2003 Susan Sontag - Friedenspreis des Deutschen Buchhandels · Susan Sontag fürchtet, und wir mit...

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2003 Susan Sontag

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Ivan Nagel_________________________________Laudatio

Krieg und Frieden 2003

1. Fühlen und Denken im Kind beginnen oftmit dem Tod eines Anderen. Fühlen und Denkenderer, die um 1930 in Europa geboren wurden,begannen mit der Tötung von 50 Millionen An-deren. Der Zweite Weltkrieg und die Shoahstanden am Eingang unseres bewußten Lebens:Völkermord mit der Waffe oder mit Zyklon B.

Die Friedenspreisträgerin von heute wurde14 Tage vor Hitlers Machtergreifung geboren.Im Juli 1945 sah die Zwölfjährige in einerBuchhandlung von Santa Monica die Fotogra-fien der befreiten, zum Skelett ausgehungertenHäftlinge von Dachau und Bergen-Belsen. Siebeschrieb später diesen Augenblick: »Mein Le-ben wurde gespalten in die Zeit, bevor ich dieBilder sah, und in die Zeit seither. Es war eineArt Offenbarung, die mich in zwei Hälften riß,eine Offenbarung von Gottes-Abwesenheit. DieWunde schnitt so tief, weil ich in der Kindheitnie Gewalt gesehen hatte.«

Während Susan Sontags behüteter, eintöni-ger Kindheit in Arizona und Kalifornien waren300.000 amerikanische Soldaten gefallen. Aberdie Schlachtfelder zwischen Okinawa und Tor-gau lagen an die zehntausend Kilometer weitvon den Palmen und Stranden von Santa Mo-nica. Amerika war kein Schauplatz, nicht derLeidensraum des Krieges. Die Offenbarung desGrauens, das Menschen einander antun, brachals Bild aus Europa über das Kind herein. DiesesHöllen-Dokument erzwang zwei Entscheidun-gen: ihr lebenslanges Befragen von Fotografieund Erfahrung, von Abbildung und Schrecken;und eine weitere Teilung ihres bewußten Lebens,nicht in ein Davor und Danach, sondern in einHier und Dort: Amerika und Europa.

Kaum jemand hat die Herrschaft der Bilderüber das moderne Leben komplexer bedacht alsSontag in ihren Schriften über Fotografie. Aberdurch alle Vielfalt dieser Schriften zieht sichjenes erste, singuläre Erlebnis als Impuls und alsGegenstand: »Ich dachte vor diesen Bildern: Dasist Wirklichkeit. Wirklichkeit heißt, dass Men-

schen zur extremen Grausamkeit bereit sind. Ichdachte: Das darf ich nie vergessen.« In ihremallerersten Essay über Fotografie, gedruckt imOktober 1973, berichtete sie über jene Begeg-nung mit Dachau. Und ihr jüngstes Buch, dreißigJahre danach, trägt den Titel: »Das Leiden ande-rer betrachten«.

Viele von uns Europäern haben viel getan,um von unserer Initialerfahrung von Krieg undShoah wegzudenken, wegzuleben. Sie aber, diegeborene Amerikanerin, wurde zur gelerntenEuropäerin, um diese Erfahrung sich anzueignenund nie mehr zu vergessen. Erkenntnis istPflicht: Seitdem Sontag schreibt, sucht sie ingeistigem Wagnis, oft in physischer Gefahr,nach dem Punkt, von dem aus die Wirklichkeitdieser Zeit sich am schärfsten, schmerzlichsteneinsehen läßt. Dieser Aussichtspunkt, Einsichts-punkt verpflichtender Erkenntnis hat für sie ei-nen geografischen Ort: an der Trenn- und Berüh-rungslinie von Amerika und Europa. »Wirklich-keit« aber heißt immer wieder, wie in jenemunauslöschlichen Schreckensaugenblick: Kriegunter Staaten, Mord unter Ethnien.

Sontag fuhr nach Nord-Vietnam währendder Luftangriffe von 1968 und 1972, nach Palä-stina während des Jom-Kippur-Kriegs 1973 undimmer wieder nach Bosnien von 1993 bis 1995.Sie hat die Angst vor starr rhythmisierten Bom-beneinschlägen gelernt und die größere Angstvor verrückten Heckenschützen. Sie hat einRecht zu sagen: Die Welt ist gespalten in Men-schen, die den Krieg kennen - und die ihn nichtkennen. Die größte Angst aber in diesen letztenJahren gilt einer unaufhaltsam fortschreitendenGefahr: dass die Herrschaft über Völker, Ar-meen, Konzerne in die Hände von Menschenübergeht, die den Krieg nicht kennen.

Dem, der dessen Greuel ignoriert, fällt esleicht, sie zu entfesseln. Wir alle sahen das Fotodes einzigen Mannes, der kraft parlamentarischerVollmacht und militärischer Macht jederzeit anjeder Stelle des Globus einen Krieg beginnen

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und siegreich beenden kann. Dieser Mann zeigtesich am 1. Mai, um den Frieden zu verkünden,auf dem Deck eines Kriegsschiffes in Kampf-fliegeruniform - obwohl er sich in jungen Jahren,den letzten des Vietnam-Krieges, vor jedemKampfeinsatz drückte. Er hielt sich heraus nichtals einer der straffälligen Kriegsdienstverweige-rer, die damals zu Tausenden ihrem Denken undGewissen folgten, sondern als der Sohn einesreichen, sehr einflußreichen Ölindustriellen undPolitikers.

Als der gerühmteste Feldherr des ZweitenWeltkriegs, General Eisenhower, zum Präsiden-ten der Vereinigten Staaten gewählt wurde, trater nie mehr in Uniform vor die Öffentlichkeit. Erdemonstrierte, dass der Oberste Befehlshaberlaut Verfassung seines Landes kein ernannterMilitär, sondern ein gewählter Bürger ist. SusanSontag fürchtet, und wir mit ihr, dass der nochdemokratische Westen militarisiert wird unterdem Walten derer, die den Krieg nur aus Parade-märschen, Budgetgefeilsche und Computersi-mulationen kennen, aber ihre Herrschafts- undWirtschaftsinteressen bis zu der Massentötung,die Krieg heißt, durchzusetzen gewillt sind.

Schon im Oktober 2001 warnte sie: »Solltees in der näheren Zukunft einen weiteren An-schlag auf dem Boden der Vereinigten Staatengeben, so dürften Mut und Selbständigkeit derMeinungen bleibenden Schaden nehmen. EineArt Kriegsrecht würde dann verhängt, und diebürgerlichen Freiheiten, zuerst die Gedanken-freiheit, beschnitten.« Und Ende März diesesJahres, in jenen Tagen des Triumphs, sagte siebei einer Preisverleihung an israelische Soldaten,die sich weigern, Palästinenser in Palästina zubombardieren: »In meinem Land jetzt für denFrieden zu reden, heißt, ausgebuht, angegriffen,auf schwarze Listen gesetzt, kurz, als vater-landslos ausgegrenzt zu werden.«

2. »Krieg« heißt griechisch: »pólemos«. Esist gut, ja unentbehrlich, dass er selber zum Ob-jekt kämpferischster Polemik wird. Zwei Zitatemögen uns zeigen, wie gegensätzlich Krieg indieser Zeit bewertet werden kann.

Das erste Zitat: »Der Eindruck von unseremLand wird rechtens bestimmt von der Wahrneh-mung amerikanischer Macht: von Amerika alsdem Erz-Imperium des Planeten, das die biologi-sche und die historische Zukunft der Menschheitwie King Kong in seinen Klauen hält ... Ichglaube, daß die Außenpolitik der jetzigen Regie-rung zu mehr Kriegen und zu größeren Kriegen

führen wird. Unsere stärkste Hoffnung und diewirksamste Einschränkung von AmerikasKriegslust und Paranoia liegen in der Müdigkeitund Politikverdrossenheit Westeuropas ...; sowiein der Korruption und Unzuverlässigkeit unsererSatelliten in der Dritten Welt. Es ist schwer,einen Heiligen Krieg ohne Verbündete zu füh-ren. Aber Amerika ist verrückt genug, es dochzu versuchen.«

Das zweite Zitat: »Die Ansicht ist weit ver-breitet: Das hilflose Europa wird in kriegeri-schen Wahnsinn geschleift vom Bösen RiesenAmerika ... Der Antiamerikanismus, der denProtest gegen den Krieg nährt, ist in den letztenJahren in vielen Ländern des Neuen Europa an-gewachsen ... Schwaches Europa? MachtlosesEuropa? In Wahrheit hat das Wirtschafts-und-Geschäfts-Europa sich selber genau so geplant,dass es unfähig ist, der Bedrohung durch einenDiktator entgegenzutreten. Das ist kein Problemder Schwäche. Es ist ein Problem der Ideologie... Krieg ist kein Irrtum, keine Kommunikati-onspanne. Es gibt das radikal Böse auf der Welt,und es gibt deshalb gerechte Kriege. Und dieshier ist ein gerechter Krieg.«

Das erste Zitat ist nicht von Noam Chomskyund das zweite nicht von Donald Rumsfeld.Beide Zitate, gegen den Krieg und für den Krieg,stammen von der Trägerin dieses Friedensprei-ses, von Susan Sontag. Machen nun die beidenTexte einander unmöglich, machen sie gemein-sam ihre Verfasserin zur Lügnerin? Nein: Siehandeln von zwei Kriegen; und ein massenmör-derischer Krieg läßt sich nicht gleichschätzenmit einem Krieg gegen den Massenmord. DerText voll Zorn und Widerstand gegen AmerikasKriegsgier und Gefährdungswahn stammt, soheutig er leider klingt, aus dem Jahr 1966, aus-gelöst durch Vietnam. Der Text der Empörungüber EU-Europas selbstgewollte Blindheit, un-moralische Trägheit entsprang 1999 dem Erleb-nis Bosnien und der Realfurcht, dass jene Kata-strophe aus verweigertem Mut und Mitleid sichim Kosovo wiederholt.

Die Fährnisse der letzten beiden Jahre ver-führen dazu, den Riss zwischen Krieg und Frie-den mit der Spaltung zwischen Amerika undEuropa identisch zu setzen. Weniges ist aberwiderwärtiger als die Tagestaktik mancher neu-pazifistischer Politiker, Amerika zu belehren,welche Überlegenheit an Wissen um den Kriegwir Europäer besitzen. An Erfahrung fehlt es unsallerdings nicht: Europa hat den übrigen Welt-

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teilen den Mord unter Völkern und an Völkernbeigebracht, falls sie keine eigene Genozid-Tra-dition hatten. Amerika aber setzte in zwei Welt-kriegen dem europäischen Morden ein Ende.Sontag protestierte Jahre vor dem 11. Septem-ber: »Auf beiden Seiten, bei der so genanntenRechten wie der sogenannten Linken, wird dasIdentitätsgeschwätz zur Mode.«

Vonnöten sei aber keine flott handhabbareCharakterologie, die Mars und Venus, sprichImperialismus und Pazifismus, den beiden Erd-teilen aufstülpt. Vonnöten ist die immer neue,unnachgiebige Prüfung jedes Krieges, wer im-mer ihn entfesselt, auf Gerechtigkeit und Unge-rechtigkeit. Lassen Sie uns eine Sekunde stok-ken, um über diese beiden Worte zu erschrecken.Auf Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit soll jederdenkende Bürger jeden Griff zu den Waffenprüfen - nicht etwa auf Rechtmäßigkeit und Un-rechtmäßigkeit. Ist aber das entsetzliche Amteines Richters nicht allein deshalb menschen-möglich, weil es von einem ganzen Gebäude desRechts gestützt, oft auch eingemauert wird?Dennoch ruft Susan Sontag nicht das Völker-recht an, wenn es um einen jedesmal anderenKrieg geht - in Vietnam, im Gaza-Streifen, inBosnien, im Irak.

