2011_05_SZ_all

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Russische Kliniken werden mo- dernisiert und neu ausgestattet. MITTWOCH, 4. MAI 2011 Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Rossijskaja Gaseta, Moskau, verantwortlich Entrüstet Schluss mit dem ewigen Masochismus, fordert Politologe Fjodor Lukjanow von Russen und Polen. S. 10 Er sah ein Licht, und es ward grün. Roman Sablin lehrt die Moskauer, Müll zu trennen, und geht mit gutem Beispiel voran. S. 12 Entsorgt POINTIERT Eine Heilung für zwei Nationen „Wozu man gedenkt? Wenn ich mich von einer schlimmen Krankheit erholt habe, werde ich mich daran immer mit Freude erinnern. Ich würde aber nicht gedenken, wenn ich immer noch krank wäre“, hat Leo Tolstoj ge- sagt und wird so von Alexander Solschenizyn im „Archipel Gulag“ zitiert. 1941 zog auch er in den Krieg, dessen Traumata er später literarisch verarbeite- te. Wenn Russland am 9. Mai den „Tag des Sieges“ feiert, begeg- nen seine Menschen diesem Fest mit großer Ehrfurcht. Ihren Stolz nutzt die Politik für sich, indem sie Panzer über den Roten Platz rollen lässt, die westliche Jour- nalisten für eine Machtdemons- tration des Kreml halten. Was in den Medien jedoch wenig Raum einnimmt, ist die Trauer der Rus- sen, die sich an diesem Tag ihrer Väter, Mütter, Geschwister und Kinder erinnern. Man gedenkt der Opfer, freut sich des Lebens und hofft, dass beide Nationen, die 66 Jahre später Partner sind, ein für alle Mal geheilt sind. Alexej Knelz CHEFREDAKTEUR Tag der russischen Einheit Hat die Machtvertikale ausgedient? Medwedjew oder Putin? Die Gesellschaft ist der Ikonen müde. Russische und westliche Medien berichten nach den Umstürzen in Tunis und Kairo über den Geist der Revolution, der angeblich auch um die Mauern des Kreml strei- fe. Nahrung bekommen die Um- sturzszenarien von Expertenbe- richten einiger Institute, die bis- her als kremlnah galten. Sie pro- phezeien zwar keine Revolution, SEITE 2 WIRTSCHAFT SEITE 3 REISEN SEITE 9 FEUILLETON SEITE 11 Korruption Der Mittelstand nimmt den Kampf auf Woronesch Diesel und Lebensfreude Straßenkunst Böse und provokant – die Art-Gruppe Wojna INHALT Kostenlose Medizin wird wieder kostenlos Die Erwartungen an die anlau- fende Gesundheitsreform sind groß. 20 Milliarden Euro werden bis 2013 in die Modernisierung der Krankenhäuser investiert, die Gehälter der Angestellten steigen um bis zu 35 Prozent. Ein wich- tiger Schritt ist schon getan: Seit 2011 gilt eine landesweite Kran- kenversicherung, so dass Russen ihre Wunschklinik frei wählen können. Die Gründe für die Re- form liegen auf der Hand: Die in Sowjetzeiten eingeführte kosten- lose medizinische Versorgung aller Bürger ist nicht mehr gewährleis- tet: Laut russischer Verfassung hat zwar jeder das Recht, in einer der Polikliniken behandelt zu werden. Aber viele Russen ken- nen die Realität: Wer wirklich ge- sund werden will, schiebt dem Doktor besser einen Schein über den Tisch. Die Ärzte verweisen auf ihre miserablen Gehälter. SEITE 8 aber eine Verkrustung des politi- schen Systems, wenn die unter Putin errichtete „Machtvertika- le“ nicht aufgebrochen werde. Ein Jahr vor den Präsidentschafts- wahlen sucht das Land nach Al- ternativen: Gibt es einen dritten Mann im Kreml? Nelken für die Veteranen, Mili- tärparaden in den Städten, Volks- feste im ganzen Land und zu später Stunde atemberaubende Feuerwerke. Kein Feiertag eint die Russen zwanzig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion so sehr wie der „Tag des Sieges“, den die Bürger des Landes alljährlich am 9. Mai begehen. 66 Jahre nach dem Ende des „Gro- ßen Vaterländischen Krieges“, in dem insgesamt über 27 Millionen Sowjetbürger ihr Leben ließen, haben sich die Gedenkriten geändert. Im letzten Jahr mar- schierten neben Russen erstmals polnische, amerikanische, briti- sche und französische Soldaten über den Roten Platz. Zwischen Wladimir Putin und Dmitri Med- wedjew stand Bundeskanzlerin Angela Merkel. Wie groß das Vertrauen gegenüber dem Feind von damals ist, zeigen die engen wirtschaftlichen Bezie- hungen der beiden Länder. Städ- tepartnerschaften (S. 5), gegen- seitige Besuche und kultureller Austausch bringen die Versöh- nung zwischen Deutschen und Russen voran. Verbundenheit der Generationen: Die Enkelin eines Veteranen umarmt ihren Großvater und zupft an seinem „Held der Sowjetunion“-Orden, der einst höchsten Auszeichnung des Landes. ECOLOFT SEITEN 6 UND 7 ANATOLI SERGEJEV_KOMMERSANT AFP/EASTNEWS AFP/EASTNEWS PHOTOXPRESS REUTERS/VOSTOCK-PHOTO

