DISPUT – WAS UND WIE?Zeitschrift der Partei desDemokratischen Sozialis-mus, 2. Dez.-Heft 1990,S. 17-19.

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alle überein – vor allem die Friedenssicherung durch Abrüstung, derumfassende Umweltschutz, die Gleichstellung der Geschlechterebenso wie aller Völker bzw. Nationalitäten, sowie die sozialen In-teressen aller Arbeitenden in ihrer neuen Vielfalt. Es müssen Formengefunden und praktiziert werden, die die Partei für diese Interessennach innen und nach außen offen halten. Vereinzelt in der Diskus-sion geäußerte Gedanken, deshalb wieder eine »Massenpartei« wer-den zu müssen und die Prinzipien des »demokratischen Zentra-lismus«, wenn auch anders als in der Vergangenheit, also unterBetonung des Demokratischen, zu praktizieren, fanden keinen An-klang. Die Partei müsse stattdessen – den gegebenen verfassungs-rechtlichen Bedingungen entsprechend – an Wahlkämpfen einfalls-reich teilnehmen, in Parlamenten konstruktiv wirken, zugleich inBürgerbewegungen und für diese tätig sein, und – sie muss selbstBewegung werden. Aber was heißt das konkret, und wie ist das zuerreichen?

Holger Keller von der AG ChristInnen in der PDS bezweifelte,dass es möglich sein werde, über eine doppelte, mehr oder wenigernebeneinander existierende Struktur (die hierarchische, überterritoriale Basisgruppen und Vorstände auf Kreis-, Landes- undBundesebene aufgebaute, und die horizontale, von den Arbeits- undInteressengemeinschaften vertretene) »Partei und Bewegung in ei-nem« zu sein. Sowohl das Parteiengesetz als auch die vorliegendenErfahrungen der Partei DIE GRÜNEN wie auch die der PDS selbstsprächen dagegen. Bewegung könnte sie nur sein, indem sie dieheute bewegenden Inhalte vertritt, und diesen entsprechend müssteauch der Parteiapparat gegliedert sein.

In der Diskussion wurden diese Gedanken aufgegriffen und wei-terentwickelt. Es ging vor allem um drei Fragen: 1. Wie ist derhauptamtliche Parteiapparat so zu gestalten, dass die Politikinhalteder Partei von den Mitgliedern und nicht von diesem Apparat be-stimmt werden? Wie sind seine buchstäbliche Beweglichkeit undseine ständige Erneuerung zu gewährleisten? 2. Wie kann das Zu-sammenwirken von territorialen Basisgruppen und Interessen- sowieArbeitsgemeinschaften erreicht werden? Wie ist dadurch die not-wendige Offenheit der Partei nach innen und außen und die wirk-same Beförderung ihrer Politikinhalte im Sinne der Interessenver-tretung der Bürger zu sichern? 3. Welche Verantwortung kommt denVorständen zu, um das unter 1. und 2. Gefragte zu verwirklichen?3

Die Basisgruppen seien wohl heute noch in vielen Fällen einkonservatives Element in der Partei, aber das müsse nicht so bleiben.Ihre Vorteile: Hier treffen verschiedene soziale (»vom Arbeiter biszum Professor«) und geistige (Marxisten, Christen, historisch undtheoretisch oder an sehr konkreten Dingen Interessierte) Interessenaufeinander. Das kann und muss für die Partei selbst und für ihreÖffnung nach außen – für die Wahrnehmung der Interessen der Be-völkerung – fruchtbar gemacht werden. Voraussetzung ist, dass je-der, jedenfalls möglichst viele Basisgruppenmitglieder sich in die-sem Sinne wirklich bewegen.

Die Interessen- und Arbeitsgemeinschaften und territorialenBasisgruppen sollten sich offen halten, gegenseitig mehr aufeinan-der zugehen und zusammen konkrete Dinge in Territorien anpacken.

3 gez. Ulla Plener, Berlin-Mitte, in: Berliner Linke,47. Woche (November)1990, S. 5. Der folgendeletzte Teil in: Berliner Linke,49. Woche (November)1990, S. 5.

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Es gibt schon gute Beispiele einer inhaltsreichen und politisch wirk-samen Arbeit, zum Beispiel dort, wo sich Interessengemeinschaftenim Rahmen mehrerer territorialer Basisgruppen eines Kietzes gebil-det haben, so in Pankow und in Lichtenberg. Gleichermaßen wich-tig ist auch das Zusammenwirken von Basisgruppen (auf kommuna-ler Ebene) und/oder von Interessen- und Arbeitsgemeinschaften mitden Parlamentsfraktionen der Partei auf den verschiedenen Ebenen(zum Beispiel der Abgeordneten, die in Wirtschaftsausschüssen ar-beiten, mit den Arbeitsgemeinschaften Betriebe/Gewerkschaften).Das würde ihre Fachkompetenz und Bodenständigkeit erhöhen.

Die Verantwortung der Vorstände wurde u. a. darin gesehen, dasOffenhalten und Zusammenwirken der strukturellen Gliederungen,ihren Dialog zu organisieren und das kontinuierlich und dauerhaft zugestalten. Ein konkreter Vorschlag dazu: periodisch Runde Tischeder jeweiligen Vorstände mit Vertretern der Basisgruppen und derArbeits- und Interessengemeinschaften einberufen, die zu einemZentrum der jeweiligen Ebene werden könnten, um Transparenz derVorstandsarbeit zu gewährleisten, für die Begegnung der Basisgrup-pen und Arbeitsgemeinschaften zu sorgen, verschiedene inhaltlicheSchwerpunkte (Programmfragen, Arbeit der Parlamentsfraktionen,Betriebs-, Jugend-, Frauen-, Ausländerprobleme) zu erörtern, denErfahrungsaustausch zu fördern – also die Arbeit der Partei inhalts-reich und bewegend zu gestalten. Partei und Bewegung sein – soließe sich die Diskussion in einem Satz zusammenfassen – heißt vorallem: Jede Genossin und jeder Genosse, ob Mitglied eines Vorstan-des oder nicht, ob mit Funktion oder ohne, ob in Basisgruppe odereiner AG vorwiegend tätig, muss sich bewegen – an Diskussionenund konkreten Vorhaben teilnehmen im Sinne des Hauptanliegensder Partei – gemeinsam mit den Menschen, den Bürgern, den Arbei-tenden und für sie etwas Gutes zu tun.

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Vor siebzig Jahren, im Frühjahr 1937, herrscht in der deutschen Bot-schaft in China einige Aufregung. Grund ist ein Artikel mit dem Ti-tel »Die Nazi-Nippon-Allianz ist die gefährlichste Bedrohung fürChinas Souveränität«. Erschienen ist er im April in der in Shanghaiansässigen englischsprachigen, von dem Amerikaner John B. Powellherausgegebenen Zeitschrift The China Weekly Review. Als Autorfirmiert ein M. G. Shippe.1 »Wer ist Shippe?«, notiert BotschafterOskar Trautmann auf dem Umschlag der Zeitschrift, und bis Juli1937 – so weisen es die Botschaftsakten aus – gibt es erhebliche An-strengungen, die Identität des Autors zu ermitteln. Beteiligt an derSuche sind neben Trautmann der Botschaftsrat Martin Fischer, derLegationsrat Dr. Georg Rosen, weiter der Chef der deutschen Berater-gruppe bei Tschiang Kai-schek, General a. D. Alexander v. Falkenhau-sen, sowie die Journalisten Glimpf vom Deutschen Nachrichtenbüro(DNB) und Eigner von der Transozean-Presseagentur. Trautmannund Falkenhausen mutmaßen zunächst, dass es sich um einen »Rus-sen oder Engländer« handeln müsse; der Diplomat Behrend vomdeutschen Generalkonsulat in Shanghai kommt der Sache näher, alser am 12. Juli feststellt, dass »M. G. Shippe (...) der Schriftsteller-name eines aus Deutschland emigrierten Journalisten (ist)«; aber umwen genau es sich handelt, bleibt für die Ermittelnden im Unklaren.2

Was ist es, das an diesem Artikel für so heftige Aufregung sorgt?Die offizielle deutsche Ostasien-Politik erklärt sich zu dieser Zeit als»neutral«. Das ist zwar eigentlich ein Unding: Japan – Nippon –führt bereits seit mehr als einem Jahrzehnt einen unerklärten Krieggegen China, okkupiert immer neue chinesische Gebiete, wie soll da»Neutralität« funktionieren können? Aber irgendwie geht es bis zudiesem Frühsommer 1937 doch, denn die Westmächte insgesamtfahren einen ähnlichen Schlingerkurs, engagieren sich nicht zuChinas Gunsten, lassen Japan schalten und walten, und sie profitie-ren bei dieser Haltung von dem Umstand, dass sich auch in Chinaselbst noch keine eindeutig antijapanische Einheitsfront formiert hat.Da ist es für Berlin ein Leichtes, immer wieder zu erklären, zu Chinaund Japan gleichermaßen gute Beziehungen unterhalten zu wollen.3

Innenpolitisch getragen wird dieser Kurs im faschistischenDeutschland durch das Patt, das bis 1937 zwischen dem »China-«und dem »Japan-Flügel« herrscht. Die beiden Flügel stehen dabeibeispielhaft für einen Interessenkonflikt in der deutschen Politik ins-gesamt. Konsens ist: Man will den Krieg und weiß, es wird wiederein Weltkrieg sein. Streitpunkt ist die Geschwindigkeit, mit der man

Wolfram Adolphi – Jg. 1951;Dr. sc. phil., Dipl.-Staats-wis-senschaftler, langjährigeForschungen zur Geschichteder deutsch-chinesischenBeziehungen im ZweitenWeltkrieg; wiss. Mitarbeiterdes Bundestagsabgeordne-ten Roland Claus (FraktionDIE LINKE.) und Redakteurbei UTOPIE kreativ; in derZeitschrift zuletzt: OhneUN-Charta? Anmerkungenzu Marcus Hawels»Befindlichkeit im Blick«,Heft 199 (Mai 2007).

1 M. G. Shippe: Nazi-Nippon Alliance Most Dan-gerous Threat to China’sSovereignty, in: The ChinaWeekly Review, Shanghai,v. 10. April 1937. – Der Be-griff »Nippon« steht zuwei-len – in leichter Abwandlungder japanischen Landes-bezeichnung »Nihon« – für»Japan«.

2 Den gesamten Vorgang

UTOPIE kreativ, H. 200 (Juni 2007), S. 513-527 513

WOLFRAM ADOLPHI

Asiaticus, China 1937

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ihn herbeiführen will. Der »China-Flügel« will eine längere Zeit derVorbereitung. Seine Repräsentanten sind Vertreter der rohstoffabhän-gigen, nach Kupfer-, Mangan-, Antimon- und Wolfram-Importen ausChina gierenden und im Gegenzug dort fest auf den Absatz von Ma-schinen, Ausrüstungen und Waffen bauenden Stahl- und Rüstungsin-dustrie sowie die Spitzen der »traditionell« orientierten Heeresführungunter Reichswehrminister Werner v. Blomberg und der ebenso »tra-ditionellen« Außenpolitik unter Außenminister Konstantin Freiherrv. Neurath. Sie unterstützen die von Tschiang Kai-schek geführte Zen-tralregierung der Republik China und deren Truppen direkt mit einemBeraterstab, zu dem Dutzende Offiziere, aber auch Verwaltungsexper-ten, Geologen und andere Fachleute gehören. Den »Japan-Flügel«hingegen bilden Vertreter der »neuen Industrien« – insbesondere desChemiekonzerns IG Farben und der großen Konzerne der Elektroin-dustrie4 –, und diese haben ihren außenpolitischen Exponenten in Hit-lers Außenexperten Joachim v. Ribbentrop, der Neurath beim »großenRevirement« vom Februar 1938, bei dem auch Blomberg gehen muss,als Außenminister ablösen wird. Diese Gruppierung ist sich mit Hitlerdarin einig, dass man nicht zögern sollte mit dem Krieg, sondern so-fort losschlagen, um das Überraschungsmoment zu nutzen. Aus dieserSicht ist Japan der ideale Bündnispartner. Es will wie Deutschlandauch die Neuaufteilung der Welt, und es hat mehrfach den Beweisdafür erbracht, was mit Überraschungsschlägen zu erreichen ist. Am18. September 1931 hat es Nordostchina – die Mandschurei – über-fallen, dort am 16. Februar 1932 den Marionettenstaat »Manzhouguo«gebildet und zugleich von Januar bis März 1932 Shanghai mit schwe-ren Kriegshandlungen attackiert, ohne dass es zu nennenswerten in-ternationalen Protesten gekommen wäre, und es steht dem Völker-bund ebenso feindselig gegenüber wie Deutschland.

Im Februar 1938 wird der Flügelkampf in Deutschland zu Gunstender »Blitzkriegs«-Strategen entschieden sein, aber im Frühjahr/Som-mer 1937, zur Zeit des Shippe-Artikels, ist er es noch nicht, undwenn Hitler und Ribbentrop auch mit Vehemenz auf das Bündnis mitJapan hinarbeiten, wollen sie die Dinge nach außen hin dochzunächst aus verschiedenen Gründen noch offen halten. Zum erstenlaufen die Geschäfte mit China so gut wie nie zuvor, und jeder Mo-nat an stabilen chinesischen Lieferungen – übrigens nicht nur an denoben genannten Metallerzen, die für die Stahlveredlung gebrauchtwerden, sondern auch an Trockenei und Soja zur Herstellung vondauerhaft haltbaren Lebensmitteln, an Tierhaaren zur Filzproduk-tion, an Pflanzenölen und Fallschirmseide und etlichem mehr – hilftder Aufrüstung und Kriegsvorbereitung. Zum zweiten gibt es Zwei-fel an der Berechenbarkeit der Japaner. Werden sie im Fall des Fal-les eine zweite Front gegen die Sowjetunion eröffnen? Und zudemauch bereit sein, die Beute, die sie in China machen, mit Deutsch-land zu teilen? Und zum dritten liegt Hitler insgesamt noch sehrdaran, sich in »Friedens«-Rhetorik zu üben.

Ein Pakt für die Neuaufteilung der Welt – und gegen ChinaDa passt es gar nicht in den Kram, dass in Ostasien einer sitzt, derdie Dinge so unverblümt beim Namen nennt. Ein Emigrierter – dieAnnahme des Diplomaten Behrend ist ja richtig – obendrein!

mit mehreren Briefen undVermerken der genanntenPersonen siehe: Bundes-archiv Berlin-Lichterfelde(BArch; zur Zeit der Ein-sichtnahme d. Verf. 1986noch: Zentrales StaatsarchivPotsdam), Bestand 0902Deutsche Botschaft China(DBCh), Bd. 2321, Bl. 185 u.187-194.

3 Zu den deutsch-chinesi-schen Beziehungen und zurdeutschen Ostasienpolitik inden 1930er Jahren insge-samt siehe z. B. folgendeArbeiten aus Ost und West(in der Reihenfolge desErscheinens): JoachimPeck: Kolonialismus ohneKolonien. Der deutscheImperialismus und China1937, Berlin (DDR) 1961;Theo Sommer: Deutschlandund Japan zwischen denMächten 1935-1940, Tübin-gen 1962; Karl Drechsler:Deutschland – China –Japan 1933-1939. DasDilemma der deutschenFernostpolitik, Berlin (DDR)1964; Ders. (Hrsg.): DasBündnis der Rivalen. DerPakt Berlin-Tokio, Berlin(DDR) 1978; Z. D. Katkova:Vnesnjaja politika gomin’da-novskogo pravitel’stva vperiod antijaponskoj vojny(Die Außenpolitik der Guo-mindang-Regierung in derPeriode des anti-japani-schen Krieges), Moskva1978; Saburo Ienaga:Japan’s Last War. World WarII and the Japanese, 1931-1945, Oxford 1979; John P.Fox: Germany and the FarEastern Crisis 1931-1938,London 1982; William C.Kirby: Germany andRepublican China, Stanford1984; Udo Ratenhof: DieChinapolitik des DeutschenReiches 1871-1945, Bop-pard a. Rh. 1987; Cai Dejin,Yang Lixian: Taodeman»tiaoting« chu tan (Zur »Ver-mittlung« Trautmanns), in:

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Es geht in dem Artikel, der in der Botschaft für so viel Aufsehensorgt, um den »Antikomintern-Pakt«, den Deutschland und Japanam 25. November 1936 unterzeichnet haben – die deutsche Unter-schrift hat bezeichnenderweise schon Ribbentrop geleistet und nichtder noch im Amt befindliche Außenminister Neurath! –, und es gehtum den Platz dieses Paktes in der Welt.

Es ist ein Pakt – schreibt M. G. Shippe –, mit dem »eine direkteAllianz der beiden gefährlichsten und aggressivsten Mächte, dienach einer Neuaufteilung der Welt streben«, geschmiedet wird, »unddie Rolle, die Deutschland dabei spielt, ist die einer lückenlosenFortsetzung der imperialistischen Vorkriegspolitik in Übersee (ge-meint ist die Politik vor 1914 – W. A.), getragen von den gleichenInteressen der deutschen Kriegsindustrie und seiner gewaltigenElektrik- und Chemiekonzerne. Mit der Bildung ihrer ›antikommu-nistischen‹ Allianz haben Deutschland und Japan der ganzen Welt zuverstehen gegeben, dass sie beide einen internationalen Krieg vor-bereiten. Das ganze Ausmaß dessen wird erst richtig deutlich, wennman sich vor Augen führt, wie mit der Allianz zwei strategische Ein-fallstore für die Kräfte des Krieges und der Aggression in die kolo-nialen Imperien und Sphären des ökonomischen Einflusses Großbri-tanniens, Frankreichs und der Niederlande geschaffen wurden. Mitseiner Einmischung in Spanien und in Spanisch-Marokko, die mitökonomischer Expansion im Nahen Osten und einer Politik der mi-litärischen Beherrschung ganz Zentraleuropas verknüpft ist, sowiemit seiner engen Zusammenarbeit mit Italien verfolgt Deutschlanddas Ziel, Stützpunkte im Rücken Frankreichs und entlang der Mit-telmeerflanke des britischen Empire zu schaffen. Die japanischePolitik der territorialen Expansion auf dem asiatischen Kontinent,der Beherrschung Chinas und der Kontrolle des Ostpazifik ist diePolitik eines Verbündeten Deutschlands, die in die gleiche Richtunggeht.«

»Es ist leicht, sich vorzustellen«, fährt Shippe fort, »was dasSchicksal Chinas wäre, wenn es den ›freundlichen‹ Einladungen Ja-pans oder Deutschlands (zur Teilnahme am Antikominternpakt – W.A.) folgen würde, anstatt sich auf entschiedensten nationalen und in-ternationalen Widerstand gegen diese höchst bedrohlichen Angriffeauf Chinas nationale Existenz vorzubereiten. In der gesamten Ge-schichte ausländischer Aggressionen gegen China hat es nur wenigeSchritte gegeben, die so sehr die Existenz der Nation selbst in Fragegestellt haben wie die gegenwärtige Nazi-Nippon-Allianz. Die eng-lisch-japanische Allianz war gewiss zerstörerisch für das Land, weilsie zur Aufteilung Chinas in Interessensphären der verbündetenMächte führte. Die jetzige Nazi-Nippon-Allianz jedoch kam zu-stande auf der Grundlage der Anerkennung des japanischen Vorherr-schaftsanspruches über den ganzen Fernen Osten, für die Japan alsGegenleistung gewisse Handelsprivilegien in Mandschukuo und imkolonisierten China eingeräumt und versprochen hat, und zusätzlichwill Japan künftig auch deutschen Kolonien in Südostasien, die dortauf direkte Kosten Großbritanniens und der Niederlande entstehensollen, Rückhalt geben. Das japanische Einverständnis mit den deut-schen Expansionsplänen in Übersee und die Zusammenarbeit derbeiden Mächte bei der Verwirklichung ihrer aggressiven Ziele sind

Minguo Dang’an, Nanjing,Nr. 1/1987; Mechthild Leut-ner (Hrsg.), Wolfram Adolphiu. Peter Merker (Bearb.):Deutschland und China1937-1949. Politik – Militär –Wirtschaft – Kultur. EineQuellensammlung, Berlin1998; Bernd Martin (Hrsg.),Susanne Kuß(Bearb.): Deutsch-chinesi-sche Beziehungen 1928-1937. »Gleiche« Partnerunter »ungleichen« Bedin-gungen. Eine Quellensamm-lung, Berlin 2003. – Siehean Arbeiten des Verf. außer-dem: Das faschistischeDeutschland als »Freund«.Archivalien in der VR Chinazu den Erfahrungen derGuomindangregierung1935-1941, in: Zeitschriftfür Geschichtswissenschaft,Berlin (DDR), Nr. 3/1989,S. 211-227 (auch – in chi-nesischer Übersetzung – in:Minguo Dang’an, Nanjing,Nr. 2/1989, S. 119-130); undauch: Die Chinapolitik desfaschistischen Deutschland1937-1945 (Diss. B – unver-öffentl.), Berlin (DDR), Hum-boldt-Universität 1988.

4 Zu den unterschiedlichenInteressenlagen in der deut-schen Industrie in dieserZeit siehe noch immer un-bedingt: Kurt Gossweiler:Aufsätze zum Faschismus,Berlin (DDR) 1986.

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verknüpft mit der deutschen Zustimmung zur Eroberung Chinasdurch Japan und der engen Zusammenarbeit zwischen Japan undDeutschland im Fernen Osten. Das ist das wirkliche Ausmaß derNazi-Nippon-Allianz, das vor der Öffentlichkeit geheimgehaltenwird, um China zu täuschen und davon abzulenken, dass bei der Er-füllung der Ziele dieser Allianz China keine andere Existenzmög-lichkeit bleiben wird als die einer japanischen Kolonie oder – wie esdas japanische Militär ausdrückt – ›in vollendeter Harmonie zwi-schen Japan, Mandschukuo und China‹«.5

So viel scharfe Analyse und weitreichende Voraussicht läuft demoffiziellen deutschen Kurs diametral entgegen. »Der Inhalt desdeutsch-japanischen Abkommens zielt auf eine Zusammenarbeit ab,um uns vor der Kommunistischen Internationale, einer aufwiegeln-den Organisation, zu schützen. Auf keinen Fall richtet es sich gegenirgendeinen Staat als solchen. Die chinesisch-deutsche Zusammen-arbeit beruht wie stets vollkommen auf dem gegenseitigen Vertrauenund der gegenseitigen Unterstützung«, hat Blomberg bereits am25. November 1936, dem Tag der Paktunterzeichnung, dem chinesi-schen Finanzminister Kong Xiangxi versichert.6 Und BotschafterTrautmann ist zufrieden gewesen, am 1. Dezember 1936 nach Ber-lin melden zu können, dass in der chinesischen Presse im Ergebniseiner Rede von Tschiang Kai-schek die zuvor massiv geäußerten Be-fürchtungen, dass es sich entgegen allen deutschen und japanischenBeteuerungen doch um ein »Militärbündnis zwischen Deutschlandund Japan« handeln könnte, leiser geworden seien und einer »ge-wisse(n) Entspannung« Platz gemacht hätten.7

Er sitzt damit jedoch – ganz anders als der ihn so in Harnisch brin-gende Shippe – einem Irrtum auf. Zwar hat Tschiang Kai-schek, derscharfe Antikommunist und unverhohlene Hitler-Verehrer, in derMilitärakademie tatsächlich eine Erklärung abgegeben, die den deut-schen Vorstellungen entspricht. »Durch das Abkommen«, hat er ge-sagt, werde sich »in den internationalen Beziehungen zwischenDeutschland, Japan und der übrigen Welt nichts ändern«, und eswerde auch »keinen fühlbaren Einfluss auf die ostasiatische Lage«geben. Und was den Kommunismus in China betreffe, so bestehe der»jetzt (...) noch verbleibende Rest von kommunistischen Banditen(...) eigentlich nur aus Landesverrätern«, und deren Bekämpfung seieine »reine innenpolitische Frage«, die man mit Kampf »bis zur end-gültigen Ausrottung der Kommunisten« lösen werde.8

Aber Tschiang Kai-schek ist zu diesem Zeitpunkt durchaus nichtder uneingeschränkte Meinungsführer, den Trautmann in ihm zu se-hen gewohnt ist. Nicht nur diejenigen, die Tschiang »ausrotten« will– die Kommunisten also – sind ganz anderer Auffassung, sondernauch etliche meinungsbildende Zeitungen9 und sogar einige seinerunmittelbaren Gefolgsleute. Es gärt im Land, und wenige Tage nachseiner Erklärung von Ende November bekommt Tschiang dies ameigenen Leibe zu spüren. Zwei der ihm untergebenen Generäle –Zhang Xueliang und Yang Hucheng – setzen ihn am 12. Dezember1936 nahe der alten Hauptstadt Xi’an fest, weil sie seinen Kurs derPriorität des antikommunistischen Bürgerkrieges gegenüber dem na-tionalen Abwehrkampf gegen Japan nicht mehr mittragen wollen,und nachdem Zhou Enlai vom Hauptquartier der Kommunisten in

5 M. G. Shippe: Nazi-Nip-pon Alliance, a. a. O. – DerAufsatz findet sich inmittender Botschaftsakten mit denseinetwegen angestelltenNachforschungen: BArch,0902 DBCh, Bd. 2321,Bl. 196 (vgl. Anm. 2). DieÜbersetzung aus dem Eng-lischen stammt vom Verf. –In der hier gewählten Aus-führlichkeit wird der Texterstmals in deutscher Spra-che zugänglich gemacht.In der vom Verf. mitbear-bei-teten Quellenedition»Deutschland und China1937-1949« wie auch indem zeitlich vorhergehen-den, aber erst fünf Jahrespäter erschienenen Band»Deutsch-chinesischeBeziehungen 1928-1937«(beides vgl. Anm. 3) hat erseinerzeit zum Bedauerndes Verf. keinen Platzgefunden. – Weitere Anmer-kungen zur Quellenedition»Deutschland und China«siehe in: Wolfram Adolphi:Klammheimliches Verwach-sen. Gedanken beim Lesen(m)eines deutsch-deutschenGeschichtsbuches, in:UTOPIE kreativ, Heft 99(Januar 1999).

6 2. Historisches ArchivChinas (2. HACh), 28(2)-3642, hier zitiert nach:Deutsch-chinesische Bezie-hungen 1928-1937, a. a. O.,S. 459. – Formal gesehenhat Blomberg durchausRecht: Der Pakt begründetrein vom Wortlaut her in derTat keine »Allianz«, ist for-mal kein Bündnisvertrag: Esgeht in ihm in Artikel I umdie gegenseitige »Unterrich-tung« über »die Tätigkeitder Kommunistischen Inter-nationale« und in Artikel IIum die »Einladung« an»dritte Staaten, deren inne-rer Friede durch die Zerset-zungsarbeit der Kommunisti-schen Internationale bedrohtwird (...), Abwehrmaßnah-

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Yan’an zu Verhandlungen nach Xi’an geeilt ist, sieht sich TschiangKai-schek gezwungen, am 23. Dezember einer Sechs-Punkte-Ver-einbarung zuzustimmen, die auf eine Beendigung des Bürgerkriegesund die Herstellung einer antijapanischen Kampfgemeinschaft hin-ausläuft.10

Am 22. März 1937 – wenige Tage vor dem Shippe-Artikel – mussTrautmann im Gespräch mit Tschiang Kai-schek angesichts der trotzaller von deutscher Seite unternommenen Abwiegelungen nicht zurRuhe kommenden chinesischen Presse einräumen, dass er »nie ge-dacht« habe, »dass das Abkommen einen so großen Einfluss auf dieinnere chinesische Politik haben würde«. Zugleich versucht er einweiteres Mal den Eindruck zu erwecken, dass der Pakt eigentlich un-bedeutend sei. Er habe, notiert er, Tschiang Kai-schek deutlich ge-macht, dass Deutschland sich mit Japan »unter der Bedrohung desKommunismus« lediglich »auf eine Spezialarbeit einer Art polizei-licher Natur geeinigt« habe, und »die praktische Ausgestaltung die-ser Spezialarbeit werde zeigen, dass darin keinerlei Gefahren fürirgendwelche Länder enthalten seien.«11

Shippe – Grczyb – AsiaticusWas Botschafter Trautmann »nie gedacht« hätte, ist für M. G. Shippeals intimen Kenner der chinesischen Verhältnisse eine Selbstver-ständlichkeit. Seit mehr als einem Jahrzehnt schon hat sich dieser»aus Deutschland emigrierte Journalist« aufs Gründlichste mit denVorgängen in China befasst und darüber in einer von kaum einemsonst erreichten Breite und Gründlichkeit geschrieben.

Seine Identität freilich ist nicht nur für die deutsche Botschaft einGeheimnis. Auch sonst dürfte nur wenigen Eingeweihten bekanntsein, dass Shippe in Deutschland unter dem Pseudonym »Asiaticus«publiziert, und diejenigen in Deutschland und später im antifaschi-stischen Exil, die die Texte des Asiaticus drucken, haben wohl kaumeine Ahnung, dass er in China als »M. G. Shippe« schreibt. Jeden-falls erinnert sich Hermann Budzislawski, der von 1934 bis 1939 dieim Exil in Prag und nach der Annexion der Tschechoslowakei imMärz 1939 noch für kurze Zeit in Paris herausgegebene Neue Welt-bühne leitete, Jahrzehnte später zwar eines bürgerlichen Namens desAsiaticus – »Der Mann hieß Grczyb« –, aber viel mehr kann er nichtzur Identifizierung beitragen. »Ich habe ihn nie gesehen«, sagt er,»man konnte ihm auch nicht schreiben, die Absendernamen warenfingiert, aber wenn er etwas hatte, schickte er es. – Und das Hono-rar? – Er teilte nur mit, an wen es gehen sollte. Ich glaube, er wohnteirgendwo bei Schanghai, aber das weiß ich nicht genau.«12

Ein genaueres Bild des Asiaticus muss man sich aus unterschied-lichsten Quellen zusammenklauben, ohne dass das Geheimnisvolle,Ungeklärte gänzlich auszuräumen wäre. Genia und Günter Nobel,von 1939 bis 1947 zur deutsch-jüdischen Emigration in Shanghaigehörend, schildern ihn 1979 als Journalisten und »im Auftrag derKomintern« tätigen Parteiarbeiter zugleich. Ihm – so berichten sie –,»einem hochqualifizierten Genossen« und »hervorragenden Kennerdes Fernen Ostens und Chinas« mit Namen Heinz Grzyb (in dieserSchreibweise), sei die Bildungsarbeit in der illegalen Parteigruppeder KPD zu verdanken gewesen. »Unter dem Namen Erich Möller«,

men im Geiste dieses An-kommen zu ergreifen oderan diesem Abkommen teil-zunehmen«. Nicht Recht hatBlomberg in bezug auf dasGeheime Zusatzabkommen.Dieses enthält eine klar ge-gen die Sowjetunion ge-wandte Stoßrichtung. AberChina – das wiederum istrichtig – ist im Pakt nicht ge-nannt. – Der Text des Pak-tes ist hier zitiert nach:Handbuch der Verträge1871-1964, hrsgg. v. Hel-muth Stoecker unter Mit-arbeit v. Adolf Rüger, Berlin(DDR) 1968, S. 282 f.