Geurteilt werden soll nicht mit Hilfe und imNamen von Paragraphen, sondern von Vernunftund Gefühl jedes Einzelnen. Eine grässlichePflicht und Bürde, wenn es um das Sterben vonMillionen geht - und um eine Sache, den Krieg,der stets vor Widersprüchen seiner Gründe undZiele strotzt. Sontags Urteile von Vietnam bisIrak waren gleichwohl nüchtern und klar, auchprophetisch. Sie nahm die Widersprüche in sichauf, machte sie zu Form und Substanz ihres Ein-spruchs. Ihr Vietnam-Reisebericht sprach dieRatlosigkeit vor fremden Nöten aus - nicht einenfertig mitgebrachten Protest, den es zu propagie-ren galt. Im Dokumentarfilm »Promised Lands«,den sie in Israel, in Palästina drehte, während dieGranaten noch einschlugen, wurde aus den Wi-dersprüchen große Kunst: das heißt sehendeEinfühlung in die Qualen der Anderen.

Schon der Titel »Promised Lands« ist einWiderspruch. Wem wurde dieses Land »verhei-ßen«? Der Israeli Joram Kaniuk wird befragt undantwortet: »Wir Juden haben grauenhafte Dra-men durchlebt, aber wir kannten nicht, wie dieGriechen, die Tragödie. Sie besteht, ausweglos,aus zwei entgegengesetzten Rechten. Wir kamenaus Auschwitz; die anderen haben 1500 Jahre in

Nablus gelebt und wollen 1500 Jahre dort leben.Die Tragödie, in die wir geraten sind, endet mitdem Tod aller. Oder doch noch mit dem Ent-schluss, in diesem Land miteinander weiterzule-ben?« Wichtiger aber als die Worte sind dieBilder: Bilder als Widerlegung vieler selbstsi-cherer Worte. Der Film beginnt mit einemRückblick: einer Gedenkfeier an den Gräbernbritischer Kolonialsoldaten, mit einer vaterländi-schen Predigt, mit den lieb aufgeputzten, wohl-erzogen plaudernden Eltern der Gefallenen, mitder Einladung aller Gäste zum kalten Büffet imGeneralkonsulat. Die Kamera aber bleibt aufeiner Grabinschrift stehen: This was my last war.

Dann kommen Bilder von leeren, zer-sprengten Panzern und von darin verbranntenSoldaten. Bilder, immer wieder, von Schuhen:Schuhe auf den Füßen von toten Menschen oderverkrümmte, geschossdurchsiebte, vor Dreckoder Blut erstarrte Schuhe, in denen keinMensch mehr ist. Rock und Hose, wenn aufge-hängt, wirken wie eine Person. Der leere Schuhist ein Loch, ein Nichts, das an keinen Men-schen, nur an die Vernichtung des Menschenerinnert. Er gehört zu jenen Schreckensfotos ausDachau und Bergen-Belsen. Dann füllt sich derFilm mit Leben: nicht nur mit den kreischenden,rituell klageheulenden alten und jungen Jüdinnenund Araberinnen, die ihre Söhne und Männerund zugleich ihre eigene zerstörte Hoffnungbetrauern. Nein: Sontag zeigt zärtlich und sogarheiter die jüdischen und arabischen »Zivilisten«,die auf dem Markt einkaufen und verkaufen, diesingen, tanzen, reden. Sie könnten miteinanderleben.

3. Susan Sontags Großeltern, vier Juden,kamen aus Osteuropa nach Amerika. Aus Sorgeum Israel und Amerika drängt sich ihr die Pa-rallele zwischen zwei katastrophalen Wahni-deen, Wahnstrategien auf. Sie suchen Terror mitMilitärmacht, mit Besetzung und Beherrschungauszustampfen - statt sich an den Versuch zutrauen, schärfste Ungleichheit der Macht, derReichtümer und der lebenserhaltenden Hoffnungzu mildern. In jener Preisrede auf Israels Solda-ten, die jenseits der Grenze von 1967 nicht töten,auch nicht vergelten wollen, sagte Sontag: »DieWahrscheinlichkeit, dass eure Akte des Wider-stands die Ungerechtigkeit nicht beenden kön-nen, erspart euch nicht, so zu handeln, wie ihr esfür das wahre Interesse eures Volkes haltet. Esist nicht Israels wahres Interesse, Unterdrückerzu sein. Es ist nicht Amerikas wahres Interesse,

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Hypermacht zu sein, die ihren Willen jedemLand der Erde aufzwingen kann, wie es ihr be-liebt.« Nur eine Wahnidee, mag man ergänzen,kann zwei Regierungen einflüstern, dass dieDemonstration maßloser Übermacht jeneselbstmörderischen Taten aufhält, die doch ebendiese Übermacht bald zum verzweifelten Impuls,bald zum anbefohlenen Vorwand haben.

Auch hier hat Sontag die Widersprüche inder Sache und im eigenen Herzen nicht ver-drängt. Als Demokratin verachtet sie die bluti-gen Diktaturen der Dritten Welt, als Frau dieErniedrigung der Frau im dogmatischen Islam.Doch als Amerikanerin hasst und fürchtet sie diehysterischen Kriegslügen der Regierenden, alsEuropäerin die träge Entpolitisierung der Völker,den Ideen- und Mitgefühlsverlust ihrer Eliten.Aggression und Indifferenz drohen, aufgeklärteDemokratie, Freiheit und Gleichheit auch in denHerkunftsländern der Demokratie auszuhöhlen.Man hat sie »Botschafterin Europas in Amerika«und eine »Brücke zwischen Amerika und Eu-ropa« genannt - die Feindin falscher Metaphernwird sich gegen beide Metaphern wehren. Ge-wiss, die seit frühester Kindheit Lesebesessene,Lernbesessene hat für Amerika Antonin Artaudund Roland Barthes entdeckt - und eine wunder-same, wunderbare Liste von deutsch Schreiben-den: Walter Benjamin, Robert Walser, EliasCanetti, Thomas Bernhard, W. G. Sebald. Aberschon davor nannte sie ihre Entdeckung Europasbeim Namen: als den »ethischen Ernst« großereuropäischer Literatur.

Dessen drohende Verkümmerung, die Li-quidierung eines geistigen Alten Europa durchein nur wirtschaftsvereintes Neues Europa be-kämpft sie - nicht als distanzierte Amerikanerin,aber auch nicht als assimilierte Europäerin. «AlsSchriftstellerin«, sagt sie, »als Bürgerin der Lite-ratur, was ein internationales Bürgerrecht ist«,wirft sie uns Europäern vor, daß wir Europauntreu werden. Als »Bürgerin der Literatur«wirft sie Amerika vor, der Kultur feindlich, ge-gen den Intellekt argwöhnisch zu sein - und darfdabei zugleich Alexis de Tocqueville und HenryLouis Mencken als Zeugen anrufen. Ihre Wider-sprüche, ihre Suche zwischen allen Fronten wur-den ihr von ihren Hassern von rechts und linkshämisch vorgehalten, nein: stichhaltig nachge-wiesen. Sie ändere ihre Meinung und zwar ge-rade über ihre wichtigsten Gegenstände: über dieFotografie, über den Krieg. Das ist wahr, sagt sie- und antwortet wieder mit einem Amerikaner

und einem Europäer. Henry James: »Nothing ismy last word on anything.« Und, immerhin,Kardinal Newman: »In a higher world it isotherwise, but here below to live is to change,and to be perfect is to have changed often.«»Vollkommen sein heißt hienieden, sich oft ver-ändert haben.«

Sontag zielt nicht auf feste, unanfechtbareSätze, die Wahrheit zu sein vorgeben. Als Su-chende erfährt sie im eigenen Wandel den un-aufhörlichen Wandel der Gegenstände; deshalbsind ein beträchtlicher Teil ihres Werkes: Versu-che, Essays. Deshalb erprobt sich ihr Fragen undErkennen nicht an einer Theorie des Krieges,sondern an dem stur erfahrungsnahen Befragenjedes Krieges nach Gerechtigkeit und Ungerech-tigkeit - und am Befragen der besonders fass-lichen Erfahrung seiner Leiden und Verwüstun-gen, die sich in der Fotografie sowohl spiegelnals auch verzerren. Sontags essayistische Suchenach Wahrheit ist nicht immer ein geduldigesAusprobieren ihrer Gedanken oder gar jenes»trial and error«-Verfahren, das in der Wissen-schaft so hoch im Kurs steht. Oft ist diese Sucheein verzweifeltes Um-Sich-Schlagen, verzweifeltüber den roh schreckenden Weltstoff und unserohnmächtiges Auge und Gehirn. Ihr Schreibenist dann nicht durchdringend und klug, sondernzähneknirschend riskant: Niederlage der Unru-higen gegen das unerbittliche Sosein ihres Su-jets.

Nicht im schnellen, brillanten Beurteilen derTaten und Werke also, das ihr gegeben ist, son-dern im ständig neuen Ansetzen des Sehen- undVerstehenwollens ist sie, fast wider Willen: einVorbild heute für Denkende, Intellektuelle. Vor-bildhaft für den Intellektuellen ist noch ein letz-ter Widerspruch ihrer geistigen Physiognomie:ihre Leidenschaft für das Neue, Entstehende -und ihr Wissen über das Vergangene, Ge-schichtliche. Was heißt: vorne sein? Es heißt: imeigenen Gehirn keine Decke, kein Schutzdachder Konvention haben. Es heißt: Die geistigenoder politischen Dinge im noch Offenen sehen,ohne ihre Konsequenzen zu kennen. Konsequen-zen sind Einschränkung der Möglichkeiten: DieZeit nimmt uns die Selektion ab. Wer aber vornedenkt, muss die Wahl selber tätigen, sich und derWelt sagen: Bei Godard oder Resnais, bei Bern-hard oder Sebald »passiert es« - und herausfin-den nicht einmal, was da passiert ist für unserLeben und Verstehen, sondern: was jetzt, nochungeschützt, passiert. Dennoch und zugleich:

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Weil die Wandelbarkeit von Sontags Begriffenund Interessen sowohl den Wandel ihrer Erfah-rung als auch den Fluss der Dinge nachbildet,zur Form werden lässt, steht neben dem Neuender verblüffende Reichtum nicht nur ihres histo-rischen Wissens, sondern ihrer geschichtlichenNeugier.