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MITTWOCH, 4. MAI 2011 Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Rossijskaja Gaseta, Moskau, verantwortlich Schluss mit dem ewigen Masochismus, fordert Politologe Fjodor Lukjanow von Russen und Polen. Er sah ein Licht, und es ward grün. Roman Sablin lehrt die Moskauer, Müll zu trennen, und geht mit gutem Beispiel voran. WIRTSCHAFT SEITE 3 FEUILLETON SEITE 11 REISEN SEITE 9 Alexej Knelz CHEFREDAKTEUR SEITE 8

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Russische Kliniken werden mo-

dernisiert und neu ausgestattet.

MITTWOCH, 4. MAI 2011 Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Rossijskaja Gaseta, Moskau, verantwortlich

Entrüstet

Schluss mit dem ewigen Masochismus, fordert Politologe Fjodor Lukjanow von Russen und Polen.

S. 10

Er sah ein Licht, und es ward grün. Roman Sablin lehrt die Moskauer, Müll zu trennen, und geht mit gutem Beispiel voran.S. 12

Entsorgt

POINTIERT

Eine Heilung für

zwei Nationen

„Wozu man gedenkt? Wenn ichmich von einer schlimmenKrankheit erholt habe, werde ichmich daran immer mit Freudeerinnern. Ich würde aber nichtgedenken, wenn ich immer nochkrank wäre“, hat Leo Tolstoj ge-sagt und wird so von AlexanderSolschenizyn im „ArchipelGulag“ zitiert. 1941 zog auch erin den Krieg, dessen Traumataer später literarisch verarbeite-te. Wenn Russland am 9. Mai den„Tag des Sieges“ feiert, begeg-nen seine Menschen diesem Festmit großer Ehrfurcht. Ihren Stolznutzt die Politik für sich, indemsie Panzer über den Roten Platzrollen lässt, die westliche Jour-nalisten für eine Machtdemons-tration des Kreml halten. Was inden Medien jedoch wenig Raumeinnimmt, ist die Trauer der Rus-sen, die sich an diesem Tag ihrerVäter, Mütter, Geschwister undKinder erinnern. Man gedenktder Opfer, freut sich des Lebensund hofft, dass beide Nationen,die 66 Jahre später Partner sind,ein für alle Mal geheilt sind.

Alexej

KnelzCHEFREDAKTEUR

Tag der russischen Einheit

Hat die Machtvertikale ausgedient?

Medwedjew oder Putin? Die Gesellschaft ist der Ikonen müde.

Russische und westliche Medien berichten nach den Umstürzen in Tunis und Kairo über den Geist der Revolution, der angeblich auch um die Mauern des Kreml strei-fe. Nahrung bekommen die Um-sturzszenarien von Expertenbe-richten einiger Institute, die bis-her als kremlnah galten. Sie pro-phezeien zwar keine Revolution, SEITE 2

WIRTSCHAFT SEITE 3

REISEN SEITE 9

FEUILLETON SEITE 11

Korruption Der

Mittelstand nimmt

den Kampf auf

Woronesch Diesel

und Lebensfreude

Straßenkunst Böse

und provokant – die

Art-Gruppe Wojna

INHALTKostenlose Medizin wird wieder kostenlosDie Erwartungen an die anlau-fende Gesundheitsreform sind groß. 20 Milliarden Euro werden bis 2013 in die Modernisierung der Krankenhäuser investiert, die Gehälter der Angestellten steigen um bis zu 35 Prozent. Ein wich-tiger Schritt ist schon getan: Seit 2011 gilt eine landesweite Kran-kenversicherung, so dass Russen ihre Wunschklinik frei wählen können. Die Gründe für die Re-form liegen auf der Hand: Die in Sowjetzeiten eingeführte kosten-lose medizinische Versorgung aller Bürger ist nicht mehr gewährleis-tet: Laut russischer Verfassung hat zwar jeder das Recht, in einer der Polikliniken behandelt zu werden. Aber viele Russen ken-nen die Realität: Wer wirklich ge-sund werden will, schiebt dem Doktor besser einen Schein über den Tisch. Die Ärzte verweisen auf ihre miserablen Gehälter.