7 BArch, 0902 DBCh,Bd. 2320, hier zitiert nach:Deutsch-chinesische Bezie-hungen 1928-1937, a. a. O.,S. 467.

8 Ebenda, hier zitiert nach:Deutsch-chinesische Bezie-hungen 1928-1937, a. a. O.,S. 463.

9 So schreibt etwa die »YiShi Bao« am 4. Dezember1936: »Wenn sich auch dasdeutsch-japanische Abkom-men hauptsächlich gegenRussland richtet, so kannChina doch nicht vermeiden,den Schaden davon zuhaben. Gerüchten zufolgesind die deutsch-japani-schen Verhandlungenbereits seit zwei Jahren imGange gewesen, und beideLänder haben weder mituns darüber verhandeltnoch unserer Zentralregie-rung Mitteilung davon zu-kommen lassen. (...)Ob Japan uns nach denEreignissen vom 18. Sep-tember 1931 (dem Beginnder Okkupation der Mand-schurei – W. A.) Freund oderFeind ist, braucht wohl nichtweiter erörtert zu werden –aber ob Deutschland unsFreund oder Feind ist, dasist die offene Frage!« –Barch, 09.02 DBCh,

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so erinnern sie sich weiter, sei er »als Korrespondent der ›RotenFahne‹ bekannt geworden«, und er habe »auch legal als Journalistunter dem Pseudonym ›Asiaticus‹ für angesehene bürgerliche Zeit-schriften« gearbeitet.13 Von Walter Czollek, der in der gleichen ille-galen Parteigruppe arbeitete, werden 1979 durch einen weiterenMitstreiter, Alfred Dreifuß, folgende Aufzeichnungen über seine An-kunft in Shanghai im Juni 1939 an die Öffentlichkeit gebracht:»Durch Dreifuß baldige Verbindung zu Richard Paulick, der so et-was wie einen ›politischen Salon‹ führte. Dort Bekanntschaft mitdem bereits eingesessenen Schanghaier Heinz Grczyb, alias ErichMöller, alias Asiaticus. Alter deutscher Genosse, der Bremer Linkenentstammend, ausgeschlossen von der Komintern als Brandleran-hänger.14 Rehabilitiert durch Dimitroff 1941. Publizistisch für chine-sische Partei tätig, in fortschrittlichen amerikanischen Zeitungen In-terpret der fernöstlichen Sowjetpolitik.«15

Hier schließt sich der Kreis zum Shippe-Artikel über die Nazi-Nippon-Allianz, denn Dreifuß fügt zum von Czollek benutzten Be-griff der »fortschrittlichen amerikanischen Zeitungen« erläuterndhinzu: »Hier ist zu nennen die ›China Weekly Review‹, deren Chef-redakteur der Amerikaner Powell war.«16

Genaueres zum Leben des Shippe-Grczyb-Asiaticus wird seitEnde der 1970er Jahre in der VR China publiziert. Helga Scherner,eine Chinawissenschaftlerin aus der DDR, macht Wesentliches da-von 1986 der deutschsprachigen Leserschaft zugänglich.17 Im glei-chen Jahr 1986 erscheint in China ein Buch mit dem Titel »Xibowenji« – Schriften von Grczyb (oder eben auch: Shippe18). Nun gibtes Geburtsdatum und Geburtsort: den 13. Juni 1897 im seinerzeit zuÖsterreich-Ungarn gehörenden, früher und später polnischen Kra-ków; es gibt auch ein genaues Sterbedatum: Shippe-Grczyb-Asiati-cus kommt am 30. November 1941 bei einem Gefecht zwischen chi-nesischen Partisanen, denen er sich kämpfend angeschlossen hat,und japanischen Truppen ums Leben; aber Etliches bleibt – vor-nehmlich, was die Jahre bis 1925 betrifft – unklar. 1918, heißt es inden »Xibo wenji«, soll er nach Deutschland gekommen und dann inder revolutionären Arbeiterbewegung in Leipzig und Dresden tätiggewesen sein.19 1989 berichtet bei einem Symposium in Berlin(West) der chinesische Historiker Zhu Maoduo, dass Hans (!) Shippenach Absolvierung der Universität »bei der Behörde für Medizinund Hygiene in Deutschland« gearbeitet habe. Nach dem Ende desErsten Weltkrieges sei er dann »als Journalist tätig« gewesen undhabe »unter dem Pseudonym Heinz Möller« Artikel geschrieben,»die in der deutschen, englischen und US-amerikanischen Presseveröffentlicht wurden.«20

Die Klarsicht des Kommunisten und ChinakennersAber keinen Zweifel gibt es darüber, dass Grczyb 1925 bis 1927 inChina tätig gewesen ist, und 1928 wird sein Pseudonym »Asiaticus«den China-Interessierten im deutschsprachigen Raum zum Begriff.In jenem Jahr erscheint unter diesem Namen sein Buch mit dem Ti-tel »Von Kanton bis Schanghai 1926-1927«.21 Auf 350 Seiten sinddort Texte zusammengefasst, die der Autor in China geschrieben undveröffentlicht hat. Das Buch ist eine Gesamtschau auf die chinesi-

Bd. 2209, Bl. 214-217. DieÜbersetzung aus dem Chi-nesischen ins Deutscheentstand unmittelbar nachErscheinen des Artikels inder deutschen Botschaft inPeking.

10 Vgl. Oskar Weggel:Geschichte Chinas im20. Jahrhundert, Stuttgart1989, S. 96 f.

11 Niederschrift vonBotschafter Trautmann,Nanjing, 22. März 1937,über ein Gespräch mitChiang Kaishek, in: Aktenzur Deutschen AuswärtigenPolitik (ADAP), Serie C,Bd. VI/2, Dok. 290,S. 623-627.

12 Ursula Madrasch-Groschopp: Die Weltbühne.Porträt einer Zeitschrift,Berlin (DDR) 1983, S. 235 f.

13 Günter Nobel, GeniaNobel: Als politische Emi-granten in Shanghai, in:Beiträge zur Geschichte derArbeiterbewegung, Berlin(DDR), Nr. 6/1979, S. 886. –Genia Nobel arbeitete später in der DDR u. a. imRedaktionskollegium derSED-Zeitschrift »Einheit«,Günter Nobel war – zuletztim Range eines Botschafts-rats – Mitarbeiter des Ministeriums für AuswärtigeAngelegenheiten.

14 »Im Auftrag der Kom-intern« (Nobel/Nobel) oder»als Brandleranhänger vonder Komintern ausgeschlos-sen« (Czollek)? Vielesspricht dafür, dass CzollekRecht hat, so u. a. derArtikel »Manabendra NathRoy« von Asiaticus in der»Weltbühne« Nr. 49 v.8. Dezember 1931, S. 850-852. Dort klagt Asiaticus dieKomintern an, sich nicht fürdie Freilassung des indi-schen Revolutionärs und

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sche Entwicklung mit Kapiteln wie »Der eigenartige Charakter dernationalen Revolution in China«, »Die Ausbeutung durch den inter-nationalen Imperialismus«, »Die Bedeutung der diplomatischenAnerkennung der Nationalregierung«, »Das revolutionäre China zurGenfer Abrüstungskomödie«, »Die territorialen Konzessionen derimperialistischen Staaten in China«, »Das Agrarproblem in der chi-nesischen Revolution«, »Der Generalstreik in Schanghai und seineLehre«, »Eine Analyse des Kampfes der Bauernbewegung in denLandbezirken von Hunan«, »Zur Parteidiskussion in der Kuomin-tang«, »Wohin treibt Japan?«, »Die russische Revolution und derchinesische Befreiungskampf«.

Über seine Tätigkeit in China gibt Asiaticus im Vorwort wie folgtAuskunft: »In dem Zeitabschnitt von Dezember 1926 bis Mai 1927stand der Verfasser im Dienste des Zentralkomitees der Kuomintangbzw. ihrer Politischen Abteilung im Hauptquartier der National-revolutionären Armee. In ihrem Auftrage arbeitete er gemeinsam mitdem Genossen Friedrich Lienhard, dem Delegierten der Internatio-nalen Arbeiterhilfe für China, als Redakteur der ›Chinesischen Kor-respondenz‹, die als ›Organ der Politischen Abteilung des Haupt-quartiers der National-revolutionären Armee‹ gegründet und nach derEroberung von Schanghai als ›Wochenorgan des Zentral-Exekutiv-Komitees der Kuomintang‹ fortgeführt wurde. Die meisten der hierveröffentlichten Artikel wurden vom Verfasser auf Grund von Aufträ-gen und Vereinbarungen mit dem Chef der Propaganda-Abteilung derKuomintang wie auch mit den leitenden Vertretern der einzelnen Mi-nisterien der National-Regierung geschrieben. In solcher Funktionwar es Aufgabe und Pflicht des Verfassers, die offizielle Meinung derrevolutionären Führung der chinesischen und ausländischen Öffent-lichkeit gegenüber zu vertreten. Diese Meinung entsprach nicht immerder des Verfassers, konnte aber von ihm so lange vertreten werden,solange die Führung der Kuomintang der Entwicklung der revolu-tionären Kräfte der Arbeiter, Bauern und kleinbürgerlichen Armut undder Entfaltung ihrer Kampftätigkeit gedient hat, und solange der Ver-fasser in den offiziellen Organen der Kuomintang von ihm gezeich-nete Artikel veröffentlichen durfte, die seine persönliche politischeAnschauung bereits eindeutig aufzeigen ließ.«22

Die Kuomintang (in der heute gebräuchlichen Pinyin-Umschrift:Guomindang) in dieser Zeit: Das ist die von Sun Yatsen gegründetePartei, ist die Partei der Revolution von 1925-1927, in der es Zu-sammenarbeit auch mit den Kommunisten gibt. Im April 1927 aberändert sie ihren Charakter: Tschiang Kai-schek (in Pinyin: JiangJieshi) lässt während des Nordfeldzuges, den er mit dem Ziel der Ei-nigung des vielfach gespaltenen Landes gegen die mit den ausländi-schen Mächten – vor allem Großbritannien und Japan – paktierendenMilitärmachthaber führt, in Shanghai die von linken Gewerkschaf-tern und Kommunisten angeführte Streikbewegung zusammen-schießen.23

Das ist das Ende der Zusammenarbeit mit den Kommunisten, undes ist für Asiaticus letzter Anstoß für den Bruch mit der Guomin-dang. Er teilt den »Vertretern des Zentral-Exekutiv-Komitees derKuomintang« mit, dass er »nicht mehr in der Lage sei, ihre Ansich-ten mit seiner persönlichen Überzeugung zu vereinbaren«. Seine

ehemaligen Komintern-Beauftragten in China M. N.Roy aus britischer Haft ein-zusetzen. »M. N. Roy«,schreibt er, »ist vor etwadrei Jahren wegen takti-scher Streitigkeiten, wegenseiner Kritik an den Fehlern,die von der gegenwärtigenkommunistischen Führung(gemeint ist die Komintern-Führung – W. A.) währendder chinesischen Revolutionbegangen wurden, sowiewegen der Kritik an ihrerPolitik in Indien und in dergesamten Internationaleausgeschlossen worden.(...) Selbst wenn dieFührung der Kommunisti-schen Internationale in demStreit mit M. N. Roy Rechthätte, selbst dann müßte sie alles, was in ihrer Kraftsteht, aufbieten, um denAnschlag der britischenReaktion zu vereiteln.« –Acht Monate zuvor hat Asia-ticus ebenfalls in der »Welt-bühne« das auch heutenoch höchst bedeutsameWerk von M. N. Roy »Revo-lution und Konterrevolutionin China« gewürdigt: Asiati-cus: Das chinesische Rät-sel, in: Die Weltbühne, Ber-lin, Nr. 17 v. 28. April 1931,S. 603-606.

15 Alfred Dreifuß: Schang-hai – Eine Emigration amRande, in: Exil in den USA,Leipzig 1979, S. 471. – Derhier zitierten Passage hatAlfred Dreifuß den Hinweisvorangestellt: »WenigeMonate vor seinem im Jahre1972 erfolgten Tode über-gab mir der Genosse WalterCzollek, seinerzeit Leiterdes Verlages Volk und WeltBerlin, eine Schilderungseiner in Schanghai aus-geübten Parteiarbeit, ausder nachfolgend zitiertwird.« – Alfred Dreifußarbeitete später in der DDRwie auch schon in derShanghaier Emigration als

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Überzeugungen freilich festigen sich. »Die chinesische Revolution«,schreibt er, »lebt und kämpft, und der Sieg der Hunderte von Mil-lionen der städtischen und ländlichen Armut in China ist trotz derzeitlichen Rückschläge historisch unabwendbar. Die chinesische Re-volution bildet schon jetzt eines der heldenmütigsten und erfah-rungsreichsten Kapitel des Kampfes der Unterdrückten und Ausge-beuteten der ganzen Welt. Sie ist neben der russischen Revolutiondas größte und bedeutendste revolutionäre Ereignis der gegenwärti-gen Geschichte.«24

Nach vier Jahren in Deutschland, über die nähere Angaben bishernicht bekannt sind, geht Grczyb im Herbst 1932 erneut nach Shang-hai, um sich – wie Zhu Maoduo es ausdrückt – »eingehend mit derneuen Lage in China und Fernost zu befassen«. Er tritt – so ZhuMaoduo weiter – der »Amerikanischen Gesellschaft für den Pazifik«bei, wird bei der von dieser Gesellschaft herausgegebenen Zeit-schrift Pacific Affairs angestellt und veröffentlicht »unter demPseudonym ›Asiaticus‹ (...) in dieser Zeitschrift, im englischen Man-chester Guardian Weekly und einigen Zeitschriften in Shanghai vieleMeldungen und Essays über chinesische und asiatische Probleme.«25

Aus solchem Holz ist der Mann geschnitzt, der Botschafter Traut-mann und Chefberater v. Falkenhausen im Frühjahr 1937 so vieleSorgen bereitet. Hätten sie Kenntnis von der Identität ihres Shippemit Asiaticus gehabt, hätten sie nicht überrascht sein dürfen. Dennmit fast schon beängstigender Klarheit sieht Asiaticus schon zuBeginn der 1930er Jahre die spätere Weltkriegskonstellation voraus,und zwar immer durch klare Fakten und überzeugende Beschrei-bung der Zusammenhänge gestützt. »Die japanische Politik inChina«, schreibt er im Oktober 1930 in der Weltbühne, verfolgt seitJahrzehnten das Ziel, die Spaltung in Nord und Süd zu verewigenund jede Zentralisierung zu verhindern. Das ist notwendig zur Si-cherung der Penetration der Mandschurei (zu der es im September1931 kommen wird – W. A.); aber auch zur Förderung der weiterge-henden Pläne in Nordchina, vor allem in Schantung (Shandong)26

und Schansi (Shanxi), und schließlich zur Durchkreuzung der ame-rikanischen Finanzexpansion in einem vereinheitlichten China.«27 ImMai 1932 liefert er – wiederum in der Weltbühne – eine brillanteAnalyse der innenpolitischen Auseinandersetzungen in Japan. Dieneue Generalität, schreibt er, macht aus ihren Zielen kein Hehl:»Vollendung der Okkupation der Mandschurei, Sicherung der japa-nischen Interessen in der Mongolei und Verdrängung des Bolsche-wismus von jedem Stützpunkt im Fernen Osten.« Und er schließt:»Diese militärischen Führer sind (...) jetzt die Herren der japanischenAußenpolitik. Ihre Außenpolitik heißt kurz und bündig: Krieg!«28

Als die Weltbühne von den Nazis verboten wird und – ohne ihrenins KZ geworfenen Chefredakteur Carl von Ossietzky und auchohne dessen engsten Mitarbeiter Kurt Tucholsky, der nach Schwe-den emigriert ist – sich im Exil als Neue Weltbühne zu einem wich-tigen Kommunikationsträger der deutschen antifaschistischen Emi-gration entwickelt, bleibt Asiaticus in dieser Zeitschrift eine derentscheidenden Stimmen aus Fernost.29 Im April 1933 beschreibt erden Austritt Japans aus dem Völkerbund als einen »Akt schwär-zesten Undanks«, denn schließlich habe der Völkerbund das Land an

Theaterregisseur. Der hierebenfalls erwähnte RichardPaulick, von Beruf Architekt,war bereits 1933 nachShanghai gegangen und hatsich später auch in derDDR-Architektur einen Na-men gemacht. – Die Nobel-und Dreifuß-Erinnerungenkonzentrieren sich nebeneiner Schilderung der allge-meinen Lebensbedingungenauf diejenigen deutschenund deutsch-jüdischen Emi-granten, die im Exil ihrenantifaschistischen Kampffortsetzten. Zur insgesamtum die 20 000 Menschenumfassenden, vornehmlichjüdischen Emigration inShanghai siehe aus andererSicht z. B.: David Kranzler:Japanese, Nazis and Jews.The Jewish Refugee Com-mittee of Shanghai, 1938-1945, New York 1976;Françoise Kreissler: Exil inShanghai: Problematik undSchwerpunktthemen, in:Kuo Heng-yü, MechthildLeutner (Hrsg.): Deutsch-chinesische Beziehungenvom 19. Jahrhundert bis zurGegenwart (Berliner China-Studien, 19), München1991, S. 293-314.

16 Alfred Dreifuß, a. a. O.

17 Helga Scherner: Deut-sche Antifaschisten währenddes Zweiten Weltkrieges inShanghai, in: asien-afrika-la-teinamerika, Berlin (DDR)Nr. 3/1986, S. 422-428.

18 Hier kommt man umeine kurze Bemerkung zuUmschriften aus dem Chi-nesischen nicht herum:»Xibo« ist die Wiedergabeder beiden von den Chine-sen für »Grczyb« gewähltenSchriftzeichen in der heutegebräuchlichen Pinyin-Umschrift. Die gab es je-doch in den 1930er Jahrennoch nicht. So war auch»Shippe« als Wiedergabeder beiden Schriftzeichen

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seinem Eroberungsfeldzug gegen China nicht gehindert, sondernihm freie Hand gelassen. Nichts, so notiert er mit bitterem Spott,habe den Völkerbund davon zu überzeugen vermocht, dass Japantatsächlich Krieg gegen China führe: weder »die Eroberung derMandschurei und ihre Losreißung von China« noch »die monate-langen Kämpfe in Schanghai (Shanghai)« oder »der Überfall aufSchanhaikwan (Shanhaiguan) und der Feldzug gegen Jehol30«. Kei-nerlei Hilfe habe der Völkerbund dem bedrängten China geleistet,woraus sich nur der Schluss ziehen lasse: »China ist kein Land, son-dern eine Interessenzone.« Und: »Eine Verständigung mit Japan istschon manches Opfer wert, vor allem dann, wenn es auf KostenChinas und, wie sie (gemeint sind die Kolonialmächte England undFrankreich – W. A.) erwarten, auch der Sowjetunion geht.«31

Und während 1935, nach mehreren Feldzügen Tschiang Kai-scheks gegen sie, kaum noch jemand glaubt, dass die Kommunistenin China noch einmal eine einflussreiche Rolle spielen könnten –weshalb Trautmann 1937 ihr politisches Gewicht ignorieren zu kön-nen vermeint –, erkennt Asiaticus, dass der später als »LangerMarsch« berühmt werdende Ausbruch der von der KPCh geführtenTruppen aus der Umklammerung Tschiang Kai-scheks der kommu-nistischen Bewegung neue Kraft verleiht. »Registrieren wir eindenkwürdiges Ereignis«, schreibt er. »Monatelang hatte hier die im-perialistische und die chinesisch-reaktionäre Presse die ›endgültigeVernichtung‹ der Roten Armee avisiert. Die Niederlage sollte unmit-telbar bevorstehen, täglich lasen wir von der Umzingelung der rotenTruppen, vom Massentod der roten Soldaten und ihrer Führer, vonden Siegen Tschiangkaischeks.« Aber: »Es ist geglückt, das Zieleines sechs Monate währenden Marsches (des ersten Teils des ›Lan-gen Marsches‹, der fast genau ein Jahr – von Oktober 1934 bisOktober 1935 – dauerte – W. A.) zu erreichen und die Truppen vonKiangsi (Jiangxi) über den Norden der Provinzen Kwangtung(Guangdong) und Kwangsi (Guangxi) quer durch Hunan (Hunan),Kweichow (Guizhou) und Junnan (Yunnan) zu führen. Es ist ge-glückt – obwohl mehr als eine Million Mann, Truppen der Zentral-regierung und der Provinzen, einen Kordon rings um Kiangsi(Jiangxi) gelegt hatten; obwohl Tschiangkaischek sein Hauptquartierverlegte, alle verfügbaren Truppen und die ganze Luftflotte zusam-menzog, alles aufbot, um den roten Soldaten den Weg über denJangtse (Yangzi) zu versperren. Die Leistung ist gigantisch.«32

Sind solche Berichte heute noch wichtig? Für den, der China ver-stehen will, ganz gewiss. Denn die Revolution von 1949 bezog ihreKraft entscheidend aus Umständen und Verhaltensweisen, wie sieAsiaticus beschreibt: »Die Mannschaften (der von der KPCh geführ-ten Truppen – W. A.)«, notiert er, »stammen aus dem innersten Kerndes chinesischen Volkes«. Oder: »Aber die armen Bauern spieltennicht mit. Sie unterstützten die roten Truppen, sie schlossen sich ihnenals Partisanen an.« Und auch dies: »Die revolutionären Gruppen sie-gen eben nicht mit Bomben, sondern mit der Unterstützung der werk-tätigen Bevölkerung. (...) In diesem Augenblick werden die Funda-mente für den grossen, epochemachenden Neubau Chinas gelegt.«33

In den folgenden Monaten berichtet Asiaticus wieder vor allemüber die japanische Vorgehensweise in China. Im Juli 1935 analy-

möglich – und fand aufdiese Weise Eingang in dieLiteratur.

19 Xibo wenji, hrsgg. v.Shandong sheng zhongdangshi renwu yanjiuhui(Forschungsgesellschaft fürPersonen aus der Ge-schichte der Kommunisti-schen Partei in Shandong),Jinan 1986. – Vgl. WolframAdolphi: Mehr über »Asiati-cus«, in: Die Welbühne, Ber-lin (DDR), Nr. 14 v.4. April 1989.

20 Zhu Maoduo: HansShippe: Ein in Shandonggefallener deutscherFreund, in: Kuo Heng-yü,Mechthild Leutner (Hrsg.):Deutsch-chinesische Bezie-hungen …, a. a. O., S. 346;Neuestes zum Lebenslaufsiehe bei Helga Scherner:Asiaticus – eine Unperson?, in: BochumerJahrbücher zur Ostasien-for-schung, Bd. 25, 2001, S. 243-256. Dort als Ge-burtsdatum der 11. Juli 1896und als Geburtsort das galizische Tarnow.

21 Asiaticus: Von Kantonbis Schanghai 1926-1927,Agis-Verlag Wien u.a. 1928.

22 Ebenda, S. 2 f.

23 Für eine gedrängteDarstellung dieser Ereig-nisse siehe z. B.: OskarWeggel: Geschichte Chinasim 20. Jahrhundert, a. a. O.,S. 56-69; Jürgen Osterham-mel: China und die Welt-gesellschaft. Vom 18. Jahr-hundert bis in unsere Zeit,München 1989, S. 278-312;Jonathan D. Spence: ChinasWeg in die Moderne, Mün-chen-Wien 1995,S. 417-429; vgl. auch –allerdings unter Beachtungdes die Darstellung in jenenJahren schwer belastendenKonflikts zwischen der

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siert er die Abtrennung weiterer nördlicher Provinzen durch die ja-panischen Truppen. »Der Sinn dieses japanischen Angriffs? Die Pro-vinz Hopei (Hebei) mit dreissig Millionen Einwohnern, die nördlichund nordwestlich von ihr gelegenen Provinzen Shantung (Shan-dong) und Shansi (Shanxi) sowie die innermongolischen GebieteChahar und Suiyuan, mit dem Gelben Fluss als der südlichen De-markationslinie, werden in ein neues ›Mandschukuo‹ (Manzhouguo)verwandelt. (...) für den japanischen Überfall auf die Sowjetunion istdie völlige Beherrschung der hier gelegenen Bahnlinien, Heer-straßen und Luftlinien erforderlich. Deshalb leitet diese Aktion dievöllige Abtrennung dieses Gebiets von China und seine Einordnungin den Bereich des japanischen Armeekommandos ein.« Und zweiweitere Themen sind ihm seit 1931 wichtig und werden auch jetztwieder behandelt. Das eine Thema sind diejenigen chinesischen Ge-neräle, die mit den japanischen Aggressoren gemeinsame Sache ma-chen. »Sie werden benutzt,« schreibt er, »solange sie gebraucht wer-den, wie Tschangtsolin (Zhang Zuolin), der in Japans Diensten dasLand brandschatzte und schliesslich von einer japanischen Höllen-maschine (bei einem Attentat – W. A.) aus dem Weg geräumt wurde.Von diesen Generälen erwarten die Millionen der chinesischen Ju-gend, der Arbeiter und Bauern, nichts.« Und das andere ist die Poli-tik der alten Kolonialmächte, insbesondere Großbritanniens. »Derbritische Imperialismus, der in seiner Chinapolitik auf einen KriegJapans mit der Sowjetunion spekuliert, spürt aber jetzt schon, wiedie Axt auch an die Wurzeln der britischen Positionen in China ge-legt wird. (...) Wie lange noch«, so fragt er, »wird der Köder des An-tisowjetkrieges dem britischen Imperialismus über seine aktuellenSorgen und Schmerzen in China und in Asien hinweghelfen?«34

Mit dem Verhältnis zwischen England und Japan befasst sich Asia-ticus im Juli 1935 auch in einem Artikel, der in der im Pariser Exil her-ausgegebenen Monatszeitschrift Unsere Zeit erscheint – was für dievielfältigen Verbindungen spricht, die Grczyb-Asiaticus in die Presseder deutschen Emigration hat. Daran erinnernd, dass England den Ja-panern schon 1918 bei einer Besetzung Ostsibiriens Unterstützung zu-gesagt hatte, um im Gegenzug seine privilegierte Stellung in Chinanicht zu verlieren, stellt er zur aktuellen Lage fest: »Je mehr der japa-nische Imperialismus nach dem Süden drängt (also in die Einfluss-sphäre Großbritanniens – W. A.), desto stärker klammert sich Englandan seinen Ablenkungsplan durch einen Krieg (Japans – W. A) gegendie Sowjetunion.« In einem weiteren Abschnitt analysiert er die wirt-schaftliche Zusammenarbeit Englands mit Japan im von Japan ge-schaffenen Marionettenstaat Mandschukuo (Manzhouguo).35

Im April 1936 warnt Asiaticus – nun wieder in der Neuen Welt-bühne – vor einem japanischen Angriff auf die Mongolische Volks-republik als »unmittelbares Vorspiel zum Überfall auf die Sowjet-union«,36 und im Oktober 1936 ahnt er den Xi’an-Zwischenfall, derTschiang Kai-schek so sehr in Bedrängnis bringen wird, geradezuvoraus. »Der japanische Generalstab stellt«, schreibt er zunächst,»die Frage ganz eindeutig: entweder werden die Beziehungen zwi-schen Japan und China um sehr vieles besser, oder um sehr vielesschlechter. Um sie sehr viel besser zu gestalten, verlangt er erstensAuflösung der japanfeindlichen Organisationen und Verbot der anti-

KPdSU und der KPCh –:Neueste Geschichte Chinas.Von 1917 bis zur Gegen-wart, hrsgg. v. Institut fürden Fernen Osten der Aka-demie der Wissenschaftender UdSSR, Berlin (DDR)1975 (im russ. OriginalMoskau 1972), S. 88-100.

24 Asiaticus: Von Kantonbis Schanghai, a. a. O.

25 Zhu Maoduo: HansShippe, a. a. O., S. 349. –Begleitet wird Grczyb beidiesem zweiten – und erstmit seinem Tode 1941 en-denden – China-Aufenthaltvon seiner Frau TrudyRosenberg (vgl. ebenda),und wie heftig die Ge-schichtsschreibung vonKommunisten unter denLinienkämpfen der kommu-nistischen Bewegung gelit-ten hat und oft noch weiterleidet, wird auch hier wiederdeutlich, wenn etwa Nobel/Nobel formulieren: »Einigewenige Genossen hatten(...) Spezialaufträge, die derUnterstützung der chinesi-schen KP dienten, dazugehörten z. B. Walter Czol-lek sowie Trude Rosenberg,die sich jedoch nach Kriegs-ende zur Renegatin ent-wickelte« (Günter Nobel,Genia Nobel: Als politischeEmigranten, a. a. O.,S. 886). Wahrscheinlich desUrteils »Renegatin« wegenwird auch auf einen Hinweisdarauf verzichtet, dassTrude (Trudy) RosenbergGrczybs Frau gewesen ist.

26 Wieder das Umschrif-ten-Problem. Im Folgendenwird zum besseren Ver-ständnis die Pinyin-Um-schrift in Klammern bei-gefügt.

27 Asiaticus: Yen Hsi-Schan (Yan Xishan), in: DieWeltbühne, Berlin, Nr. 44 v.28. Oktober 1930, S. 645.

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japanischen Propaganda in Wort, Schrift und Bild, das heisst Unter-drückung jeder patriotischen Bewegung zur Verteidigung der Exi-stenz Chinas; zweitens Entlassung aller antijapanischen Beamtenund Einstellung von japanischen Ratgebern in allen wichtigen Äm-tern (...), drittens Freiheit für die japanische Luftfahrt in China, dasheisst zu der bereits bestehenden Freiheit der japanischen Kriegs-flotte in den chinesischen See- und Binnengewässern (...), viertensvöllige Autonomie für Nordchina, das heisst Zustimmung zur weite-ren Zerstückelung Chinas, und fünftens Reduktion der Zölle, dasheisst Auslieferung des chinesischen Marktes an Japan.« Undschlussfolgert dann: »Es gibt keine chinesische Regierung, die dieseForderungen akzeptieren könnte, ohne von der überwältigendenMehrheit des chinesischen Volkes davongejagt zu werden.«37

Das ist es, warum die Generäle Zhang Xueliang und Yang Hu-cheng ihrem »Generalissimus« Tschiang Kai-schek die Gefolgschaftverweigern und sich Tschiang schließlich auf die Zusammenarbeitmit den Kommunisten einlassen muss – im Dezember 1936 und erstrecht im Sommer 1937, nachdem am 7. Juli 1937 mit dem so ge-nannten Lugouqiao-Zwischenfall38 die umfassende Aggression Ja-pans gegen China beginnt.

Die Vorahnung der WeltkriegskonstellationUnd Asiaticus bleibt bei der klaren Analyse der innerchinesischenKräftekonstellationen nicht stehen. Es mag ja mancher mit dem Pa-thos seiner Texte ein paar Schwierigkeiten haben – an der sicherenVorahnung der späteren Weltkriegskonstellation ändert das garnichts.

»Und es gibt«, schreibt er im schon zitierten Aufsatz vom Oktober1936, »auch keine andere Wahl für China als den Kampf auf Tod undLeben um seine Existenz. Chinas Kampf um seine nationale Exi-stenz gegenüber dem Imperialismus Japans ist ein heroischer Kampfauf vorgeschobenem Posten im Weltkampf gegen die fascistischeKriegs- und Eroberungspolitik.«39

Am 26. November 1936 erscheint in der Neuen Weltbühne ein Ar-tikel von Asiaticus, der mit der Orts- und Zeitangabe »Shanghai, imNovember« versehen ist und in dem er das Wesen des im Geheimenausgehandelten Antikomintern-Paktes, den er im Frühjahr 1937 aufdie eingangs beschriebene Weise als »Nazi-Nippon-Allianz« charak-terisieren wird, herausarbeitet, ohne diesen Pakt doch schon zu ken-nen oder gar zu wissen, dass er am 25. November, also einen Tag vordem Erscheinen seines Artikels, unterzeichnet sein wird. Von der ja-panischen Forderung an Tschiang Kai-schek ist da die Rede, einenPakt abzuschließen, mit dem die chinesische Regierung »im Gebietvon Nanking (Nanjing), Shanghai, Hankau (Hankou), Kanton(Guangzhou) und Hongkong (Xianggang) (...) den Grundsatz der ge-meinsamen sino-japanischen Verteidigung gegenüber der ›rotenInvasion eines dritten Landes‹ anerkennen« soll. Ein »ständiges Mi-litärbündnis« soll das werden, das »der japanischen Flotte die Befe-stigung der chinesischen Küste und der japanischen Luftflotte dieErrichtung von Aerodromen und Luftlinien innerhalb Chinas gestat-tet – alles zum Schutz gegen die drohende ›rote Invasion‹« – undalles, so stellt Asiaticus klar, »im Bereich der englischen Vormacht-

28 Asiaticus: In den Blut-spuren der Kokuhonsha, in:Die Weltbühne, Berlin, Nr.22 v. 31. Mai 1932, S. 813.

29 Eine zweite besonderswichtige Stimme aus Fern-ost ist in der »Neuen Welt-bühne« die von AgnesSmedley.

30 »Jehol« ist ein alterProvinzname in Nordost-china.

31 Asiaticus: Vom ster-benden Völkerbund, in:Die neue Weltbühne, Prag/Wien/Zürich, Nr. 15 v.13. April 1933, S. 458-461.

32 Asiaticus: Die Roten inSzechuan (Sichuan), in:Die neue Weltbühne, Prag/Zürich/Paris, Nr. 24 v.13. Juni 1935, S. 753. Überden »Langen Marsch« gibtes den außerordentlichwichtigen Bericht einesanderen deutschen Kom-munisten: Otto Braun(chinesisch: Li De), der inChina als Berater der Mi-litärführung der KPCh tätigwar. – Otto Braun: Chinesi-sche Aufzeichnungen, Berlin(DDR) 1973, S. 213-302.

33 Asiaticus: Die Rotenin Szechuan, a. a. O.,S. 753-758.

34 Asiaticus: ZweitesMandschukuo (Man-zhouguo), in: Die neue Welt-bühne, Prag/Zürich/Paris, Nr. 28 v. 11. Juli 1935,S. 870-874.

35 Asiaticus: Der englischeImperialismus und die japa-nischen Angriffspläne imFernen Osten, in: UnsereZeit, Paris/Basel/Prag,Nr. 6-7, Juli 1935, S. 10-14.