Sie schreibt wechselnd, sich wandelnd sogarüber das Unwandelbarste, den Tod. Sie schrieb -in »Krankheit als Metapher« und »AIDS undseine Metaphern« - eine Geistesgeschichte derKrankheiten, an denen »man« einst und gesternund heute starb und stirbt: Tbc, Krebs, Aids.Auch dem Krieg begegnet sie, indem sie ausdessen Wechsel beweist, dass er nicht einfachNatur ist. »Krieg ist nicht notwendig«, sagt sie,»ist nicht wie das Wetter.« Dass es Kriege im-mer gegeben hat, spricht nicht für das Absolute,Unentrinnbare des einzelnen Krieges - sonderndafür, dass er darauf angewiesen ist, immer neuerfunden zu werden. Wir mussten soeben sehen,wie ein Krieg, ein unnotwendiger, erfundenworden ist. Wir sollten uns weigern, durchnachträgliche »bündnispartnerliche« oder auch»humanitäre« Beihilfe jetzt schon den nächstenKrieg mitzuerfinden.

4. Ich will mit zwei längeren Zitaten schlie-ßen. Diesmal sind sie nicht von Susan Sontag,und sie widersprechen sich nicht. Das erste Zitatist von Adorno, aus dem Essay über den »Essayals Form«: «Der Essay denkt in Brüchen, so wiedie Realität brüchig ist, und findet seine Einheitdurch die Brüche hindurch, nicht indem er sieglättet. Diskontinuität ist dem Essay wesentlich,seine Sache stets ein stillgelegter Konflikt. ImWort Versuch vermählt sich die Utopie des Ge-dankens, ins Schwarze zu treffen, mit dem Be-wusstsein der eigenen Fehlbarkeit und Vorläu-figkeit.«

Das zweite Zitat ist von Lessing, über dieWahrheit. »Nicht die Wahrheit, in deren Besitzirgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet,sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandthat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht denWert des Menschen. Denn nicht durch den Be-sitz, sondern durch die Nachforschung derWahrheit erweitern sich seine Kräfte, worinallein seine immer wachsende Vollkommenheitbestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz. -Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit undin seiner Linken den einzigen immer regen Triebnach Wahrheit, obschon mit dem Zusätze, michimmer und ewig zu irren, verschlossen hielte

und spräche zu mir: >Wähle!< - ich fiele ihm mitDemut in seine Linke und sagte: >Vater, gib!Die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich al-lein!«

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Susan Sontag_________________________________Acceptance speech

To speak in the Paulskirche, before thisaudience, to receive the prize awarded in the lastfifty-three years by the German Book Trade toso many writers, thinkers, and exemplary publicfigures whom I admire - to speak in this history-charged place and on this occasion, is a hum-bling and inspiring experience. I can only themore regret the deliberate absence of the Ameri-can ambassador, Mr. Daniel Coats, whose im-mediate refusal, in June, of the invitation fromthe Booksellers Association, when this year'sFriedenspreis was announced, to attend ourgathering here today, shows he is more inter-ested in affirming the ideological stance and therancorous reactiveness of the Bush administra-tion than he is, by fulfilling a normal diplomaticduty, in representing the interests and reputationof his - and my - country.

Ambassador Coats has chosen not to behere, I assume, because of criticisms I havevoiced, in newspaper and television interviewsand in brief magazine articles, of the new radicalbent of American foreign policy, as exemplifiedby the invasion and occupation of Iraq. Heshould be here, I think, because a citizen of thecountry he represents in Germany has been hon-ored with an important German prize.

An American ambassador has the duty torepresent his country, all of it. I, of course, donot represent America, not even that substantialminority that does not support the imperial pro-gram of Mr. Bush and his advisors. I like tothink I do not represent anything but literature, acertain idea of literature, and conscience, a cer-tain idea of conscience or duty. But, mindful ofthe citation for this prize from a major Europeancountry, which mentions my role as an "intel-lectual ambassador" between the two continents(ambassador, needless to say, in the weakest,merely metaphorical sense), I cannot resist of-fering a few thoughts about the renowned gapbetween Europe and the United States, whichmy interests and enthusiasms purportedly bridge.

First, is it a gap - which continues to be

bridged? Or is it not also a conflict? Irate, dis-missive statements about Europe, certain Euro-pean countries, are now the common coin ofAmerican political rhetoric; and here, at least inthe rich countries on the western side of the con-tinent, anti-American sentiments are more com-mon, more audible, more intemperate than ever.What is this conflict? Does it have deep roots? Ithink it does.

There has always been a latent antagonismbetween Europe and America, one at least ascomplex and ambivalent as that between parentand child. America is a neo-European countryand, until the last few decades, was largelypopulated by European peoples. And yet it isalways the differences between Europe andAmerica that have struck the most perceptiveforeign observers: Alexis de Tocqueville, whovisited the young nation in 1831 and returned toFrance to write "Democracy in America«, still,some hundred and seventy years later, the bestbook about my country, and D.H. Lawrence,who, eighty years ago, published the most inter-esting book ever written about American culture,his influential, exasperating "Studies in ClassicAmerican Literature", both understood thatAmerica, the child of Europe, was becoming, orhad become, the antithesis of Europe.

Rome and Athens. Mars and Venus. Theauthors of recent popular tracts promoting theidea of an inevitable clash of interests and valuesbetween Europe and America did not inventthese antitheses. Foreigners brooded over them -and they provide the palette, the recurrent mel-ody, in much of American literature throughoutthe 19th century, from James Fenimore Cooperand Ralph Waldo Emerson to Walt Whitman,Henry James, William Dean Howells, and MarkTwain. American innocence and European so-phistication; American pragmatism and Euro-pean intellectualizing; American energy andEuropean world-weariness; American naivetéand European cynicism; American goodhearted-ness and European malice; American moralism

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and the European arts of compromise - youknow the tunes.

You can choreograph them differently; in-deed, they have been danced with every kind ofevaluation or tilt for two tumultuous centuries.Europhiles can use the venerable antitheses toidentify America with commerce-driven barba-rism and Europe with high culture, while theEurophobes draw on a readymade view in whichAmerica stands for idealism and openness anddemocracy and Europe a debilitating, snobbishrefinement. Tocqueville and Lawrence observedsomething fiercer: not just a declaration of inde-pendence from Europe, and European values,but a steady undermining, an assassination ofEuropean values and European power. »You cannever have a new thing without breaking anold,« Lawrence wrote. "Europe happened to bethe old thing. America should be the new thing.The new thing is the death of the old.« America,Lawrence divined, was on a Europe-destroyingmission, using democracy - particularly culturaldemocracy, democracy of manners - as an in-strument. And when that task is accomplished,he wrote, America might well turn from democ-racy to something else. (What that might be is,perhaps, emerging now.)

Bear with me if my references have beenexclusively literary. After all, one function ofliterature - of important literature, of necessaryliterature - is to be prophetic. What we havehere, writ large, is the perennial literary - orcultural - quarrel: between the ancients and themoderns.

The past is (or was) Europe, and Americawas founded on the idea of breaking with thepast, which is viewed as encumbering, stultify-ing, and - in its forms of deference and prece-dence, its standards of what is superior and whatis best - fundamentally undemocratic; or »elit-ist,« the reigning current synonym. Those whospeak for a triumphal America continue to inti-mate that American democracy implies repudi-ating Europe, and, yes, embracing a certain lib-erating, salutary barbarism. If, today, Europe isregarded by most Americans as more socialistthan elitist, that still makes Europe, by Americanstandards, a retrograde continent, obstinatelyattached to old standards: the welfare state.»Make it new« is not only a slogan for culture; itdescribes an ever-advancing, world-encompass-ing economic machine.

However, if necessary, even the »old« can

be rebaptized as the »new.«It is not a coincidence that the strong-

minded American Secretary of Defense tried todrive a wedge within Europe - distinguishingunforgettably between an »old« Europe (bad)and a »new« Europe (good). How did Germany,France, and Belgium come to be consigned to»old« Europe, while Spain, Italy, Poland,Ukraine, The Netherlands, Hungary, the CzechRepublic, and Bulgaria find themselves part of»new« Europe? Answer: to support the UnitedStates in its present extensions of political andmilitary power is to pass, by definition, into themore desirable category of the »new.« Whoeveris with us is »new.«

All modern wars, even when their motivesare the traditional ones, such as territorial ag-grandizement or the acquisition of scarce re-sources, are cast as clashes of civilizations -culture wars - with each side claiming the highground, and characterizing the other as barbaric.The enemy is invariably a threat to »our way oflife,« an infidel, a desecrator, a polluter, a defilerof higher or better values. The current waragainst the very real threat posed by militantIslamic fundamentalism is a particularly clearexample. What is worth remarking is that amilder version of the same terms of disparage-ment underlie the antagonism between Europeand America. It should also be remembered that,historically, the most virulent anti-Americanrhetoric ever heard in Europe - consisting essen-tially in the charge that Americans are barbarians- came not from the so-called left but from theextreme right. Both Hitler and Franco repeatedlyinveighed against an America (and a worldJewry) engaged in polluting European civiliza-tion with its base, business values.

Of course, much of European public opinioncontinues to admire American energy, theAmerican version of »the modern." And, to besure, there have always been American fellow-travelers of the European cultural ideals (onestands here before you), who find in the old artsof Europe a liberation and correction to thestrenuous mercantilist biases of American cul-ture. And there have always been the counter-parts of such Americans on the European side:Europeans who are fascinated, enthralled, pro-foundly attracted to the United States, preciselybecause of its difference from Europe.

What the Americans see is almost the re-verse of the Europhile cliche: they see them-

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selves defending civilization. The barbarianhordes are no longer outside the gates. They arewithin, in every prosperous city, plotting havoc.The »chocolate-producing« countries (France,Germany, Belgium) will have to stand aside,while a country with »will« - and God on its side- pursues the battle against terrorism (now con-flated with barbarism). According to Secretaryof State Powell, it is ridiculous for old Europe(sometimes it seems only France is meant) toaspire to play a role in governing or administer-ing the territories won by the coalition of theconqueror. It has neither the military resourcesnor the taste for violence nor the support of itscosseted, all-too-pacific populations. And theAmericans have it right. Europeans are not in anevangelical - or a bellicose - mood.

Indeed, sometimes I have to pinch myself tobe sure I am not dreaming: that what many peo-ple in my own country now hold against Ger-many, which wreaked such horrors on the worldfor nearly a century - the new "German prob-lem," as it were - is that Germans are repelled bywar; that much of German public opinion is nowvirtually... pacifist!

Were America and Europe never partners,never friends? Of course. But perhaps it is truethat the periods of unity - of common feeling -have been exceptions, rather than the rule. Onesuch time was from the Second World Warthrough the early Cold War, when Europeanswere profoundly grateful for America's inter-vention, succor, and support. Americans arecomfortable seeing themselves in the role ofEurope's savior. But then, America will expectthe Europeans to be forever grateful, which isnot what Europeans are feeling right now.

From »old« Europe's point of view, Amer-ica seems bent on squandering the admiration -and gratitude - felt by most Europeans. The im-mense sympathy for the United States in theaftermath of the attack on September 11, 2001was genuine. (I can testify to its particular ardorand sincerity in Germany; I was in Berlin at thetime.) But what has followed is an increasingestrangement on both sides.