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aber eine Verkrustung des politi-schen Systems, wenn die unter Putin errichtete „Machtvertika-le“ nicht aufgebrochen werde. Ein Jahr vor den Präsidentschafts-wahlen sucht das Land nach Al-ternativen: Gibt es einen dritten Mann im Kreml?

Nelken für die Veteranen, Mili-tärparaden in den Städten, Volks-feste im ganzen Land und zu später Stunde atemberaubende Feuerwerke.Kein Feiertag eint die Russen zwanzig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion so sehr wie der „Tag des Sieges“, den die Bürger des Landes alljährlich am 9. Mai begehen. 66 Jahre nach dem Ende des „Gro-ßen Vaterländischen Krieges“, in dem insgesamt über 27 Millionen Sowjetbürger ihr Leben ließen, haben sich die Gedenkriten geändert. Im letzten Jahr mar-schierten neben Russen erstmals polnische, amerikanische, briti-sche und französische Soldaten über den Roten Platz. Zwischen Wladimir Putin und Dmitri Med-wedjew stand Bundeskanzlerin Angela Merkel.Wie groß das Vertrauen gegenüber dem Feind von damals ist, zeigen die engen wirtschaftlichen Bezie-hungen der beiden Länder. Städ-tepartnerschaften (S. 5), gegen-seitige Besuche und kultureller Austausch bringen die Versöh-nung zwischen Deutschen und Russen voran.

Verbundenheit der Generationen: Die Enkelin eines Veteranen umarmt ihren Großvater und zupft an

seinem „Held der Sowjetunion“-Orden, der einst höchsten Auszeichnung des Landes.

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EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAUPolitik

Kremlkritische Studien stellen das Tandem infrage

Wahlen 2011/12 Gibt es Alternativen zu Dmitri Medwedjew und Wladimir Putin?

ALEXANDER TSCHUDODEJEWITOGI-MAGAZIN

Im Dezember wählt Russland

ein neues Parlament, im März

2012 den Präsidenten. Experten

aus kremlnahen Think Tanks

kritisieren jetzt die Macht-

vertikale Putin-Medwedjew.

Im Jahr vor der Wahl sind in Russ-land apokalyptische Gerüchte in Mode. Expertenberichte, die in den letzten Wochen stapelweise veröffentlicht wurden, zeichnen das düstere Bild einer politischen Krise, an der die Russische Föde-ration jeden Augenblick zu zer-brechen drohe. Im Februar preschte das 2008 von Medwedjew gegründete Institut für Moderne Entwicklung (INSOR) mit einer barschen Schelte des bestehenden Systems vor, bald folgte ein weiterer Bericht. Die schärfste Kritik kam jedoch vom Zentrum für Strategische Studi-en (ZSR). Das Delikate daran: ZSR gilt als Think Tank des Kreml, dort entstand das Programm für Wladimir Putins erste Amtszeit als Präsident. Die Kernaussage der regierungs-kritischen Studie: Wenn die Machtvertikale aus Präsident und Premier nicht bald abgeschafft wird und sich das Tandem Med-wedjew/Putin nicht selbst vonei-nander löst, könnte das System kollabieren. Das könnte ägypti-sche Verhältnisse bedeuten.

Verkrustete Machtstrukturen Als Auftakt der Studie bekommt der Leser ein Kaleidoskop unzu-friedener Stimmen aus dem Volk geboten, die sich zu Medwedjews und Putins Wahlchancen äußern. „Medwedjew kann man doch abhaken ... Wer soll für den stim-men?“ (03/2011, Moskau, weiblich, 43, ohne Hochschulbildung) Aber auch Wladimir Putin wird nicht geschont. Dem Premier wird zwar zugestanden, dass er einen guten Teil seiner Wählerschaft halten kann, die altert allerdings rapide und ist pessimistisch gestimmt: „Mit Putins Machtan-tritt hat sich die Lage stabilisiert, alles zum Besseren gewendet. Bei Gorbatschow und Jelzin gab es Streiks, die Bevölkerung war in Aufruhr. Nun ist es anders. Die oben bereichern sich, die unten schweigen, ein stabiler Zustand. Doch das macht einem am meis-ten Angst. Weil die Situation je-derzeit kippen kann.“ (März 2011, Jekaterinburg, männlich, 43, Aka-demiker) Kurzum, der Bericht läuft darauf hinaus, dass die Na-tion das Machtduo leid ist. Ändert sich nichts an den beste-henden Verhältnissen, so der Bericht, werden die etablierten Spitzenpolitiker bei den anstehen-den Wahlen zwar zweifellos noch einmal siegen. Jedoch würden sie ihre Legitimation in den Augen der handlungsaktivsten Bürger verlieren. Das berge die Gefahr sozialer Unruhen und einer De-montage des bestehenden politischen Systems. Wie die Au-toren hervorheben, wächst unter