36 Asiaticus: Japan unddie Mongolei, in: Die neueWeltbühne, Prag/Zürich/Paris, Nr. 16 v. 16. April1936, S. 497-500.

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stellung.« »Dieser pfiffige ›Antikommunistenpakt‹«, fährt er fort,»der im Namen einer ›roten Invasionsgefahr‹ den Sprung der japani-schen Seeflotte auf die Zone Shanghai-Hongkong-Singapore vorbe-reitet, ist ein Witz, eine Verhöhnung Englands« … und dann folgt einGedanke, der beim Erscheinen des Artikels schon überholt ist: …»wie sie sich Ribbentrop in Europa heute noch nicht leisten kann.«40

Ribbentrop leistet sich: Am 25. November ist der »Antikommuni-stenpakt« – der Antikominternpakt – mit seiner weltweiten Stoßrich-tung Realität.

Im Januar 1937 setzt sich Asiaticus mit den Konsequenzen desPaktes für die deutsch-chinesischen Beziehungen auseinander. Derbisherige Tauschhandel – deutsche Maschinen und Kriegsmaterialgegen chinesische Rohstoffe – werde ganz zwangsläufig zusammen-brechen müssen, Japan werde die Monopolisierung des chinesischenMarktes anstreben, habe seinerseits keinerlei Rohstoffe, die es nachDeutschland liefern könne, und Deutschland seinerseits werde sei-nen Markt kaum für japanische Produkte öffnen. Deutschland »rui-niert seinen Handel mit China, damit Japan kriegsfähig wird und deneuropäischen Handel aus Ostasien verdrängen kann.« Dies sei nichtsanderes als »Handels-Harakiri«.41

Ein wenig später – im Februar 1937, zwei Monate also, bevor sichdie deutsche Botschaft mit seinen als M. G. Shippe zu Papier ge-brachten Auffassungen auseinandersetzen wird – nutzt Asiaticus denBesuch des deutschen Kreuzers »Emden« in Shanghai und Nanjingzu einer Wiedergabe chinesischer Pressestimmen zum chinesisch-deutschen Verhältnis. Aus der »sehr verbreiteten« Shanghaier ZeitungLih Pao (Li Bao) zitiert er: »›Unser Land ist der beste Markt fürdeutsche Waren. Es ist deshalb nur zu hoffen, dass die deutschenBehörden sich diesen Fall gründlich überlegen und ihre Zusammen-arbeit mit dem Aggressor im Fernen Osten aufgeben werden.‹« Under fügt hinzu: »Die hiesigen überlegen gar nichts. In kolonialerÜberheblichkeit folgern sie aus alledem nur, dass es höchste Zeitwäre, mit Hilfe des japanischen Militärfascismus die chinesischePresse endlich gleichzuschalten.«42

Nach dem 7. Juli 1937 konzentrieren sich die Asiaticus-Artikelnatürlich auf die weitere Entwicklung des nun ganz China erfassendenKrieges. Und wieder greift er in seinen Schlussfolgerungen weit vo-raus. Während die Westmächte abwarten und auf irgendwie gearteteArrangements mit Japan hoffen, schreibt er im August 1937: »Es liegtder ganzen friedliebenden Welt daran, dass der japanische Massen-mord in China durch eine internationale Friedensaktion, die dem An-greifer in den Arm fällt, aufgehalten werde. Eine solche Friedensak-tion kann nur dann erfolgreich sein, wenn alle pazifischen Mächte,England, die USA, die Sowjetunion und Frankreich, den Abwehr-kampf des chinesischen Volkes unterstützen und gemeinsam gegen diejapanische Aggression auftreten.« Und es folgt die Entlarvung derdeutschen und italienischen Politik: »Sowohl der deutsche als auchder italienische Botschafter haben in Nanking (Nanjing) erklärt, dasssie für den Frieden wären und sogar ›Sympathie‹ für China hätten, esaber für ratsamer hielten, dass keine Einmischung von außen erfolgte.(...) Dieser deutsch-italienische Plan der ›Nichtintervention‹ stimmtdurchaus mit den Wünschen Japans überein.«43 Und im Oktober 1937

37 Asiaticus: Japan ver-schluckt China, in: Die neueWeltbühne, Prag/Zürich/Paris, Nr. 41 v. 8. Oktober1936, S. 1279-1281.

38 Die japanische Militär-führung nutzt einen Zusam-menstoß zwischen japani-schen und chinesischenMilitäreinheiten an der Lu-gouqiao, der »Marco-Polo-Brücke«, die am westlichenStadtrand von Peking (Bei-jing) liegt, als Anlass für An-griffe auf breiter Front, diebis zum Herbst 1938 zur Er-oberung des gesamten öst-lichen Teils Chinas führen.

39 Asiaticus: Japan ver-schluckt China, a. a. O.,S. 1281. – Die Schreibweise»fascistisch« entspricht derzeitüblichen Übernahme desBegriffes aus dem Italieni-schen.

40 Asiaticus: Hitler inTokio, in: Die neue Welt-bühne, Prag/Zürich/Paris,Nr. 48 v. 26. November1936, S. 1513-1515. – Sieheauch einen Nachdruck die-ses Artikels in:Das Blättchen, Berlin, Nr. 24v. 27. November 2006,S. 10-13.

41 Asiaticus: Handels-Harakiri, in: Die neue Welt-bühne, Prag/Zürich/Paris,Nr. 1 v. 1. Januar 1937,S. 5-9.

42 Asiaticus: KreuzerEmden, in: Die neue Welt-bühne, Prag/Zürich/Paris,Nr. 9 v. 25. Februar 1937,S. 272.

43 Asiaticus: China imAbwehrkrieg, in: Die neueWeltbühne, Prag/Zürich/Paris, Nr. 35 v. 26. August1937, S. 1094.

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prognostiziert er: »Im Weltkrieg griff Amerika in Europa ein undbrachte die Entscheidung. Im kommenden Weltkrieg (faktisch sindwir schon in seiner ersten Phase – {Hervorhebung – W. A.}) wirdAmerika seine Streitkräfte vor allem in der pazifischen Zone kon-zentrieren. Seine wichtigsten Partner im Fernen Osten werden dieSowjetunion und das um seine Befreiung kämpfende China sein. Dieenglisch-amerikanische Kooperation war lange Zeit Tokios Schreck-gespenst – sie war aber immer nur eine potentielle Gefahr. Der pazi-fische Block USA-UdSSR-China ist mehr als eine Drohung, er isteine rapide wachsende Kräftekonstellation, die dem japanischen Im-perialismus den Prozess machen wird. England kann diese Kräfte-gruppierung im Fernen Osten nur im geringen Maße aufhalten; eswird sich ihr im Interesse des Imperiums anschließen müssen.«44

Bleibende Leistungen eines weithin unterschätzten MannesAls Asiaticus seine Analyse der ersten Kriegswochen zu Papier bringt,dauert es noch lange, bis die von ihm vorausgesagte Kräftekonstella-tion tatsächlich entsteht, aber am Ende behält er Recht. Zunächst gibtes noch zahlreiche Umwege und Hindernisse. Die Sowjetunion ver-einbart mit China am 21. August 1937 einen Nichtangriffsvertrag undstellt sich damit an Chinas Seite, aber der Nichtangriffspakt zwischender Sowjetunion und Deutschland vom 23. August 1939, die französi-schen und britischen Hoffnungen, dass sich der deutsche und derjapanische Aggressionsdrang am Ende doch vor allem auf die Sow-jetunion richten mögen, und das Festhalten vor allem Großbritan-niens an seinen alten Kolonialmachtambitionen in China sind nichtgeeignet, zu abgestimmten Positionen zu gelangen.45 In den USA be-ginnt 1939/40 die Bereitschaft zur Unterstützung Chinas zu wach-sen, aber erst nach dem Überfall Japans auf Pearl Harbour am 7. De-zember 1941 entwickelt sich gemeinsames militärisches Handeln.Dann aber wird China zum festen Bestandteil der Anti-Hitler-Koali-tion. Am 9. Dezember 1941 erklärt die Tschiang-Kai-schek-Regie-rung Deutschland den Krieg. China gehört am Kriegsende zu denSiegermächten des Weltkrieges und Gründungsstaaten der UNO undist neben der Sowjetunion, den USA, Frankreich und Großbritanniendas fünfte Ständige Mitglied des UN-Sicherheitsrates.

Der Kommunist und Internationalist Heinz Grczyb alias Asiaticushat – wie die hier vorgestellten knappen Auszüge aus seinen Repor-tagen belegen – von den Entwicklungen in China, Japan und aufdem fernöstlichen Kriegsschauplatz ein von Sachkenntnis und Ge-staltungskraft geprägtes Bild gezeichnet, das bis heute nichts vonseinem Wert und seiner Anschaulichkeit verloren hat, und mindes-tens zwei seiner Positionen sind – so meine ich – auch für die über-greifende Geschichtsschreibung von bleibendem Wert.

Da ist zum ersten seine Beurteilung der umfassenden japanischenAggression gegen China als erste Phase des Zweiten Weltkrieges.Dies ist eine Leistung, die eigentlich Bestand haben müsste. Sie hatjedoch bisher in die europäische und amerikanische Geschichts-schreibung, so weit ich das überblicken kann, keinen Eingang ge-funden, und das ist bedauerlich und bezeichnend zugleich. Zu sehrwirkt bis heute die alte Tradition fort, die Dinge aus eurozentristi-scher Sicht zu betrachten, und in gewisser Weise wird damit die da-

44 Asiaticus: USA imFernen Osten, in: Die neueWeltbühne, Prag/Zürich/Paris, Nr. 43 v. 21. Oktober1937, S. 1351.

45 Eine Zeitlang scheintsogar eine ganz andereKonstellation auf. VonHerbst 1939 bis Sommer1940 kommt es im Ergebnisdes Hitler-Stalin-Paktes undder deutschen Siege beiden ersten Feldzügen inEuropa bei der nun inTschungking (Chongqing)ansässigen national-chinesi-schen Regierung zu einerkurzzeitigen Belebung derHoffnung, man könne sichmit Deutschland und derSowjetunion gleichzeitigarrangieren und damit denschon von Sun Yatsengehegten Traum eines»Kontinentalbündnisses«gegen die alten Kolonial-mächte Großbritannien undFrankreich sowie gegenJapan und die USA verwirk-lichen. Das national-chinesi-sche Interesse trifft sichdabei mit den anhaltendenVersuchen der deutschenDiplomatie, Japan undChina zu einem Waffenstill-stand zu bringen. Die freilichgründen sich nicht auf fried-liche Ziele, sondern darauf,Japan eine Erholungspausezu verschaffen, damit esden von der deutschenFührung erhofften Angriffauf die Sowjetunion startenkann. Mit dem Dreimächte-pakt zwischen Deutschland,

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malige Geringschätzung der fernöstlichen Kriegsereignisse fort-gesetzt – trotz der nach Millionen zählenden Toten, die der japa-nisch-chinesische Krieg schon in seinem ersten Jahr forderte, undtrotz der von Asiaticus so treffend beschriebenen Bedeutung derAchse Berlin-Rom-Tokio für diesen Krieg.

Und damit ist die zweite bleibende Leistung genannt: die Heraus-arbeitung der großen Bedeutung des Antikomintern-Paktes.

Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang einen Blick auf die Be-handlung des Antikomintern-Paktes in der Geschichtsschreibung derDDR auf der einen und im Mainstream der Geschichtsschreibungder BRD auf der anderen Seite zu werfen.

Die DDR-Historiker legen den Schwerpunkt auf die Wirkung desPaktes: zunächst für die Kriegsvorbereitung und dann für die Zieleund Opfer der Aggressionspolitik der Achse Berlin-Rom-Tokio. KarlDrechsler sieht 1964 im Antikomintern-Pakt »einen wichtigen Mei-lenstein auf dem Wege zum zweiten Weltkrieg«, gar »einen Kriegs-akt (…), der vor allem gegen die Sowjetunion, aber auch gegen dieübrigen kapitalistischen Staaten sowie gegen die Volksmassen in al-len Ländern gerichtet war, die sich einer faschistischen Aggressionwidersetzten.«46 Helmuth Stoecker vertritt 1968 die Auffassung, dassder im Pakt »herausgestellte Antikommunismus (…) die faschisti-sche Aggressionspolitik rechtfertigen und zugleich die Aggressions-absichten beider Staaten gegen die Westmächte tarnen« sollte.47

In der BRD hingegen konzentriert sich der Mainstream der Ge-schichtsschreibung auf die Effizienz des Paktes bzw. auf den Mangelan derselben. Theo Sommer stellt sich 1962 das Ziel, die Auffassungder »Ankläger der Siegernationen« in den Kriegsverbrecherprozes-sen von Nürnberg und Tokio, wonach »eine enge Allianz zwischendem nationalsozialistischen Deutschland und dem Kaiserreich Ja-pan« bestanden habe, zu widerlegen.48 Die zweifellos vorhandenentiefgehenden Widersprüche zwischen Deutschland und Japan, dienatürlich auch von den DDR-Historikern immer gesehen wordensind – nicht umsonst gibt Drechsler seinem Dokumentenband von1978 den Titel »Das Bündnis der Rivalen«49 –, werden hier zum Ent-scheidenden, die trotz aller »Ineffizienz« des Bündnisses verheeren-den Wirkungen für die Opfer der Aggressionspolitik treten in denHintergrund. So kommt Sommer denn auch zu solch groteskenSchlussfolgerungen wie der, dass Japan und Deutschland eben we-gen der »Ineffizienz« ihres Bündnisses »alsbald die bittere (Hervor-hebung – W. A.) Erfahrung« hätten machen müssen, dass »sich ihreGroßraum-Utopien nicht im weltpolitischen Vakuum verwirklichenließen.« Sie seien »im Verfolg ihrer Ziele auf andere Gegner« ge-stoßen »als nur diejenigen, die sie zu treffen suchten: auf England inerster, auf die Vereinigten Staaten in zweiter Linie.«50 WolfgangMichalka legt 1978 eine ganz andere Analyse vor, sieht den Pakt alseine »deutliche Wendemarke in der internationalen Politik«, be-schreibt auch die von Beginn an gegen England gerichtete Stoßrich-tung des Paktes,51 aber China als erstes und unmittelbares Opfer derPakt-Politik bleibt gänzlich ausgeblendet. So auch bei Alfons Esser,der 1986 die Auffassung vertritt, dass die »propagandistische Wir-kung« des Paktes »weit größer« gewesen sei als seine »faktische Be-deutung«.52

Japan und Italien vom27. September 1940 erledi-gen sich die national-chine-sischen Überlegungen. –Und noch eine andere Kon-stellation spielt kurzzeitigeine Rolle: Im März 1940etabliert Japan im von ihmbesetzten Teil Chinas eineMarionettenregierung unterWang Jingwei, die vonDeutschland offiziell alsRegierung Chinas aner-kannt und als Bündnispart-ner behandelt wird. Da dienational-chinesische Regie-rung im unbesetzten TeilChinas aber den Krieggegen Japan weiterführt,kommt es nicht zu der vonJapan und Deutschlanderhofften »Herüberziehung«Chinas. – Vgl. MechthildLeutner (Hrsg.), WolframAdolphi u. Peter Merker (Be-arb.): Deutschland undChina 1937-1949, a. a. O.,S. 110-114 u. S. 209-222.

46 Karl Drechsler:Deutschland – China –Japan 1933-1939, a. a. O.,S. 23 u. 25.

47 Handbuch der Verträge,a. a. O., S. 282.

48 Theo Sommer:Deutschland und Japanzwischen den Mächten,a. a. O., S. VII.

49 Karl Drechsler (Hrsg.):Das Bündnis der Rivalen,a. a. O.

50 Theo Sommer, a. a. O.,S. 4.

51 Wolfgang Michalka:Vom Antikominternpaktzum Euro-asiatischen Konti-nentalblock: RibbentropsAlternativkonzeption zuHitlers außenpolitischem»Programm«, in: Ders.(Hrsg.): Nationalsozialisti-sche Außenpolitik, Darm-stadt 1978, S. 472 f.

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Viel klarer in der Beurteilung, dass es sich beim Antikomintern-Paktum einen für China verheerenden Vertrag handelt, hingegen die Spe-zialisten für die Deutschland-Fernost-Beziehungen John P. Fox ausGroßbritannien und William C. Kirby aus den USA sowie der japa-nische Weltkriegs-Historiker Saburo Ienaga.53

Indes: Wie unterschiedlich auch die Einschätzungen des Antikom-intern-Paktes durch die DDR-Historiker hier und die Historiker desBRD-Mainstreams da ausgefallen sind: Die Analysen und Progno-sen des Grczyb-Asiaticus haben in keiner ihrer Arbeiten eine Rollegespielt.54 Das mag für die Arbeiten aus der BRD auf der Hand lie-gen – wo schließlich hätte man dort auf Urteile von KommunistenWert gelegt, zumal auf solche, die Deutschlands Verantwortung fürdie Weltkriegsereignisse nicht auf Europa, Nordafrika und den At-lantik begrenzen, sondern auch für den Krieg in Fernost namhaftmachen?55 Aber für die DDR – da befremdet sie, diese Ignoranz.Jedoch nur auf den ersten Blick. Denn dann werden die Gründeschnell klar. Grczyb-Asiaticus als »West«-Emigrant, dazu als Kom-intern-Kritiker, als »Brandler-Anhänger«, als Autor der »NeuenWeltbühne«, in der auch viele andere später »Vergessene« und Ver-femte publiziert haben, dazu mit Drähten zum Pariser Exil um WilliMünzenberg, dazu mit der KP Chinas verbunden – er teilt dasSchicksal so vieler Kommunisten, die von der SED-Führung als nicht»würdig« erachtet wurden, Bestandteil der »richtigen« Geschichte zusein. Sein wichtiges Buch Von Kanton bis Schanghai 1926-1927bleibt unbeachtet.

Grczyb-Shippe-Xibo-Asiaticus (1897-1941) ist nach Auskunftvon Zhu Maoduo »auf dem Heldenfriedhof im Gebiet Linyi« in derProvinz Shandong begraben. Auf dem Grabstein – so der chinesi-sche Historiker in einer leider etwas uninspirierten Übersetzung (fürdie er freilich keine Verantwortung trägt) weiter – »steht zum ehren-den Gedenken: Genosse Shippe gab für die Befreiung des chinesi-schen Volkes in Treue sein Herz und verbreitete die Nachrichtenüber den gerechten chinesischen Kampf. Er wird für immer in denHerzen des chinesischen Volkes leben.«56 Das soll hier so stehenbleiben – und nicht der Versuchung nachgegeben werden, nun nocheinen Abschnitt zur Instrumentalisierung von Geschichte undSchicksalen in der VR China anzufügen.

Um die Arbeiten des Asiaticus und Texte über ihn ausführlichnachlesbar zu machen, habe ich eine Website www.asiaticus.deeingerichtet.

52 Alfons Esser: Die dreiFernostverträge des Jahres1936 und ihre Bedeutungfür die deutsche Chinapoli-tik, in: Kuo Heng-yü, Mecht-hild Leutner (Hrsg.):Beiträge zu den deutsch-chinesischen Beziehungen(Berliner China-Studien 12),München 1986, S. 100.

53 Siehe die entsprechen-den Literaturangaben inAnm. 3.

54 Sie spielen auch in denhier genannten Arbeiten ausanderen Ländern keineRolle, aber das ist hier nichtThema. – Über Arbeiten jen-seits des Mainstreams inder BRD fehlen dem Verf.Kenntnisse.

55 Siehe dazu auch die inAnm. 5 beschriebene per-sönliche Erfahrung des Verf.

56 Zhu Maoduo: HansShippe, a. a. O., S. 364.

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Heft 200! Dieses Jubiläum glücklich zu erreichen, das wurde in denEditorials aller vorangegangenen Ausgaben unserer »UTOPIE krea-tiv« niemals angekündigt, und ich darf aus meiner Einsicht alsdienstjüngster Mitstreiter der (rein ehrenamtlich) arbeitenden Re-daktion hier mitteilen, es wurde auch gelegentlich bezweifelt, wenn-gleich immer angestrebt, und wäre es das Letzte, das wir machten.

Dieses zähe Bestehen einer Herausforderung, die vor mehr als an-derthalb Jahrzehnten als gegeben erkannt wurde, widerspiegeln ingewisser Weise die Vorsätze aller Hefte, diese Lagebesprechungen,Situationsanalysen, Zeitkommentare, historischen Exkurse aus ak-tuellen Anlässen und redaktionellen Mitteilungen von früheren undjetzigen Mitgliedern der Redaktion, welche hier in, wie ich meine,bemerkens- und erinnernswerten Auszügen versammelt sind.

Auslöser für diesen Beitrag zum Jubiläumsheft war mir aus jenendiese Sentenz: »Ob man mit dem als richtig Erkannten einsam bleibtund sich damit in die Gefahr begibt, irre zu werden, oder sich trotzder Kräfteverhältnisse in die Politik wirft, wohl wissend, daß man,gemessen am eigenen Maßstab, nur scheitern kann, dies aber demUntätigsein in der selbstgewählten Isolation vorzieht – muß jederfür sich selbst entscheiden. Das steht außerhalb jeder fremden Be-wertung. – Jörn Schütrumpf« (Heft 195, Jan. 2007)

Nun, die vorliegende Ausgabe 200 der UTOPIE kreativ, der beste-hende Arbeitswille ihrer Redaktion und die anhaltende Beteiligungeiner wieder wachsenden Zahl von Autorinnen und Autoren sowiedas Bekenntnis der Herausgeber zur Fortsetzung unserer Arbeitsagen klar, welche Alternative wir gewählt haben.

GERD KURZE

Heft 1, Sept. 1990

Die Idee des Sozialismus war und ist in den letzten beiden Jahrhun-derten die einflussreichste Utopie. Die erste historische Variante zuihrer konkreten Verwirklichung hat sich jedoch als untauglich er-wiesen. Sind damit auch die Ideale einer sozialistischen Wirtschafts-und Gesellschaftsverfassung untergegangen? Oder haben nicht ge-rade die – auch und nicht zuletzt – sozialistischen Forderungen nachmenschlicher Freiheit, öffentlicher Diskussion, demokratischer Ein-flussnahme, leistungsgerechter Anerkennung, gleichgestelltem Zu-sammenleben und wachsender Lebensqualität das Scheitern diesesGesellschaftstyps entscheidend bewirkt?

HELMUT STEINER

Gerd Kurze – Jg. 1949,Journalist, Redakteur beiUTOPIE kreativ.

Helmut Steiner – Jg. 1936,Prof. Dr. Soziologe, Chefre-dakteur von UTOPIE kreativ1990 bis 1994, Initiator desFördervereins Konkrete Utopien.

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Gute Vorsätze –Eine Chrestomathie!

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Heft 2, Okt. 1990Wer allein in Wehmut oder gar Resignation auf die vergangene DDRschaut – die z. B. mit vielen sozialen Sicherheiten auch Bewahrens-wertes vorzuweisen hatte – verschließt sich selbst vor den neuenHerausforderungen und Möglichkeiten. Auf den dänischen Roman-cier Martin Andersen Nexö geht der Satz zurück: Die Verbittertenhaben noch nie die Welt verändert.

HELMUT STEINER

Heft 4, Jan. 1991Welchen Stellenwert haben heute und künftig die Widersprüche zwi-schen Kapital und Arbeit, zwischen Reichtum und Armut, zwischenden Geschlechtern, zwischen Mensch und Natur, zwischen demo-kratischer Fremd- und individueller Selbstbestimmung, zwischen›Erster‹ und ›Dritter‹ Welt? Wie sind sie ineinander verschlungen,gibt es dabei einen Hauptwiderspruch, oder welche Prioritäten sindzwischen ihnen gegeben und schließlich: welche Programme sindnotwendig und realistisch, um diese Widersprüche demokratisch undfriedensstiftend durch gesellschaftliches Handeln zu lösen? Was be-deutet also anti-kapitalistisch mit dem Blick auf das Jahr 2000?

HELMUT STEINER

Heft 6, Febr. 1991Im Unterschied zu anderen marxistischen Theoretikern hat Gramscidie von vielen betonte Einsicht, den politischen Überbau nicht alleinals mehr oder weniger passive Entsprechung der sozialökonomi-schen Basis aufzufassen, tatsächlich weitergedacht. Für ihn reduziertsich der politische Überbau auch nicht allein auf die HERR-SCHAFTSverhältnisse und die repressive GEWALT, sondern ererkennt die aktive ZIVILISATORISCHE Bedeutung des geistigenLebens und der Kultur als Stimulanzen zur Veränderung kapitalisti-scher Verhältnisse. Politische HERRSCHAFT ist für den histori-schen Fortschritt durch geistig-kulturelle und moralische FÜH-RUNG in der Gesellschaft zunehmend zu begleiten und schließlichzu verdrängen. Für eine neue HEGEMONIE in der politischen Kräf-tekonstellation auf dem weiteren Weg zu einer ZIVILGESELL-SCHAFT kommt dem INTELLEKTUELLEN eine Schlüsselrollezu, die er sowohl innerhalb wie außerhalb der beruflichen Intelligenzerkennt.

HELMUT STEINER

Heft 6, Apr. 1991Vor allem politische Hindernisse türmen sich auf dem Weg zu einer zi-vilisierten, gewaltfreien und friedfertigen Gesellschaft. Dabei ist eseine UTOPIE, der nicht nur Sozialisten, sondern alle wahren Demo-kraten und Humanisten folgen könnten. Ihrer aller Zusammengehenauch in diesem Punkte ist aber schon die nächste Utopie. Trotzdem –und gerade deshalb – sollte versucht werden, beiden UTOPIEN zufolgen. Erinnert sei an eine Maxime, die der junge Marx 1843/44 inseiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie formulierte: Alle Ver-hältnisse umwerfen, in denen der Mensch ein geknechtetes Wesen ist.

HELMUT STEINER

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Heft 41/42, März/Apr. 1994Wir wissen nicht erst seit Bloch, dass Zukünftiges als Latenz in unse-ren Wirklichkeiten enthalten ist. Mit der Kategorie des Möglichen alsNoch-Nicht, objektiv und subjektiv, wäre Latenz in Potenz umzuset-zen. Das Subjektive sind nach Bloch »der tagespolitische Kampf, diepraktischen Schritte, die notwendig sind für einen radikalen Umbauder Verhältnisse von Menschen zu Menschen und zur Natur«. Das ist»Praxis auf längere Sicht«, das ist »revolutionäre Praxis«.1

GUNTHER KOHLMEY

Heft 45/46, Juli/Aug. 1994Man wird den Eindruck nicht los, als wenn es nicht mehr darumgehe, was, sondern nur noch darum, wie es gesagt wird: Hauptsacheverletzend, selbst die Denunziation nicht scheuend, wenn sie Auf-merksamkeit nur verspricht. Manch einer, der über den Faschismusräsoniert, der sich in der ostdeutschen Gesellschaft formiere – ur-sprünglich einmal in den Komitees für Gerechtigkeit ausgemacht,nun in der unterdessen so erfolgreichen PDS –, hat zumindest eineserreicht: dass er im Gespräch bleibt, was ja auch heißt, dass er imGeschäft bleibt. Und vielleicht ist mehr gar nicht beabsichtigt.

JÖRN SCHÜTRUMPF

Heft 50, Dez. 1994Der Umgestaltungsdruck nimmt im globalen, regionalen und lokalenRaum weiter zu, weil die überkommenden Verhältnisse und Regu-lierungsmechanismen es nicht mehr ermöglichen, die aufgestautenProbleme kleinzuarbeiten. Die alte Weltordnung wirkt wie eine Pla-nierraupe, die nichts mehr einebnet, sondern nur noch alles vor sichherschiebt – inzwischen drohen die aufgehäuften Schuttmassen, diezu einem enormen Problem geworden sind, den untauglichen Pro-blemlösungsmechanismus, unter sich zu begraben. Die Welt befindetsich in einem Umbruch, dessen Ausgang völlig offen ist.

ARNDT HOPFMANN

Heft 51, Jan. 1995Wenn 99 Prozent aller Kapitalbewegungen dazu dienen, spekula-tiven Gewinnen nachzujagen, wird die von biosozialen Wesen be-völkerte wirkliche Welt zum eher marginalen Störfaktor.

ARNDT HOPFMANN

Heft 52, Febr. 1995Nach 1968 folgte im Westen dem steckengebliebenen Aufbruch in be-freite Individualiät durch kollektives Handeln der jammerreiche Weg indie »Selbsterfahrungsgruppe« und die »Befindlichkeit« – nicht wenigeschwören unterdessen auf Esoterik. Im Osten geht, wie bekannt, allesschneller – manche halten das für »nachholende Modernisierung«.

JÖRN SCHÜTRUMPF

Heft 56, Juni 1995Worum es geht, ist die Aneignung des sozialen Raumes durch diegesellschaftlichen Individuen selbst, »die Einschränkung des Gel-tungsbereiches der Ökonomischen Vernunft« (A. Gorz) zugunsten

Gunther Kohlmey –1913-2000, Prof. Dr.,Wirtschaftswissenschaftler,Gründungsvorsitzender desFördervereins KonkreteUtopien.

1 Ernst Bloch: Tendenz –Latenz – Utopie, Frankfurtam Main 1978, S. 341, 246 ff.

Jörn Schütrumpf – Jg. 1956,Dr. phil., seit Gründung1990 Redakteur bei UTOPIE kreativ.

Arndt Hopfmann – Jg. 1956,Dr. oec., studierte Volkswirt-schaftslehre und Afrikanistikin Leipzig und arbeitete zuFragen von Weltmarkt-integrations- und Peripheri-sierungsprozessen an derUniversität Leipzig und derFreien Universität Berlin,1992 bis 2007 Redakteurbei UTOPIE kreativ.

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der Ausdehnung des Geltungsbereiches des sozial Vernünftigen, wases ermöglichen würde, mit weniger Konsum besser zu leben undsinnerfüllter zu arbeiten. Es geht um die Verlagerung der sozialenVerantwortlichkeit weg vom Paternalismus des Staates und der poli-tischen Parteien hin zur Aktviierung sozialer Basisbewegungen, re-gional, national und global – oder wie es Jaho Riese kürzlich for-mulierte: »Kapitalismus ist eben eine viel zu ernste Angelegenheit,als dass man ihn der Wirtschaftspolitik überlassen darf«.

ARNDT HOPFMANN

Heft 57, Juli 1995Während also die Glaubenssätze und ideologischen Anrufungen desherrschenden Weltsystems immer weniger verfangen, wächst diematerielle Gewalt der wirtschaftlichen Sachzwänge anscheinend insUnendliche. Der Untergang der Menschheit ist so nicht nur wahr-scheinlich, er gewinnt sogar die Dimension des Unvermeidlichen –weil er schlicht und ergreifend der zwanghaften Logik der Verhält-nisse am besten entspricht.

ARNDT HOPFMANN

Heft 59, Sept. 1995Bellizismus, unter der vermeintlichen und wirklichen deutschen Lin-ken die vornehme Umschreibung für die Befürwortung eines »ge-rechten« Krieges, ist das Wort der Stunde. Das Konvertieren zu ihmwird gerechtfertigt mit dem »Versagen aller friedlichen Mittel zurKonfliktlösung«. – Mitunter glaubt man sich in den Politunterrichtder Nationalen Volksarmee seeligen Angedenkens zurückversetzt,wenn heute allen Ernstes suggeriert wird, die Waffe an sich sei neu-tral; es komme nur darauf an, wer sie führe – und wofür.

Nicht zuletzt erklärte Pazifisten von gestern, die in jedem Spiel-zeugpanzer in einem DDR-Kindergarten den nächsten Weltkriegheraufdämmern sahen, fordern heute reale Panzer nach Ex-Jugosla-wien. Daß Feindschaft stets Feindschaft, militärische Gewalt nochmehr Gewalt heckt, wird versucht, uns vergessen zu machen. Doches hat sich nichts geändert: »Militärische Lösungen« tragen immerden nächsten Konflikt in sich – und der übernächste könnte wiederein Weltkrieg sein.

JÖRN SCHÜTRUMPF

Heft 60, Okt. 1995Sicher, es gibt unterschiedliches Recht, aber beim wichtigsten, beimEigentumsrecht gibt es doch die wenigsten Ausnahmen; und wiesosollen eigentlich die Versager von gestern – als Exminister oder alsehemals Staatsnahe oder als Professoren »alten Rechts« – heuteschon wieder gleichberechtigt mitmischen dürfen? Sicher, die mo-dernen Wanderarbeiter – »Pendler« – werden ausschließlich, wennsie als Leihbeamte, Lufthansa-Professoren, Treuhänder oder Mitwir-kende in diversen Kommissionen in West-Ost-Richtung reisen, mitkomfortablen Entschädigungen – »Buschzulagen« – ausgestattet,aber auch den Ost-West-Pendlern ist es nicht verboten, Manager,Beamte, Hochschullehrer oder Arbeiter zu werden … Sicher, dieTreuhand hat das Produktivvermögen der DDR zu 96 Prozent West-

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deutschen und Ausländern aufdrängen müssen, aber – seien wir malehrlich – den Ostdeutschen hätte doch niemand derartig großzügigeInvestitionszulagen geglaubt, nachdem sie die realsozialistischeKarre so gründlich in den Dreck gesetzt hatten …und überhaupt, allewollen doch nur das Beste für Ostdeutschland – die harte D-Mark,blühende Landschaften, industrielle Kerne, Golfplätze, Zwischen-und Endlager, Einkaufs- und Freizeitparks – was soll das alles mitKolonialismus zu tun haben?