The citizens of the richest and most power-ful nation in history have to know that Americais loved, and envied ... and resented. More than afew who travel abroad know that Americans areregarded as crude, boorish, uncultivated bymany Europeans, and don't hesitate to matchthese expectations with behavior that suggests

the ressentiment of the ex-colonial. And some ofthe cultivated Europeans who seem most to en-joy visiting or living in the United States attrib-ute to it, condescendingly, the liberating virtuesof a colony where one throws off the restrictionsand high-culture burdens of »back home.« Irecall being told by a German filmmaker, livingat the time in San Francisco, that he loved beingin the States "because you don't have any culturehere.« For more than a few Europeans, inclu-ding, it should be mentioned, D. H. Lawrence(»there the life comes up from the roots, crudebut vital,« he wrote to a friend in 1915, when hewas making plans to live in America), Americawas the great escape. And vice versa: Europewas the great escape for generations of Ameri-cans seeking »culture.« Of course, I am speakingonly of minorities here, minorities of the privi-leged.

So America now sees itself as the defenderof civilization and Europe's savior, and wonderswhy Europeans don't get the point; and Europe-ans see Americans as a reckless warrior state - adescription that the Americans return by seeingEurope as the enemy of America: only pretend-ing, so runs rhetoric heard increasingly in theUnited States, to be pacifist, in order to contrib-ute to the weakening of American power. Francein particular is thought to be scheming to be-come America's equal, even its superior, inshaping world affairs - "Operation AmericaMust Fail« is the name invented by a columnistin the »New York Times« to describe the Frenchdrive toward dominance - instead of realizingthat an American defeat in Iraq will encourage"radical Muslim groups - from Baghdad to theMuslim slums of Paris« to pursue their jihadagainst tolerance and democracy.

It is hard for people not to see the world inpolarizing terms (»them« and »us«) and theseterms have in the past strengthened the isola-tionist theme in American foreign policy asmuch as they now strengthen the imperialisttheme. Americans have got used to thinking ofthe world in terms of enemies. Enemies aresomewhere else, as the fighting is almost always»over there," Islamic fundamentalism havingreplaced Russian and Chinese communism asthe threat to »our way of life.« And terrorist is amore flexible word than communist. It can unifya larger number of quite different struggles andinterests. What this may mean is that the warwill be endless - since there will always be some

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terrorism (as there will always be poverty andcancer); that is, there will always be asymmetri-cal conflicts in which the weaker side uses thatform of violence, which usually targets civilians.American rhetoric, if not the popular mood,would support this unhappy prospect, for thestruggle for righteousness never ends.

It is the genius of the United States, a pro-foundly conservative country in ways that Euro-peans find difficult to fathom, to have devised aform of conservative thinking that celebrates thenew rather than the old. But this is also to say,that in the very ways in which the United Statesseems extremely conservative, for example, inthe extraordinary power of the consensus and thepassivity and conformism of public opinion (asTocqueville remarked in 1831) and the media, itis also radical, even revolutionary, in ways thatEuropeans find equally difficult to fathom.

Part of the puzzle, surely, lies in the discon-nect between official rhetoric and lived realities.Americans are constantly extolling "traditions";litanies to family values are at the center ofevery politician's discourse. And yet the cultureof America is extremely corrosive of family life,indeed of all traditions except those redefined topromote "identities" that fit into the larger pat-terns of distinctiveness, cooperation, and open-ness to innovation.

Perhaps the most important source of thenew (and not so new) American radicalism iswhat used to be viewed as a source of conserva-tive values: namely, religion. Many commenta-tors have noted that perhaps the biggest differ-ence between the United States and most Euro-pean countries (old as well as new in the currentAmerican distinction) is that in the United Statesreligion still plays a central role in society andpublic language. But this is religion Americanstyle: namely, more the idea of religion thanreligion itself.

True, when, during George Bush's run forpresident in 2000, a journalist was inspired toask the candidate to name his "favorite philoso-pher," the well-received answer - one that wouldmake a candidate for high office from any cen-trist party here in any European country alaughing stock - was »Jesus Christ." But, ofcourse, Bush didn't mean, and was not under-stood to mean, that, if elected, his administrationwould feel bound to any of the precepts or socialprograms actually expounded by Jesus.

The United States is a generically religious

society. That is, in the United States it's not im-portant which religion you adhere to, as long asyou have one. To have a ruling religion, even atheocracy, that would be just Christian (or aparticular Christian denomination) would beimpossible. Religion in America must be a mat-ter of choice. This modern, relatively contentlessidea of religion, constructed along the lines ofconsumerist choice, is the basis of Americancon-formism, self-righteousness, and moralism(which Europeans often mistake, condescend-ingly, for Puritanism). Whatever historic faithsthe different American religious entities purportto represent, they all preach something similar:reform of personal behavior, the value of suc-cess, community cooperativeness, tolerance ofother's choices. (All virtues that further andsmooth functioning of consumer capitalism.)The very fact of being religious ensures respect-ability, promotes order, and gives the guaranteeof virtuous intentions to the mission of theUnited States to lead the world.

What is being spread - whether it is calleddemocracy, or freedom, or civilization - is partof a work in progress, as well as the essence ofprogress itself. Nowhere in the world does theEnlightenment dream of progress have such afertile setting as it does in America.

Are we then really so separate? How oddthat, at a moment when Europe and Americahave never been so similar culturally, there hasnever been such a great divide.

Still, for all the similarities in the daily livesof citizens in rich European countries and thedaily lives of Americans, the gap between theEuropean and the American experience is agenuine one, founded on important differencesof history, of notions of the role of culture, ofreal and imagined memories. The antagonism -for there is antagonism - is not to be resolved inthe immediate future, for all the good will ofmany people on both sides of the Atlantic. Andyet one can only deplore those who want tomaximize those differences, when we do have somuch in common.

The dominance of America is a fact. ButAmerica, as the present administration is startingto see, cannot do everything alone. The future ofour world - the world we share - is syncretistic,impure. We are not shut off from each other.More and more, we leak into each other.

In the end, the model for whatever under-standing - conciliation -we might reach lies in

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thinking more about that venerable opposition,»old« and »new.« The opposition between»civilization« and "barbarism" is essentiallystipulatory; it is corrupting to think about andpontificate about - however much it may reflectcertain realities. But the opposition of »old« and»new« is genuine, ineradicable, at the center ofwhat we understand to be experience itself.

»Old« and »new« are the perennial poles ofall feeling and sense of orientation in the world.We cannot do without the old, because in what isold is invested all our past, our wisdom, ourmemories, our sadness, our sense of realism. Wecannot do without faith in the new, because inwhat is new is invested all our energy, our ca-pacity for optimism, our blind biological yearn-ing, our ability to forget - the healing abilitywithout which all reconciliation is not possible.

The inner life tends to mistrust the new. Astrongly developed inner life will be particularlyresistant to the new. We are told we must choose- the old or the new. In fact, we must chooseboth. What is a life if not a series of negotiationsbetween the old and the new? It seems to me thatone should always be seeking to talk oneself outof these stark oppositions.

Old versus new, nature versus culture - per-haps it is inevitable that the great myths of ourcultural life be played out as geography, not onlyas history. Still, they are myths, cliches, stereo-types, no more; the realities are much morecomplex.

A good deal of my life has been spent tryingto demystify ways of thinking that polarize andoppose. Translated into politics, this means sup-porting whatever is pluralistic and secular. Likesome Americans and many Europeans, I wouldfar prefer to live in a multilateral world - a worldnot dominated by any one country (including myown). I could express my support, in a centurythat already promises to be another century ofextremes, of horrors, for a whole panoply ofmeliorist attitudes - in particular, for what Vir-ginia Woolf calls »the melancholy virtue of tol-erance."

Let me rather speak first of all as a writer, asa champion of the enterprise of literature, fortherein lies the only authority I have.

The writer in me distrusts the good citizen,the "intellectual ambassador," the human rightsactivist - those roles which are mentioned in thecitation for the prize, much as I am committed tothem. The writer is more skeptical, more self-

doubting, than the person who tries to do (and tosupport) the right thing.

One task of literature is to formulate ques-tions and construct counter-statements to thereigning pieties. And even when art is not oppo-sitional, the arts gravitate toward contrariness.Literature is dialogue; responsiveness. Literaturemight be described as the history of human re-sponsiveness to what is alive and what is mori-bund as cultures evolve and interact with oneanother.

Writers can do something to combat thesecliches of our separateness, our difference - forwriters are makers, not just transmitters, ofmyths. Literature offers not only myths butcounter-myths, just as life offers counter-experi-ences - experiences that confound what youthought you thought, or felt, or believed.

A writer, I think, is someone who pays at-tention to the world. That means trying to under-stand, take in, connect with, what wickednesshuman beings are capable of; and not being cor-rupted - made cynical, superficial - by this un-derstanding.

Literature can tell us what the world is like.Literature can give standards and pass on

deep knowledge, incarnated in language, in nar-rative.

Literature can train, and exercise, our abilityto weep for those who are not us or ours.

Who would we be if we could not sympa-thize with those who are not us or ours? Whowould we be if we could not forget ourselves, atleast some of the time? Who would we be if wecould not learn? Forgive? Become somethingother than we are?

On the occasion of receiving this gloriousprize, this glorious German prize, let me tell yousomething of my own trajectory.

I was born, a third-generation American ofPolish and Lithuanian Jewish descent, twoweeks before Hitler came to power. I grew up inthe American provinces (Arizona and Califor-nia), far from Germany, and yet my entire child-hood was haunted by Germany, by the mon-strousness of Germany, and by the Germanbooks and the German music I loved, which setmy standard for what is exalted and intense.

Even before Bach and Beethoven and Schu-bert and Brahms, there were a few Germanbooks. I am thinking of a teacher in an elemen-tary school in a small town in southern Arizona,Mr. Starkie, who had awed his pupils by telling

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us that he had fought with Pershing's army inMexico against Pancho Villa: this grizzled vet-eran of an earlier American imperialist venturehad, it seems, been touched - in translation - bythe idealism of German literature, and, havingtaken in my particular hunger for books, loanedme his own copies of »Werther« and »lmmen-see«.

Soon after, in my childhood orgy of reading,chance led me to other German books, includingKafka's »ln the Penal Colony,« where I discov-ered dread and injustice. And a few years later,when I was a high school student in Los Ange-les, I found all of Europe in a German novel. Nobook has been more important in my life than»The Magic Mountain" - whose subject is, pre-cisely, the clash of ideals at the heart of Euro-pean civilization. And so on, through a long lifethat has been steeped in German high culture.Indeed, after the books and the music, whichwere, given the cultural desert in which I lived,virtually clandestine experiences, came a realexperience. For I am also a late beneficiary ofthe German cultural diaspora, having had thegreat good fortune of knowing well some of theincomparably brilliant Hitler refugees, thosewriters and artists and musicians and scholarsthat America received, starting in the 1930s, andwho so enriched the country, particularly itsuniversities. Let me name two I was privilegedto count as friends when I was in my late teensand early twenties, Hans Gerth and HerbertMarcuse; those with whom I studied at the Uni-versity of Chicago and at Harvard, ChristianMackauer and Paul Tillich and Peter Heinrichvon Blanckenhagen, and in private seminars,Aron Gurwitsch and Nahum Glatzer; and Han-nah Arendt, whom I knew after I moved to NewYork in my mid-twenties - so many models ofthe serious, whose memory I would like to evokehere.