den Wählern das Bedürfnis nach einer dritten, übergreifenden politischen Figur als einer echten Alternative.Die ZSR-Experten ziehen offenbar nun Schlüsse aus einer eigenen, fal-schen Prognose vor zehn Jahren: In ihrem Programm für Putins erste Präsidentschaft hatten sie die Ver-doppelung des Bruttoinlandspro-duktes bis 2010 festgeschrieben. Dieses Ziel wurde nicht erreicht, und schuld daran sei nicht nur die Weltwirtschaftskrise, sondern auch Mängel an der Grundkonstrukti-on der „Machtvertikale“. Das schon unter Putin eingeführte System der Machtvertikale konzentrierte Macht und Ressourcen im Kreml und soll-te es der Zentralverwaltung wie-der ermöglichen, ihren Willen von oben nach unten konsequent durchzusetzen.

Stillgelegter KarriereliftZur Behebung der „Konstrukti-onsfehler“ wird in dem Bericht vorgeschlagen, die alleinige Regierung der Kreml-Partei Einiges Russland zu beenden und

nach den Wahlen eine Koalitions-regierung zu bilden. Die Prognosen der Think Tanks bergen einigen Zündstoff, aber wie realitätsnah sind sie? In Russland steht das Vertrauen gegenüber der Regierung in einem proportiona-len Verhältnis zur Geldmenge, die diese für Renten, Sozialhilfe und andere „Loyalitätsboni“ ausgibt.

Die nahe Zukunft sieht da rosig aus: Schätzungen zufolge spült allein der Export von Erdöl 2011 350 Milliarden Dollar in die Staatskasse. Die Machtvertikale ist also vorerst gesichert. Gelöst ist damit aber nicht das Problem ihrer festgefahrenen Konstruktion: Die Machtverhält-nisse an Russlands Spitze lassen sich nicht ändern, ohne das

Gesamtkonstrukt zu zerstören. Die Befürworter des bestehenden Systems fürchten deshalb nichts so sehr wie politischen Nach-wuchs. Eine präsidiale Kommis-sion „castete“ zwar 2500 Nach-wuchskräfte für Spitzenpositio-nen. Aus der „Kaderreserve des Präsidenten“ kamen jedoch seit 2009 nur 75 Jungpolitiker in hö-here politische Ämter.Die Chancen auf eine politische Karriere stehen damit selbst innerhalb der „Kaderreserve“ schlecht. Für den Nachwuchs au-ßerhalb der politischen Arena sind sie gleich null.Ähnlich ist die Situation der Wirt-schaftselite. Zwar hat der Kreml die Oligarchen an sich gebunden. Unabhängige Kleinunternehmen und mittelständische Betriebe – unerlässlich für eine stabile Gesellschaft – sind aber nach wie vor kaum vorhanden. Die Wirt-schaft bildet ein abgeschlossenes System, das Außenstehende so gut wie nicht integriert.Die ZSR-Experten beklagen außerdem einen Mangel an

Parteien, die der Kreml-ParteiEiniges Russland Paroli bietenkönnten. Sie fordern ein Mehr-parteiensystem, doch das ist leich-ter gesagt als getan: Dafür müss-ten sich die trägen russischenWähler, die aufgrund der eigenenPassivität für die Regierungspar-tei stimmen, mehr engagieren. Aber selbst dann hätten sie kaumeine Alternative: In einer Umfra-ge des unabhängigen Lewada-Zentrums konnte die Mehrheit derBefragten außer Putin, Medwed-jew und den beiden politischenDinosauriern Wladimir Schiri-nowski (Liberale) und GennadiSjuganow (Kommunisten) keineweiteren Politiker nennen. Überdrei Viertel der Befragten hattenoch nie von der international an-erkannten MenschenrechtlerinLjudmila Alexejewa gehört. Vonder oppositionellen Solidarnost-Bewegung wussten immerhin 32Prozent. Unter solchen Bedingun-gen hätte der oppositionelle Poli-tiker Boris Nemzow bei der Wahlnoch die meisten Chancen.