ARNDT HOPFMANN

Heft 64, Febr. 1996Utopien, wo sie die Gesellschaft betreffen, haben einen schwerenStand am Ende dieses ausgehenden Jahrhunderts. Auf doppelteWeise sind sie zuschanden geritten worden: Die einen, die an sieglaubten im revolutionären Verändernwollen, erklärten sie ungedul-dig zur »Aufgabe des Tages« und frachteten sie dann mit einerebenso luft- wie geistabklemmenden Fülle von »Maßnahmen zurkonkreten Umsetzung» zu Tode – womit sie auch die von ErnstBloch gemeinten konkreten Utopien in grotesker Weise in ihr Ge-genteil verkehrten. Denn diese bedurften natürlich nicht des er-starrenden Endpunktes, sondern dessen Gegenteils: der beständigenBewegung, des »Moments des Entdeckens«, das »mit objektiv Ent-deckbarem, nicht nur Erzeugbarem« vermittelt ist«.(…) – Die ande-ren, denen dieses Verändernwollen aus vielfachem Prinzip ohnehinund immer gegen den Strich ging, haben die Niederlage des einenVersuchs zur Niederlage von Utopie überhaupt erklärt und – zu al-lem Überfluß – auch den Utopiebegriff noch in ihre Diktaturgleich-setzungsübungen eingeschlossen, um ihn so gleich doppelt gründ-lich für alles Weiterdenken unattraktiv zu machen.

WOLFRAM ADOLPHI

Heft 68, Juni 1996»Nur weil sie Bremsen haben, können Autos schneller fahren (alsPferdewagen)«, stellte einst metaphorisch ein weitsichtiger Analyti-ker des modernen Kapitalismus (d. i.: Joseph Alois Schumpeter) mitBezug darauf fest, dass die Entfesselung kapitalistischer Rationalitätohne politisch-soziale Absicherung eine lebensgefährliche Veran-staltung ist.

ARNDT HOPFMANN

Heft 71, Sept. 1996Das AutorInnenverzeichnis der »UTOPIE kreativ« liefert den wenigerfreulichen Beweis: Das Interesse der professionellen PDS-Poli-tikerInnen, sich mit eigenen Ideen, Konzepten, Gedanken und Streit-positionen ganz unverwechselbar und langfristig rückfragbar offensivin der Suche der PDS nach neuen Ufern zu plazieren, ist geringer ge-worden. Die Alltagsarbeit, hört man, läßt keine Zeit. Parlamentspa-piere, Vorstandsvorlagen, Beschlußentwürfe, Presseerklärungen. Aberwir haben nicht nur zu wenige Politiker-Wortmeldungen bei Ideen,Konzepten, Gedanken und Streitpositionen, sondern auch bei derschlüssigen Erfahrungsverwertung. Die Vielfalt täglicher PDS-Politikund die Grenzen, an die sie immer und immer wieder stößt – der eine

Wolfram Adolphi – Jg. 1951,Dr. sc. phil., Dipl.-Staats-wis-senschaftler, wiss. Mit-arbei-ter des Bundestags-abgeordneten Roland Claus(Fraktion DIE LINKE),Redakteur bei UTOPIEkreativ seit 1992.

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spürt, der andere erahnt sie, aber kaum jemand beschreibt sie. Be-schreibt sie emanzipatorische – will sagen: mit Blick auf und An-spruch an Kommende; mit dem Mut, für die Erkenntnisse und Schluß-folgerungen beim Wort genommen werden können.

WOLFRAM ADOLPHI

Heft 72, Okt. 1996Die sich immer mehr verfestigende »Ost-Identität« wird als Bedro-hung empfunden. Das sich gemeinhin so pluralistisch gebende offi-zielle Deutschland kann erstaunlicherweise mit Unterschieden inden Wahrnehmungsweisen und Erfahrungsmustern nicht umgehen.Die Aufhebung von geistig-mentaler Vielfalt gilt als Ausweis dertatsächlich vollzogenen »Bekehrung« zu Markt und Demokratie undmuß um jeden Preis erreicht werden. Das vereinte Deutschland sollso sein wie die Alt-BRD – und kann es doch nicht werden.

ARNDT HOPFMANN

Heft 73, Nov. 1996Wenn sich erst herausstellt, daß zum Beispiel das Niveau derostdeutschen Löhne auch die Reproduktion des bundesdeutschen»Normalarbeiters« hinreichend sichert oder daß die Organisation derArbeitslosenversicherung in Polen oder Ungarn wesentlich kosten-günstiger ist – und daß vielleicht etwas mehr »Mafia« und Korrup-tion die Profitrate noch um ein erhebliches zu steigern vermögen,dann kann es durchaus noch zum »Institutionentransfer« in Ost-West-Richtung kommen. Dann stellt sich möglicherweise heraus,daß der Osten bereits heute »moderner« ist als der Westen – moder-ner vielleicht, aber auch zukunftsfähiger?

ARNDT HOPFMANN

Heft 81/82, Juli/Aug. 1997Die so lange geheim gehaltenen Dokumente bringen es an den Tag:Auch die letzten Bastionen eines »Ja, aber«, mit dem sich Millionenvon Kommunisten und Sozialisten einen Schutzschild aufzurichtenversuchten gegen das Wissen von den Ungeheuerlichkeiten derKommunistenverfolgungen in der Sowjetunion, müssen fallen. Dieeine dieser Bastionen: die äußere Bedrohung der Sowjetunion. Daßes sie gab: kein Zweifel. Aber sie spielte keine Rolle im Politbüro beider Begründung der dort beschlossenen Verhaftungswellen, warvielmehr von Beginn an nur Propagandainstrument, gerichtet einzigauf die Rechtfertigung des Terrors. Und die andere: die Auffassung,es könne beim Terror in der Sowjetunion weniger plan- und indu-striemäßig als im faschistischen Deutschland zugegangen sein. DasPolitbüro hat geplant – und den Terror zum Bestandteil der Wirt-schaftsentwicklung gemacht.

Und in der DDR? Immer deutlicher wird, warum die kommuni-stischen und andere linke Westemigranten und »Abweichler« alsHauptfeinde behandelt und kritische und unangepaßte Sozialdemo-kraten aus der jungen SED »hinausgesäubert« wurden: Sie zuersthatten gewarnt – oder hätten später warnen können – vor den Ge-fahren einer schematischen Übertragung sowjetischer Staats- undGesellschaftsaufbaumethoden auf die DDR. Und damit wäre der

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Führungsgruppe um Ulbricht, die von vornherein so unerhört bela-stet war durch ihr Eingezwängtsein in das unerträgliche Wissen umden Terror in der Sowjetunion und ihre eigene Rolle während derVernichtung tausender deutscher Emigranten, der Boden unter denFüßen weggezogen worden. Also reagierte diese Führungsgruppe lo-gisch: Von Beginn an konzentrierte sie einen erheblichen Teil all ih-rer Kraft darauf, die grausamen Geheimnisse zu wahren – und pro-duzierte neue, der Lage geschuldet zunehmend subtilere Formen derAusschaltung und Unterdrückung Andersdenkender.

WOLFRAM ADOLPHI

Heft 88, Febr. 1998Nachdem der Marxismus – der einzige große Entwurf, der explizitüber einen transformationstheoretischen Ansatz verfügt – mit seineroft schematisch interpretierten Dialektik von Produktivkräften undProduktionsverhältnissen und seiner teleologischen Vision vomÜbergang vom Kapitalismus zum Sozialismus als quasi zwangsläu-figes Naturereignis Schiffbruch erlitten hat, ist im Moment keine derHyperkomplexität der Probleme angemessene Weiterentwicklung inSicht. Und doch würde eine Transformationstheorie als tragendesElement einer modernen Gesellschaftstheorie dringend gebraucht,wenn zum Beispiel die im globalen Maßstab notwendige System-transformation zu einem ökologisch und sozial zukunftsfähigen Ge-sellschaftstyp politisch gesteuert gelingen soll. Dazu bedürfte es derErhellung jener Zusammenhänge, die das komplizierte Zusammen-wirken von historischen Ausgangsbedingungen und weltwirtschaft-lichen Rahmenbedingungen mit politischen Reformstrategien ineiner interdependenten Welt vermitteln. Dies ist zweifellos einegrandiose Herausforderung – auch an eine erneuerte marxistischeGesellschaftstheorie.

ARNDT HOPFMANN

Heft 93, Juli 1998Die Mehrheit der DDR-Bürger hat im Vollbesitz ihrer geistigenKräfte sich 1990 für die Anschlußparteien und gegen einen eigenenWeg entschieden. Die Folge war ein Elitenwechsel, auch in denBürokratien. Der Gedanke, das neue System hätte von den altenEliten implantiert werden sollen, schreckt noch im nachhinein. Ar-roganz, wenn sie sich mit Inkompetenz paart, wird keineswegs er-träglicher. Ein Blick nach Rußland belehrt – vielleicht auch den Un-belehrbaren.

JÖRN SCHÜTRUMPF

Heft 96, Okt. 1998Der einst so beklagte Kalte Krieg ist unterdessen in einen KaltenFrieden gemündet. Der eine der beiden Gegner ist zwar aus der Ge-schichte ausgeschieden; doch die Gefährdungen, die im Schatten ih-rer Feindschaft wucherten, blieben der Menschheit erhalten – sei esdie Aussicht, während eines nuklearen Winters auszusterben oderin einem Weltbürgerkrieg um die existenzsichernden Ressourcen indie Barbarei zurückzufallen beziehungsweise dank abtauender Polenach und nach zu ersaufen. Nur redet niemand mehr davon. Kalter

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Frieden eben. Wirklichkeitsverlust ist heute ein Gesellschaftsspiel,dem sich zu entziehen als unschicklich gilt. Der – klug – kühl gela-gerte Haß der beiden Supermächte aufeinander hielt vier Jahrzehntelang beide deutsche Nachkriegsgesellschaften in einem Zustandnicht nur verordneter, sondern von den Betroffenen zumeist auchwohlgelittener Infantilität. Weder die subalternen Gestalten in Bonnnoch die in Ost-Berlin konnten noch durften letztlich etwas tun, wasdie Weisungsberechtigten in Washington beziehungsweise in Mos-kau ernsthaft nicht gewünscht hätten. In der deutschen Geschichtezählt diese Periode schon heute zu den glücklicheren Zeiten. DieGrenzen deutschen Handelns hatten die nach dem gemeinsamenSieg über die sowohl unruhigen als auch feigen Mitteleuropäer er-neut Verfeindeten klar gezogen. Alles war überschaubar, da fühltensich auch Deutsche wohl, zumindest auf der einen Seite der Mauer.Bis einige tausend DDRler ihrer Gartenzwerglandschaft überdrüssigwurden und – in völliger Unschuld – die Bonner Politik aus der für-sorglichen Vormundschaft des Westens herausdemonstrierten. Daswar nicht vorgesehen. Das verzeiht der Westen dem Osten nie, wares doch gerade richtig gemütlich geworden. So schön wie in denachtziger Jahren wird es nie wieder

JÖRN SCHÜTRUMPF

Heft 99, Jan. 1999 Wenn die Linke genau so sein will wie alle anderen, sich an den glei-chen Maßstäben messen möchte wie alle anderen, stellt sich dieFrage, wozu man sie braucht. Die Linke trat nach 1789 auf den Plan,nicht, weil sie etwas mehr wollte – sei es mehr an Macht, sei es mehran Sozialverträglichkeit der gesellschaftlichen Zustände –, sondernweil sie etwas anderes wollte. Bis heute ist sie in ihrer lausigen Pra-xis allerdings nicht darüber hinausgekommen, lediglich etwas mehrzu wollen. Etwas anderes wollte sie fast immer nur in der Theorie.Und die vergaß sie meist, wenn Macht in Aussicht stand oder umMacht gerungen wurde. Die Erwartung, endlich in Deutschland mit-spielen zu dürfen, machte die SPD 1914 zum treuen Bündnispartnerbeim Völkermord. Die Erwartung einer Weltrevolution ließ 1928Thälmann und andere »gesunde proletarische Kräfte« die restlichenselbständig denkenden Intellektuellen endgültig mundtot machen –das Karl-Liebknecht-Haus wurde zum Vorhof des Kreml, wenig spä-ter für nicht wenige auch des GULag. Nach der Wahlschlappe 1990wurden auch die Grünen realistisch. Wie sehr sich die Staatssoziali-sten der Differenz zwischen der Theorie und ihrer Praxis bewußt wa-ren, unterstrichen sie mit einem Adjektiv, das sie ihrem Kasernen-hofsozialismus verordneten: real. Jene traurige Gestalt, die nichtgenug bekommen konnte von Zeitungsfotos, die sie selbst abbilde-ten, spreizte sich immer noch ein Stück mehr als sonst, wenn sievom realen Sozialismus daherlispelte und so – gebildet und diplo-matisch, wie sie und die anderen Genossen nun einmal waren – al-len linken Spinnern, beileibe nicht nur jenen im Westen, ihren Un-wert bedeutete. Die Theorie ist nichts, die Macht ist alles. Dergeschlossen dieser Gestalt in den Untergang folgenden Partei wardie Theorie aber keineswegs einerlei. Ganz im Gegenteil, sie lag vorallem ihren führenden Genossen wenn auch nicht unbedingt immer

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am Herzen, so doch auf jeden Fall stets im Magen. Deshalb scheutesie weder Kosten noch Personal und sorgte dafür, daß die Theorienicht vereinsamte. Zuerst wurde sie beaufsichtigt, dann an die Kettegelegt, und schließlich von Parteitag zu Parteitag, von Plenum zuPlenum langsam, aber sicher so hininszeniert, daß sie der Wirklich-keit immer ähnlicher wurde. Besondere Perlen der Parteisophistik zuveröffentlichen, war der »Zeitschrift für Theorie und Praxis des wis-senschaftlichen Sozialismus« vorbehalten. Schon ihr Titel – »Einheit«– verheimlichte nicht, daß in ihrer Redaktion selbständiges Denken,also Pluralität, wenig geschätzt war. Manch Ketzer, der in den Theo-rieverwahranstalten nicht vom Gift wirklicher Theorie hatte fernge-halten werden können, sah in den Inszenierungen allerdings eher Fol-ter – und wurde trotzdem nicht gefoltert. In den späten Jahren dertraurigen Gestalt kam man dafür sogar nicht einmal mehr ins Zucht-haus. So human ging es da zu. Die theorieführenden Theorieaufbe-wahrer erhielten ihre Orden nicht umsonst. Sie hatten der Theorie soviel Lügen auf die Brust gepreßt, daß sie kaum noch atmete. Und dasist gut so, wenn man an der Macht bleiben will. »Denn die geben wirnie wieder her.« Als auch dieses Versprechen gebrochen war, keimteHoffnung auf neue geistige Freiheit. Diese Freiheit hatte viele Facet-ten, u. a. auch die: Helmut Steiner und Marion Kunze begründeten»UTOPIE konkret« – mit der klaren Aussicht, das Blatt demnächstwieder einzustellen. Wer will schon denken – zumindest in Zeiten, indenen das Denken nicht verboten ist?

JÖRN SCHÜTRUMPF

Heft 109/110, Nov./Dez. 1999Die heutigen bundesdeutschen – vor allem die katholischen – Elitenhaben allerdings keine Neigung, die Hindenburg-Brüning bzw. Hin-denburg-Schleicher-Diktatur großartig zu thematisieren. Denn damitkäme nicht nur der Anteil der katholischen Zentrumspartei an derden Weg nach ganz rechts öffnenden Präsidialdiktatur in den Blick,es ließe sich auch die Legende von der von rechts und von links zer-störten Weimarer Republik nicht länger halten. Und da sei dieStaatsräson vor, ist doch die Bundesrepublik als Projekt römisch-deutscher Christen der Höhepunkt deutscher Staatsentwicklung.Diese Republik hat es sogar geschafft, daß der Kleinbürgernach-wuchs von 1968 sein eigenes Kind – das einzige wirkliche sozialpo-litische Vorhaben seit Erhards Sozialstaatskonzept – dümmlich grin-send in der Wiege erstickte. Der ökosoziale Umbau der Gesellschaftist letztlich nicht mehr als ein Kahn gewesen, mit dem die Grünen andie Macht schipperten. Die Eingenerationenpartei ist erfolgreich ausder Pubertät heraus. Die Demokratie hat ihre Bewährungsprobe be-standen – die Gefahr drohender Zukunftsfähigkeit für das Landwurde kaputtintegriert. Es wäre zu schön gewesen, ins neue Jahr-hundert mit einer Hoffnung zu gehen. Daran hätte mich nicht einmalgestört, daß sie aus Deutschland gekommen wäre.

JÖRN SCHÜTRUMPF

Heft 115/116, Mai/Juni 2000Denn ist es, wenn man dem Anspruch auf den Besitz ewiger Wahr-heiten und unumstößlicher Prognosen der Menschheitsentwicklung

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endgültig entsagt hat, nicht logisch, vor die Entscheidung über dieHaltung zu einem einzelnen Ereignis in dieser Entwicklung die ge-naue Prüfung dieses Ereignisses – eben die Einzelfallprüfung – zusetzen? Und ist es, wenn aus aller Geschichte der Niederlagen dersozialistischen Idee gelernt worden ist, daß ohne die Gewinnung de-mokratischer Mehrheiten selbst sehr edle Ziele nur allzu leicht zurFarce verkommen, nicht logisch, stets – also auch in der Frage derEinzelfallprüfung – das beharrliche Ringen um Verbündete im Augezu haben? Weil sonst auch der »reinste« Standpunkt letztlich nursich selbst genügt? Aber so logisch dieses Herangehen in sich auchist: In Münster – und bereits auf dem langen, aber für diese Abstim-mung zu kurzen Weg dorthin – ist es nicht zur Logik von Mehrhei-ten geworden.

WOLFRAM ADOLPHI

Heft 117, Juli 2000Wenn es um eine vernunftgemäße Regulation von Geld- und Markt-wirtschaften geht, sind die Regierungen in aller Regel selbst Partei.Nicht, daß sie von einem einzigen »global player« ausgehalten wür-den – das passiert höchstens in der Dritten Welt, wo Regierungenweitaus ›billiger‹ sind –, nein, die Regierenden selbst denken in denGrenzen des Systems. Und aus dieser Weltsicht ist das »Gekonntedas Gesollte«. Denn gegen die Logik, daß nur der kommerzielle Ver-wertungstrieb Innovationen und dazu auch noch Vernünftiges her-vorzubringen vermag, ist seit Adam Smith offensichtlich kein Krautgewachsen. Damit wird »das Gekonnte« nicht nur das »Gesollte,sondern auch das Gesollte das Unvermeidliche« (Günther Anders) –nur vermittelt über Geldbeziehungen und (ihre höchste Form) ›Pro-fitinteressen‹ könnten die Menschheitsprobleme gelöst werden, undwenn sich dann trotzdem erweist, daß Milliarden Menschen von die-ser Art Zukunftslösung ausgeschlossen sein sollten, dann ist dieseben unvermeidlich.

ARNDT HOPFMAN

Heft 121/122, Nov./Dez. 20001990 war viel die Rede vom Projekt PDS als Partei und Bewegung.Mit der Bewegung wurde es nichts, dafür weicht unterdessen aus derPartei langsam die Bewegung. Ein Vorgang, den die PDS zweifellosmit den anderen Parteien gemein hat. Trost spendend ist das nicht.Stellt man dann noch die altersmäßige Zusammensetzung der Parteiin Rechnung, ist absehbar, wann der erzwungene Aufbruch von1989/90 zu einem Wahlverein mutiert sein wird. Ob dieser dann nochgewählt werden wird, kann heute niemand mit Sicherheit sagen. Wieer regieren würde, hingegen schon. Was tun? Die Partei neuen Typusist am Avantgardismus, die parlamentsfixierten linken Parteien sindam Parlamentarismus gescheitert. Hatte also Francis Fukuyama 1990mit seiner These, der Kapitalismus sei das Ende der Geschichte, dochRecht? Zumindest mit der Diagnose, wenngleich nicht mit seiner Be-gründung. Die müßte wohl lauten: Weil es keine Instrumente gäbe,ihn in eine sozial gerechte, ökologisch verträgliche, menschen-freundlich-kulturvolle Gesellschaft zu transformieren, weder perAvantgarde noch per Parlament. Weil etwas Drittes bisher noch keine

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klare Kontur angenommen habe. Wenn wir ehrlich sind, müssen wirzugeben: Eine seriöse Antwort wird viel Arbeit erfordern. Mit den al-ten Gewißheiten läßt sich noch trefflich aus der Nische heraus Rechthaben. Politisch ist mit ihnen nichts mehr zu machen, außer einbißchen Radau – als Grabmusik bei der Beerdigung der deutschenLinken. Die Rechte würde sogar brav applaudieren.

JÖRN SCHÜTRUMPF

Heft 127, Mai 2001Seit Wochen erleben wir in den Medien dieses Landes eine Bil-dungsdiskussion. Trotz Globalisierung denkt die deutsche Wirtschaftauf einmal wieder national. Die Technologien sind eben doch nochnicht so weit fortgeschritten, daß der vor sich hin analphabetisie-rende Nachwuchs deutscher Zunge nur noch als Hilfskraft für dieSchreibkundigen aus Indien und Bulgarien benötigt würde. Die Bun-desrepublik – noch im westdeutschen Zustand – hatte ihre erste Bil-dungsdebatte Mitte der sechziger Jahre erlebt. Nach dem Mauerbauwar der Zufluß an verwendungsfähigen Absolventen aus kommuni-stischer Berufsausbildung und Hochschule (selbständig, teamfähig,rechtschreibekundig – siehe oben) versiegt. Die Lage für die west-deutsche Wirtschaft – damals noch global player in Kinderschuhen– wurde bedrohlich. Denn in das Bildungswesen West war unterAdenauer noch weniger Geld als heutzutage unter der SPD geflos-sen. Das Fachpersonal für das Wirtschaftswunder hatte der Osten zurVerfügung gestellt. Bei einem Wiederaufbau allein aus eigener Kraft(ohne Fachkraft Ost und Marshallplan West) hätte man in West-deutschland statt des Wirtschaftswunders eine Wiederholung derzwanziger Jahre erlebt. Seit 1990 wird zurückgezahlt.

JÖRN SCHÜTRUMPF

Heft 128, Juni 2001Vor 60 Jahren, am 22. Juni 1941, überfiel Deutschland die Sowjet-union. Was immer dann später auch passiert ist mit Deutschland undden Deutschen: Es ist von diesem Tage nicht zu trennen. Hätte sichdas deutsche Volk selbst vom Faschismus befreit – oder ihn gar nichterst zugelassen –, hätte es den 22. Juni so nicht gegeben und dieses8. Mais nicht bedurft. So aber wurde, weil die Überfallenen nach Mo-naten eines beispiellos opferreichen Rückzugs ungeheure Kräfte derVerteidigung und dann des Gegenangriffs zu mobilisieren vermoch-ten und schließlich nach fast vierjährigen Kämpfen die Hauptstadtdes Aggressors stürmten, dieser 8. Mai 1945 zum Tag der Befreiung.Mit jenem Gewicht der Sowjetunion, das sie im Kampf der Antihit-lerkoalition als Hauptkraft der militärischen Niederringung Deutsch-lands erworben hatte. Und also mit allen sich daraus ergebenden Wi-dersprüchen. Es war, nachdem zunächst die Völker Europas vomfaschistischen Joch befreit worden waren, nun auch die Befreiung desdeutschen Volkes vom Faschismus – und es war der Sieg eines Staa-tes, der seinerseits vor dem Krieg Millionen von Bürgerinnen undBürgern des eigenen Landes in Lager verschleppt oder umgebrachthatte und von August 1939 bis zum 22. Juni 1941 mit Deutschland ineinem Vertragsverhältnis lebte, dem unter anderem Polen geopfertworden war und das die Auslieferung deutscher Antifaschisten an die

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Gestapo einschloß. Nein, einfacher ist diese komplizierte Geschichtenicht zu haben. Wahr bleibt: Die Flüchtlingsströme aus dem deut-schen Osten; das sowjetische Besatzungsregime im Osten des nachdem Krieg verbliebenen deutschen Territoriums; die SpaltungDeutschlands; der alles entscheidende Einfluß der Sowjetunion aufdie Entwicklung der DDR – alles ist Folge jenes 22. Juni. Und wahrbleibt auch: Den höchsten Blutzoll unter den deutschen Gegnern desKriegskurses des faschistischen Deutschland hatten die Kommuni-sten entrichtet. »Wer Hitler wählt, wählt den Krieg«, hatten sie schon1932 gerufen – und waren dann dafür zu Zehntausenden in die Kon-zentrationslager und zu Tausenden aufs Schafott gegangen.

WOLFRAM ADOLPHI

Heft 129/130, Jul/Aug. 2001Die Heilserwartung, die nicht erst seit Lenin gegenüber Revolutio-nen aufgebaut wurde, ist bis heute in Teilen der PDS und nicht zuletztin den revolutionären Programmentwürfen virulent. Daran hängt derganze Kanon vom »Aufbau des Sozialismus« nach Verstaatlichungdurch einen allmächtigen Staat. Doch Revolutionen werden nicht»gemacht«, sondern treten unabhängig vom Willen einzelner ins Le-ben. Sie können die sozialistische Bewegung vorwärtstreiben; derRevolution folgt aber immer die Restauration (ebenso unabhängigvom Willen einzelner). Ihr zuvorkommen kann man nur mit selbst-gemachter Restauration, wie in der Sowjetunion geschehen. DieCrux der Verstaatlichung ist, daß sie den Staat zementiert und derganze bürokratisch-diktatorische Kladderadatsch wieder von vornlosgeht. Einer linken Alternative, die auf der Vorstellung gründet,nach einer Revolution dank der eroberten Staatsmacht die Gesell-schaft abermals unterwerfen und es dieses Mal »viel besser« machenzu können, sollte die PDS endlich eine Absage erteilen – nicht austaktischen Erwägungen, sondern aus prinzipiellen Gründen. EineSackgasse ist genug. Doch die »revolutionären« Programmentwürfesetzen allesamt genau dieses voraus; in ihnen ist zwar nicht mehrvon der Revolution die Rede, aber sehr wohl von ihrem Ergebnis:der Verstaatlichung. Der revisionistische Entwurf hingegen zielt aufeine Vergesellschaftung durch Demokratisierung der Verfügungsge-walt über das Eigentum und damit auf eine organische Entwicklung,deren Ergebnisse sich tief in die Gesellschaft einwurzeln und durchkein Großkapital der Welt rückgängig gemacht werden können. Er-fahrungen in der PDS zeigen aber auch, daß Mehrheiten für Kon-zepte moderner sozialistischer Politik gewinnbar sind.

JÖRN SCHÜTRUMPF

Heft 132, Okt. 2001»Gewißheiten« hinsichtlich der Täterschaft muß zutiefst mißtrautwerden. Es gibt heute, am 12. September, trotz vieler von den Me-dien verbreiteter Vermutungen in Richtung der islamischen Weltkeinerlei Beweise. Wird es trotzdem »Vergeltung« geben? GegenLänder und Völker dort? Aber wem nützt es? Gewiß ist doch: EineSpirale der Gewalt hat den Frieden noch niemals sicherer gemacht.Und Mißtrauen ist auch angebracht gegenüber jenen »Gewißheiten«,in denen noch immer ein Teil der politischen Linken Zuflucht sucht.

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Es gibt sie nicht – eine zur »Erklärung« heranziehbare Verbindungs-linie zwischen dem Elend von Millionen Menschen in der DrittenWelt und dieser nun erlebten Form hochtechnisierten und in derVorbereitung und Durchführung viele Millionen an Dollar ver-schlingenden Terrors. Aber welche Linien gibt es dann? Wie sind siebekämpfbar, die Ursachen des Terrorismus, wenn sie sich einem»linearen« Verständnis immer weiter entziehen?

WOLFRAM ADOLPHI

Heft 133, Nov. 2001Jener Teil der Welt, der sich gern als ›zivilisiert‹ bezeichnet, hat mitsicherem Instinkt die abscheulichen Terrorattacken in den USA vonAnfang an als das dechiffriert, was sie auch tatsächlich waren – derbisher ohne Zweifel spektakulärste Anschlag auf die Hierarchie ineinem selbstgefälligen, im Kern ungerechten Gesellschaftsmodell.Nicht etwa in dem Sinn, daß die Terroristen eine demokratischereoder gar gerechtere Gesellschaft zum Ziel hätten, nein, hier geht esallein um die Hackordnung. Es geht darum, wer zukünftig in derWeltpolitik und bei der Verteilung der Weltressourcen das Sagen hatund wer zu welchem Preis an diesen Ressourcen partizipiert. Unddie Reaktion ›des Westens‹ war nach der ersten Verunsicherung dennauch bezeichnend: ›Jetzt erst recht‹ wurde allerorten zur Losung fürdie demonstrative Fortsetzung des abendländisch-kapitalistischenLebensstils ausgerufen. Nicht nur das big business und die Börsenmachen weiter, auch in der ›Spaßgesellschaft‹ rollt der Ball wieder– alles wie gehabt.

ARNDT HOPFMANN

Heft 135, Jan. 2002Man kann die Entwicklung der DDR als Geschichte einer langsa-men, wenn auch nicht ganz zu Ende geführten Befreiung vom An-tiamerikanismus lesen. Zu den etwas seltsameren intellektuellenVergnügungen gehört es, in Walter Ulbrichts Unterlagen aus denJahren 1950/51 zu blättern. Wie mühte sich der arme Mann zu be-greifen, warum Stalin wollte, daß die Architektur der Moderne als»amerikanischer Kasernenbau« zu denunzieren sei. Noch wenigerbegriffen es die Architekten. Doch nur Baustadtrat Hans Scharounging in den Westen Berlins; die anderen entwarfen im FriedrichshainStalins Straße – die heute unter Denkmalschutz steht. Gebauter Anti-amerikanismus; allerdings nicht nur als solcher denkmalschutz-würdig. Denn auch in der Maskerade der Antimodernen bliebenHenselmann und Paulick große Architekten.

JÖRN SCHÜTRUMPF

Heft 137, März 2002»Das ist der Gipfel!« sagte jüngst eine Frau neben mir im Supermarkt.Gemeint waren die Preise für Brot und Fleisch, die bei der Umstellungvon DM auf € klammheimlich um ein Viertel in dem einen Fall undgar um ein Drittel in dem anderen gestiegen waren, zumal es auchschon in den Vormonaten Anstiege gegeben hatte. Politik und offizi-elle Statistik bestreiten die Verallgemeinerbarkeit solcher Alltagsbe-obachtungen und geben die Teuerungsrate für Januar mit 2,1 Prozent

Dietmar Wittich – Jg. 1943,Dr. phil., Soziologe, Redak-teur bei UTOPIE kreativ.

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an. Hier wird die Problematik von Durchschnitten deutlich. In die Be-rechnung der Teuerungsrate gehen alle Waren ein, solche die jeder täg-lich braucht wie Brot, Kartoffeln, Butter und so weiter, aber auch Lu-xusartikel wie Schmuck, teure Karossen, Designerklamotten undähnliches. Nun kann es ja sein, dass die Preise beispielsweise für Dia-manten stabil geblieben oder gar gesunken sind. Aber davon haben alldie nichts, die ihr Geld brauchen, um ihr Leben zu bestreiten. Als armgilt offiziell, wer weniger als die Hälfte der durchschnittlichen Ein-kommen erreicht, deren Anteil ist in den letzten Jahren von 13 auf15 Prozent angestiegen. Daneben gibt es noch eine Gruppe mit»prekärem Wohlstand« (früher als »relativ arm« bezeichnet) bei dreiViertel des Durchschnitts, auch deren Anteil ist gestiegen von 33 auf36 Prozent. Wer nur 50 Prozent des durchschnittlichen Einkommenszur Verfügung hat, für den bedeutet eine Teuerungsrate von zwei Pro-zent, daß es plötzlich höchstens noch 48 Prozent sind! Es sieht allesdanach aus, daß die Währungsumstellung zu einer weiteren Umver-teilungsaktion von unten nach oben genutzt wird.