But I shall never forget that my engagementwith German culture, with German seriousness,all started with obscure, eccentric Mr. Starkie (Idon't think I ever knew his first name), who wasmy teacher when I was ten, and whom I neversaw afterward.

And that brings me to a story, with which Iwill conclude - as seems fitting, since I am nei-ther primarily a cultural ambassador nor a fer-vent critic of my own government (a task I per-form as a good American citizen). I am a story-teller.

So, back to ten-year-old me, who foundsome relief from the tiresome duties of being achild by poring over Mr. Starkie's tattered vol-umes of Goethe and Storm. At the time I amspeaking of, 1943, I was aware that there was aprison camp with thousands of German soldiers,Nazi soldiers as of course I thought of them, inthe northern part of the state, and, knowing I wasJewish (only nominally, my family having beencompletely secular and assimilated for two gen-erations, but nominally, as I knew, was enoughfor Nazis), I was beset by a recurrent nightmarein which Nazi soldiers had escaped from theprison and had made their way downstate to thebungalow on the outskirts of the town where Ilived with my mother and sister, and were aboutto kill me.

Flash forward to many years later, the1970s, when my books started to be publishedby Hanser Verlag, and I came to know the dis-tinguished Fritz Arnold (he had joined the firmin 1965), who was my editor at Hanser until hisdeath in February 1999.

One of the first times we were together,Fritz said he wanted to tell me - presuming, Isuppose, that this was a prerequisite to anyfriendship that might arise between us - what hehad done during the war. I assured him that hedid not owe me any such explanation; but, ofcourse, I was touched by his bringing up thesubject. I should add that Fritz Arnold was notthe only German of his generation (he was bornin 1916) who, soon after we met, insisted ontelling me what he or she had done during theNazi era. And not all of the stories were as inno-cent as what I was to hear from Fritz.

Anyway, what Fritz told me was that he hadbeen a university student of literature and arthistory, first in Munich, then in Cologne, when,at the start of the war, he was drafted into theWehrmacht with the rank of corporal. His familywas, of course, anything but pro-Nazi - his fatherwas Karl Arnold, the legendary political car-toonist of »Simplicissimus« - but emigrationseemed out of the question, and he accepted,with dread, the call to military service, hopingneither to kill anyone nor to be killed.

Fritz was one of the lucky ones. Lucky, tohave been stationed first in Rome (where herefused his superior officer's invitation to becommissioned a lieutenant), then in Tunis; luckyenough to have remained behind the lines andnever once to have fired a weapon; and finally,

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lucky, if that is the right word, to have beentaken prisoner by the Americans in 1943, to havebeen transported by ship across the Atlantic withother captured German soldiers to Norfolk, Vir-ginia, and then taken by train across the conti-nent to spend the rest of the war in a prison campin a small town ... in northern Arizona.

Then I had the pleasure of telling him,sighing with wonder, for I had already started tobe very fond of this man - this was the beginningof a great friendship as well as an intense profes-sional relationship - that while he was a prisonerof war in northern Arizona, I was in the southernpart of the state, terrified of the Nazi soldierswho were there, here, and from whom therewould be no escape.

And then Fritz told me that what got himthrough his nearly three years in the prison campin Arizona was that he was allowed access tobooks: he had spent those years reading andrereading the English and American classics.And I told him that what saved me as a school-child in Arizona, waiting to grow up, waiting toescape into a larger reality, was reading books,books in translation as well as those written inEnglish.

Access to literature, world literature, wasescaping the prison of national vanity, ofPhilistinism, of compulsory provincialism, ofinane schooling, of imperfect destinies and badluck. Literature was the passport to enter a largerlife; that is, the zone of freedom.

Literature was freedom. Especially in a timein which the values of reading and inwardnessare so strenuously challenged, literature is free-dom.

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Susan Sontag_____________________________Dankesrede

Hier in der Paulskirche vor Ihnen zu sprechen,den Preis entgegenzunehmen, den der Börsen-verein des Deutschen Buchhandels in den ver-gangenen 53 Jahren so vielen Schriftstellern,Denkern und hervorragenden Persönlichkeitendes öffentlichen Lebens verliehen hat, die ichbewundere - an diesem geschichtsträchtigen Ortund bei diesem Anlass zu sprechen ist eine Er-fahrung, die bescheiden macht und zugleichinspiriert. Um so mehr bedauere ich die Abwe-senheit des Botschafters der Vereinigten Staaten,Mr. Daniel Coats, der schon im Juni, gleich nachder Bekanntgabe des diesjährigen Frieden-spreisträgers, die Einladung des Börsenvereinszu der heutigen Veranstaltung abgelehnt hat undauf diese Weise deutlich macht, dass ihm aneiner Bekräftigung der ideologischen Positionund des verbitterten Unmuts der Regierung Bushmehr liegt als daran, die Interessen und das An-sehen seines - und meines - Landes zu vertreten,indem er einer normalen Diplomatenpflichtnachkommt.

Botschafter Coats hat es vermutlich deshalbvorgezogen, nicht zu kommen, weil ich mich inZeitungs- und Fernsehinterviews und in kurzenZeitschriftenartikeln kritisch über die neue radi-kale Tendenz der amerikanischen Außenpolitikgeäußert habe, wie sie in der Invasion des Irakund seiner Besetzung zum Ausdruck kommt. Ersollte jedoch, wie ich finde, hier sein, weil eineBürgerin des Landes, das er in Deutschland ver-tritt, mit einem wichtigen deutschen Preis geehrtworden ist.

Ein amerikanischer Botschafter hat die Auf-gabe, sein Land repräsentieren - das ganze Land.Ich dagegen repräsentiere selbstverständlichnicht ganz Amerika und nicht einmal jene an-sehnliche Minderheit, die dem imperialen Pro-gramm von Mr. Bush und seinen Beratern dieZustimmung verweigert. Mir gefällt die Vor-stellung, dass ich nichts weiter repräsentiere alsdie Literatur, eine bestimmte Idee von Literatur,und das Gewissen, eine bestimmte Idee vonGewissen oder Pflicht. Aber im Gedanken an dieUrkunde, die diesen Preis eines wichtigen euro-päischen Landes begleitet und in der ich als»intellektuelle Botschafterin zwischen den bei-

den Kontinenten« bezeichnet werde (Botschafte-rin natürlich nur im denkbar schwächsten, näm-lich übertragenen Sinne des Wortes), kann ichnicht umhin, einige Überlegungen zu der vielbe-rufenen Kluft zwischen Europa und den Verei-nigten Staaten anzustellen, die angeblich durchdas, was mich interessiert und fasziniert, über-brückt wird.

Aber handelt es sich überhaupt um eineKluft, die sich noch überbrücken läßt? Geht esnicht auch um einen tiefen Konflikt? Zornige,abschätzige Äußerungen über Europa, über be-stimmte europäische Länder, sind in der politi-schen Rhetorik Amerikas heute gang und gäbe;und hier in Europa, zumindest in den reichenLändern im westlichen Teil des Kontinents, sindantiamerikanische Gefühle weiter verbreitet,lauter und ungehemmter vernehmbar als je zu-vor. Was hat es mit diesem Konflikt auf sich?Hat er tiefere Wurzeln? Ich glaube, ja.

Schon immer bestand ein latenter Antago-nismus zwischen Europa und Amerika, der min-destens so komplex und ambivalent war wie derzwischen Eltern und Kind. Die VereinigtenStaaten sind ein neoeuropäisches Land, und bisvor wenigen Jahrzehnten war der größte Teilseiner Bevölkerung europäischer Herkunft.Trotzdem waren es immer die Unterschiedezwischen Europa und Amerika, die den beson-ders scharfsichtigen ausländischen Beobachternauffielen: dem Franzosen Alexis de Tocqueville,der die junge Nation 1831 besuchte und dann inseine Heimat zurückkehrte, um über «Die De-mokratie in Amerika« zu schreiben, auch nach170 Jahren immernoch das beste Buch über meinLand, das es gibt, ebenso wie D. H. Lawrence,der vor 80 Jahren das interessanteste Buch überdie amerikanische Kultur veröffentlichte, das jeerschienen ist, seine ebenso einflussreichen, wieirritierenden Studien zur klassischen amerikani-schen Literatur. Beide erkannten, dass Amerika,das Kind Europas, auf dem Weg war, sich zurAntithese Europas zu entwickeln oder schondazu geworden war.

Rom und Athen. Mars und Venus. JeneAutoren, die in letzter Zeit in populären Trakta-

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ten die Vorstellung von einem unvermeidlichenZusammenprall europäischer und amerikani-scher Interessen und Werte entwickeln, habendiese Antithesen nicht erfunden. Europäer habenüber ihnen gegrübelt - und sie liefern die Palette,das Leitmotiv für einen großen Teil der ameri-kanischen Literatur des 19. Jahrhunderts vonJames Fenimore Cooper und Ralph WaldoEmerson bis zu Walt Whitman, Henry James,William Dean Howells und Mark Twain. Ame-rikanische Unschuld und europäisches Raffine-ment; amerikanischer Pragmatismus und euro-päischer Intellektualismus; amerikanische Tat-kraft und europäischer Weltschmerz; amerikani-sche Unverdorbenheit und europäischer Zynis-mus; amerikanische Gutmütigkeit und europäi-sche Boshaftigkeit; amerikanischer Moralismusund europäisches Kompromisslertum - Sie allekennen die Melodien.

Man kann zu ihnen unterschiedliche Cho-reographien entwerfen, und zwei wild bewegteJahrhunderte lang sind sie in allen erdenklichenAkzentuierungen und Figuren abgetanzt worden.Europafreunde können sich dieser ehrwürdigenAntithesen bedienen, um Amerika mit ge-schäftstüchtiger Barbarei und Europa mit erha-bener Kultur gleichsetzen, während die Europa-feinde gern auf das Klischee zurückgreifen,Amerika stehe für Idealismus, Offenheit undDemokratie, Europa dagegen für kraftlose,hochnäsige Überfeinerung. Tocqueville undLawrence haben jedoch etwas viel Brisanteresbeobachtet: nicht bloß eine Unabhängigkeitser-klärung gegenüber Europa und seinen Werten,sondern eine Tendenz, die europäischen Werteund die Macht Europas zu untergraben und ab-zutöten. »Man bekommt nie etwas Neues, ohneetwas Altes kaputt zu machen«, schrieb La-wrence. »Nun war aber Europa das Alte. Ame-rika sollte das Neue sein. Das Neue ist der Toddes Alten.« Amerika, so prophezeite Lawrence,habe es sich zur Aufgabe gemacht, Europa zuzerstören, und zwar mittels der Demokratie - vorallem mittels der kulturellen Demokratie, derDemokratie der Umgangsformen. Und wenn esdiese Aufgabe erfüllt habe, schrieb Lawrence,werde sich Amerika möglicherweise von derDemokratie ab- und etwas anderem zuwenden.(Was dieses andere sein könnte, wird vielleichtin unseren Tagen langsam deutlich.)

Ich bitte um Nachsicht, wenn ich mich hierausschließlich auf die Literatur berufe. Aber eineFunktion der Literatur - der wichtigen, notwen-

digen Literatur - besteht ja darin, dass sie pro-phetisch ist. Im Grunde genommen, haben wir eshier mit dem alten Literatur- oder Kulturstreitzwischen den Alten und den Modernen zu tun.