Der unbekannte DritteEinen realen Ausweg böte lautZSR-Experten nur eine einzigeInitiative, nämlich der Vorschlag,das Machttandem in ein Trium-virat zu verwandeln, und damitdie Wählerbasis zu erweitern. AlsKandidat wird häufi g Vizepremi-er Igor Schuwalow genannt. Ihmtraut man die Führung der Par-tei Prawoje delo („Rechte Sache“)zu, 2012 könnte er neuer Regie-rungschef werden. Die staatlicheUnterstützung, medial wie fi nan-ziell, könnte seine liberale Parteierheblich stärken. Das Grundproblem bliebe aberbestehen: Der „potenzielle Drit-te“ käme wieder aus dem beste-henden System. Und würde derneuen Regierung keine wirklichneuen Impulse geben.

Präsident Dmitri Medwedjew, Pre-

mierminister Wladimir Putin: Seit

2008 bestimmt das sogenannte

„Tandem“ die russische Innen- und

Außenpolitik. Die Konfiguration

könnte sich wieder drehen, wenn

2012 der nächste Präsident Russ-

lands gewählt wird. Beide Politiker

haben vage angedeutet, dass sie

kandidieren würden. „Russland

braucht weitere zehn Jahre Stabi-

lität“, sagte Putin bei seinem jähr-

lichen Bericht vor der Staatsduma

im April. Einige Stimmen, die die

Stabilität anders bewerten, warnen

jedoch vor politischer und wirt-

schaftlicher Stagnation.

Dieser Beitrag erschien zuerstim russischen Wochenmagazin

Itogi

Die Zahl der Russen, die für Dmitri Medwedjew votierten, ist innerhalb von neun Monaten von 14 Prozent auf 18 Prozent gestiegen und umgekehrt für Wladimir Putin von 30 Prozent auf 27 Prozent gesunken. Für eine Kandi-datur beider sprachen sich 16 Prozent aus. Es handelt sich vor allem um Ju-gendliche und Personen mit mittlerer Bildung und hohem Lebensstandard. Einen neuen Kandidaten wünschen sich ältere Bürger mit niederem Le-bensstandard sowie Großstädter.

Präsidentschafts-

wahlen 2012

„WEN WÜRDEN SIE GERNE ALS KANDIDA-

TEN BEI DEN PRÄSIDENTSCHAFTSWAHLEN

2012 SEHEN?“, LAUTETE IM MÄRZ EINE

FRAGE DES LEVADA-ZENTRUMS.

UMFRAGE

„Könnte Igor Schuwalow der nächste Präsidentschaftskandidat sein?“, fragen sich die Kreml-Astrologen.

Der Vizepremier leitet den Regierungsausschuss für wirtschaftliche Entwicklung und Integration.

Das Vertrauen in die Regierung verhält sich proportional zur Geldmenge, die sie für „Loyalitätsboni“ ausgibt.

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EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU Wirtschaft

TAI ADELAJARUSSIA PROFILE

Seilschaften zwischen der

Politik und der Wirtschaft

schaden langfristig. Der Kreml

zieht die Reissleine. Präsident

Dmitri Medwedjew stellt ein

Zehn-Punkte-Programm auf.

Im letzten Monat stellte Präsident Dmitri Medwedjew in der Haupt-stadt der russischen Stahlindus-trie Magnitogorsk das vor, was einige die „Zehn Investment-Gebote“ nennen. Sie sollen Inves-toren endlich ein Gefühl der Sicherheit vermitteln. Medwed-jew betonte, dass genau deren Skepsis das größte Hindernis für die Modernisierung des Landes sei. „Wir brauchen Technologie, wir brauchen Geld ... Und wir brauchen die Zuversicht und das Interesse in- und ausländischer Anleger“, betonte er.„Die Korruption hat die ganze Wirtschaft im Würgegriff“, fuhr er fort. „Bevor wir das Land nicht

Vizepremier Igor Setschin verließ als Erster Beamte einen Vorstand.

Medwedjews Zehn Gebote zur Gesundung der Wirtschaft

Geschäftsklima Die Korruption ist für die Modernisierung des Landes das Problem Nummer eins

WLADIMIR RUWINSKIRUSSLAND HEUTE

Mittelständische Unternehmer

haben es satt, von korrupten

Beamten ausgeplündert zu

werden. Jetzt wehren sie sich

gemeinsam: Eine Mittelständerin

klärt russische Manager auf.