DIETMAR WITTICH

Heft 143, Sept. 2002Als Vorsatz gilt nach juristischer Definition eine Handlung, mit derdie gezielte Benachteiligung anderer beabsichtigt wird. Vorsätzlichhandelt, wer billigend in Kauf nimmt, daß durch sein VerhaltenSchaden entsteht oder wem es gar auf die Verursachung eines sol-chen ankommt. Mit dem Vorsatz einher geht die Absicht der Täu-schung: Der Coup kann nur gelingen, wenn die potentiellen Opfernicht ahnen, was ihnen blüht. Anders verhält es sich mit den »gutenVorsätzen« der Alltagssprache, die gewöhnlich das Versprechen,sich zu bessern beinhalten und die man offen verkündet – bevorzugtin Momenten der Zäsur wie zum Jahreswechsel oder – als politischerAkteur – vor einer Wahl. Dann – im Wahlkampf – verschmelzenbeide Arten der Vorsätzlichkeit zum populistischen Paradox: TrotzFortbestands realer Krisenphänomene, Notlagen und Skandale ver-sichert die Regierung, die Versprechen, für die sie zuvor gewähltwurde, erfüllt zu haben, während die Opposition deren vorsätzlicheNichterfüllung konstatiert und für den Fall des Wahlsiegs Abhilfeverspricht: Man wird zwar kaum etwas anders, aber dennoch allesbesser machen.

THOMAS GERLACH

Heft 143, Okt. 2002Seit Jahren steigt in der Bevölkerung der Anteil jener, denen Politik-verdrossenheit nachgesagt wird. Intelligentere Analytiker haben un-terdessen festgestellt, daß die Leute nicht apolitischer werden, wiedieser Begriff suggeriert, sondern daß sie in Wirklichkeit nur vonden Politikern die Nase voll haben. Die Bundestagspolitiker scheintdas nicht anzufechten; sie lassen alles mit sich geschehen. (Auf po-pulistische Motivsuche sei an dieser Stelle verzichtet.) Irgendwannfolgt in einem Land wie Deutschland jedoch auf die Politikerver-drossenheit die Verdrossenheit am Parlamentarismus. Unsere Par-teien arbeiten an diesem »Projekt« – Tag und Nacht.

JÖRN SCHÜTRUMPF

Thomas Gerlach – Jg. 1961,Dipl.-Psychologe, Studiumin Bremen, Abschlussarbeitzum psychologischenGehalt der neoliberalenWirtschafts- und Gesell-schaftstheorie, 2002-2004Redakteur bei UTOPIEkreativ.

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Heft 146, Dez. 2002Selbst wenn es gelänge, die für kapitalistische Gesellschaften typi-sche, über die ungleiche Einkommensverteilung »erzwungene« Un-terkonsumtion eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung noch als»Wachstumspotential« zu mobilisieren – was eine radikale Umver-teilung von »oben nach unten« zur Voraussetzung hätte –; der Traumvom extensiven Wachstum ist (zumindest für die hochentwickeltenLänder) ausgeträumt. Es fehlt zunehmend nicht nur der (Um-welt)Raum, sondern auch die notwendige (Konsum)Zeit, um immerneue zusätzliche Güter immer schneller zu benutzen und zu ver-brauchen. Das hat Konsequenzen. Die neuerdings auch in der PDSaufgebrochene Debatte über die Zukunft des Wirtschaftswachstumsbedarf daher der Weitung der Perspektive. Es geht gar nicht so sehrum die Klärung von Pro-und-Kontra-Wachstums-Fragen zwischen»Ökologen« und »Ökonomen«, wie der Grundtenor der Kontroversenahelegt, sondern auch und vor allem um die Frage einer neuenWirtschaftspolitik, die grundlegende gesellschaftliche Entwicklungs-probleme auch ohne extensives Wachstum bearbeitbar macht. Ge-braucht wird eine »spezielle Wirtschaftspolitik für reife Industriege-sellschaften« (so Norbert Reuter in seinem bemerkenswerten Buchüber die »Ökonomik der ›langen‹ Frist«) – unter anderem hierkönnte die PDS zeigen, weshalb sie noch gebraucht wird.

ARNDT HOPFMANN

Heft 148, Febr. 2003Krieg ist heute die Fortführung der Ökonomie. Dabei beschränktsich seine konjunkturbelebende Wirkung keineswegs allein auf diekriegführende Volkswirtschaft. Auch die anderen profitieren davon,allen voran Großbritannien, Deutschland und Frankreich. Dies er-klärt zu einem Gutteil die Solidaritätsbekundungen dieser Ländermit den USA, wenn es um die Inszenierung eines Krieges geht, odersogar um die aktive Teilnahme an vorderster Front wie im FalleGroßbritanniens. Der Golfkrieg im Jahre 1991 und der Krieg gegenSerbien 1999 haben dies für die Zeit nach dem Ende der Blockkon-frontation und der Bipolarität in der Welt eingehend demonstriert.Der bevorstehende Krieg gegen den Irak bedeutet die Fortsetzungdieser Logik in einem neuen, erweiterten Sinne. Was aber, wenn esschief geht, wenn der Waffengang zum Desaster wird, der Krieg sichhinzieht und unkalkulierbare Rückschläge auftreten? Wenn der Geg-ner sich als stärker und zäher erweist als angenommen, wie im FalleVietnams, oder wenn es Gegenschläge und Vergeltungsmaßnahmengibt, ähnlich dem Attentat vom 11. September? – Die Folgen wärenfurchtbar. Und das keineswegs nur für die USA, sondern gleicher-maßen für Deutschland, Europa, Asien, für die Welt. Anstatt durchKrieg aus der wirtschaftlichen Stagnation herausgezogen zu werden,würde die Welt in eine tiefe Rezession hineingezogen, in eine Krisegerissen. Die Folgen eines derartigen Szenarios wären wie bei einemFlächenbrand weder abseh- noch beherrschbar, nicht zuletzt geradeauch für die Weltwirtschaft.

ULRICH BUSCH

Ulrich Busch – Jg. 1951,Doz. Dr. oec. habil.,Bankkaufmann, Finanz-wissenschaftler, zahlreicheVeröffentlichungen zurWirtschaftstheorie und-politik, 2003/04 Redakteurbei UTOPIE kreativ.

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Heft 149, März 2003Stalin zählte zu den Erben Lenins, wenn auch nur zu denen drittenGrades. Lenin hatte die Oktoberrevolution als Eröffnung für eineneuropäischen Revolutionszyklus – analog dem Jahre 1848, wo dieRevolution von Paris aus Europa überflutet hatte – verstanden, 1921aber einsehen müssen, daß die Folgerevolutionen, vor allem diein Deutschland, nicht nur niedergeworfen worden waren, sondernauch, daß die eigene Revolution zwar militärisch siegreich gewesen,aber sozial gescheitert war. Im bäuerlichen Rußland konnte sich eineproletarisch gestimmte Macht nur halten, falls sie ihre soziale Basisverbreiterte, wenn nicht gar wechselte – was Lenin erkannte und mitder NÖP auch einleitete. Deklariertes Ziel wurde ein Staatskapitalis-mus als Durchgangsstadium zum proletarischen Sozialismus; dazusollten Bauern und Kapitalisten auf Zeit begünstigt werden. Die Ka-pitalisten in China erleben heute ähnlich Merkwürdiges. Stalin ver-stand sehr bald, daß sich Lenin in diesem Punkt etwas vorgemachthatte. So konnte kein proletarischer Sozialismus entstehen, besten-falls eine auf Staatseigentum beruhende Monopolwirtschaft mit ei-ner Monopolherrschaft, die zu ihrer Rechtfertigung aber des Scheineseines proletarischen Sozialismus bedurfte. Das daraus entspringendeProgramm setzte Stalin konsequent um: Die Mittelbauern, die ei-gentlichen Kinder der Oktoberrevolution, befreite er vom Eigentumund lieferte sie teils der Industrie aus – ohne ihnen jedoch die rest-lichen Freiheitsrechte der doppelt freien Lohnarbeiter zuzugestehen–, drückte sie teils auf den Stand von 1861 zurück. Wer sich verwei-gerte, kam ins Lager oder wurde ausgehungert; in der Ukraine mehrals eine Million Menschen. Ursprüngliche Akkumulation als Bür-gerkrieg. Seine eigentliche soziale Basis fand der Staatskapitalismusnatürlich nicht im Proletariat, sondern in der Bürokratie. Bucharin,Weggefährte auf Zeit, erkannte in Stalin den »Dschingis Khan«. Derselbst mochte besonders »Iwan den Schrecklichen« von Eisenstein.Josef Stalin ist russische Geschichte. Hier reiht er sich unter diegroßen brutalen Modernisierer ein: Iwan Grosny und Peter derGroße. Mit Sozialismus hat das allerdings nichts zu tun. Stalin fanddie Formel, mit der das asiatische Rußland in die Moderne zu führenwar. Wie wir heute sehen, hatte der Mann Erfolg. Der russische Ka-pitalismus ist Wirklichkeit. Stalin hat dessen bluttriefende Geburtbewältigt. Millionen Tote waren der Preis.

JÖRN SCHÜTRUMPF

Heft 150, April 2003In der Bundesrepublik Deutschland sind wir Zeugen, wie mit Hilfedes Staates immer größere Teile der Gesellschaft gedrängt werden,von ihrem Recht abzulassen, auf den Staat Druck auszuüben. DerStaat des Kalten Krieges beruhte auf gut austarierten Kompromissenzwischen den verschiedenen Gesellschaftsgruppen. Heute sind wirauf dem Rückweg zum alten Klassenstaat. Dazu dient nicht zuletztdie Losung »Weniger Staat«, die bei Lichte betrachtet nichts anderesbedeutet als »Weniger Zugriff auf den Staat durch die nicht ökono-misch Mächtigen«. Demnächst wird auch wieder feierlich über denStaat geredet werden. Die ökonomisch Mächtigen sind in der Offen-sive. Das ihnen vorzuwerfen, wäre allerdings albern; der Vorwurf

Marion Schütrumpf-Kunze,Jg. 1954, Dr. phil., Philo-sophin, seit Gründung 1990Redakteurin bei UTOPIEkreativ.

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kann nur an uns selbst gehen. Denn die Linke hat schon seit langemverlernt, eine ihrer Grundfunktionen wahrzunehmen, die für RosaLuxemburg einst selbstverständlich war: Wir »enthüllten stets denherben Kern der sozialen Ungleichheit und Unfreiheit unter dersüßen Schale der formalen Gleichheit und Freiheit«. Während dieSPD sich immer mehr auf die Apologie der süßen Schale der forma-len Gleichheit und Freiheit zurückzog, reduzierten sich die Kommu-nisten auf das Enthüllen des herben Kerns der sozialen Ungleichheitund Unfreiheit und denunzierten, anders als es Rosa Luxemburg for-derte, formale Gleichheit und Freiheit als unnütze Lächerlichkeit.Beides wieder zusammenzudenken, bleibt unsere Aufgabe.

MARION SCHÜTRUMPF

Heft 153/154, Juli/Aug. 2003Warum wird mit Bezug auf den notwendigen Wandel in Produk-tions- und Konsumtionsmustern eigentlich so wenig von »Suffizienz«gesprochen? Suffizienz meint – im Gegensatz zu Effizienz, die auf›mehr aus weniger‹ setzt – die grundsätzlich andersartige und dauer-hafte Lösung eines (Konsum)Problems, ohne Weiterbestehen desZwangs zur (wenn auch zeitverzögerten) Ersetzung materieller Güterdurch neue. Suffizienzlösungen sind oft jedoch keineswegs so neu undrevolutionär wie Effizienz basierte Schöpfungen. Wer erinnert sichzum Beispiel noch an die gute alte Speisekammer, die einen Kühl-schrank überflüssig gemacht hat? In einer Region wie Mitteleuropa, inder 200 Tage im Jahr speisekammergünstige Temperaturen herrschen,könnten wir – wie unsere Großeltern – auf Kühlschränke nahezu gänz-lich verzichten, wenn allerdings die baulichen Voraussetzungen (wie-der) geschaffen würden. Auch wäre die »flächenüberdeckende Auto-mobilisierung« völlig unnötig, wenn Wohnen, Einkaufen und Arbeitenwieder in einen Raum zusammengebracht werden könnten, der Spa-ziergänge zwischen den einzelnen Tätigkeitsorten möglich und ange-nehm – und gesundheitsdienlich – macht. Wozu bräuchten wir immereffizientere Transportverfahren, wenn die übergroße Mehrzahl unsererKonsumgüter in der Region erzeugt würde, in der wir ohnehin leben?

ARNDT HOPFMANN

Heft 155, Sept. 2003Unterdessen existiert kaum etwas, das nicht »reformiert« würde.Sieht man einmal von den Eigentumsverhältnissen ab; aber sogar diewerden umgebaut: Immer weniger Menschen gehört immer mehr.

JÖRN SCHÜTRUMPF

Heft 156, Okt. 2003Die neoliberalen Forderungen haben eine verblüffende Plausibilität.Es lohnt, darüber nachzudenken, warum das so ist. Zwei Botschaf-ten sind zentral: »Leistung muß sich wieder lohnen!« und »Der Wirt-schaftsstandort Deutschland ist in Gefahr!«. Wessen Leistung ist ge-meint? Die der alleinerziehenden Mutter oder des alleinerziehendenVaters, die es trotz der Mehrfachbelastung durch Familie, Haushaltund Arbeit mehrheitlich schaffen, ihre Kinder zu anständigen undnützlichen Menschen zu erziehen? Nein, mit »Leistung« ist Profit-machen gemeint. Das Gerede vom »Wirtschaftsstandort« unterstellt,

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die Gesellschaft, unser aller Gemeinwesen, hätte seinen Existenz-zweck in erster Linie darin, die profitable Verwertung von Kapital zugewährleisten. Diese Kernbotschaften sind Mythen, allerdings mitder Wirkung ideologischer Waffen. Der Kapitalismus, von dem MaxWeber meinte, er werde durch fortschreitende Rationalität geprägt,bedient sich des Irrationalen, greift zur Mythologisierung. Flankiertwird das von einer Reihe von Hilfsmythen, zum Beispiel dem Mythos,Reform sei, was soziale Errungenschaften von Jahrzehnten liquidiert,oder dem Mythos vom »Realismus«, der den propagierten Kurs als al-ternativlos hinstellt und andere Modelle von vornherein als »unrea-listisch« etikettiert. Es ist relativ einfach, diese Mythen zu entschlüs-seln und die Ideologisierungen zu durchschauen. Das mindert aber,wie wir ständig zur Kenntnis nehmen müssen, nicht ihre Wirkung.Meine Hypothese ist, die neoliberale Hegemonie basiert darauf, daß esihren Protagonisten erfolgreich gelungen ist, ein antisolidarisches Ge-sellschaftsbild und Menschenbild zu implementieren und zu verbrei-ten. Dafür war der Untergang des Staatssozialismus eine wichtige Vor-aussetzung. Gezeichnet wird eine Gesellschaft, die geprägt wird durchden erbarmungslosen Wettbewerb um den größtmöglichen privatenAnteil am gesellschaftlichen Reichtum, diese Gesellschaft gehört denSchönen, Reichen und Mächtigen. Der dazu passfähige Mensch istegoistisch, als Erfolg gilt, möglichst viel in die eigene Tasche zu wirt-schaften. Das legitimatorische Gegenbild ist das vom faulen Men-schen, der in der sozialen Hängematte lümmelt. Diese Bilder von Ge-sellschaft und Mensch sind inzwischen nicht nur binsenweisheitlicheDenkformen von überrollender Einfachheit, sie laufen auch perma-nent bei jeder aktuellen Botschaft – subversiv oder ganz offen – mit.Sie sind der Hintergrund der alltäglichen ideologischen Aggressionenund reproduzieren die neoliberale Hegemonie.

DIETMAR WITTICH

Heft 158, Dez. 2003Da tragen 100 000 Leute aus Ost und West ihre Unzufriedenheit mitder Agenda 2010 der Bundesregierung und mit dem gebetsmühlen-artig auf sie einprasselnden Gerede von der Alternativlosigkeit die-ses Raubzugs gegen den Sozialstaat auf die Straße – aber die, die siedazu aufgerufen haben, können sich nicht darauf verständigen, eineBrücke zu bauen hinein in den parlamentarischen Raum, auf daßdort die Wände widerhallen vom Protest. Für einen Moment hatteich auf dem Berliner Gendarmenmarkt die Vision, es müsse einenAuftrag geben der versammelten Menge an Gesine Lötzsch undPetra Pau – die beiden direkt gewählten, aber fraktionslosen PDSle-rinnen im Bundestag – dergestalt, daß sie den berühmten Satz desRömers Cato doch abwandeln mögen in ein vor jede ihrer Reden ge-stelltes »Im Übrigen haben uns 100 000 Menschen beauftragt, hierkund zu tun, daß die Agenda 2010 abgeschafft gehört!« Mehr alsdiese beiden Frauen sind doch an linker Opposition in diesem Parla-ment nicht geblieben – warum also ihren Platz und ihre Kraft nichtnutzen und stärken? Und die der mitdemonstrierenden dreiköpfigenPDS-Ministerriege aus Mecklenburg-Vorpommern gleich mit? Warumdieses Verschenken der Möglichkeiten?

WOLFRAM ADOLPHI

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Heft 161, März 2004In Düsseldorf stehen derzeit sechs Spitzenmanager deutscher Groß-unternehmen vor Gericht, wegen Bereicherung und Beihilfe zur»Vorteilsnahme«, was nur ein Tarnname für gewaltige Korruptionist. Das Erstaunliche ist, daß es tatsächlich zur Anklage kam. Ent-sprechend verhalten sich die Angeklagten, mit Siegerpose verkündetJosef Ackermann, immerhin Chef der Deutschen Bank, sie hättennur getan, was »im Wirtschaftsleben üblich« sei. Die private Berei-cherung am eigenen Unternehmen und dem anvertrauten Kapital istalso in diesen Kreisen das Übliche! Dagegen ist die Gottesanbeterinein geradezu gutherziges Geschöpf, sie frisst ihr Männchen erst nacherfolgreicher Befruchtung.

DIETMAR WITTICH

Heft 168, Okt. 2004Wenn der Zug nach Berlin die Deutzer Brücke bei Köln am Rheinüberquerte, hatte Konrad Adenauer den Eindruck, seine Heimat inRichtung Asien zu verlassen, das für ihn spätestens an der Elbe anfing.Heute wird man eher vom Gefühl beschlichen, zurück nach Deutsch-land unterwegs zu sein, dorthin, wo immer noch fast ausschließlich inder Sprache der Lutherbibel geredet wird, wo das Antlitz der Armutnoch weiß, weiblich und alleinstehend ist (und trotzdem auf Kindernicht verzichtet wird), wo, als Ausweis renitenten Zurückgeblieben-seins, die Frauen und Mädchen feministische Literatur ignorieren,dafür aber – zumindest bis jetzt noch – in großen Teilen selbstbewußtund unverklemmt sind. Statt sich endlich dem Westen anzupassen,nimmt dieses Selbstbewußtsein heute zu – nach den Jahren der Er-niedrigung, Ausplünderung, Verhöhnung und verweigerten Integra-tion des Ostens. Der Anschluß ist gescheitert. Auch gibt es im Ostennicht mehr viel zu holen; der Bundespräsident plädiert fast unverhülltfür ein Mezzogiorno, und jeder vierte Westdeutsche will die Mauerwiederhaben. Auf die Ostalgie folgt die Westalgie; darüber zu reden,gilt aber als unfein.

JÖRN SCHÜTRUMPF

Heft 172, Febr. 2005Der Irak lehrt, daß eine vermeintlich allmächtige Armee nur dazutaugt, die Diktatoren und Demokraten der Welt zu schrecken und imZaum zu halten, da sie um ihre Macht fürchten. Trifft sie auf ein wieauch immer geartetes, fanatisch verteidigtes Ideal, relativiert sich dieAllmacht auf ein überschaubares Maß an Strafaktionen, Gewalteinsatzgegen die Zivilbevölkerung und Gefangene, den illegalen Einsatzgeächteter Waffensysteme, kurzum: den ganzen dreckigen Sumpfkonventioneller Kriegführung.

MARTIN SCHIRDEWAN

Heft 177/178, Juli/Aug. 2005Bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen Ende Mai hatte dieCDU einen deutlichen Wahlsieg eingefahren, wie es eigentlich von al-len erwartet worden war. Die SPD als primus inter pares in der letztenrosa-grünen Regierungskoalition in einem Bundesland hatte – wiedereinmal – eine heftige Niederlage hinzunehmen. Nach 39 Jahren SPD-

Martin Schirdewan –Jg. 1975, Politikwissen-schaftler, Redakteur beiUTOPIE kreativ.

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Regierung war der Regierungswechsel am Rhein das Medienthema.Angela Merkel und die anderen Großkopfeten von CDU und CSUstrahlten um die Wette. Da trat in Berlin Franz Müntefering vor dieKameras, gestand in dürren Worten die Niederlage ein, um dann zugroßer Form auflaufend mitzuteilen, der Bundeskanzler GerhardSchröder und er hätten sich darauf verständigt, das Verfahren für vor-gezogene Neuwahlen einzuleiten. Tata! Damit war dem Wahlsiegerdes Abends die Show geklaut, der Regierungswechsel in NRW gerietzur Nebensache, die Neuwahlen wurden zum Medienthema. Das hat-ten noch gar nicht alle geschnallt, da meldete sich Oskar Lafontainevon der fernen Saar und teilte seinen Austritt aus der SPD mit, dieswohl vor allem, um nachzuschieben, dass er bei vorgezogenen Neu-wahlen für die WASG (Wahlalternative für Arbeit & soziale Gerech-tigkeit) zur Verfügung stünde, aber nur, wenn diese ein Bündnis mitder PDS einginge. Damit war nun wiederum Schröder und Müntefe-ring die sorgsam platzierte Show abhanden gekommen. Der Zeitgeist,für den doch als ausgemacht gilt, dass er fest in der Hand der Neolibe-ralen ist, schlägt Purzelbäume: Die Linken, eine neue gemeinsame undgesamtdeutsche Linkspartei oder ein gesamtdeutsches Linksbündnismit Lafontaine und Gysi als Frontmänner sind Thema des Tages.

DIETMAR WITTICH

Heft 179, Sept. 2005Allein die Ankündigung von PDS und Wahlalternative Arbeit und So-ziale Gerechtigkeit (WASG), sich zusammenschließen zu wollen unddies mit einer Umbenennung der PDS in Linkspartei.PDS sowie mitoffenen Listen der Linkspartei im Wahlkampf zu dokumentieren, hatzu einer Verdoppelung der Umfragewerte von unter fünf Prozent auffast zehn Prozent und dann gar zu weiteren Steigerungen bis auf zwölfProzent geführt. Ja, das ist Protest. Protest dagegen, dass unter derÄgide des Sozialdemokraten Gerhard Schröder das TINA-Verdikt derbritischen Konservativen Margaret Thatcher aus den siebziger Jahrenin Deutschland eine bisher nicht gekannte Kraft entfaltet hat. TINA –There Is No Alternative (Es gibt keine Alternative). Aber so gebets-mühlenartig dieses TINA auch immer wiederholt werden mag aus Po-litiker- und Unternehmerverbands- und Medienhauptstrommündern:Immer mehr Menschen glauben es nicht mehr. Sie protestieren, weilsie nicht glauben wollen, dass alles auf Alternativlosigkeit gestellt seiund die Globalisierung »ganz natürlich« in Sozialabbau, Armut undfundamentale Verunsicherung aller Lebenswelten münden müsse. DieLinke ist gefordert, diesen Protest aufzunehmen – und sie darf ihm,wenn sie mit einer Fraktion der Linkspartei in den neuen Bundestageinziehen sollte, bei Strafe einer erneuten Marginalisierung nicht wie-der entsagen. TAMARA muß das Motto lauten – There Are Many AndRealistic Alternatives (Es gibt viele und realistische Alternativen).Und diese Alternativen entstehen nicht im Gewöhnlichen – sprich inder Erledigung parlamentarischer Hausaufgaben. Sie entstehen nur inder stetigen und erlebbaren Verbindung mit dem außerparlamentari-schen Protest, entstehen nur in einer neuen Qualität des Zusammen-wirkens von Partei, sozialen Bewegungen und Gewerkschaften – imAußergewöhnlichen eben, mit dem auf das Scheitern von Rot-Grüngeantwortet werden muß. Signale des Mutes müssen gesetzt werden

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und Signale der Unbeugsamkeit – sonst wird sich der Protest schonbald andere Ausdrucksformen suchen.

WOLFRAM ADOLPHI

Heft 187, Mai 2006Das Scheitern der letzten 15 Jahre ist ein eindrucksvoller Beweis derAnfang der 80er Jahre von amerikanischen Politologen formuliertenKartellparteienthese, deren Kernaussage darin besteht, dass die Par-teien den Staatsapparat okkupieren, davon leben und, um davonleben zu können, ein politisches Kartell begründen. Die Inhalte glei-chen sich an, es spielt im Endeffekt keine Rolle mehr, wer es sich aufder Regierungs- oder der Oppositionsbank bequem macht. In derRegel ändern sich nur die Namen. Womit des deutschen Linkenhassgeliebtes Kind in den Fokus der Gedanken gerät. Wie verhältsich die zur Linkspartei gewandelte PDS?

MARTIN SCHIRDEWAN

Heft 188, Juni 2006Mir fällt in der kontrovers und zuweilen scharf geführten Debattevor allem eines auf: dass es die Utopie nach wie vor sehr schwer hat,überhaupt gedacht zu werden. Als Bremse funktioniert offensicht-lich nicht nur der bewusst entwickelte und aggressiv in die Öffent-lichkeit gebrachte Meinungshauptstrom der Marke TINA (There isno alternative – Es gibt keine Alternative), sondern gleichzeitig dievielen von uns auch ohne all das neoliberale TINA-Geschwätz inne-wohnende Furcht vor dem Ungewohnten. Denn es ist doch bemer-kenswert: Obwohl es keinerlei neuerlichen Beweises dafür bedarf,dass die Arbeitswelt in ihrer jetzigen Form Hunger, Elend und Todin schier auswegloser Massenhaftigkeit produziert und zudem aufSelbstzerstörung durch erbarmungslose Ressourcenvernichtung hin-ausläuft, werden Überlegungen zu einer radikalen Alternative, wiesie die bedingungslose Grundsicherung ja vielleicht darstellenkönnte, zuweilen mit einer Heftigkeit abgelehnt, als ob mit ihr allesnur immer schlimmer werden würde.

WOLFRAM ADOLPHI

Heft 192, Okt. 2006Wenn – wie das geplant ist – die Linkspartei.PDS und die WASG imJahre 2007 zur Gründung einer Neuen Linken schreiten, wird dieNeue Linke um eine klare Haltung zur Vertretung der Ost-Interessenals eines wesentlichen Bestandteils des Erbes der PDS nicht herum-kommen. Überlegungen wie die, dass man mit Östlichem im Westennicht Furore machen könne, mögen hier und da ganz gut klingen –zumal, wenn man betont, dass man die Teilung ja schließlich nichtnoch zementieren wolle –, aber hilfreich oder gar vorwärtsweisendsind sie nicht. Das Problem der tiefen Kluft zwischen Ost und Westbesteht unabhängig davon, was die einzelnen Parteien darüber sa-gen, weiter, und wenn nun auch noch die letzte der großen Parteienes nicht mehr zur Kenntnis nähme – nun, dann würden die von ihmBetroffenen nach anderen Möglichkeiten des politischen Ausdrucksihrer Interessen suchen.

WOLFRAM ADOLPHI

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Heft 195, Jan. 2007Neu an der heutigen Situation ist die um sich greifende und an diezwanziger Jahre erinnernde Kapitalismusmüdigkeit, deren politischerAusdruck die Linke werden kann. Bei diesem Spiel hat sie allerdingsnur einen Wurf frei, denn die Rechte steht nicht nur bereit, alle Unzu-friedenen einzusammeln, sondern hat damit schon begonnen. Ganzanders als bisher stellt sich auch dar, was in den alten Bundesländerngeschieht: Bis 2004 stammten Linke, soweit sie noch Politik machten,vor allem aus dem K-Gruppenmilieu. Das war so, obgleich seit 1990Hunderttausende aus den Gewerkschaften und aus der SPD emigriertwaren. Unterdessen ist der Leidensdruck so hoch, dass gestandeneSPDler und Gewerkschafter nicht nur begonnen haben, sich links derSPD zu organisieren, sondern sogar eine Vereinigung mit der Ostlin-ken anstreben. Besonders bemerkenswert dabei ist, dass es sich bei ih-nen nicht um traditionelle Linke handelt. Sie stehen nicht an der Spitzeeines großen Auswanderungsstromes aus der SPD, sondern in dessenMitte, vielleicht sogar an dessen Ende. Die Zukunft wird zeigen, obdiese Gruppe ihrer wichtigsten Aufgabe gewachsen sein wird: politi-scher Ausdruck der Hunderttausenden zu werden, die sich aus dempolitischen und gewerkschaftlichen Engagement verabschiedet haben.Gelingt das nicht, sind alle Erfolge gegenüber der SPD und innerhalbder Gewerkschaften Pyrrhussiege, mögen sie noch so glorreich er-fochten werden.

Und dann ist da noch die sich häutende PDS. 2002 schien sie demTode geweiht. Günstigstenfalls bot sich ihr, wenngleich ohne nen-nenswertes bundespolitisches Gewicht, noch eine Perspektive alslinke CDU des Ostens. Als politischer Ausdruck der DDR-Dienst-klasse, der die PDS ursprünglich war, ist sie auch weiterhin dem Todgeweiht, denn diese Klasse kann sich nicht reproduzieren – was be-dauern möge, wer mag. Seit die Veränderungen der Gesellschaft nunauch im Westen angekommen sind, ist die PDS auf dem Wege, end-gültig zu einer wichtigen Hinterlassenschaft der DDR zu werden. Mitihrer nach wie vor beeindruckenden (wenngleich fragilen) organisato-rischen Stärke und parlamentarischen Verankerung im Osten könntesie – selbst wenn sie in einem Bundesland durch Regierungsbeteili-gung fahrlässige Selbsttötung begehen sollte – der entstehenden ge-samtdeutschen Linken eine Stabilität leihen, über die diese inhaltlich-programmatisch zumindest im Moment nicht verfügt.

JÖRN SCHÜTRUMPF

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Auf dem linken Ufer des Oberrheins, wo die Höhen der Haardt, auchPfälzer Wald genannt, sich von Norden nach Süden zur französi-schen Grenze ziehen, liegt Neustadt mit seinen Weingärten am Fußdes Gebirgs. Dort sammelte sich in der sonntäglichen Frühe des27. Mai 1832 eine riesige, ganz ungewohnte Menschenmasse. Nichtnur die Bewohner der rund 6 000 Seelen zählenden Kleinstadt, weitmehr Zuwanderer aus den Dörfern und Städten der Pfalz, aus nochferneren Gegenden waren gekommen: Männer und Frauen aus vie-len Staaten des Deutschen Bundes, den Königreichen Bayern, Würt-temberg, Preußen, Hannover und Sachsen, den GroßherzogtümernBaden und Hessen-Darmstadt, dem Herzogtum Nassau, dem Kur-fürstentum Hessen-Kassel, dem Stadtstaate Frankfurt, sogar aus demfranzösischen Elsass belebten den Marktplatz, die umliegenden Gas-sen, die zur Stadt führenden Straßen und Feldwege. Was in den An-nalen deutscher Geschichte bislang nie zu berichten war: Sie alle –25 bis 30 Tausend! – drängten sich unter den streng verbotenen Far-ben Schwarzrotgold.

Die altdeutsche Trikolore wehte an den Häusern, schmückte inGestalt von Bändern und Kokarden die biedermeierlichen Frauen-kleider, die Zylinderhüte der Bürger und Bauern, die Schirmmützender Studenten, Handwerksgesellen und Tagelöhner. Es herrschtenFrohsinn und Feststimmung, überall Händeschütteln, Schulterklop-fen und Umarmungen. Musik, Gesang, auch Hochrufe ertönten, wo-mit noch immer heranziehende Scharen und volksbekannte Gestal-ten begrüßt wurden: »Hoch Wirth!« – »Hoch Siebenpfeiffer!« – »Eslebe Börne, der Verfasser der ›Briefe aus Paris‹!« Hier und da aller-dings schlichen Polizeispitzel in der Menge, die ausgeschickt waren,ihren Staatsbürokraten anstatt eines friedlichen Volksfestes eine De-monstration arglistiger Aufwiegler und Landfriedensbrecher zu de-nunzieren.