Die Vergangenheit ist (oder war) Europa,und Amerika wurde auf der Idee eines Bruchsmit dieser Vergangenheit gegründet, die als hin-derliche, verdummende Last und - in ihren For-men von Ehrerbietung und ihrem Sinn für Rang-ordnung, in ihren Kriterien für das, was über-legen und am besten sei - als durch und durchundemokratisch erscheint, als »elitär«, wie manheute meist sagt. Diejenigen, die einem trium-phalen Amerika das Wort reden, deuten dabeiimmer wieder an, dass amerikanische Demokra-tie auch bedeutet, Europa abzulehnen und sicheine Art befreiendes, heilsames Barbarentumzueigen zu machen. Auch wenn Europa von denmeisten Amerikanern heute eher für sozialistischals für elitär gehalten wird, bleibt es nach ameri-kanischen Maßstäben doch ein rückschrittlicherKontinent, der sich hartnäckig an alte Maßstäbeklammert: an den Wohlfahrtsstaat. »Make itnew« ist nicht nur ein Motto für die Kultur; essteht auch für einen immer weiter um sich grei-fenden, weltumspannenden Wirtschaftsapparat.

Wenn nötig, lässt sich jedoch das »Alte«auch umtaufen und als »Neues« deklarieren.

Es ist kein Zufall, dass der energische ame-rikanische Verteidigungsminister einen Keilzwischen die Länder Europas zu treiben ver-suchte, indem er auf unvergessliche Art zwi-schen dem »alten« (schlechten) und dem»neuen« (guten) Europa unterschied. Wie konntees geschehen, dass Deutschland, Frankreich undBelgien dem »alten« Europa zugerechnet wur-den, während sich Spanien, Italien, Polen, dieUkraine, die Niederlande, Ungarn, Tschechienund Bulgarien im »neuen« Europa wiederfan-den? Die Antwort lautet: Wer die VereinigtenStaaten bei ihren gegenwärtigen Bemühungenum eine Ausdehnung ihrer politischen und mili-tärischen Macht unterstützt, gehört damit per sein die bevorzugte Kategorie des »Neuen«. Wermit uns ist, ist »neu«.

Alle modernen Kriege, auch wenn ihre Mo-tive die herkömmlichen sind, etwa das Strebennach territorialer Vergrößerung oder nach An-eignung knapper Ressourcen, werden als Zu-sammenstöße von Zivilisationen - als Kultur-kriege - inszeniert, wobei jede Seite sich auf einhöheres Recht beruft und die andere Seite fürbarbarisch erklärt. Der Feind ist unweigerlich

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eine Bedrohung »unserer Lebensweise« - er istein Ungläubiger, ein Schänder, ein Beschmutzer,der höhere oder bessere Werte besudelt. Derderzeitige Krieg gegen die sehr reale Bedrohung,die vom militanten islamischen Fundamentalis-mus ausgeht, ist dafür ein besonders deutlichesBeispiel. Bemerkenswert ist allerdings, dass diegleichen Formen von Geringschätzung in abge-milderter Form auch dem Antagonismus zwi-schen Europa und Amerika zugrunde liegen.Man sollte sich in diesem Zusammenhang auchdaran erinnern, dass, historisch betrachtet, diebösartigste antiamerikanische Rhetorik, die inEuropa je zu hören war und die im Wesentlichenauf den Vorwurf hinauslief, Amerikaner seienBarbaren, nicht etwa von der so genannten Lin-ken, sondern von der extremen Rechten ausging.Sowohl Hitler als auch Franco ließen sich mehr-fach über ein Amerika (und ein Weltjudentum)aus, das mit seinen niedrigen, auf nichts als Ge-schäftemacherei gerichteten Wertvorstellungendie europäische Kultur verderben wolle.

Natürlich bewundert ein großer Teil der öf-fentlichen Meinung in Europa auch weiterhin dieamerikanische Tatkraft und die amerikanischeVorstellung von »Modernität«. Und natürlich hates in Amerika immer Anhänger und Anhänge-rinnen der kulturellen Ideale Europas gegeben(eine solche steht hier vor Ihnen), die die altenKünste Europas als eine Befreiung und als Kor-rektiv gegenüber dem betriebsamen Unterneh-mergeist der amerikanischen Kultur empfanden.Und auf europäischer Seite gab es immer dasPendant zu solchen Amerikanern: Europäer, diesich von den Vereinigten Staaten gerade wegenihrer Verschiedenheit von Europa fasziniert,verzaubert und zutiefst angezogen fühlen.

Die heutige Sicht der Amerikaner läuft fastauf eine Umkehrung des europhilen Klischeeshinaus: Sie betrachten sich als Verteidiger derZivilisation. Die Barbarenhorden stehen nichtmehr draußen vor den Toren. Sie sind nun drin-nen, in jeder reichen Stadt und sinnen dort aufTod und Zerstörung. Deshalb müssen die«Schokolade fabrizierenden« Länder (Frank-reich, Deutschland, Belgien) beiseite treten,während ein Land voller »Willensstärke« - undmit Gott an seiner Seite - die Schlacht gegen denTerrorismus schlägt (der inzwischen mit derBarbarei in eins gesetzt wird). AußenministerPowell zufolge ist es lächerlich, wenn das alteEuropa (manchmal scheint auch nur Frankreichgemeint zu sein) eine Rolle in Politik und Ver-

waltung der von der Siegerkoalition eingenom-menen Gebiete spielen will. Dieses Europa ver-füge weder über die militärischen Mittel dazunoch über den nötigen Sinn für die Anwendungvon Gewalt, und obendrein fehle ihm auch dieUnterstützung seiner verwöhnten, allzu friedfer-tigen Bevölkerungen. Den Amerikanern stehe alldies reichlich zu Gebote. Den Europäern hinge-gen mangele es an missionarischem - oder krie-gerischem - Eifer.

Manchmal muss ich mich kneifen, um si-cher zu sein, dass ich nicht träume: der Vorwurf,den viele Menschen in Amerika Deutschlandheute machen, diesem Deutschland, das fast einJahrhundert lang solche Schrecken über die Weltgebracht hat, man könnte auch sagen: Das neue»deutsche Problem« besteht nun offenbar darin,dass sich die Deutschen vom Krieg abgestoßenfühlen, dass ein großer Teil der öffentlichenMeinung im heutigen Deutschland praktischpazifistisch ist!

Waren Amerika und Europa denn nie Part-ner, nie Freunde? Doch, das waren sie. Abervielleicht waren die Perioden der Einigkeit -derEinmütigkeit - eher eine Ausnahme als die Re-gel. Eine solche Ausnahmephase war die Zeitvom Zweiten Weltkrieg bis zu den Anfängen desKalten Krieges, als die Europäer Amerika fürseine Einmischung, für seinen Beistand undseine materielle Hilfe zutiefst dankbar waren.Die Amerikaner sehen sich gern in der Rolle desRetters von Europa. Deshalb erwartet Amerikavon den Europäern eine immer währende Dank-barkeit, nach der den Europäern im Augenblickjedoch nicht der Sinn steht.

Aus der Sicht des »alten« Europa ist Ame-rika dabei, die Bewunderung - und die Dankbar-keit - zu verspielen, die die meisten Europäereinmal empfunden haben. Die gewaltige Wogeder Sympathie für die Vereinigten Staaten nachdem Angriff vom 11. September 2001 war echt.(Ich selbst kann ihre Intensität und ihre Aufrich-tigkeit in Deutschland bezeugen; ich war zudiesem Zeitpunkt in Berlin.) Doch dann folgteeine zunehmende Entfremdung auf beiden Sei-ten.

Die Bürger der reichsten und mächtigstenNation in der Geschichte müssen sich klar ma-chen, dass Amerika geliebt und beneidet, aberauch mit Groll betrachtet wird. Nicht wenigevon ihnen erfahren bei Reisen ins Ausland, dassAmerikaner in den Augen vieler Europäer fürrauhbeinig, ungehobelt, unkultiviert gelten, und

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zögern nicht, diese Einschätzungen als einenAusdruck von Ressentiment gegenüber den Ko-lonisten von ehedem zu deuten. Und manchekultivierten Europäer, die sich anscheinend be-sonders gern in den Vereinigten Staaten aufhal-ten oder dort leben, bescheinigen diesem Landauf eine seltsam herablassende Art die befreien-den Vorzüge einer Kolonie, in der man die »da-heim« geltenden Beschränkungen und die ausder dortigen Kultiviertheit erwachsenden Bürdenabschütteln kann. Ich erinnere mich, wie mir eindeutscher Filmemacher, der zeitweise in SanFrancisco lebte, eines Tages erklärte, warum erso gern in den Staaten sei: »Weil ihr hier über-haupt keine Kultur habt.« Für etliche Europäerwar Amerika die Rettung (auch für D.H. La-wrence, der 1915, als er sich in Amerika nieder-zulassen plante, an einen Freund schrieb: »Dortkommt das Leben direkt aus den Wurzeln, rauh,aber kraftvoll«). Und umgekehrt: Für Generatio-nen von Amerikanern auf der Suche nach »Kul-tur« war Europa die Rettung. Ich spreche hiernatürlich nur von Minderheiten -privilegiertenMinderheiten.

So kommt es, dass Amerika sich heute alsVerteidiger der Zivilisation und Retter Europassieht und sich gleichzeitig fragt, warum die Eu-ropäer das nicht begreifen; die Europäer wie-derum sehen Amerika als einen rücksichtslosenKriegerstaat, was die Amerikaner ihrerseits ver-anlasst, Europa als einen Feind Amerikas zubetrachten: Europa täusche seinen Pazifismusnur vor, so hört man in den Vereinigten Staateninzwischen immer häufiger, um in Wirklichkeitan einer Schwächung der Macht Amerikas mit-zuwirken. Vor allem Frankreich, so glaubt man,sei bestrebt, Amerika auf der Ebene der Weltpo-litik ebenbürtig zu werden oder gar den Rangabzulaufen. »Die Operation Amerika mussscheitern« lautet das Motto, das ein Kolumnistder »New York Times« für das französischeVormachtstreben erfunden hat. Stattdessen täteauch Frankeich besser daran, zu erkennen, dasseine amerikanische Niederlage im Irak die »ra-dikalen muslimischen Gruppen von Bagdad bisin die musli-mischen Slums von Paris« in ihremDjihad gegen Toleranz und Demokratie nur er-mutigen würde.