Galina und Jewgenij Konowalow sind ein Unternehmerpaar aus Krasnodar. Promawtomatika-In-vest heißt eine ihrer Firmen. 2008 stellte das Paar fest, dass sie durch einen gefälschten Kaufvertrag auf eine andere Person überschrieben wurde: „Der Geschäftsführer wurde in den Papieren einfach aus-getauscht“, berichtet Galina und legt die entsprechenden Unterla-gen als Beweisstücke vor.

Eine gefälschte UnterschriftPrompt klagte das empörte Unternehmerpaar, sie kämpften um ihr Geschäft. Im August 2010 wurde dann Jewgenij verhaftet. Man warf ihm vor, 13 Millionen Rubel – rund 300 000 Euro – aus seiner zweiten Firma RUST-Invest, einer Fischfarm, illegal ausgeführt zu haben. Dabei hatte es sich um ein Darlehen an seine erste Firma gehandelt. „In der U-Haft hieß es, man ließe ihn erst frei, wenn er auf Promawtomatika-Invest ver-zichtete“, berichtet Konowalowa. Nach diesem Muster haben viele russische Unternehmen ihren Be-sitzer gewechselt. Erst im April 2011 sind in Russland Änderungen zum Strafgesetzbuch in Kraft getreten. Jetzt ist es unmöglich, Verdächtige wegen Wirtschaftsdelikten in Untersuchungshaft zu nehmen. Jewgeni kam einen Monat nach sei-ner Verhaftung frei – dank Pres-serummel und persönlicher Unter-stützung eines Duma-Abgeordne-

Mittelständlerin kämpft gegen KorruptionSchattenwirtschaft Mit neuen Gesetzen und privaten Initiativen auf einem guten Weg

ten. Seine Anwälte hatten den Prozess als aussichtslos beurteilt. Dennoch setzte das Ehepaar den Kampf vor Gericht fort. Galina gründete die Organisation „Gleich-heit für alle – vor Gesetz wie vor Gericht“, die Unternehmern in ähn-lichen Situationen beistehen soll.

Elf Millionen Euro SchadenAnfang 2011 verzeichneten die Ko-nowalows zwei signifikante Erfolge: Im Februar räumte das Krasnodarer Bezirksgericht Verfahrensfehler ein und rollte den Fall erneut auf. Im März urteilte das Berufungsschiedsgericht in Wladimir für die Konowalows. Sie bekommen ihre Firma wieder – die Geschäftsflächen und Gebäude wurden inzwischen allerdings ver-

kauft. Die Eheleute schätzen den Verlust auf fast elf Millionen Euro. Während ihres Kampfes vor Ge-richt wurden sie von Jana Jakow-lewa unterstützt, die mit Korrup-tion und Unternehmensplünderun-gen in Russland nicht nur vom Hörensagen vertraut ist. 2006 ver-brachte die 39-jährige Finanzdi-rektorin des Chemieunternehmens Sofeks sieben Monate im Gefäng-nis wegen einer Gesetzeslücke, die korrupte Beamten ausnützten. Ja-kowlewa gründete die „Solidarität im Geschäft“ – eine Organisation, die durch Korruption geschädigte Unternehmer unterstützen soll.„Der Fall Konowalow ist ein typisches Beispiel für „corporate raid“, sagt Jakowlewa – die ille-

gale Schattenübernahme einer Fir-ma. „Beamte sind dabei die schlimmsten Raider, denn sie kral-len sich die Firmen und verste-cken sich dabei hinter dem Straf-gesetzbuch.“

Gefahr für den MittelstandIhre Organisation tat sich vor we-nigen Wochen mit dem Gewerk-schaftsverband Delowaja Rossija zusammen. Herausgekommen ist ein Antikorruptionskomitee. Jana Jakowlewa und der Verbandsvor-sitzende Boris Titow kämpfen nun gemeinsam gegen bestechliche und erpresserische Beamte. „Unser Ko-mitee ist die praktische Umsetzung des Kampfes auf Staatsseite gegen die Korruption“, sagt Titow mit Blick auf die Antikorruptionskam-