Auf dem Marktplatz vor der gotischen Stiftskirche ordnete sichdie Masse zum längst gedachten Festzug. Kilometerlang bewegte ersich von Neustadt zur hoch ragenden Burg, die damals noch alsRuine über dem Dorf Hambach lag. Hinter einer Musikkapelle derBürgergarde eröffneten viele Frauen den Zug – über den Häupterndas Weißrot einer polnischen Nationalfahne: Die erstmals öffentli-che Bekundung politischer Mündigkeit der Frau verband sich er-sichtlich mit Solidarität für Polens Unabhängigkeitskampf gegen dierussische Fremdherrschaft. Eine Abteilung von Festordnern, ein je-der mit trikolorener Schärpe, begleitete sodann den Träger eines

Helmut Bock – Jg. 1928;Prof. em. Dr. phil. habil.;Historiker. Mitglied der Leibniz-Sozietät. Zuletztin UTOPIE kreativ: Was tun?Russlands Februar-revolution und Lenins»April-Thesen«, Heft 198(April 2007).

550 UTOPIE kreativ, H. 200 (Juni 2007), S. 550-561

HELMUT BOCK

Was ist des Deutschen Vaterland?175 Jahre Hambacher Fest?

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schwarzrotgoldnen Banners, auf dem in dunklen Lettern geschriebenstand: »Deutschlands Wiedergeburt«. Dahinter marschierten die ge-wählten Mitglieder der Regionalvertretung, des pfälzischen Land-rats, und endlich die zahllos scheinenden Demonstranten, gegliedertnach ihrer Herkunft aus den verschiedenen deutschen Bundesstaa-ten. Und doch vereint in der Allgegenwart der schwarzrotgoldnenFarben!1

Das berühmteste aller Lieder Ernst Moritz Arndts wurde gesun-gen. Zwei Jahrzehnte zuvor noch Schlachtgesang franzosenfeindli-cher Gesinnung in den Kämpfen gegen den Kaiser Napoleon, dientees jetzt einem reiferen und besseren Patriotismus. Doch Frage undAntwort waren aktuell geblieben:

»Was ist des Deutschen Vaterland?Ist’s Preußenland? Ist’s Schwabenland?Ist’s, wo am Rhein die Rebe blüht?Ist’s, wo am Belt die Möwe zieht?O nein, nein, nein!Mein Vaterland muss größer sein […].«

Veteranen der Feldzüge von 1813 bis 1815 und eine junge, nachge-wachsene Generation intonierten gemeinsam das Verlangen nachdeutsch-nationaler Vereinigung.

Auch neugeschaffene Texte zeugten für diesen Sinn der Demon-stration. Dreihundert Handwerksgesellen schmetterten den von Sie-benpfeiffer gedichteten Festgesang nach der allbekannten Melodievon Friedrich Schillers Reiterlied:

»[…] Was tändelt der Badner mit Gelb und RotMit Weiß, Blau, Rot Bayer und Hesse?Die vielen Farben sind Deutschlands Not,Vereinigte Kraft nur zeugt Größe:Drum weg mit der Farben buntem Tand!Nur eine Farb’ und ein Vaterland […]!«

Bedenkt man, dass die negierten Landesfarben damals noch dieHerrschaft vieler deutscher Fürsten und ihre staatliche Souveränitätsymbolisierten, so bedeutete das Lied nichts Geringeres als ein poe-tisch verklausuliertes Umsturzprogramm.

Jedoch »Deutschlands Wiedergeburt« – die merkwürdige Inschriftdes Festbanners – sollte nicht nur die Aufgabe der Gegenwart undnahen Zukunft bezeichnen. Sie erinnerte an Vergangenes, das ir-gendwann abgebrochen und neu zu errichten war.

Historische ErinnerungSeit dem Anfang der Neuzeit arbeitet eine geschichtliche Entwick-lungstendenz an der Herausbildung eigenständiger Nationen und derKonstituierung von Nationalstaaten. Sie wirkte im Ringen der sichvereinenden Niederländer gegen die spanische Fremdherrschaft, undsie kräftigte geradezu die bürgerlichen Revolutionen der Engländer,US-Amerikaner und Franzosen. Zumal die »Grande Révolution«von 1789, die in Frankreich zum bürgerlichen Nationalstaat führte,rief auch bei anderen Völkern ein Bewusstsein von der Lebenskrafteigener, nationaler Wesenheit und der Notwendigkeit des gesell-schaftlichen Fortschritts hervor. Dabei verknüpften sich mit denMenschen- und Bürgerrechten der »Freiheit« und »Gleichheit«, die

1 Originale und haupt-sächliche Quelle: DasNationalfest der Deutschenzu Hambach. Unter Mit-wirkung eines Redaktions-Ausschusses beschriebenvon J. G. A. Wirth, Erstesu. zweites Heft, Neustadta. H. 1832. NachdruckMeininger, Neustadt a. d.Weinstraße 1981. Weiterebenutzte Literatur siehe amSchluss des Beitrags.

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eine von Privilegien und Willkür entfesselte Existenz der Individuenund der Völker verlangten, immer öfter auch vaterländische Bedeu-tungen: der Anspruch auf »Freiheit« von fremdherrschaftlicher Be-drückung und auf »Einheit« statt Zwietracht und innerer Zerrissen-heit.

Die Kraft der Revolution, die auch in Deutschland Grenzzäunenieder fegte und bürgerliche Modernisierungen erzwang, kam vonaußen – und sie trägt in der historischen Überlieferung fast nur einenNamen: Napoleon Bonaparte. Um Frankreichs Vorherrschaft aufdem Kontinent auszubauen, vollendete der Revolutionsgeneral dieAnnexion des linken Rheinufers, nutzte er als kaiserlicher Imperatordie Kollaboration deutscher Fürsten, indem er dem Staatsgefüge destausendjährigen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation denTodesstoß versetzte. Dabei konnte erfahren werden, dass er in seinenrechtsrheinischen Protektoratstaaten mit bürgerlichen Reformenfortsetzte, was die Revolution auf dem Westufer des Rheins schonbegonnen hatte.

Jedoch der Untergang des alten Kaiserreiches und die gleichzei-tige Errichtung der »Conféderation du Rhin« (1806) unter Napo-leons Schirmherrschaft war ein tief schneidender Bruch, der dieDeutschen aus traditioneller Gewohnheit und Lethargie schreckte.Wohl ließ Goethe seinen Studenten in Auerbachs Keller den Hohn-gesang anstimmen:

»Das liebe Heilge Römsche Reich,Wie hälts nur noch zusammen?«Und zeitlebens sah auch Hegel in Napoleon den »Geschäftsführerdes Weltgeistes«, der liberale Bürgerrechte nach Deutschlandbrachte. Der Vernunftglaube der Aufklärung aber und der Enthu-siasmus für die Große Revolution waren längst eingetrübt. Kriege,Plünderungen, Annexionen beschwerten Länder und Völker. DerRevolutionsgeneral mauserte sich zum tödlichen Degen eines Mili-tärdespotismus, der Frankreichs junge Generation auf den Schlacht-feldern verbluten ließ – überdies die Nachbarvölker in eine halbko-loniale Abhängigkeit zwang.

»Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung«, so titelte ein konser-vativer Patriotismus die anklagende Flugschrift, für deren Druck undVerbreitung der Nürnberger Buchhändler Palm unter den Kugeln ei-nes napoleonischen Exekutionskommandos fiel. Es gab ebenfalls li-berale Gesinnungen der Bestürzung und des Protestes. »Jetzt wardas Letzte geschehen, alles einzelne Deutsche, das Kleinste wie dasGrößte, das Ruhmvollste wie das Dunkelste, lag nun in einemgroßen gemeinsamen Jammer über- und untereinander hingeworfen,und der übermütige welsche Hahn krähte sein Viktoria! […] AlsDeutschland durch seine Zwietracht nicht mehr war, umfasste meinHerz seine Einheit und Einigkeit.« So schrieb Arndt als bürgerlicherStimmführer des antinapoleonischen Widerstands. Wie schon inSpanien eine Nationalbewegung auf Napoleons Herausforderungenwehrhaft und unüberwindlich reagierte, so erzwangen auch deutscheUnabhängigkeitskämpfer den Krieg von 1813. Da beschwor jederdeutschtümelnde oder liberal-patriotische Ideenentwurf die Erinne-rung an das verlorene Reich. Die Metapher »Deutschlands Wieder-geburt« meinte oft einen staatlichen Neubau zu Lasten der mit

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Frankreich kollaborierenden Rheinbundfürsten, die als Vaterlands-verräter zu stürzen seien, so dass deren Territorien für eine neudeut-sche Staatsordnung zur Verfügung stünden. Ganz konkret aber wardas nicht. Der engagierte Buchhändler Perthes berichtet von Hoff-nungen auf »ein unbekanntes Etwas«, das bald »deutsche Einheitoder deutsche Ehre«, bald »deutsche Freiheit oder deutsche Herr-lichkeit«, zuweilen auch »deutsches Kaisertum« genannt wurde.

Indes wechselten die Rheinbundfürsten gerade noch rechtzeitigzur antinapoleonischen Koalition. Der Wiener Kongress (1815) be-siegelte rein fürstlich-dynastische Interessen. Der aus der Taufe ge-hobene Deutsche Bund war weder Einheitsstaat noch Bundesstaat.Deutschland blieb eine Staatenföderation, die auf dem Prinzip derunantastbaren Souveränität von über dreißig Fürstenhäusern be-ruhte. Die vagen Wünsche nach nationaler Einheit und verfassungs-mäßiger Bürgerfreiheit waren zurückgewiesen. Die vaterländischenStreiter gegen Napoleon hatten für den Erhalt von Dynastien ge-fochten, deren Herrschaft nicht »von Volkes Willen«, sondern aber-mals »von Gottes Gnaden« war. Die Krönung dieser »Restauration«erfolgte im eroberten Paris: Der Zar von Russland, der Kaiser vonÖsterreich und der König von Preußen gründeten die »Heilige Alli-anz«, die den »göttlichen Erlöser Jesus Christus« als allerhöchstenSouverän und die christgläubigen Völker des Kontinents als »unteil-bare christliche Nation« auffasste. Die vertragschließenden Groß-fürsten dieser Staatengemeinschaft usurpierten das Recht, sich»bei jeder Gelegenheit und an jedem Ort Beistand, Hilfe und Unter-stützung« gegen Störungen und Störer zu gewähren.

Oppositionelle Patrioten und zumal studentische Burschenschaf-ter, die die Farben Schwarzrotgold zur Symbolik ihres Widerstandserkoren, mussten die Schikanen der »Demagogenverfolgung« erdul-den. Doch die altdeutsche Trikolore sowie die Losung »Einheit« und»Freiheit« überdauerten im Untergrund bis ins historische Jahr 1830:Da nämlich wurde der Ruf nach »Deutschlands Wiedergeburt« er-mutigt durch die Pariser Julirevolution, die belgische Nationalrevo-lution und die polnische Nationalerhebung gegen die Fremdmachtdes Zaren. Nun mangelten auch die Bedingungen und der Zufallnicht, dass die geschichtliche Tendenz der Nationalentwicklung alsein formuliertes Ziel in Deutschland offen und breit zu Tage trat.

Kampf um das rheinische RechtDer Zeitpunkt war 1832 – der Ort die Rheinpfalz. Seit 1816 zu Bay-ern gehörig, deshalb auch »Rheinbayern« genannt, unterschied sichdie linksrheinische Region rechtlich von den süddeutschen Kernlan-den des Königreiches. Die liberalen Gesetze der Napoleonzeit, dar-unter das Recht freier Meinung und Versammlung, die Pressefreiheitund die Geschworenengerichte, waren als weiterhin gültig aner-kannt. Fortschrittlich Gesinnte, zumal Journalisten und Rechtsan-wälte, mochten hier eine Freistatt suchen, und sie fanden als liberaleoder gar demokratische Protestführer einen Resonanzboden, derdurch politische Missstimmungen und ein sanguinisches Volkstem-perament gerade jetzt in heftige Schwingungen geriet. Gründe genugwaren vorhanden, dass die Pfälzer gegen die Zentralregierung inMünchen und deren ins Land gefallene Staatsbürokraten aufbegehr-

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ten. Es würde zu weit führen, von den Negativwirkungen erhöhterSteuern und Zollgebühren, von Missernten und Teuerung des Ge-treides, also auch des Brotpreises, im Einzelnen zu berichten. Genü-gen mag ein Satz, den der Frankenthaler Johann Philipp Becker inseinen Erinnerungen notierte: »Die Pfalz hatte keine Sympathien fürBayern, mit dem sie weder Sitten und Gewohnheiten, noch Ge-schichte gemeinsam hatte; sie hatte mehr das Gefühl eines eroberten,unter Fremdherrschaft lebenden Landes.«

Als nun ein Neustädter Bürger auf den abwegigen Einfall kam,seine Landsleute zu Ehren des Königshauses der Wittelsbacher undihrer Staatsverfassung zu einer Konstitutionsfeier auf den Hamba-cher Schlossberg zu laden, fand sich ein Widerstand, der die lamm-fromme Absicht ins Gegenteil kehrte. 34 Neustädter, fast ausnahms-los Kaufleute und Landwirte, riefen zu einer Maifeier auf, diekeinesfalls der bayrisch-monarchischen Verfassung huldigen sollte.Sinn und Zweck dieses Treffens wurden von Johann Philipp Sieben-pfeiffer, dem ehemaligen Burschenschafter, gemaßregelten Beamtenund Herausgeber des »Boten aus dem Westen« nahezu aufreizendformuliert: Die deutschen »Männer jedes Standes« und die »Frauen,deren politische Missachtung in der europäischen Ordnung« einSchandfleck sei, sollten zu »friedlicher Besprechung« und »ent-schlossener Verbrüderung« kommen. Nicht »dem Errungenen, son-dern dem zu Erringenden« müsse diese Begegnung gelten – und dashieß wörtlich: »[…] dem Kampfe für Abschüttelung innerer undäußerer Gewalt, für Erstrebung gesetzlicher Freiheit und deutscherNationalwürde«.

Bayerns amtierender Regierungspräsident des Rheinkreises, derFreiherr Adrian-Werburg, hielt Siebenpfeiffers Aufruf für staatsge-fährdend. Er verbot kurzerhand das Volksfest, erklärte den militäri-schen Ausnahmezustand und provozierte durch diese Missachtungder pfälzischen Freiheits- und Versammlungsrechte die helle Em-pörung der Bevölkerung. Freiheitsbäume, die Symbole der Franzö-sischen Revolutionen von 1789 und 1830, wuchsen auf den Markt-plätzen empor. Volksansammlungen trotzten dem bayrischen Militär.Bürgerabordnungen bestürmten die Behörden mit Protestresolutio-nen. Rechtsanwälte klagten gegen das Festverbot wegen ungesetzli-cher Willkür. Einstimmig verlangte auch der pfälzische Landrat denWiderruf des Verbots.

Da begann die Regierung zu lavieren. Weil ihr politische Unruhennahe der französischen Grenze unerwünscht waren, zog sie das Ver-bot für »bayrische Deutsche« zurück. Es war eine Staatsniederlage,die gleichwohl den Erfolg haben sollte, dass Angehörige andererdeutscher Staaten amtlich ausgeladen blieben – das Volksfest folg-lich nur als ein »rheinbayrisches« Landestreffen genehmigt war.Aber das Ringen um die Zulassung des Maifestes hatte dieses weitüber die kleinstaatlichen Grenzen hinaus bekannt gemacht. Der Neu-städter Aufruf fand ein Echo, das seine Urheber in ihren kühnstenTräumen kaum erwartet hatten.

Sobald schon am Vorabend des entscheidenden Tages lange Wa-genzüge und Scharen von Fusswanderern in Neustadt eintrafen, fra-ternisierten die Pfälzer in Gaststätten, Winzerstuben und Weingärtenmit ihren von weither gekommenen Gästen als »deutsche Brüder«.

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Unter Glockengeläut, Böllerschüssen und Freudenfeuern besiegeltedie Massenstimmung ein unverrückbares Faktum für den folgendenTag: Diese Begegnung werde nicht zur bayrisch-pfälzischen Lan-desfeier verkommen. Sie werde vielmehr als eine große deutscheNationalkundgebung in die Geschichte eingehen.

Deutsche Republik und republikanisches EuropaAm 27. Mai wehte Schwarzrotgold auf der höchsten Zinne des Ham-bacher Gipfels, von dem die versammelte Menge weithin ins Rhein-tal blickte. Die deutsche Trikolore war bereits 1817 auf dem Wart-burgtreffen der Burschenschafter ein Sinnbild erstrebter »Einheit«und »Freiheit« gewesen. Jetzt aber offenbarte sich der inzwischengeschehene Wandel der patriotischen Bewegung. Wartburg – ein Tref-fen der Fünfhundert; Hambach – eine Massenkundgebung Zehntau-sender. Wartburg – Versammlung der akademischen Jugend des Bür-gertums; Hambach – gänzlich offene, ausgreifende Demonstrationder Handels- und Bildungsbürger, Gutsbesitzer und Kleinbauern,Handwerksmeister und Gesellen, Lohnarbeiter und Armen, wobeisogar Frauen zugegen waren. Nur Industriebourgeoisie und Proleta-riat konnten auf dem Hambacher Berg noch nicht durch typische Re-präsentanten vertreten sein.

Das Fest war aber nicht nur an Teilnehmerzahl und sozialer Viel-falt, sondern auch an geistigem Gehalt dem Wartburgtreffen überle-gen. Zwar schien sich die Bergkuppe in eine germanische Thing-stätte zu verwandeln. Die Teilnehmer, die doch aus den Staaten desDeutschen Bundes kamen, wurden nach alter Sitte als die Vertretervon »Stämmen« und »Gauen« begrüßt. In bombastischen Anspra-chen wurden die fernsten Ursprünge »deutschen Wesens« beschwo-ren, geisterte »Hermann« – Cheruskerfürst und Varusbezwinger –als Befreier von fremdem Joch, und selbst der Römer Tacitusmusste die großen Tugenden ruhmreicher Vorväter bezeugen. Auchwurde eine historische Mission erinnert, die seit Fichtes »Reden andie deutsche Nation« wiederum die Patrioten beseelte: Nachdemsich Engländer und Franzosen an der Verwirklichung des Glücks derMenschheit durch liberalistische Bürgerordnung und unbeschränktenIndustriefortschritt versucht, aber mit national-egoistischen Interessenbegnügt hatten, sollten nunmehr die Deutschen auf besseren Wegender »Freiheit«, »Gleichheit« und »Brüderlichkeit« zum Wohl der Völ-ker Europas wirken. Hatten die Burschenschafter der Wartburg nochHass gegen Frankreich gehegt und Napoleons »Code civil« ins Feuergeworfen, so verwob sich bei Hambach die deutsche Nationalidee mitden schönen Ideen der Völkerfreundschaft. Zu Recht konnte der sonsteher spöttische Heinrich Heine schreiben: »Dort, auf Hambach, ju-belte die moderne Zeit ihre Sonnenaufgangslieder, und mit der ganzenMenschheit ward Brüderschaft getrunken.«2

Polens Befreiung von zaristischer Vorherrschaft und Solidaritätmit Frankreichs Republikanern waren die kosmopolitischen Grund-gedanken. Auf dem Burggemäuer wehte jetzt auch die weißroteFahne, und eine Delegation polnischer Emigranten wurde stürmischals die Vertretung eines tapferen Volkes gefeiert, das gegen den Za-ren revoltiert und – zunächst noch mit tragischem Ausgang – fürseine nationale Unabhängigkeit gefochten hatte. Aus Straßburg

2 Heinrich Heine: LudwigBörne, in: Werke und Briefe,hrsg. v. H. Kaufmann, Bd. 6,Berlin-Weimar 1972, S. 171.Obwohl sich Heine mitBörne wegen revolutionärerund republikanischer Hal-tungen auseinandersetzt,gibt er dessen witzigen Be-

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überbrachte die Abordnung der »Gesellschaft der Volksfreunde«(»Societé des amis du peuple«), die durch ihren Namen an den»Volksfreund« Marat und also an die Jakobiner von 1793 erinnerte,eine Grußadresse: Sie spornte die »deutschen Brüder« zum Kampfgegen den fürstlichen Absolutismus und für den Nationalstaat an,rief aber auch zur »Fraternité« mit den französischen Republikanern,die das Julikönigtum der herrschenden Finanzaristokraten an denPranger der revolutionären Demokratie stellten. Der Delegations-sprecher Lucien Rey kündigte sogar einen bewaffneten Aufstand an.

Mit der Kritik am »Juste-milieu« in Frankreich war ein Stichwortgegeben, das auch deutschen Rednern dazu diente, ihre Distanz ge-genüber der reichen Bourgeoisie auszudrücken. Für revolutionärgesinnte Hauptsprecher war »Juste-milieu« die Metapher, um diepolitische Polemik nicht nur gegen die Fürsten, sondern auch gegenden gemäßigten Liberalismus zu richten. Schon der Neustädter ArztDr. Hepp, der die Kundgebung im Namen des Festkomitees eröffne-te, donnerte gegen die adligen »Zwingherren«; er rügte zugleich den»falschen Liberalismus«, der vor Kampf und Gefahr zittere und frei-heitliche Handlungen mit »kalt berechnendem Eigennutz auf dieGoldwaage« lege.

Siebenpfeiffer titulierte die Fürsten mit zoologischen Namen undgemahnte an das verpflichtende Erbe der ringsum stattgefundenenVolksempörungen des Bauernkriegs von 1525. Er sparte aber auchnicht mit Ironie, indem er das egoistische Gewinnstreben des Unter-nehmertums angesichts universaler Wandlungen des aufkommendenIndustriezeitalters kritisierte. »Der sinnende Geist errichtet Eisen-bahnen und baut Dampfschiffe, das enge Comptoir zum Weltmarkterweiternd, Land mit Land und Volk mit Volk zu gegenseitigem Wu-cher verknüpfend: aber der Bürger bleibt fremd dem Bürger, undengherzig verkrüppelt er am Rechentisch, im spießbürgerlichen Pup-penspiel, oder am kühnen Wagestück eines – Schleichhandels.« Erverspottete die kleinstaatlich-deutschen Landesverfassungen, dielächerlichen »Konstitutiönchen«, und schloss seine Rede mit Losun-gen, die gegen die »Heilige Allianz« und den Deutschen Bund einrevolutionär-demokratisches Programm formulierten: »Es lebe dasfreie, das einige Deutschland! Hoch leben die Polen, der DeutschenVerbündete! Hoch leben die Franken, der Deutschen Brüder, die un-sere Nationalität und Selbständigkeit achten! Hoch lebe jedes Volk,das seine Ketten bricht und mit uns den Bund der Freiheit schwört!Vaterland – Volkshoheit – Völkerbund hoch!«

Bedeutsamster Festredner war Johann Georg August Wirth, ehe-mals Hegelschüler, Burschenschafter und Bayreuther Rechtsanwalt,jetzt rheinbayrischer Herausgeber der nationalpolitischen Zeitung»Deutsche Tribüne«. Er lenkte den politischen Blick über Polen undFrankreich hinaus, nannte auch die Völker Spaniens und Portugals,Italiens und Ungarns als potenzielle Verbündete im Kampf gegen dieKoalition der Fürsten. Weil er für »Freiheit des Welthandels« eintrat,kritisierte er aber auch die Handels- und Marktherrschaft Englands,des Mutterlands der Industriellen Revolution, als ein »unnatürlichesÜbergewicht«: Der Handel, dieser »große Menschenfreund«, müsseohne Monopolisierung gedeihen, damit »er seine unendlichen Gabenund unerschöpflichen Schätze über die Völker ausschütte und zu-

richt über das HambacherFest treffend wieder. Hierein Auszug: »Wir Deutschensind ein ganz prächtigesVolk und gar nicht mehr sounpraktisch wie sonst. Wirhatten in Hambach auchdas lieblichste Maiwetter,wie Milch und Rosen, undein schönes Mädchen wardort, die mir die Hand küs-sen wollte, als wär ich einalter Kapuziner; ich habedas nicht gelitten, und Vaterund Mutter befahlen ihr,mich auf den Mund zu küs-sen, und versicherten mir,dass sie mit dem größtenVergnügen meine sämtli-chen Schriften gelesen. Ichhabe mich sehr amüsiert.Auch meine Uhr ist mirgestohlen worden. Aber dasfreut mich ebenfalls, das istgut, das gibt mir Hoffnung.Auch wir, und das ist gut,auch wir haben Spitzbubenunter uns und werden daherdesto leichter reüssieren. Daist der verwünschte Kerl vonMontesquieu, welcher unseingeredet hatte, die Tugendsei das Prinzip der Republi-kaner! Und ichängstigte mich schon, dassunsere Partei aus lauterehrlichen Leuten bestehenund deshalb nichts ausrich-ten würde. Es ist durchausnötig, dass wir, ebenso gutwie unsre Feinde, auchSpitzbuben unter unshaben. Ich hätte gerne denPatrioten entdeckt, der mirzu Hambach meine Uhrgemaust; ich würde ihm,wenn wir zur Regierungkommen, sogleich diePolizei übertragen und dieDiplomatie. Ich kriege ihnaber heraus, den Dieb. Ichwerde nämlich im ›Hambur-ger Korrespondenten‹ an-noncieren, dass ich demehrlichen Finder meiner Uhrdie Summe von hundertLouisdor auszahle. Die Uhrist es wert, schon als Kurio-sität: es ist nämlich die ersteUhr, welche die deutsche

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gleich alle Nationen zu ewig neuen Fortschritten in der Zivilisationansporne«.

Den als notwendig bezeichneten Wandel des Deutschen Bundes,der im Grunde doch Revolution bedeutete, tarnte Wirth mit demgemäßigt liberalen Wort »Reform«. Eben diese nannte er aber auchdie Zentralfrage des ganzen Kontinents: »Es ist einleuchtend, dass[…] die Reform Deutschlands, als die Basis der Reorganisation Eu-ropas, eine große gemeinschaftliche Angelegenheit aller Völker un-seres Erdteils sei. Von ihr hängt die Wohlfahrt der großen Mehrheitaller Nationen Europas, von ihr die Ruhe und das Glück des ganzenWeltteils selbst ab.« So verband er die Losung der »Einheit« und»Freiheit« Deutschlands mit der Schaffung einer gerechten undfriedlichen Ordnung des gesamten Kontinents. Nach seiner Vorstel-lung sollte ein solcher Wandel allen Völkern Zivilisation und Wohl-stand bringen.

Sehr kritisch urteilte Wirth über die benachbarte Julimonarchie –womit er sich auch gegen Pfälzer wandte, die insgeheim eine links-rheinische Volkserhebung erwogen und dafür die Hilfe Frankreichserwarteten. Im demagogisch geschönten »Bürgerkönigtum«, bleibedie »gegenwärtig herrschende Partei, gestützt auf die ganze Masseder Reichen und Wohlhabenden«, unfähig, den Fortschritt inDeutschland zu fördern. Es sei denn um den Preis einer erneuten An-nexion des linken Rheinufers! Nur die Republikaner, insbesonderedie »Gesellschaft der Volksfreunde«, verträten wahrhaft patriotischeund daher auch weltbürgerliche Grundsätze. Doch diese Demokra-ten könnten ohne eine französische Staatsumwälzung, wozu »nochlange keine Aussicht« bestünde, nicht zur Macht gelangen, undselbst dann sei es schwer genug für sie, sich als ein »kleines Häuf-lein hellsehender Kosmopoliten« gegen den landhungrigen Nationa-lismus durchzusetzen. Wirth zog aus alledem einen Schluss, derauch deutschen Nationalisten eine Handhabe bot: Die ErneuerungDeutschlands werde eine Wiedervereinigung mit den ehemals deut-schen, von Frankreich annektierten Gebieten Elsass und Lothringen»wahrscheinlicher Weise zur Folge haben« – aber im Fall einer fran-zösischen Gegenoffensive müssten die deutschen Patrioten ihre»Opposition gegen die inneren Verräter (die Fürsten) suspendierenund das Gesamtvolk gegen den äußeren Feind zu den Waffen rufen.«

Aus Wirth sprach die Tradition von 1813. Indem er solch höchstproblematische Erwägungen in die Jungfernrede der nationalen Ein-heit und der Völkerfreundschaft aufnahm, gefährdete er den politi-schen Konsens der Versammlung.3 Er provozierte den Widerspruchsowohl von Pfälzern als auch des Sprechers der französischen Re-publikaner, die ihre blauweißroten Kokarden aus der Tasche zogen,an ihre Jacken und Hüte steckten. Immerhin verhalf er dem deut-schen Patriotismus zu einer richtigen Erkenntnis: »Der Kampf umunser Vaterland und unsere Freiheit muss ohne fremde Einmischungdurch unsere eigene Kraft von innen heraus geführt werden.« DassWirth im Grunde selbst revolutionär dachte, bewies seine Aufforde-rung, möglichst noch während des Festes geeignete Männer zuwählen, die »durch Geist, Feuereifer und Charakter berufen« seien,»das große Werk der deutschen Reform zu beginnen und zu leiten«.Die ungemein anspannende Rede versöhnte am Ende die aufge-

Freiheit gestohlen hat.Ja, auch wir, GermaniensSöhne, wir erwachen ausunserer schläfrigen Ehrlich-keit … Tyrannen zittert, wirstehlen auch!« S. 166 f.

3 Der Redaktions-Aus-schuss des Festberichtsgenehmigte den vollenAbdruck der Rede Wirths,verfasste aber eine Anmer-kung, die dessen Kritik ander Julimonarchie damiterklärte, dass »nicht eineinziges französisches Jour-nal die anmaßende, Freiheitund Nationalität missach-tende Forderung derRheingrenze zu bekämp-fen« wagte. Das National-fest der Deutschen, S. 48.

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brachten Gemüter durch eine solidarische Perspektive: »Hoch! drei-mal hoch leben die vereinigten Freistaaten Deutschlands! Hoch!dreimal hoch das konföderierte republikanische Europa!« Mit demRuf nach deutscher Föderativrepublik und republikanischem Völ-kerbund formulierte auch Wirth das nationale und internationale Zielder bürgerlich-demokratischen Bewegung.

Das Problem der »Reform«, von der Wirth gesprochen hatte, rieflogischerweise die Frage nach Mitteln und Wegen hervor, womit diebestehenden Staatsverhältnisse zu ändern seien, und es fanden sichRedner, die diese Debatte zum Gewaltproblem zuspitzten. Im Rundder Versammelten wirkten lautstark die Burschenschafter – etwadreihundert aus dem nahen Heidelberg, weitere von den Universitä-ten Bonn, Gießen, Freiburg, Jena, Tübingen und Würzburg. Karl-Heinrich Brüggemann, Heidelberger »Germane« und später – inNachfolge des jungen Marx – Redakteur der »Rheinischen Zei-tung«, verfocht das von den radikalen Burschen insgeheim schonbeschlossene Prinzip: Gewaltsamer Unterdrückung müsse mit be-waffnetem Widerstand begegnet werden! Zwar glänzte die bildungs-beflissene Ansprache des jungen Mannes mit rhetorischen Versatz-stücken der Deutschtümelei; aber gerade er war es, der sich freiheraus auf das Vorbild der Revolutionen Englands, Amerikas undFrankreichs berief.

Das Widerstandsrecht gegen Regierungsgewalt wurde sogar nochentschiedener eingefordert. Der Bürstenmacher Becker aus Fran-kenthal, zukünftig Revolutionsgeneral von 1849 und Mitbegründerder ersten Internationalen Arbeiterassoziation, hat sein politischesRededebüt bei Hambach zutreffend und selbstironisch geschildert:»Als aber dort nachmittags 4 Uhr die Revolution immer noch nichtverkündet war und oben ein Redner lang und breit über die Zweck-mäßigkeit der Petitionen und Protestationen sprach, riss mir der Ge-duldsfaden und ich schwang mich auf ein hohes umgestülptes Wein-fass neben der Rednertribüne, den Juste-milieu-Apostel geradezuniederschreiend. Unter rauschendem Applaus betonte ich vor allemdie Notwendigkeit allgemeiner Volksbewaffnung, unter anderem sa-gend: ›Hinter den Verordnungen der Regierungen stehen Kanonenund Bajonette, darum werden sie befolgt; hinter unseren Petitionenund Protestationen steht nichts, und darum bleiben sie auch in denAugen der Regierungen nur lächerliche Vorstellungen. Wollten wirdaher, dass unsere Protestationen Erfolg haben, so müssen wir auchKanonen und Bajonette dahinter stellen. Also zur Volksbewaff-nung!‹«4

Von den rund 25 angemeldeten Rednern entstammten wohl alledem Besitz- und Bildungsbürgertum, und die meisten ergingen sichauf dem Podium in abstrakten Deklamationen: »Wortbruch der Für-sten«, »Gott und Vaterland«, »Recht und Freiheit«, »Einigkeit undKampfesmut«. Der junge Becker hingegen, der spontan das Wort er-griffen hatte, stand auf dem Weinfass für die kleinbürgerlich-plebe-jischen Elemente, die die Mehrheit der Festteilnehmer waren. Derenexistenzielle Bedürfnisse nach Lohn und Brot, erschwinglichenHolz- und Getreidepreisen, Senkung der Steuern und Zolltarife blie-ben so gut wie ungenannt – abgesehen von der schwarzen Fahne, mitder die Dürkheimer Winzer ihre soziale Verelendung kundtaten, wo-

4 Aphorismen aus JohannPhilipp Beckers Glaubens-bekenntnis, in: Der Sozial-demokrat, Nr. 51, Zürich, 17. Dezember 1886.Nachdruck bei HellmutG. Haasis: Volksfest,sozialer Protest und Ver-schwörung. 150 JahreHambacher Fest, Heidel-berg 1981, S. 240 ff.