Den Menschen fällt es schwer, die Weltnicht in polarisierenden Kategorien (»die« und»wir«) zu sehen. Diese Kategorien haben in derVergangenheit die isolationistischen Tendenzender amerikanischen Außenpolitik so gestärkt,

wie sie jetzt deren imperialistische Tendenzenstärken. Die Amerikaner haben sich daran ge-wöhnt, die Welt als eine Welt von Feindenwahrzunehmen. Diese Feinde sind anderswo,denn gekämpft wird fast immer over there -»drüben«, auch nachdem der islamische Funda-mentalismus den russischen und den chinesi-schen Kommunismus als Bedrohung »unsererLebensweise« abgelöst hat. Und das Wort »Ter-rorist« lässt sich noch flexibler verwenden alsdas Wort »Kommunist«. Es kann eine noch grö-ßere Zahl unterschiedlicher Auseinandersetzun-gen und Interessen unter einen Hut bringen, unddas bedeutet: Der Krieg gegen den Terrorismuswird möglicherweise nie enden, denn Terroris-mus wird es immer geben (so wie es immer Ar-mut und Krebs geben wird); immer wird esasymmetrische Konflikte geben, in denen dieschwächere Seite diese Form von Gewalt an-wendet, die sich meist gegen Zivilisten richtet.Die amerikanische Rhetorik, wenn auch nichtunbedingt die Stimmung in der Bevölkerung,bekräftigt diese unerfreuliche Perspektive, dennder Kampf für das Gute endet nie.

Es gehört zum Genius der VereinigtenStaaten, deren tief verwurzelter Konservativis-mus für Europäer schwer zugänglich ist, dass sieeine Form von konservativem Denken entwik-kelt haben, die das Neue und nicht etwa das Altefeiert. Das bedeutet aber auch, dass die Verei-nigten Staaten in eben jenen Zügen, in denen sieextrem konservativ erscheinen - zum Beispiel inder ungewöhnlichen Macht des Konsensus, inder Passivität und im Konformismus der öffent-lichen Meinung (wie Tocqueville schon 1831bemerkte) und der Medien - auch auf eine Weiseradikal und sogar revolutionär sein können, diefür Europäer ebenso schwer zugänglich ist.

Zum Teil erklärt sich diese Rätselhaftigkeitaus dem Zwiespalt zwischen offizieller Rhetorikund Lebenswirklichkeit. Ständig pochen Ameri-kaner auf »Traditionen«; im Mittelpunkt jederpolitischen Rede stehen Lobgesänge auf die»Familienwerte«. Dabei ist die amerikanischeKultur dem Familienleben sehr abträglich undallen anderen Traditionen ebenfalls - ausge-nommen jene, die in persönliche »Identitäten«umdefiniert werden können und sich in die um-fassenderen Muster von individueller Erkenn-barkeit bei gleichzeitiger Bereitschaft zur Ko-operation und Offenheit für Erneuerung fügen.

Die vielleicht wichtigste Quelle des neuen(und des nicht ganz so neuen) amerikanischen

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Radikalismus ist eben jene, die man früher im-mer als eine Quelle konservativer Werte angese-hen hat: die Religion. Viele Beobachter habendarauf hingewiesen, dass der größte Unterschiedzwischen den Vereinigten Staaten und den mei-sten europäischen Ländern (den nach der aktu-ellen amerikanischen Nomenklatur »alten« wieden »neuen«) wahrscheinlich darin besteht, dassdie Religion in der Gesellschaft und im öffentli-chen Diskurs der Vereinigten Staaten nach wievor eine zentrale Rolle spielt. Es handelt sichhierbei allerdings um eine Religion nach ameri-kanischem Muster: eher um die Idee von Reli-gion als um Religion selbst.

Gewiss, als während des Präsidentschafts-wahlkampfs im Jahre 2000 ein Journalist auf dieIdee kam, den Kandidaten George Bush nachseinem »Lieblingsphilosophen« zu fragen, be-kam er eine Antwort, mit der sich jeder Kandidatirgendeiner großen Volkspartei in jedem euro-päischen Land lächerlich gemacht hätte - »JesusChristus«. Aber Bush wollte damit natürlichnicht sagen, dass sich seine Regierung im Falleseiner Wahl an irgendwelche von Jesus entwik-kelten Grundsätze oder gesellschaftlichen Pro-gramme gebunden fühlen würde, und es hat ihnauch niemand so verstanden.

Die Vereinigten Staaten sind in einem sehrallgemeinen Sinne eine religiöse Gesellschaft.Das heißt, es kommt nicht darauf an, welcherReligion man angehört, solange man überhaupteine hat. Die Vorherrschaft einer Religion odergar eine Theokratie (ob allgemein christlich odervon einer bestimmten christlichen Konfessiongeprägt) wäre unmöglich. Religion muss inAmerika eine Sache der freien Wahl des Einzel-nen bleiben. Diese moderne, vergleichsweiseinhaltsleere Vorstellung von Religion, die derFreiheit des Konsumenten strukturell ähnlich ist,bildet die Grundlage für den KonformismusAmerikas, für seine Selbstgerechtigkeit undseinen Moralismus (den die Europäer herablas-send häufig als Puritanismus missdeuten).Gleichgültig, welche historischen Glaubens-grundsätze die verschiedenen religiösen Grup-pierungen in Amerika zu vertreten behaupten -alle predigen etwas Ähnliches: den Willen zurinneren Besserung, den Wert des Erfolgs, Soli-darität in der Gemeinde und Toleranz gegenüberden Entscheidungen anderer. (Lauter Tugenden,die dem reibungslosen Funktionieren des Kon-sumkapitalismus förderlich sind.) Die bloße Tat-sache, dass man religiös ist, sichert das Ansehen,

trägt zur Aufrechterhaltung der Ordnung bei undliefert eine Garantie dafür, dass sich die Verei-nigten Staaten ausschließlich mit guten Absich-ten auf ihre Mission einlassen, die Welt zu füh-ren.

Was da verbreitet wird - ob man es nunDemokratie oder Freiheit oder Zivilisation nennt-, ist sowohl Teil eines Work-in-Progress alsauch der Kern des Fortschritts selbst. Nirgendwoauf der Welt ist der aufklärerische Traum vomFortschritt auf so fruchtbaren Boden gefallenwie in Amerika.

Sind wir also wirklich so weit auseinander?Wie sonderbar, dass in einem Augenblick, daEuropa und Amerika einander kulturell so ähn-lich sind wie noch nie, der Zwiespalt zwischenihnen tiefer ist als je zuvor.

Und dennoch - trotz aller Ähnlichkeitenzwischen dem Alltag der Bürger in den reicheneuropäischen Ländern und dem Alltag der Ame-rikaner - ist die Kluft zwischen der europäischenund der amerikanischen Erfahrung tatsächlichvorhanden. Sie ergibt sich aus wichtigen histori-schen Unterschieden, aus unterschiedlichen Vor-stellungen von der Rolle der Kultur und ausUnterschieden in den wirklichen und den imagi-nären Erinnerungen. Der Antagonismus - dennes besteht ein Antagonismus - lässt sich in derunmittelbaren Zukunft nicht lösen, allem gutenWillen vieler Menschen auf beiden Seiten desAtlantik zum Trotz. Und doch kann man dieje-nigen nur verurteilen, die diese Unterschiedenoch vergrößern wollen, während wir doch tat-sächlich so viel gemeinsam haben.

Die Vorherrschaft Amerikas ist eine Tatsa-che. Aber Amerika, wie inzwischen auch seinederzeitige Regierung einzusehen beginnt, kannnicht alles allein machen. Die Zukunft unsererWelt - unserer gemeinsamen Welt - ist synkreti-stisch, unrein. Wir können uns nicht voneinanderabkapseln. Wir fließen immer mehr ineinander.

Am Ende wird sich alle Verständigung - alleAussöhnung -, zu der wir gelangen können, dar-aus ergeben, dass wir gründlicher über den ehr-würdigen Gegensatz zwischen »Altem« und»Neuem« nachdenken. Der Gegensatz zwischen»Zivilisation« und »Barbarei« beruht im We-sentlichen auf mehr oder minder willkürlichenSetzungen; sich in Gedanken auf ihn ein- unddogmatisch über ihn auszulassen, führt in dieIrre, auch wenn sich bestimmte Realitäten in ihmspiegeln. Der Gegensatz zwischen »alt« und»neu« dagegen ist echt und unaufhebbar und

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steht im Zentrum dessen, was wir unter Erfah-rung verstehen.

»Alt« und »neu« sind die ewigen, unum-stößlichen Pole aller Wahrnehmung und allerOrientierung in der Welt. Ohne das Alte kom-men wir nicht aus, weil sich mit ihm unsereganze Vergangenheit, unsere Weisheit, unsereErinnerungen, unsere Traurigkeit, unser Reali-tätssinn verbinden. Ohne den Glauben an dasNeue kommen wir nicht aus, weil sich mit demNeuen unsere Tatkraft, unsere Fähigkeit zumOptimismus, unser blindes biologisches Sehnen,unsere Fähigkeit zu vergessen verbinden - dieseheilsame Fähigkeit, ohne die Versöhnung nichtmöglich ist.

Unser Innenleben misstraut dem Neuen. Einstark entwickeltes Innenleben wird sich demNeuen besonders heftig widersetzen. Es heißt,wir sollen uns entscheiden - zwischen dem Altenund dem Neuen. In Wirklichkeit müssen wir unsfür beides entscheiden. Was ist das Leben, wennnicht ein ständiger Austausch zwischen Altemund Neuem? Mir scheint, man sollte immer ver-suchen, sich solche starren Gegensätze auszure-den.

Alt gegen Neu, Natur gegen Kultur - viel-leicht ist es unvermeidlich, dass sich die großenMythen unseres Kulturlebens nicht nur in derGeschichte, sondern auch in der Geographieabspielen. Und dennoch sind es Mythen, Kli-schees, Stereotypen - sonst nichts; die Wirklich-keiten sind sehr viel komplexer.

Ich habe einen großen Teil meines Lebensdarauf verwendet, polarisierende, Gegensätzeaufbauende Denkweisen zu entmystifizieren.Auf die Politik übertragen bedeutet dies, für daseinzutreten, was pluralistisch und säkular ist.Wie manche Amerikaner und viele Europäerwürde ich viel lieber in einer multilateralen Weltleben - einer Welt, die nicht von einem einzigenLand dominiert wird (auch nicht von meinemeigenen). In einem Jahrhundert, das von Anfangan ein weiteres Jahrhundert der Extreme, derSchrecken zu werden verspricht, könnte ichmich nun für eine ganze Reihe von Haltungenaussprechen, die einer Verbesserung unsererVerhältnisse dienlich sein können - und ganzbesonders für das, was Virgina Woolf die »me-lancholische Tugend der Toleranz« nennt.

Lassen Sie mich stattdessen vor allem alsSchriftstellerin zu Ihnen sprechen, als Verfechte-rin des Projekts Literatur - denn nur aus ihmergibt sich, was mir an Autorität zu Gebote steht.

Die Schriftstellerin in mir misstraut der gu-ten Staatsbürgerin, der »intellektuellen Bot-schafterin«, der Menschenrechtsaktivistin - alsoden in der Verleihungsurkunde genannten Rol-len, so sehr ich mich ihnen verpflichtet fühle.Die Schriftstellerin in mir ist skeptischer, mehrvon Selbstzweifeln erfüllt als jene Person, dieversucht, das Richtige zu tun (und zu unterstüt-zen).

Eine Aufgabe der Literatur besteht darin,herrschende Gewissheiten in Frage zu stellenund Gegenthesen zu entwerfen. Und selbst wenndie Kunst also solche nicht oppositionell ist,tendieren die verschiedenen Künste doch zurWidersetzlichkeit. Literatur ist Dialog, Bereit-schaft, auf etwas oder jemanden einzugehen.Man könnte die Literatur auch als das Archiv derBereitschaft von Menschen bezeichnen, auf daseinzugehen, was im Entwicklungsprozess derKulturen und in ihren Wechselbeziehungen le-bendig und was todgeweiht ist.