pagne von Präsident Dmitri Med-wedjew. „Der korrupte Beamten-stand hält unsere gesamte Wirt-schaft im Würgegriff“, ließ dieseram 31. März verlauten.Nach Titows Schätzungen werdenjährlich etwa 70 000 UnternehmenRaider-Attacken ausgesetzt: „Biszu zehn Prozent des Umsatzes wer-den für Schmiergelder an Beamteauf allen Ebenen aufgewendet.Eigentlich haben wir hier ein staat-liches System der Schutzgelder-pressung.“ Er schätzt, dass jederzweite russische Häftling wegeneines Wirtschaftsdelikts hinterGittern sitzt. Bei den momentan814 200 Inhaftierten wären dasetwa 400 000 Menschen. „Viele die-ser Strafverfahren basieren auf ge-fälschten Fakten, und kennzeich-nend dafür ist, dass es in diesenVerfahren keinen wirklichen Scha-den und keine Geschädigten gibt“,führt Jakowlewa aus.Präsident Medwedjew erklärte,dass durch den Druck auf die Un-ternehmer „das Geld aus der rus-sischen Wirtschaft abwandert“und die Menschen den Glauben andas Unternehmertum verlören. Ti-tows Angaben zufolge würden 17Prozent der Unternehmer das Landverlassen, 50 Prozent schließen eineAuswanderung nicht aus. Würdediese Statistik wahr werden, wäredies das Aus für Russlands Mit-telstand – und für die Modernisie-rung des Landes.Deshalb setzte der Präsident in derStaatsduma Gesetze durch, die Fir-menbesitzern das Leben erleichternsollen. „Unter Dmitri Medwedjewwurden viele sinnvolle Gesetzeerlassen, allerdings gibt es Proble-me bei der Umsetzung“, erklärtJana Jakowlewa, „aber der gericht-liche Erfolg der Konowalows ist einkleiner Fortschritt.“

etwas verborgen wird“, sagte er.Außerdem bekräftigte er erneut die Absicht der Regierung, Staats-anteile an Schlüsselunternehmen zu privatisieren, und verpfl ichte-te sich, im Laufe der kommenden drei Jahre einen Zeitplan dafür aufzustellen. Im Herbst wird von der staatli-chen Außenhandelsbank Vneshe-konombank ein russischer Fonds für Direktinvestitionen aufgelegt, um den Handlungsspielraum für

Anleger zu erhöhen. Anfangska-pital: 1,34 Milliarden Euro, undes sollen noch deutlich mehr wer-den. An der Verwaltung des Fondswerde sich der Staat nur kurz-fristig beteiligen und nach zweiJahren aussteigen. Zur Entlastungdes Mittelstandes sind geringereArbeitgeberanteile für die Ren-ten- und Krankenversicherunggeplant.

Dieser Beitrag erschien beiRussia Profile

attraktiver für die Geschäftswelt gemacht haben, werden wir auch unser Hauptanliegen nicht in den Griff bekommen: für einen höhe-ren Lebensstandard zu sorgen.“

Minister auf VorstandspostenWas sind nun die zehn Punkte? Der Präsident kündigte unter anderem an, zum 1. Juli alle Regierungsmitglieder aus den Vorständen staatseigener Unter-nehmen zu entlassen. Sein Vor-gänger Wladimir Putin hatte als Maßnahme gegen die Allmacht der Oligarchen hohe Beamte als „Augen und Ohren“ der Regie-rung in die Gremien großer Staats-konzerne berufen. Präsident Med-wedjew selbst war vor seiner Wahl Aufsichtsratsvorsitzender von Gazprom und hatte zugleich das Amt des Stellvertretenden Minis-terpräsidenten inne. Der kluge Schachzug Putins verkehrte sich indes in sein Gegenteil: „Diesel-ben Regierungsmitglieder, die für staatliche Aufl agen und Bestim-

mungen in bestimmten Branchen verantwortlich sind, sitzen im Vor-stand konkurrierender Unterneh-men. Das kann nicht sein“, erläu-terte Medwedjew. Eine weitere praktische Maßnah-me war seine Anweisung an das Ministerium für Wirtschaftsent-wicklung, rigide Vorschriften und unnötige Regelungen zu überden-ken und aufzuheben, die der Wirt-schaft Steine in den Weg legen könnten. Unbürokratisch soll es zugehen, wenn einer investieren möchte. Dafür sorgen zukünftig Investitionssonderbeauftragte in allen acht Regierungsbezirken Russlands. Sie sollen die Regio-nalregierungen überwachen und dafür sorgen, dass Unternehmer Lizenzen in spätestens drei Mo-naten bekommen.Daneben forderte der Präsident mehr Transparenz in Staatsun-ternehmen gegenüber Minder-heitsaktionären. „Wenn ihnen Informationen vorenthalten wer-den, kann dies nur bedeuten, dass

Tauwetter für die Wirtschaft: Wenn Jana Jakowlewa nicht gerade Manager aufklärt, malt sie.

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EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU

Chinesische Minenarbeiter bei der Eröffnung eines russisch-chinesischen Bergwerks bei Chabarowsk

Satellitenbau: Reshetnev Satellite Systems bei Krasnojarsk

RACHEL MORARJEERUSSLAND HEUTE

China hat einen enormen

Bedarf an Rohstoffen. Im

Fernen Osten der Russischen

Föderation gibt es sie reichlich.