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bei zu vermuten ist, dass sie dem Beispiel der Weber Lyons folgten,die vor Monaten unter der schwarzen Notfahne revoltiert hatten. Diewenig Bemittelten und die Besitzlosen saßen auch nicht auf den ei-gens errichteten Bänken, wo mehr als tausend zahlungsfähige Gästedas Mittagsmahl für 1 Gulden und 45 Kreuzer verzehrten, wofür einArbeiter beim Ausbau der Hambacher Wege und des Festplatzesdreieinhalb Tage hätte werken müssen. Dennoch war die ganzeVersammlung ein Festtag und eine Gelegenheit des Protestes auchfür die »kleinen Leute«: Sie trugen die Kokarden, schwenkten diedeutschfarbenen Tücher, würzten die wohltönenden Reden mit sar-kastischen Witzen und Zwischenrufen, lärmten und applaudiertenmit der Macht ihrer Hände, sangen aufmüpfige Lieder, und die Jung-männer schielten bei alledem nach den Weibern, dem schönen, so-eben erst seine politische Emanzipation beginnenden Geschlecht.Am Abend zogen sie dann ebenso fröhlich wieder den Berg hinun-ter, wie es die gesetzten Bürger taten.

Ausklang und AusblickDie erste Massenkundgebung der Deutschen konnte schwerlichohne Nachwehen enden. Dem Hauptfest folgte ein Kometenschweifweiterer Kundgebungen, aber auch spontaner Aktionen. In rundfünfzig Dörfern und Städten der Pfalz wurden die Hambacher Redenund Lieder von den Pfälzern auf eigene Weise verstanden. Die Frei-heitsbäume wurden gespickt mit Beschwerdezetteln: »Der Bürger-meister muss weg!« – »Der Feldschütz muss weg!« – »Wir brauchenkeinen Steuereinnehmer!« – »Es gibt keine Beamten mehr, undselbst der König hat uns nichts mehr zu befehlen!« – »Es herrschtFreiheit und Gleichheit!« Da wurde weiterhin gelärmt und gesun-gen, die Polizeistunde missachtet, mehreren Bürgermeistern – dar-unter dem von Hambach – die Absetzung erklärt und Gendarmen,Gerichtsboten, Forstbediensteten eine Tracht Prügel angedroht. DieArmen in Frankenthal behinderten die Ausfuhr des Getreides, damitnicht durch ein vermindertes Angebot vor Ort der Brotpreis weitersteige. In Worms enterten sie ein Kornschiff, trugen die Ladung indie Stadt und wollten die Preise selbst bestimmen.

Der Staatsprokurator von Frankenthal meldete seiner Regierung:»Revolution« und »Gleiche Teilung der Güter« seien das Ziel der»Classe des Volkes, die nichts zu verlieren« habe! Gegen diese»Pöbel- und arbeitende Classe« – wie sie in den Meldungen offiziellhieß – genehmigte der königliche Hofkommissär von Wrede dieAufstellung von Sicherheitswachen des besitzenden Bürgertums. Siesollten das »Privateigentum und die persönliche Sicherheit mit allemNachdruck schützen«. Obwohl bayrisches Militär in Stärke vonneuntausend Mann in die Pfalz einrückte, versäumte die Besitz-klasse nicht, mit bewaffneten Bürgerwehren für »Ruhe und Ord-nung« zu sorgen.

Indes stiegen Patrioten und Neugierige noch tagelang auf denHambacher Berg, von dessen Gemäuer die beiden Fahnen der Deut-schen und der Polen am 1. Juni in feierlicher Zeremonie herunterge-holt wurden. Am Tag nach dem Fest trafen sich noch einmal an dieSechshundert im Neustädter Schießhaus. Dort griff Siebenpfeifferden Gedanken Wirths auf, aus ihrer Mitte die Männer des allgemei-

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nen Vertrauens zu wählen. Burschenschaftsvertreter und weitere ra-dikal Gesinnte agitierten für die sofortige Bildung eines provisori-schen »Nationalkonvents« – andere bezweifelten das Recht zu einersolchen Entscheidung und Abstimmung. In der Forschung schwan-ken die Angaben, ob es spontane Aktivisten oder Vorherbestimmtewaren, die hier debattierten, sich aber zur eigenmächtigen Tat nichtentschließen konnten. Die Mehrheit jedenfalls begriff sich nicht alsprovisorische Wähler oder gar Volksdeputierte, sondern nur als Pri-vatpersonen. Die Burschenschafter verließen den Ort mit Enttäu-schung und lautem Protest.

Jedoch von der Stimmung im Land ermutigt, verfolgten Sieben-pfeiffer und Wirth das Projekt der Gründung eines »DeutschenReformvereins«. Das ausformulierte Programm, das von der Staats-polizei aufgespürt wurde, nannte revolutionär-demokratische Ziel-setzungen: Volkssouveränität, allgemeine Volksbewaffnung, deut-sche bundesstaatliche Republik nach dem Vorbild der VereinigtenStaaten von Nordamerika, internationale Solidarität mit allen umihre Freiheit ringenden Völkern . Über die Methoden des politischenWirkens wurde in diesen »Grundzügen des Reformvereins« gesagt:Man werde auf »gesetzlichem Wege« bleiben, solange die Regie-rungen nur »mit Dekreten und Verboten« drohten, aber den bewaff-neten Widerstand wagen, sobald sie Gewalt anwendeten.

Zielsetzung und Kampfmethoden unterschieden sich bewusst vonTheorie und Praxis des zeitgenössischen bürgerlichen Liberalismus.Das Wissen um die Revolutionsresultate seit 1789 und somit um denbeschränkten Realwert der viel berufenen »Freiheit« und »Gleich-heit« hatte sich geschärft. Man hatte gewahren müssen, dass in denfortgeschrittensten Ländern – den konstitutionellen MonarchienGroßbritannien und Frankreich – die reiche Bourgeoisie als eine be-vorrechtete Klasse am Staatsruder stand, während die Millionen desVolkes von der Regierungsgewalt, den Staatsinstitutionen und Wahl-körpern ausgeschlossen blieben. Indem die kritischen Demokratendiesen Tatbestand lediglich als Verletzung der Menschenrechte ver-urteilten, begriffen sie das ökonomisch-soziale Wesen der neuen Ge-sellschaft in der Regel noch nicht. Doch in der rein politischenSphäre der Auseinandersetzungen erfassten sie richtig, dass die herr-schenden bürgerlichen Fraktionen durch die Konstruktion ihrerMacht den Widerstand des arbeitenden Volkes gegen die Vorrechteder Reichen und das ihnen zugrundeliegende Eigentum geradezuherausforderten. So wuchs das Bestreben nach konsequenter»Volkssouveränität« und einer neuen, besseren Revolution. Auch inDeutschland gelangten die revolutionären Demokraten zu der Auf-fassung: Die Monarchie sei als Staatsform mit der Souveränität desVolkes unvereinbar – allein die Republik, deren Parlament undSelbstverwaltungsorgane den gewählten Repräsentanten aller Klas-sen in gleichberechtigter Weise offen stünden, sei das Allheilmittelund müsse das Ziel des politischen, wenn nötig bewaffneten Kamp-fes sein.

Noch aber war die historische Situation nicht reif für den Erfolgund die praktische Prüfung einer derart bürgerlich-demokratischenBewegung. Die französischen Republikaner, die bereits eine Wochenach dem Hambacher Fest, am 5. und 6. Juni 1832, den angekün-

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digten Aufstand in Paris begannen und die Viktor Hugo sehr vielspäter unter dem Namen »Les Misérable« (»Die Elenden«) erinnerte,verbluteten unter der erdrückenden Waffengewalt des »Bürgerkönig-tums«. In Deutschland dagegen waren es immer noch Fürsten undAdel, die den »großen Skandal« des Hambacher Festes, das sich nachMetternich »wie eine deutsche Nationalversammlung« ausnahm, alsVeranlassung umfassender Repressivmaßnahmen nutzte. Hundertevon Patrioten, darunter Siebenpfeiffer und Wirth, gerieten in Haft, an-dere flüchteten ins westliche Ausland.5 Demokraten und Liberaletranken gleichermaßen den Schierlingsbecher der Reaktion. Dochim Volk wurzelten die Hambacher Lieder.

»Fürsten zum Land hinaus,Jetzt kommt der Völkerschmaus!«6

wurde trotzig gesungen. Die deutschen Farben, die noch immerzum Hochverrat taugten, überlebten in poetischen Metaphern undantizipierten eine Revolution, die 1848 – nur 16 Jahre später – auchwirklich kam:

»Das Schwarz der Knechtschaft schwindetin Kampfes blutgem Rot,Der Freiheit Gold verkündetDas Ende aller Not.Zielt gut, haut scharf, ihr Treuen!Du Büchse und du Schwert!Das wird die Nachwelt freuenAm freien eignen Herd.«7

Benutzte Quellen und Literatur (in chronologischer Folge)Flugschriften des Deutschen Preß- und Vaterlandsvereins. Varia zum Hambacher Feste 1832.

Staatsbibliothek BerlinG. H. Schneider: Der Press- oder Vaterlandsverein 1832/33. Diss. Heidelberg. Berlin 1897.Wilhelm Herzberg: Das Hambacher Fest. Geschichte der revolutionären Bestrebungen in Rhein-

bayern um das Jahr 1832, Ludwigshafen 1908.Veit Valentin: Das Hambacher Nationalfest, Berlin 1932. Johannes Bühler: Das Hambacher Fest, deutsche Sehnsucht vor hundert Jahren, Ludwigshafen

1932.Kurt Baumann (Hrsg.): Das Hambacher Fest. 27. Mai 1832. Männer und Ideen, Speyer 1957.Helmut Bock: Börne und das Hambacher Fest. Positionen der kleinbürgerlichen Demokratie, in:

Ludwig Börne. Vom Gettojuden zum Nationalschriftsteller. Berlin/DDR 1962, S. 267 – 329.Derselbe: Bürgerlicher Liberalismus und revolutionäre Demokratie. Zur Dialektik der sozialen

und nationalen Frage in den deutschen Klassenkämpfen von 1831 bis 1834, in: Jahrbuch fürGeschichte, Bd. 13, Berlin/DDR 1975, S. 109 – 151.

Hellmut G. Haasis: Volksfest, sozialer Protest und Verschwörung. 150 Jahre Hambacher Fest, Hei-delberg 1981.

Gerhard Berzel: Hambacher Erinnerungen. Bildband in zwei Teilen: Das Fest von 1832 und derOrt Hambach, Neustadt 1981.

Cornelia Foerster: Der Preß- und Vaterlandsverein von 1832/33. Sozialstruktur und Organisati-onsformen der bürgerlichen Bewegung in der Zeit des Hambacher Festes, Trier 1982.

Werner Klein (Hrsg.): Ein Frühling der Freiheit erblühte. Freiheitliche und demokratische Tradi-tion in Deutschland von der Mainzer Republik zum Hambacher Fest, Neustadt 1982.

Willi Rothley/Manfred Geis (Hrsg.): Schon pflanzen sie frech die Freiheitsbäume. 150 Jahre Ham-bacher Fest, Neustadt 1982.

Hambacher Fest 1832 – 1982. Freiheit und Einheit, Deutschland und Europa. Ausstellungskata-log, hrsg. v. Kultusministerium Rheinland-Pfalz, Neustadt 1982.

5 Zu den Verfolgungen inden Staaten des DeutschenBundes: Vortrag der Bun-des-Zentralbehörde überdas am 27. Mai 1832 statt-gehabte Hambacher Fest.Hauptarchiv München, MA 2241; Freiherr v. Wage-mann (Hrsg.): Darlegungder Hauptresultate aus denwegen der revolutionärenKomplotte der neueren Zeitin Deutschland geführtenUntersuchungen, Frankfurta. M. 1838.

6 Das deutsche Treib-jagen. Text von WilhelmSauerwein. Zit. nach OssKröher: Lieder des Ham-bacher Festes, in: Schonpflanzen sie frech dieFreiheitsbäume. 150 JahreHambacher Fest, hrsg. v.W. Rothley u. M. Geis,Neustadt a. d. Weinstraße1982, S. 261 ff.

7 Die Fürstenjagd. Text vonJohann Rudolf Kölner.Ebenda, S. 265 ff.

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Aus Anlass des 5. Todestages von Pierre Bourdieu (1930-2002) veran-staltete die Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin am 26. und 27. Januar die-ses Jahres ein deutsch-französisches Kolloquium, um Werk, Wirkenund Wirkung eines Franzosen zu diskutieren, der wie kein anderer sei-ner Generation und seines Formats die objektivierende Analyse der ge-genwärtigen Gesellschaften mit der harten Kritik an dieser und ihrerpraktischen Infragestellung verband. Gerade indem er den Anspruch er-hob, die Tatsachen der sozialen Welt so auszusprechen, wie sie sind,also die Augen nicht zu-, sondern aufzumachen, deckte er die in denheutigen Gesellschaften verborgenen Ungleichheiten, Ungleichgewichte,Ungerechtigkeiten, Widersprüche und Herrschaftsrelationen auf undwurde, auch im Rahmen seiner eigenen Zunft – der Soziologie – zu ei-nem unbequemen, da äußerst kritischen Denker. Sein praktisch-politi-sches Engagement am Ende seines Lebens scheint insofern nicht imWiderspruch zu seiner Theorie zu stehen; vielmehr lässt es sich alsKonsequenz derselben verstehen oder, wenn man so will, als Ausbruchaus dem Zirkel der reinen Theorie, mit der man die Welt zwar ange-messen interpretieren, jedoch zumindest nicht direkt verändern kann.

Vita und Werk Bourdieus schienen den Veranstaltern spannungsreichund spannend genug, um daraus ein anderthalbtägiges Kolloquium zukonzipieren, zu dem Referentinnen und Referenten aus Frankreich undDeutschland eingeladen wurden und das sich ausdrücklich, über denengeren Kreis der Bourdieu-Spezialisten hinaus, an die breitere intel-lektuell und politisch interessierte Öffentlichkeit richtete. Bereits imVorfeld stieß die Tagung auf breite Resonanz: Per Telefon oder E-mailmeldeten sich weit über 200 Interessierte an. Das Publikum war, wasdie Generationsfrage sowie die institutionelle und lokale Herkunft an-belangt, erfreulich gemischt. Neben dem unmittelbaren Umfeld derStiftung, d. h. ihren Sympathisanten und Stipendiaten, kamen viele ins-besondere jüngere Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus dem Hoch-und Fachschulbereich, und zwar nicht nur aus dem Berliner Raum, son-dern beispielsweise auch aus Greifswald, Halle, Jena, ja sogar Wien,Linz und Straßburg. Entsprechend lebhaft verlief denn auch die an dieReferate anschließende Diskussion, die dann stets in den Kaffeepausen– abends beim Wein – fortgesetzt wurde.

Entsprechend der Tagungskonzeption gliederte sich das Kolloquiumin vier größere Partien: An einen Eröffnungspart, der das Spannungs-feld zwischen dem Intellektuellen und dem Wissenschaftler Bourdieuaufmachte, schlossen sich drei Arbeitskreise an, in denen, den Feldbe-griff Bourdieus aufnehmend, das politische, das ökonomische und das

Effi Böhlke – Jg. 1963;Dr. phil.; freie Mitarbeiterinder RLS; Arbeitsschwer-punkte: Politisches Denkenin Frankreich und Russland.

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EFFI BÖHLKE

Ein weites Feld.Die Linke und Bourdieu

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kulturelle Feld thematisiert wurden bzw. die Möglichkeiten und Gren-zen der Analyse sozialer Prozesse in diesen Feldern mithilfe der Bour-dieuschen Begrifflichkeit.

In seinen eröffnenden Worten bezeichnete Rainer Rilling (RLS, Ber-lin) Bourdieu als »denjenigen, der nein sagte« (»celui, qui disait non«),als einen Intellektuellen, der Widerstand leistete, und zwar in Theorieund politischer Praxis zugleich. Wie auch Lothar Peter (Bremen) undLouis Pinto (Centre de Sociologie Européenne/EHESS, Paris) nach ihmwandte er sich gegen eine entpolitisierende und rein szientifische Re-zeption Bourdieus, die das politische Engagement von der so genann-ten reinen Theorie abzuschneiden sucht. Alle drei Redner verwiesenvielmehr auf die eigenartige Symbiose, die die zunächst scheinbar reinobjektivistische Erklärung der und Aufklärung über die sozialen Struk-turen mit dem Verständnis für die Nöte der in diesen Strukturen agie-renden Menschen bei Bourdieu eingeht und den daraus resultierendeninneren Druck, den er verspürte, an der Minderung, wenn nicht gar Be-seitigung der Ursachen derartiger Nöte aktiv teilzunehmen. Zudem, sodie drei Redner fast unisono, habe dieser französische Intellektuelle, un-ter Rückgriff auf theoriegeschichtliche Vorgaben, eine eigene, sehr spe-zielle Vorstellung vom Intellektuellen entwickelt. Nach A. GramscisBegriff des »organischen Intellektuellen«, J.-P. Sartres Idee des »totalenIntellektuellen« und des durch M. Foucaults kontrastiv dazu forciertenKonstrukts des »spezifischen Intellektuellen« habe Bourdieu die Figurdes kollektiven, in Netzwerken und auf unterschiedlichen Ebenen (derlokalen, nationalen, europäischen und/oder globalen) agierenden Intel-lektuellen entworfen und in solchen Projekten wie der Schaffung einereuropäischen Intellektuellenzeitschrift namens »Liber« oder der Bewe-gung »Raison d’agir« umzusetzen versucht. Immer wieder aufgeworfenwurden in diesen Beiträgen Fragen nach Bourdieus Verhältnis zur Phi-losophie, zum Marxismus und zur Ökonomie.

Den Arbeitskreis zum politischen Feld eröffnete Margareta Steinrücke(Arbeitnehmerkammer Bremen) mit ihren Ausführungen zum herr-schaftspolitischen Gehalt der theoretischen Kategorien Bourdieus.Bourdieus Soziologie sei insofern zutiefst politisch, als in ihr solche Ka-tegorien wie Macht, Herrschaft und Gewalt eine zentrale Stellung ein-nehmen. Bourdieus spezieller Beitrag zur Soziologie der Macht, so dienach ihr sprechende Effi Böhlke (RLS, Berlin), habe in seinem Konzeptder symbolischen Macht bestanden; wie kein anderer Denker vor ihmhabe Bourdieu auf die symbolischen Aspekte bei der Installierung undAufdauerstellung von Macht und Herrschaft verwiesen. Bourdieu zu-folge könne jegliche Macht symbolischen Charakter annehmen; ja ihreStabilität beruht geradezu auf demselben, d.h. auf ihrer fraglosen, alsoun- oder unterbewussten Anerkennung als legitim. Der blinde Fleck imMarxismus bestehe, Bourdieu zufolge, darin, eben diesen symbolischenCharakter von Macht- und Herrschaftskonfigurationen nicht wahrge-nommen zu haben; insofern aber fehle diesem auch ein Verständnis derPersistenz derartiger Konfigurationen. An Bourdieus Theorie wiederumrichtete E. Böhlke die Frage, ob denn in derselben nicht, durch die Kon-zeption von der Verinnerlichung objektiver Strukturen von Macht undHerrschaft im Habitus der Menschen, gewissermaßen ein »Hyperstruk-turalismus« vorliege und der Aspekt der Reproduktion gegenüber demder möglichen Veränderung unverhältnismäßig dominiere. Wo sind,

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wenn alle – sowohl die Herrschenden als auch die Beherrschten – an derReproduktion der Macht teilnehmen, überhaupt Auswege und Neuan-fänge möglich?

Auf Bourdieus Kritik der politischen Repräsentation ging GérardMauger (Centre de Sociologie Européenne/EHESS, Paris) ein. Sei dieDelegation von Macht an Repräsentanten zum einen zwar notwendig,damit in komplexen Gesellschaften größere Menschengruppen am po-litischen Spiel teilnehmen, so schließe sie die somit Repräsentiertendoch zum anderen und zugleich auch wieder von diesem Spiel aus, alssie zu deren Entmündigung und damit Entmachtung führe. Die Teil-nahme am politischen Spiel setze Minimalvoraussetzungen – etwa dieVerfügung bestimmter politischer Kenntnisse bzw. bestimmter sprach-licher Fähigkeiten (politischer Jargon etc.) – voraus, über die die Masseder Menschen zumindest noch nicht verfüge. Die Aufgabe der Intellek-tuellen nun sei es, daran mitzuwirken, dass immer mehr Menschen zudiesem Spiel befähigt und insofern kompetent werden.

Manfred Lauermann (Hannover) ging auf das komplizierte VerhältnisBourdieus zur Philosophie im Allgemeinen, zum Marxismus in Son-derheit ein. Beides, so Lauermann, habe Bourdieu abgelehnt; polemischspitzte er zu, dass weder Philosophie noch Marxismus für die Ausprä-gung der Bourdieuschen Denkweise notwendig gewesen wären. Gegendiese Ansichten richteten sich allerdings mehrere Diskustanten, die aufdie mehr oder weniger verborgenen philosophischen Quellen und Be-züge in Bourdieus Werk verwiesen.

Irene Dölling (Universität Potsdam) stellte in ihrem Beitrag folgendeFrage an den Anfang: Warum kann, folgt man konsequent Bourdieu, einüber die neoliberale Gesellschaft hinausweisendes linkes Gesellschafts-konzept nicht ohne die Thematisierung der Geschlechterfrage auskom-men? Ihre Antwort: Weil sich, Bourdieu zufolge, in den Verhältnissender Geschlechter zueinander die in einer Gesellschaft vorhandenenMacht- und Herrschaftsrelationen kristallisieren und konkretisieren. Da-her müsse sich die Linke notwendigerweise für eine Umgestaltung derin unseren Gesellschaften vorhandenen Klassifikationssysteme vonmännlich/weiblich, oben/unten etc. einsetzen, die den vorrangig vonFrauen ausgeübten Tätigkeiten einen niedrigeren Status zuweisen. Döl-ling sprach insofern nicht nur von symbolischer Herrschaft, sondern vonder Notwendigkeit und Möglichkeit einer symbolischen Revolution, diedie bestehenden Dominanzen verändert, wenn nicht gar aufhebt.

An diesen sehr dichten Nachmittag, bei welchem es in Publikum wiePodium bereits zu offensichtlichen Ermüdungserscheinungen kam,schloss sich die Präsentation des von dem französischen RegisseurPierre Carles realisierten Dokumentarfilms »La sociologie est un sportde combat« (»Die Soziologie ist ein Kampfsport«) an. Dieser Film, dergroßes Interesse hervorrief, führte einerseits zur Entspannung von Kör-pern und Seelen; andererseits führte er spannend den Menschen Bour-dieu und sein Agieren vor Augen, und zudem kamen viele der auf derTagung debattierten Themen – die Rolle und Stellung des Intellektuel-len, die symbolische Macht, das Geschlechterverhältnis – auch in ihmzur Sprache.

In »Das ökonomische Feld« – Titel und Thema des zweiten Arbeits-kreises – führte Frédéric Lebaron (Université de Picardie, Amiens) ein.In seinem Vortrag betonte er die Rolle des Symbolischen und des Kon-

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zepts der symbolischen Macht auch in den ökonomischen AnalysenBourdieus. Gerade anhand der ökonomischen Anschauungen, so Leba-ron, könne man sehr gut sowohl die Kontinuitäten als auch die Brüchenachvollziehen, die Bourdieu mit Marx verbinden bzw. von ihm tren-nen: Habe er einerseits mit dem starken Gewicht, das er der Wirtschaftfür die Gesellschaft beimaß, bei Marx angeknüpft, so sei er doch ande-rerseits durch das Aufdecken der symbolischen Aspekte von ökonomi-schen Verhältnissen, die bei Marx entweder unterbelichtet blieben odergar nicht betrachtet wurden, über diesen hinausgegangen. So sei etwa,Bourdieu zufolge, die Herrschaft des Kapitals nur insoweit und so langestabil, wie sie auf der un- oder vorbewussten An- und damit Verken-nung von Seiten der Unterworfenen beruht. Die symbolische Herrschaftwirke so auch und gerade im ökonomischen Feld: Auf ihrer Grundlagewerde das System der Ausbeutung aufrechterhalten.

Auf die derzeit ablaufenden Prozesse massenhafter Prekarisierungging Rolf-Dieter Hepp (Freie Universität Berlin) ein. Die verbreiteteAuflösung der Normalarbeitsverhältnisse führe zu einer Umschichtungder Gesellschaft, die mit neuen Vokabularien und damit neuen Klassifi-kationssystemen einhergehe. Hier müssten sich auch die Sozialwissen-schaften weiterentwickeln, um nicht durch die Verwendung alter Be-griffe das grundlegend Neue an den gegenwärtigen Prozessen ebennicht wahrnehmen zu können.

Lars Schmitt (Universität Marburg) behandelte die Frage, wie dennmit dem Theorieangebot Bourdieus soziale Konflikte analysiert werdenkönnen. Seine Antwort: Eine solche Analyse sei insbesondere dannmöglich und erfolgreich, wenn Personen, die in einem spezifisch struk-turierten Umfeld einen bestimmten Habitus ausgeprägt haben, plötzlichin ein anderes soziales Umfeld geraten, in welchem andere Formen desDenkens, Urteilens und Verhaltens an der Tagesordnung sind, als esihren Gewohnheiten entspricht. In derartigen Fällen – handele es sichdabei um Emigranten, berufliche Aufsteiger oder Personen, die aus ei-nem bestimmten Milieu kommend in einem anderen Milieu arbeiten –ergäben sich häufig Habitus-Struktur-Konflikte, die sehr gut mit denKonzepten Bourdieus begriffen werden können.

Auch im Anschluss an die Referate zu Beginn der Tagung, die sichmit dem Verhältnis des wissenschaftlichen und des politischen Bour-dieu befasst hatten, betonte Franz Schultheis (Université de Genève,Präsident der Stiftung Pierre Bourdieu) die starken Kontinuitäten, dieden so genannten späten mit dem so genannten frühen Bourdieu ver-binden. Nicht erst Ende der 90er Jahre habe dieser unter den zumeist inder französischen Banlieue angesiedelten algerischen Zuwanderern di-verse Formen der Prekarität aufgedeckt und zur Sprache gebracht. DasAufdecken diverser Formen von Elend, Armut und Ausbeutung seivielmehr ein wissenschaftlich-politisches Anliegen Bourdieus, das sichdurch all seine Arbeiten hindurch ziehe und bereits seine frühen Feld-forschungen in Algerien Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre geleitethabe. Vor Ort habe er dort gerade auch die ökonomischen Seiten desfranzösischen Kolonialismus und ihre Auswirkungen auf die einheimi-sche Bevölkerung untersucht: Unter dem Stichwort der »Entwurze-lung« (»déracinement«) habe der französische Philosoph, Anthropologeund Soziologe Prozesse des massenhaften Herausreißens von Men-schen aus ihren gewohnten Milieus und ihres Hineinschleuderns in eine

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fremde, durch die französische Kolonialmacht dominierte Welt unter-sucht und auf diese Weise zur Entschleierung der hier wirkenden sym-bolischen Gewalten beigetragen.

Ähnlich wie F. Lebaron versuchte auch Beate Krais (UniversitätDarmstadt), die Proportionen von Kontinuität und Diskontinuität vonBourdieu im Verhältnis zu Marx zu gewichten. Dabei konzentrierte siesich auf die Weiterentwicklung des Klassenkonzepts durch Bourdieu.Habe dabei Bourdieu einerseits auf den Marxschen Klassenbegriff undseine enge Bindung an die ökonomischen Verhältnisse zurückgegriffen,so habe er diesen doch andererseits durch die Betonung der symboli-schen Aspekte sozialer Klassen, ihrer spezifischen Sitten, Gebräuche,Gewohnheiten, kurz ihres jeweiligen Habitus respektive ihrer Kultur,bereichert und wesentlich erweitert. Damit aber habe Bourdieu denim Kontext der westlichen Industrienationen des 19. Jh. entstandenenKlassenbegriff modernisiert und für die Analyse sozioökonomischerund politischer Prozesse des ausgehenden 20. Jh. handhabbar gemacht.

Dem kulturellen Feld in seiner Vielfalt und Weite gewidmet war derdritte Arbeitskreis des Kolloquiums. Den Auftakt machte der Literatur-wissenschaftler und Romanist Joseph Jurt (Prof. em. der UniversitätFreiburg); er untersuchte die Relationen zwischen dem Literarischenund dem Soziologischen aus der Sicht Bourdieus. Während dieser insolchen Arbeiten wie dem dem Romancier Gustave Flaubert gewidme-ten Buch »Les règles de l’art« die sozialen Kontexte und Grundlagenliterarischen Schaffens aufzudecken suche, gestehe er dennoch derschöngeistigen Literatur ihren Eigenwert zu und reduziere sie nicht aufeine reine Wiedergabe sozialer Prozesse. Und auch im Schaffen desfranzösischen Soziologen selbst gebe es vielfältige Einflüsse durch undNähen zur Belletristik und der ihr eigenen Sprache(n). Ebenso wie vieleLiteraten teile Bourdieu das Anliegen, Verborgenes aufzudecken undzur Sprache zu bringen, und dabei ließen sich deutliche Nähen etwa zuClaude Simon oder auch zu Marcel Proust erkennen.

Der Rolle des Sports in der Soziologie Bourdieus wandte sich Gun-ter Gebauer (FU Berlin) zu. Die Kultur des Sports – die Wahl ganz be-stimmter Sportarten und die Art und Weise, diese zu betreiben – sei fürBourdieu eine signifikante Seite der jeweiligen Klassenkultur: Gesell-schaftliche Klassen und Schichten unterschieden sich nach Bourdieunicht zuletzt auch darin, welche Sportart von ihren Angehörigen präfe-riert und praktiziert werde. Doch lassen sich G. Gebauer zufolge geradeauch in den dem Sport gewidmeten Arbeiten Bourdieus seine verborge-nen philosophischen Wurzeln erkennen: Solche von Bourdieu bei derAnalyse des Sports verwendeten Begriffe wie Habitus, praktischer Sinnoder Zeit seien sehr stark durch ihre Herkunft aus der Philosophie Mar-tin Heideggers imprägniert.

Die PISA-Problematik im Lichte der bildungssoziologischen Analy-sen Bourdieus thematisierte der als Lehrer in einer Gesamtschule tätigeSoziologe Gerhard Schäfer (Bremen). Dass Bildungsfragen Machtfra-gen sind, das könne man gerade auch an den Ergebnissen der PISA-Stu-die für Deutschland erkennen: Die skandalöse Abhängigkeit der Bil-dungschancen für Kinder in Deutschland von ihren sozialen Bindungensei ein Indikator für die enge Beziehung von Bildung und sozialer Lageund Stellung, auf die Bourdieu immer wieder hingewiesen habe. Für dieAkkumulation kulturellen Kapitals, eine der wesentlichen Vorausset-

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zung, um am Gesellschaftsspiel teilnehmen zu können, seien Geld undZeit vonnöten, und darüber verfügten auch und gerade in Deutschlandnach wie vor die besser gestellten Klassen und Schichten, so dass sich– mehr, als dies noch vor ein paar Jahren angenommen wurde – bereitsvorhandene kulturelle Differenzen reproduzieren und/oder verstärkenstatt abschwächen würden.

Auf die Beziehungen zwischen Bourdieu und solchen Autoren derPostmoderne wie Michel Foucault und Judith Butler ging StephanMoebius (Universität Freiburg) ein. Während im sozialwissenschaftli-chen Diskurs zumeist die Differenzen zwischen Bourdieu und den Post-strukturalisten akzentuiert werden, betonte St. Moebius, dass Bourdieuwie Foucault ihre Analysen auf Phänomene von Macht, Herrschaft undGewalt in diversen sozialen Bereichen fokussierten, während Butlerund Bourdieu der Versuch eint, soziale Strukturen und Praktiken der inihnen agierenden Menschen zusammen zu denken.