Schriftsteller können etwas gegen die Kli-schees vom Getrennt- und Verschiedensein tun -denn Schriftsteller sind nicht nur Mythenver-mittler, sondern auch Mythenbildner. Die Lite-ratur bietet nicht nur Mythen, sondern auch Ge-genmythen, so wie das Leben Gegenerfahrungenbietet - Erfahrungen, die uns in dem, was wir zuglauben, zu fühlen, zu denken glaubten, verstö-ren.

Ein Schriftsteller, so scheint mir, ist jemand,der der Welt seine Aufmerksamkeit widmet.Jemand, der zu verstehen versucht, zu welcherBosheit Menschen fähig sind, und der daraufeinzugehen versucht, ohne sich durch solchesVerstehen korrumpieren zu lassen, ohne darüberzynisch oder oberflächlich zu werden.

Literatur kann uns sagen, wie die Welt be-schaffen ist.

Literatur kann uns Maßstäbe geben, kannuns ein tiefes Wissen vermitteln, das in derSprache und im Erzählen Gestalt annimmt.

Literatur kann unsere Fähigkeit stärken, umMenschen zu weinen, die nicht wir selbst sindund nicht zu uns gehören.

Wer wären wir, wenn wir kein Mitgefühl fürjene aufbringen könnten, die nicht wir selbstsind und die nicht zu uns gehören? Wer wärenwir, wenn wir uns selbst nicht - wenigstens zeit-weise - vergessen könnten? Wer wären wir,wenn wir nicht lernen könnten? Wenn wir nichtverzeihen könnten? Wenn wir nicht etwas ande-res werden könnten, als wir sind?

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Gestatten Sie mir, Ihnen bei der Entgegen-nahme dieses großartigen Preises, dieses großar-tigen deutschen Preises, etwas über meinen ei-genen Lebensweg zu erzählen.

Ich bin zwei Wochen, ehe Hitler zur Machtgelangte, auf die Welt gekommen - als eineAmerikanerin der dritten Generation von pol-nisch-litauisch jüdischer Herkunft. Ich bin in deramerikanischen Provinz (in Arizona und Kali-fornien) aufgewachsen, weit weg von Deutsch-land, und doch war Deutschland in meinerKindheit ständig gegenwärtig - durch das Unge-heuerliche, das von Deutschland ausging, unddurch die deutschen Bücher und die deutscheMusik, die ich liebte und die meine Maßstäbevon Erhabenheit und Intensität prägten.

Aber noch vor Bach und Beethoven, vorSchubert und Brahms gab es ein paar deutscheBücher. Ich denke an einen Lehrer in der Grund-schule einer kleinen Stadt im Süden Arizonas -Mr. Starkie, der uns Schülern mit seinen Ge-schichten, wie er in der Armee des GeneralsPershing in Mexiko gegen Pancho Villa ge-kämpft hatte, ehrfürchtigen Respekt einflößte.Diesem ergrauten Veteranen eines früheren im-perialistischen Unternehmens der VereinigtenStaaten hatte es der Idealismus der deutschenLiteratur offenbar angetan - in Übersetzungen -,und als ihm mein ausgeprägter Lesehunger auf-fiel, borgte er mir seinen »Werther« und seineAusgabe von »Immensee«.

Wenig später geriet ich während meinerkindlichen Leseorgie an andere deutsche Bücher,unter ihnen Kafkas »In der Strafkolonie«, wo ichdas Grauen und die Ungerechtigkeit kennenlernte. Und ein paar Jahre später, als ich in LosAngeles die High School besuchte, fand ich dasganze Europa in einem deutschen Roman wie-der. Kein anderes Buch war in meinem Leben sowichtig wie »Der Zauberberg« - der ja vonnichts anderem als dem Zusammenstoß unter-schiedlicher Ideale im Innersten der europäi-schen Zivilisation handelt. Und so ging es wei-ter, ein langes, von deutscher Kultur gleichsamdurchtränktes Leben lang. Auf die Bücher unddie Musik, die in Anbetracht der kulturellenWüste, in der ich lebte, fast eine klandestineErfahrung waren, folgte die reale Erfahrung. Ichbin nämlich auch eine späte Nutznießerin derdeutschen kulturellen Diaspora, denn ich hattedas Glück, einige der Flüchtlinge kennen zulernen, die Hitler ins Exil getrieben hatte - einigejener Schriftsteller, Künstler, Musiker und Ge-

lehrten, die Amerika seit den 30er Jahren auf-nahm und die dieses Land und vor allem seineUniversitäten so sehr bereichert haben. LassenSie mich zwei nennen, die ich, als ich auf die 20zuging und in den Jahren danach als Freunde be-trachten durfte - Hans Gerth und Herbert Mar-cuse; dann auch diejenigen, mit denen ich an derUniversity of Chicago und in Harvard studierte,Christian Mackauer, Paul Tillich und Peter Hein-rich von Blanckenhagen und in privaten Semina-ren Aron Gurwitsch und Nahum Glatzer; undHannah Arendt, die ich kennenlernte, als ichMitte zwanzig war und nach New York zog -lauter Muster an Ernsthaftigkeit, an die ich hiererinnern möchte.

Doch nie werde ich vergessen, dass meineAuseinandersetzung mit deutscher Kultur unddeutscher Ernsthaftigkeit bei dem obskuren,exzentrischen Mr. Starkie begann (ich glaube,seinen Vornamen habe ich nie gehört), der michunterrichtete, als ich zehn war, und den ich spä-ter nie wiedersah.

Das bringt mich auf eine Geschichte, mitder ich schließen möchte - und ich finde, dastrifft sich gut, denn in erster Linie bin ich wedereine Kulturbotschafterin noch eine eifernde Kri-tikerin der Regierung meines Landes (dieserAufgabe widme ich mich nur als gute amerikani-sche Staatsbürgerin). Ich bin eine Geschich-tenerzählerin.

Also zurück zu der Zehnjährigen, die sichvon den Mühen des Kindseins ein wenig erholte,wenn sie über Mr. Starkies zerlesenen Ausgabenvon Goethe und Storm hockte. Zu der Zeit, vonder ich hier spreche, 1943, wusste ich, dass es imNorden von Arizona ein Lager mit Tausendendeutscher Kriegsgefangener gab, natürlich lauterNazi-Soldaten, so stellte ich mir vor, und weilich auch wusste, dass ich jüdisch war (nur nomi-nell, meine Familie war seit zwei Generationenvollkommen weltlich orientiert und assimiliert -aber »nominell« war für Nazis, wie ich wusste,schon genug), hatte ich einen Albtraum, derimmer wiederkam: Nazi-Soldaten waren ausihrem Gefängnis ausgebrochen und hatten sichbis in den Süden des Bundesstaates zu demBungalow am Rand der kleinen Stadt, wo ichmit meiner Mutter und meiner Schwesterwohnte, durchgeschlagen und wollten mich nunumbringen.

Es folgt ein Sprung in die 70er Jahre, alsmeine Bücher im Hanser Verlag zu erscheinenbegannen und ich den vortrefflichen Fritz Ar-

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nold kennen lernte, der dem Verlag seit 1965angehörte und der bis zu seinem Tod im Februar1999 mein Lektor bei Hanser blieb.

Bei einem unserer ersten Treffen erklärtemir Fritz, er wolle mir erzählen, was er währenddes Krieges getan hatte. Wahrscheinlich glaubteer, dies sei eine Voraussetzung dafür, dass zwi-schen uns Freundschaft entstehen könnte. Ichversicherte ihm, dass er mir keinerlei Erklärun-gen schuldig sei, und dennoch berührte es mich,dass er dieses Thema ansprach. Fritz Arnold(1916 geboren) war übrigens nicht der einzigeDeutsche seiner Generation, der, kurz nachdemman Bekanntschaft geschlossen hatte, unbedingterzählen wollte, was er während der Nazi-Zeitgetan hatte. Und nicht alle Geschichten waren soharmlos wie die, die ich von Fritz zu hören be-kam.

Fritz erzählte mir also, er habe Literatur undKunstgeschichte studiert, zuerst in München,später in Köln, und sei dann gleich zu Beginndes Krieges als Obergefreiter zur Wehrmachteingezogen worden. Auch seine Eltern warennatürlich alles andere als nazifreundlich - KarlArnold, sein Vater, war der legendäre politischeKarikaturist des »Simplicissimus« -, aber dieEmigration kam anscheinend nicht in Frage. MitGrausen trat er seinen Militärdienst an undhoffte, niemanden zu töten und nicht getötet zuwerden.

Fritz gehörte zu denen, die Glück hatten.Das Glück, anfangs in Rom stationiert zu wer-den (wo er dankend ablehnte, als ein Vorgesetz-ter ihn zum Unteroffizier befördern wollte) undspäter in Tunis; das Glück, hinter der FrontDienst zu tun und nie auch nur einen einzigenSchuss abfeuern zu müssen; und schließlich dasGlück, wenn man es so nennen darf, dass ihn1943 die Amerikaner gefangen nahmen undzusammen mit anderen deutschen Gefangenenauf einem Schiff über den Atlantik nach Norfolkin Virginia schafften, von wo er mit einem Zugquer durch den Kontinent befördert wurde, umden Rest des Krieges in einem Gefangenenlagerzu verbringen - bei einer kleinen Stadt im Nor-den Arizonas.

Nun hatte ich das Vergnügen, ihm etwas zuerzählen - seufzend vor lauter Verwunderung,denn mir begann dieser Mann schon sehr sym-pathisch zu werden -, und es war der Beginneiner großartigen Freundschaft und einer inten-siven Arbeitsbeziehung ... ihm also zu erzählen,

dass, während er als Kriegsgefangener in Nord-arizona saß, ich im Süden des Staates gelebt undmich vor den Nazi-Soldaten gefürchtet hatte, dienun dort - hier - waren und vor denen es keinEntrinnen gab.

Dann erzählte mir Fritz, wie er die fast dreiJahre seiner Gefangenschaft in Arizona über-standen hatte. Er hatte Zugang zu Büchern be-kommen und die ganze Zeit englische und ame-rikanische Klassiker gelesen und wiedergelesen.Und ich erzählte ihm, wie mich in Arizona alsSchulkind, das endlich erwachsen werden und ineine größere Wirklichkeit hinaustreten wollte,die Bücher gerettet hatten -Übersetzungen und inEnglisch verfasste Bücher.

Zugang zur Literatur, zur Weltliteratur be-deutete: dem Gefängnis der nationalen Eitelkeit,der Spießbürgerlichkeit, dem zwanghaften Pro-vinzialismus, dem stupiden Schulunterricht, derUnvollkommenheit des Schicksals, dem Un-glück entkommen. Literatur war der Pass, derZutritt in ein reicheres Leben, in die Sphäre derFreiheit gewährte.

Literatur war Freiheit. Und vor allem in ei-ner Zeit, in der die Werte des Lesens und desInnenlebens so massiv in Frage gestellt werdenwie heute, gilt: Literatur ist Freiheit.

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