Die Vielzahl der auf diesem deutsch-französischen Kolloquium auf-geworfenen Fragestellungen verweist auf das weite Feld an sozialen, po-litischen und kulturellen Problemen, die Pierre Bourdieu zum Themaseiner Forschungen gemacht hat und auf die entsprechende Vielfalt anMöglichkeiten, an ihn anzuknüpfen und mit ihm weiterzuarbeiten. Einigwaren sich die Tagungsteilnehmer offenbar über die enge Verbindungvon strenger Analyse gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse undihrer harten Kritik und sich daraus ergebendem, wenngleich nichtparteigebundenem, politischem Engagement bei Bourdieu. Uneinigkeitherrschte vielmehr hinsichtlich der Beziehungen Bourdieus zur Ökono-mie, zum Marxismus und zur Philosophie überhaupt vor. Aus der Sichtder Verfasserin dieses Berichtes allerdings zeugte die Tagung von einemstarken Rückgriff Bourdieus auf Konzepte und darauf aufbauende Kon-zeptionen von Karl Marx – wie etwa das Konzept der Klassen und diestarke Betonung der Rolle der ökonomischen Verhältnisse für die Ge-sellschaft –, die er jedoch entscheidend weiterentwickelte und berei-cherte, nicht zuletzt durch die Ausarbeitung des Konzepts der symboli-schen Gewalt und die Akzentuierung symbolisch-kultureller Formenund ihrer Bedeutung für die gesellschaftliche Entwicklung. Und geradein diesem Kontext wird der breite Bezug Bourdieus auf die Geschichtedes europäischen wissenschaftlichen und philosophischen Denkensdeutlich, sind doch gerade im Konzept der symbolischen Gewalt dieEinflüsse etwa von Pascal und Durkheim, aber auch solcher deutscherDenker wie Weber, Cassirer und Heidegger, unverkennbar. Der Absol-vent der École Normale Supérieure der rue d’Ulm, der an dieser elitärenSchule ein Studium der Philosophie abschloss und sich dann, unter demEindruck seiner Erfahrungen und Erlebnisse in Algerien, zum kritischenAnthropologen und Soziologen entwickelte, hat, so mein Eindruck,seine philosophischen Wurzeln nie vergessen. Davon zeugt nicht zuletztseine 1997 erschienenen »Méditations pascaliennes«, in dem er sich zuseinem – durchaus kritischen – Verhältnis zur Philosophie bekennt.

Obzwar also diese Fragen nicht einheitlich beantwortet wurden –oder vielleicht gerade weil dem so war –, handelte es sich bei dem vonder Rosa-Luxemburg-Stiftung veranstalteten Kolloquium zu EhrenPierre Bourdieus um eine äußerst anregende Veranstaltung. Die Erträgedes Kolloquiums werden in einem wahrscheinlich zur diesjährigenHerbstmesse erscheinenden Band veröffentlicht werden.

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Marija Serifovic – kennen Sie nicht? Müssen Sie auch nicht, obwohl es– warum sollte es auch – nicht schaden könnte: Die 22jährige Serbingewann Mitte Mai mit dem Titel »Molitva« (Gebet) beim EurovisionSong Contest in Helsinki den ersten Platz. Eine Zeitung schrieb, »dasssie vom Szenenapplaus bei der ersten Probe bis zum bejubelten Auftrittvor der Presse nach ihrem Triumph stets wie die logische Siegerinwirkte«.

Vermutlich wird sich bei der Leserschaft dieser Zeitschrift das Inter-esse an Schlagern und Schlagerfestivals in Grenzen halten (allerdings:genaues weiß man natürlich nicht, irgendwie haben wir ja alle irgend-welche Leichen im Keller, und wenn es nur eine peinliche Affinität zuSchlagern ist). Doch der Vorgang in Helsinki offenbarte auch Sentenzenund Tendenzen, die europapolitische Rückschlüsse zulassen. Dieseverkürzt und auf einen Nenner gebracht: Trotz allen christlich-abend-ländischen Gelabers – mit Europa ist von vielen eigentlich Westeuropagemeint, sobald sich Osteuropäer anmaßen, zu dominieren, wird übel-genommen. Auf den Plätzen 1 bis 16 lagen nämlich bis auf die Türkeiund Griechenland nur Länder »aus dem ehemaligen sozialistischen Ein-flußgebiet«, wie es hieß. Die Nord- und Westeuropäer mußten sich mitden Plätzen 17 (Finnland) bis 24 (Irland) begnügen. Da fällt dann in derNachsorgeberichterstattung schon mal eine Vokabel wie »Punkteschie-berei«, und da wird über Regeländerungen nachgedacht. Der Tages-spiegel in Berlin: »Beim Grand Prix wählt sich der Osten zum Sieg«.

Vielleicht stimmt das alles sogar, oder es ist zumindest teilweise rich-tig. Aber wie immer es auch sei: Wären es die West- und Nordeuropäergewesen, die in Helsinki abräumten, wäre eine derartige Debatte mitziemlicher Sicherheit unterblieben. Aber womöglich ist das ganze auch

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Wolfgang Sabath – Jg. 1937,Journalist und Autor, Berlin.

WOLFGANG SABATH

Festplatte.Die Wochen im Rückstau

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zutiefst belanglos, und es handelt sich nur um Ballaststoff für das gie-rige Zeitungleservolk – in Wahrheit geht es um die Interessenkonfliktein der Musikindustrie.

Als im Mai die Bremer Bürgerschaft gewählt wurde und die Wahl-beteiligung auf das bemerkenswerte Rekordtief von 58 Prozent sank,wurde der Fernsehzuschauer bei der abendlichen Wahlberichterstattungschnell gewahr, warum das gar nicht anders sein konnte. Denn wennwir zu akzeptieren bereit sind (und das sind wir wohl inzwischen fastalle …), daß Politik heutzutage vorrangig über Symbole funktioniert,dann mußte man sich nur die geföhnten Regional- und Bundespolitikeransehen, um zu verstehen, warum so mancher Bremer nicht zur Wahlgegangen sein mag. Nee, was ist da nur für ein Politikertyp herange-wachsen, kaum noch einer, dem man aufs Wort glauben mag und demman abnimmt, daß seine Äußerungen nicht taktisch begründet sind.Und zwar parteiübergreifend. Wenn ich alle diese Leute sehe und höre,muß ich sehr oft an meine – sicher zutiefst und höchst stalinistische –Jugendlektüre denken: an die sozialdemokratischen Funktionärsfigurenin Romanen Willi Bredels. Kenner wissen, wen und was ich meine.Eine Ausnahme (auch in seiner Partei) der Bremer Linkskandidat PeterErlanson. Ja, doch, natürlich weiß sogar ich, daß wilder Bart und wilderSchopf keine Gewähr für immerwährendes Unangepaßtsein oder Prin-zipientreue oder sonstwas in dieser Richtung sind. Um auf das ThemaSymbole zurückzukommen: Es wird vermutlich nicht uninteressantsein, zu beobachten, wie lange es diesem Bremer gelingt, sein Outfitbeizubehalten und es nicht – zum Beispiel parlamentarischen – »Sach-zwängen« oder Wahlkampf-Beratern aus der Zentrale zu opfern.

Aber wie gesagt: Das ist natürlich alles nur von Belang, wenn wir dieRolle von Symbolen in der Politik zu akzeptieren bereit sind. Tun wirdas nicht, sieht alles schon wieder ganz anders aus, und Haartracht undBartwuchs versinken wieder in die totale Bedeutungslosigkeit.

Bedeutungslosigkeit obwaltet ringsum: Europaweit mehren sich Bei-spiele, wie Regierungen gegen Bevölkerungsmehrheiten entscheiden:In Polen ist die Mehrheit (ca. 60 %) nicht nur gegen die Teilnahme amIrak-Krieg gewesen, sondern ist jetzt auch gegen die Installation US-amerikanischer Militärtechnik im Lande; auch die Tschechen mögen sienicht (in etwa gleicher prozentualer Größenordnung); in Großbritannienhaben wir hinsichtlich des amerikanischen Irak-Abenteuers eine ähnli-che gegen die Bevölkerungsmehrheit gerichtete Politik. Kurzum: DasVolk wird immer bedeutungsloser, vor allem natürlich das Wahl-Volk.Es reagiert, wir erleben es auch in Deutschland, auf seine Weise ...

In Berlin haben wir ja zwei Regierungen: eine richtige, die stän-dig irgendwelche Straßen verstopft (Staatsbesuche), und eine andere.Die andere war in den letzten Monaten vor allem mit Knut sowie mitWeitreisen beschäftigt (Wowereit, Wolf); die Linkspartei hatte zu tun,der »Solidargemeinschaft der Gebührenzahler« (© Klaus Lederer)ideologisch auf das »von Brüssel« verlangte Verscherbeln der städti-schen Sparkassen vorzubereiten, und der einstige Stadtreinigungs-Ma-nager Arnold Guski hatte vor dem Landgericht zu erscheinen, weil un-ter seiner Verantwortung innerhalb von zwei Jahren den Bürgern 26Millionen Euro zuviel abkassiert worden seien. Die diesbezügliche Zei-tungsmeldung schloß mit einem netten Scherz: »Bei einer Verurteilungkomme eine Strafe bis zu zehn Jahren in Betracht.« Spaß muß sein.

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Hans Christoph Binswanger:Die Wachstumsspirale. Geld,Energie und Imagination in derDynamik des Marktprozesses,Metropolis-Verlag Marburg 2006,418 S. (24,80 €)

Mit diesem Buch bietet der Schweizer Wirt-schaftswissenschaftler Hans Christoph Bins-wanger gleichermaßen ein Resümee seiner bis-herigen Forschungstätigkeit. Anknüpfend anfrühere Arbeiten zu Geld und Wirtschafts-wachstum (vgl. UTOPIE kreativ, Heft 53 und105), der Erweiterung der Fragestellung umproduktions- und verteilungstheoretische As-pekte sowie die Einbeziehung der Umwelt- undRessourcenökonomie, ist es ihm gelungen, eineweit gespannte Theorie der wirtschaftlichenDynamik zu entwerfen. Sie soll all denjenigeneine »Orientierungshilfe« sein, die in Hinblickauf die Zukunft der wirtschaftlichen Entwick-lung Entscheidungen treffen und sich dabeisowohl mit den Chancen als auch mit den Ge-fährdungen und Gefahren des Wirtschafts-wachstums auseinandersetzen müssen.

Im Unterschied zu den fruchtlosen, zumeistrecht vordergründig und ideologisch geführtenDebatten um das Wirtschaftswachstum zeich-net sich diese Abhandlung durch ein betontwissenschaftliches Vorgehen aus. Ihr Anliegenist es zu untersuchen, warum kapitalistischeMarktwirtschaften dynamische Wirtschaftensind, worin die Logik des Wachstums bestehtund wodurch sie begründet ist. Das Ergebnisist folgerichtig kein einfaches Plädoyer füroder gegen Wachstum, sondern eine Er-klärung, warum Wachstum für die gegenwär-tige Gesellschaft unverzichtbar ist, wie es zuStande kommt und welche Chancen sowieRisiken damit verbunden sind. Es geht demAutor nicht um eine ökologisch oder ressour-cenökonomisch begründete Kritik des wirt-schaftlichen Wachstums, sondern um eine fun-dierte Erklärung und Begründung desselben.Ziel ist es, die »grundlegenden Erkenntnisseder verschiedenen ökonomischen Theorien ineinen kohärenten Zusammenhang zu bringen,in dem die immanente Wachstumstendenz dermodernen Wirtschaft zur Darstellung kommt«(S. 8). Dies unterscheidet diese Schrift von an-

deren Arbeiten, worin viel gefordert und somanches behauptet wird, letztlich aber wenigerklärt wird und noch weniger begründet.

Wesentlich für die Darstellung, die der Autorin seinem Buch für die wirtschaftliche Dyna-mik gibt, ist die Einbeziehung der Zeitdimen-sion in das ökonomische Denken. Dies unter-scheidet seinen Ansatz von der statischenGleichgewichtsvorstellung traditioneller neo-klassischer Modelle. Binswanger arbeitet her-aus, wodurch sich der Markt vom Tauschunterscheidet und was die Besonderheit desKapitalvorschusses der Unternehmungen alsGeldvorschuss ausmacht. Im Unterschied zurneoklassischen Orthodoxie ist für ihn das Geld»integraler Bestandteil der modernen Wirt-schaft« (S. 6), hinter das es kein Zurück gibt.Damit erteilt er nicht nur allen wachstumsab-stinenten Reformansätzen eine klare Absage,sondern gleichermaßen auch allen Tauschring-projekten und Subsistenzökonomien. Er be-tont, dass das geldwirtschaftlich motivierteWirtschaftswachstum so lange nicht an defini-tive Grenzen stößt, wie es in der Welt »nochgenügend Freiräume« gibt. Hierzu zählen »alle(noch) nicht in den Geldprozess einbezogenenTätigkeiten der Menschen und die Bereicheder Natur, die (noch) nicht als wirtschaftlicheRessourcen verwertet worden sind…« (S. 373).Essenziell für das Funktionieren kapitalisti-scher Wirtschaft ist die ständige Vermehrungder Geldmenge. Diese erfolgt auf dem Wegeder Kreditschöpfung. Warum der Autor indiesem Kontext den Begriff »Papiergeld«(S. 114 ff.) bemüht, wo es doch um Banknotengeht, bleibt unklar, stört den historisch-logi-schen Gang der Argumentation aber nur we-nig. Deutlich wird, dass dem Bankwesen beider Ermöglichung immerwährenden Wachs-tums eine Schlüsselfunktion zukommt, wobeidie Multiplikatorwirkung des Kredits heuteteilweise an die Finanzmärkte (Derivate) über-gegangen ist, ein Punkt, der in den Ausführun-gen zu kurz kommt, der gegenwärtig aber ge-waltig an Bedeutung gewinnt.

Standen im ersten Teil des Buches Geld undMarkt im Fokus, so konzentriert sich derzweite Teil auf den Zusammenhang von Marktund Produktion. Der Autor zeigt, dass die neo-klassische Produktionstheorie substanzielleDefizite aufweist, was die Erklärung markt-wirtschaftlicher Zusammenhänge anbelangt.

570 Bücher . Zeitschriften

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Dies rührt vor allem aus der Eliminierungdes Geldes in der realen Wirtschaftstheorie(S. 162 ff.). Um dieses Defizit zu beseitigen,plädiert er für einen Rekurs auf vorklassischeTheorien, insbesondere auf den Merkantilis-mus. Ähnliche Ansätze gibt es auch in derEigentumstheorie, z. B. bei Hans-JoachimStadermann und Otto Steiger. Im 17. und18. Jahrhundert vollzog sich so etwas wie dieerste Stufe der Monetarisierung, indem dasGeld in Wirtschaft und Gesellschaft eine zen-trale Bedeutung erlangte. Heute haben wir esmit der zweiten Stufe dieses Prozesses zu tun,indem das Geld alle Bereiche des gesell-schaftlichen Lebens durchdringt. Binswangerspricht von »einer konsequenten Monetarisie-rung der Wirtschaft«, welche dadurch charak-terisiert ist, dass »alle Einkommen der Pro-duktionsfaktoren … a priori Geldeinkommen«sind und das Kapital vor allem als »monetäreGröße« auftritt (S. 267). Dies schließt ein,dass Geld nur dann ist, »was es ist, wenn esmehr sein wird, als es ist. Umgekehrt gilt:Wenn es nicht mehr sein wird als es ist, ist esnicht mehr, was es ist!« (S. 318) Die hierinzum Ausdruck kommende Verwandlung desGeldes in Kapital hat Folgen – für das Geldwie für das Realkapital. Die realen Größen,welche die neoklassische Theorie noch favo-risiert, treten gänzlich hinter die monetärenGrößen zurück. Die Konsequenzen für dieDarstellung wirtschaftlicher Zusammenhängesind beachtlich: Erstens erfordert dies eineTheorie, worin das Geld einen dementspre-chenden zentralen Platz einnimmt. Zweitenserscheint der Kredit- und Geldschöpfungspro-zess als die eigentliche Grundlage der wirt-schaftlichen Entwicklung und damit als derAusgangspunkt für die Erklärung der markt-wirtschaftlichen Dynamik. Dem versucht derdritte Teil des Buches als eine »Theorie derwachsenden Wirtschaft« gerecht zu werden.Die Eckpunkte, die Binswanger dafür setzt,sind folgende: Erstens wird die moderne Wirt-schaft eindeutig als Geldwirtschaft definiert.Bezeichnendes Kriterium dafür ist, dassUnternehmungen über Geldkapital verfügenmüssen, um eine Tätigkeit aufzunehmen. Zwei-tens erfolgt die Kreditgeldschöpfung aus demNichts, also ohne vorheriges Ansparen. Drittensführt der Einsatz von Kapital zur Intensivierungder Nutzung von Arbeit und natürlichen Res-

sourcen. Und viertens wird die »Leistung derImagination« durch Forschung und Entwick-lung unendlich gesteigert (S. 303). Die dabeiwirksam werdende Wachstumslogik ist in ihrenKonsequenzen bestechend: Der Kreislauf derWirtschaft gerät unter markt- und geldwirt-schaftlichen Bedingungen zwangsläufig zurSpirale. Als Alternative bleibt in diesem Modellnur die Schrumpfung, welche den Verlust deserrungenen Wohlstandes bedeuten würde.

Interessant ist, dass Binswanger versucht,den Wachstumsprozess quantitativ einzugren-zen, indem er dafür eine minimale Rate defi-niert. Diese beträgt 1,8 Prozent, bezogen aufdie Weltwirtschaft (S. 370). Gemessen am ge-genwärtigen Wachstum von mehr als doppeltso viel würde dies eine enorme Verlangsamungaller Prozesse bedeuten und damit den aufge-zeigten »Grenzen« Rechnung tragen. Mit derHerleitung dieser weltwirtschaftlichen Wachs-tumsrate, woraus sich differenzierte Szenarienfür entwickelte und weniger entwickelte(nachholende) Länder und Regionen ableitenlassen, entwirft der Autor ein politikfähigesEntwicklungs- und Überlebensmodell für dieMenschheit – jenseits aller Wachstums-euphorie, aber auch fern von aller fundamen-talistischen Wachstumskritik. Indem er in ei-nem Nachtrag zu seinem Buch den antikenPhilosophen Aristoteles als »Vordenker dermodernen Wirtschaft« apostrophiert, appel-liert er an den Verstand der Leser, bei derSuche nach Auswegen auch ungewöhnlicheWege zu gehen und alle Ansätze zu prüfen,auch die der fernen Vergangenheit.

ULRICH BUSCH

Margareta Mommsen:Wer herrscht in Rußland.Der Kreml und die Schatten derMacht, Becksche Reihe, VerlagC. H. Beck München 2003,260 S. (14,90 €)Im ersten Abschnitt untersucht die Autorin daspolitische System Rußlands seit 1991. Sie de-finiert das Mandat des gewendeten Altkom-munisten Jelzin als den »politischen Kampfgegen den kommunistischen Goliath« (S. 21).So erscheinen auch der mißlungene Ausnah-

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mezustand im August 1991 oder die Verteidi-gung des Parlaments gegen die sowjetischenTruppen im Oktober 1993 durch Jelzin als»kommunistische Putschversuche«. Den semi-präsidentiellen Charakter der neuen Verfas-sung führt sie auf den Mangel Jelzins »andemokratischem Know-how« und seinen»angestammten autoritären Habitus« zurück(S. 43). Nur durch massive Unterstützung desAuslands und der Oligarchen erreichte der Au-tokrat eine zweite Amtsperiode. PrimakowsVersuch, dem »Inzest von Politik und BigBusiness« (S. 81) ein Ende zu bereiten und denWeg für eine parlamentarische Republik zu öff-nen, schlugen fehl.

Der zweite Abschnitt des Buches ist den»Widersprüchen und Zick-Zack-Kursen« derAußenpolitik beider Präsidenten gewidmet.Die Ankündigung 1991, »eine dreiundsieb-zig Jahre alte Ungerechtigkeit zu korrigierenund Rußland nach Europa zurückzubringen«(S. 140), brachte Jelzin zwar einen »glänzen-den Einstand« in den Metropolen des Westens.Der Augustheld, der dem amerikanischenPräsidenten versicherte, eine Wiedererstehendes Kommunismus nicht zuzulassen, wurdezunächst auch reichlich mit Krediten belohnt.Allerdings um den Preis der weiterenSchwächung der Großmacht. Putin zeigte inder Außenpolitik erstmals Flagge. Gewiß warder 11. September 2001 ein wesentlichesMoment für die russische Außenpolitik. Aller-dings bestätigen russische Analytiker wie auchdie politische Praxis nicht, daß erst seitdemdie außenpolitischen Weichen »neu gestellt«und »die von Primakow ererbte Theorie vonder ›multipolaren Welt‹ über Bord« geworfenworden sei (S. 213 f.). Die Verfasserin stimmtder Auffassung zu, daß Rußlands Präsident»ein ›kurzsichiger‹, von Großmachtstereoty-pen geblendeter Politiker« sei und der Ent-wicklung einer dauerhaften außenpolitischenLinie entgegenstehe (S. 112). Mit seinemAmtsantritt 2000 entwarf Putin eine völligneue Strategie für die Außenpolitik seinesLandes, die er mit seiner Mannschaft bis heutedurchhielt: »Als Weltmacht, die sich auf zweiKontinenten erstreckt, sollte sich Rußland dieFreiheit bewahren, seine Innen- und Außenpo-litik ebenso zu bestimmen wie seinen Statusund seine Vorteile eines eurasischen Staates.«Das bedeutet auch eine Herausforderung an

die unipolare Politik der USA. In der innen-und außenpolitischen Strategiewende geht esalso nicht darum, auf die klassische Fragenach Rußlands Identität und Entwicklungs-weg erneut eine »europäische Antwort zu lie-fern« (S. 8), sondern um die Sicherung Ruß-lands als einer eurasischen Großmacht in einerglobalen Welt.

KARL-HEINZ GRÄFE

Joseph Stiglitz: Die Chancen derGlobalisierung, Siedler VerlagMünchen 2006, 446 S. (24,95 €)

Der (deutsche) Titel täuscht. Der Autor ist kei-neswegs der Auffassung, dass jedermann vonder Globalisierung, wie sie augenblicklich zubeobachten ist, Nutzen ziehen könne, wenn erseine Chancen nicht verschlafe. Er ist sich viel-mehr bewusst: »In vielen Ländern empfindendie Menschen die Globalisierung in ihrer ge-genwärtigen Gestalt als eine Art Teufelspakt.Einige wenige ihrer Landsleute werden reicher,die – nur sehr begrenzt aussagekräftigen – Sta-tistiken des Bruttoinlandsprodukts sehen schö-ner aus, aber Lebensweisen und Grundwertesind bedroht. In einigen Regionen der Erde fälltder Nutzen noch kümmerlicher aus, währenddie Kosten offenkundig sind.« (S. 262).

In seinem neuen Buch demonstriert Stiglitz,dass ein Globalisierungskritiker noch kein Glo-balisierungsgegner sein muss. Stiglitz fordert infast jedem der 10 Kapitel des Buches, dass dieGlobalisierung gestaltet werden müsse.

Was es heißt, die Globalisierung zu gestal-ten, wird dem Leser erst verständlich, wenn ersich Stiglitz’ Vorstellungen von der Globali-sierung zu eigen gemacht hat: Es handelt sichum Vorstellungen, die der gängigen Propa-ganda widersprechen, um Vorstellungen, zudenen Globalisierungseuphorie ebenso wenigpasst wie Schicksalsergebenheit. Stiglitz wi-derspricht der These, dass die Globalisierungunaufhaltsam ist wie der technische Fortschritt.Er widerspricht auch der »Trickel-down«-Theorie, die besagt, dass die Globalisierungletztlich nur Gewinner kennt, da die rascheVertiefung der internationalen Arbeitsteilungzunächst zu mehr Profiten, dann aber auch zumehr Investitionen, zu mehr Beschäftigung,

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zu mehr Lohn und damit zu mehr Wohlstandfür alle führen wird. Ökonomen und Wirt-schaftshistoriker, darauf weist Stiglitz hin, ha-ben längst den Nachweis geliefert, dass wederdie technische und die ökonomische Entwick-lung untrennbar verbunden waren bzw. sind.

Nach Stiglitz gibt es bei der Globalisierung,so wie sie heute läuft, immer Gewinner – dieReichen in den reichen Ländern – und Verlie-rer: die armen Länder sowie die Armen in denreichen Ländern. Der schlechte Geruch, indem die Globalisierung bei der Mehrheit derWeltbevölkerung steht, weist Stiglitz nach,stützt sich auf Tatsachen.

Die zweite wichtige Feststellung des Autorsist, dass man Globalisierung gestalten kann,wobei das Ziel sein muss, die Zahl der Gewin-ner zu maximieren und die der Verlierer zuminimieren. Wie aber kann man die Globa-lisierung gesellschaftsstabilisierend und zu-kunftssichernd gestalten? Der ökonomischenGlobalisierung, lautet Stiglitz’ Antwort, mussdie politische folgen.

Als Instrumente der Globalisierungspolitikbezeichnet der Autor die Nationalstaaten undinternationale Wirtschaftsinstitutionen. Die ei-nen haben sich darum zu kümmern, dass es imLande sozial gerecht zugeht, die anderen sol-len sich um einen fairen Austausch zwischenden Nationen bzw. Regionen bemühen.

Zu einem großen Problem wird unter die-sem Gesichtspunkt, analysiert Stiglitz, die un-zureichende demokratische Verfassung derWelt. In vielen Ländern der Dritten Welt ist dieDemokratie noch nicht durchgesetzt. In denmit der Lenkung der Weltwirtschaft befassteninternationalen Institutionen geht es erst rechtnicht demokratisch zu. Stiglitz tritt nicht dafürein, den Internationalen Währungsfonds (IWF),die Weltbank oder die Welthandelsorganisa-tion (WTO) abzuschaffen. Diese Institutionensollten aber dem Einfluss der Großmächte undder Technokraten entzogen werden. GrößereBedeutung als die traditionellen weltwirtschaft-lichen Lenkungsinstitutionen sollte jedoch einanderes bereits existierendes Gremium erhalten– der Wirtschafts- und Sozialrat der VereintenNationen.

Wie kann die Demokratisierung der Welt-wirtschaftsinstitutionen erreicht werden? Stig-litz listet eine Reihe von Maßnahmen auf:Erstens sollten Änderungen der Stimmrechts-

verteilung beim IWF und der Weltbank vorge-nommen werden, um den Entwicklungsländernmehr Gewicht zu geben. (Beim IWF sind dieUSA nach wie vor das einzige Land mit einemfaktischen Vetorecht). In den Ländervertretun-gen sollten an den Verhandlungen zweitensnicht nur wie bisher das Handels- oder Finanz-ministerium, sondern bei ressortübergreifendenFragen alle einschlägigen Ministerien, z. B.auch das für Umweltschutz oder Justiz (beigeistigem Eigentum) beteiligt sein. Drittenswäre es ratsam, die formalen Verfahren der Ver-handlungsführung stärker mit demokratischenPrinzipien in Einklang zu bringen.

Stiglitz weiß, »dass diese Veränderungenauf große Widerstände stoßen werden« undempfiehlt deshalb weitere Reformmaßnahmenvon größerer Auskunftspflicht der internatio-nalen Behörden über eine unabhängigere Be-wertung der Leistungen von IWF, WTO undWeltbank bis hin zur Durchsetzung internatio-naler Rechtsformen (S. 350-352). »Die Ver-ringerung des Demokratiedefizits«, schließtStiglitz seine Ausführungen, »wäre ein großerSchritt nach vorn. … Ich bin fest davonüberzeugt, dass politische Maßnahmen undProgramme, die einer demokratischen Über-prüfung unterzogen wurden, wirkungsvollergreifen und den Anliegen der Bürger eher ge-recht werden.« (S. 357). Hier, fast am Endeseiner Ausführungen erliegt, so scheint es mir,der sonst so realistisch denkende Autor docheiner Illusion.

Der Band ist durchweg informativ, leichtverständlich geschrieben, enthält eine Füllevon anklagenden, aber auch manche ermuti-gende Beispiele aus dem Handeln der erstenWeltwirtschaftsmacht und der von ihr beein-flussten Weltwirtschaftsinstitutionen. Wenn The-men wie multinationale Konzerne, Schulden-dienst, Währungsreserven, weltweiter Schutzgeistigen Eigentums bzw. der »Fluch des Roh-stoffreichtums« abgehandelt werden, spürt derLeser, dass er es beim Autor nicht nur mit einemglänzenden Wirtschaftstheoretiker, sondern aucheinem langjährigen Berater des US-PräsidentenClinton und dem zeitweiligen Chefvolkswirt derWeltbank zu tun hat. Es ist keine Übertreibung:Wieder ein Stiglitz, den man gelesen habensollte, wenn man sich in unserer globalisiertenWelt zurechtfinden will.

JÖRG ROESLER

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JÖRN SCHÜTRUMPFUnder a Faded Flag – the »Left«

Making a resumé of the revolutions of 1789, 1848, 1917 and 1918 and look-ing into the results, the author critically discusses the political use of theterms »left« and »right«. He examines the original meanings of these con-cepts in the first Parisian parliament of 1789, when both the left and the rightwere part of the revolutionary forces. Describing the fading away of theoriginal implications of these concepts already by 1848, when it becameobvious that it was not a question of »left« and »right« but of those »on top«and those »down below«, he debates the misuse of these concepts during theStalinist era, to then ask if it is really appropriate for the new German partyto refer to itself as »The Left«.

MARTIN SCHIRDEWANOnward to the Present

This article also, discusses the politics of »The Left« in Germany. Debatingthe »parallel society« comprised of the parliament and the broadeningchasm developing between itself and the rest of the society, he looks into theconsequences of the retreat of the state and the politicians’ self-demotion tobecome simple agents of »globalized« economic interests. He analyzes thedifficulties confronting the left, particularly in Eastern Germany, where thePDS grew into the role of a so-called people’s party. The author proceeds toplead for a resolute re-orientation toward the struggle for an alternativepolitical culture, enabling the Left to fill the gaps created in the society bythe »there is no alternative« parties.

ULLA PLENERFor a New Party Hopes and Illusions in 1990

The author reprints two articles she had written in November and Decem-ber, 1990, when, as a member of a grass roots initiative for the rejuvenationof the Party of Democratic Socialism, (PDS) she pleaded intensively for theparty to combine the role of a typical political party with that of a social move-ment. Confronted with its own history as a state party, the young PDS hadto simultaneously cope with the parliamentary system’s obvious incapacityto guarantee the necessary political influence to all of the various interestgroups. The development toward becoming a »movement party« seemed tocreate an alternative.

574 UTOPIE kreativ, H. 200 (Juni 2007) – Summaries

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WOLFRAM ADOLPHIAsiaticus, China 1937

Seventy years ago, on July 7, 1937, World War II began in Asia. Japanattacked China on a broad front. China was completely isolated by thewestern powers, and Japan was allied with Germany through the Anti-Comintern Pact. The author recalls the German communist Heinz Grczyb(1897-1941) who, under his pen name, Asiaticus, clairvoyantly reported onthe war from China, the role of the Berlin-Tokyo Axis and the growinginfluence and strength of the Chinese communist movement. He also reflectsupon the ignorance Asiaticus’ analyses encountered later in the Federal Re-public of Germany and even in the German Democratic Republic, but forother reasons.

GOOD INTENTIONSA Chrestomathy

This is »UTOPIE kreativ’s« 200th issue, meaning that »UTOPIE kreativ« hasbeen on the market – without interruption – for 200 months, or almost 17years. This is an unexpected accomplishment, when seen from the perspec-tive of the initial editorial staff that set to work in September, 1990, com-prised almost exclusively of volunteers. GERD KURZE, one of the newestmembers of the staff, presents in this issue a collection of extracts from theeditorials of the 200 preceding issues.

HELMUT BOCKWhich is the German’s Fatherland?175 Years Ago: The Hambach Festival

The author evokes the Hambach Festival that took place on May 27th, 1832,where about 30 thousand men and women from various German states,kingdoms, grand duchies, duchies and cities gathered under the forbiddenblack-red-gold flags and banners. This festival, he concludes, must be seenas the first mass demonstration in German history. Convinced of the need fora consequent »people’s sovereignty«, these revolutionary democrats, withtheir anti-monarchy and pro-republican demands, became the nucleus of thebourgeois-democratic movement that evolved later.

UTOPIE kreativ, H. 200 (Juni 2007) – Summaries 575

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UTOPIEkreativ

Diskussion sozialistischer Alternativen

ImpressumHerausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung e.V. Redaktion: WOLFRAM ADOLPHI, GERD KURZE, ULLA PLENER,MARTIN SCHIRDEWAN, JÖRN SCHÜTRUMPF,MARION SCHÜTRUMPF-KUNZE (V.i.S.d.P.),DIETMAR WITTICH

Adresse: Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin,Tel.: 030– 44 310-127/123, Fax-122Internet: www.utopiekreativ.deE-Mail: [email protected]: NDZ Neue Zeitungsverwaltung GmbH,Weydingerstraße 14-16, 10178 BerlinVerlagsarbeiten: RUTH ANDEXEL

Satz: ELKE SADZINSKI

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