Die ersten bilateralen Verträge

sind unterschrieben.

Russlands Ferner Osten besitzt Tausende Quadratkilometer unerschlossenen Waldes und verschneiter Tundra, hat aber nur 6,7 Millionen Einwohner, das ist genau ein Mensch pro Qua-dratkilometer. Auf der anderen Seite des russisch-chinesischen Grenzfl usses Amur, in der Pro-vinz Heilongjiang, leben 84 Men-schen pro Quadratkilometer.Doch bald schon könnte auch Sibirien stärker bevölkert sein, denn es ist reich an Bodenschät-zen. Es gibt mächtige Eisenerz-flöze, Seltene Erden, Gold und Kohle, alles Rohstoffe, die China für den Ausbau seiner rasch wach-senden Wirtschaft benötigt. „Wir wissen, dass Russland mit einem anderen Land kooperieren muss, um sich im Osten zu öff-nen, und der natürliche Partner ist China, das über weit mehr fi nanzielle Ressourcen verfügt als Japan oder Südkorea“, sagt Boris Krasnojenow von der Investment-bank Renaissance Capital.

Die andere Seite des AmurDie asiatischen Investoren haben vier chinesische Sonderwirt-schaftszonen im russischen Fern-ost eingerichtet: den Amur, die Regionen Primorje und Cha-barowsk sowie das Jüdische Autonome Gebiet – und drei Mil-liarden Dollar investiert. Aus Moskau fließt in diesem Jahr lediglich eine Milliarde Dollar. Doch das soll sich in Zukunft ändern. In den nächsten fünf Jah-ren will die Regierung ihr Bud-get auf 100 Milliarden Dollar auf-stocken. China wird beim Bau von Straßen, Eisenbahnlinien und Häfen wichtigster Handelspart-ner sein.Das K&S Eisenerz-Projekt im Jüdischen Autonomen Gebiet von Birobidschan ist exemplarisch für die gut funktionierende russisch-chinesische Zusammenarbeit: Auf beiden Seiten der Grenze verläuft ein Eisenerzfl öz mit Titan- und Vanadiumgehalt. Chinas Erzminen sind dort mittlerweile erschöpft, doch seine Hüttenwer-ke sollen weiterlaufen. Nun treibt die in Hongkong notierte Gesell-schaft IRC, eine Tochter des Berg-bauunternehmens Petropavlovsk, den Bau von neuen Erzminen auf der russischen Seite voran. Die Kimkan-Mine, erste Phase des K&S-Projekts, fördert heute

China schiebt im Fernen Osten anRohstoffe Sibirien blüht auf, weil sein großer Nachbar in die Region investiert

1,2 Millionen Tonnen Eisenerz für den russischen Markt. Von IRC geplant sind jährlich zehn Milli-onen Tonnen, sobald Birobidschan mit dem chinesischen Amur-Ufer verbunden ist.Die neue Brücke, an deren Reali-sierung sich die IRC beteiligen möchte, würde die Transportkos-ten von zwölf Dollar pro Tonne um die Hälfte senken. Pläne lie-gen bereits auf dem Tisch, mit dem Bau soll in den nächsten Mona-ten begonnen werden.

Die Wirtschaftskrise von 2008führte dazu, dass China die ver-schiedenen Möglichkeiten seinerRohstoffversorgung von Eisen biszu verkokbarer Kohle, die es bis-her aus Australien und Brasilienimportiert hatte, neu auslotete.Und Russland war die nächstlie-gende Wahl. Die Krise hatte auchdie Russische Föderation im sel-ben Jahr erreicht und machte um-gekehrt russischen Unternehmenklar, dass sie auf ausländischeInvestitionen angewiesen sind.

WLADISLAW KUSMITSCHEWRUSSLAND HEUTE

Sibirien – das bedeutet

unendliche Weite der Tundra,

aber auch ein riesiges wirt-

schaftliches Potenzial.

Tendenzen und Entwicklungen

am Beispiel Krasnojarsk.

Das Potenzial für einen Ausbau der Handelsbeziehungen mit den asiatischen Ländern ist jedoch bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Vom gesamten Export aus der Föderalen Region Sibirien, so schätzt Jermolaj Solschenizyn, Geschäftsführer von McKinsey Moskau, gehen lediglich 16,7 Pro-zent nach China und sechs Pro-zent nach Japan.

Von Moskau nach Krasnojarsk, an der Grenze zwischen West- und Ostsibirien, fl iegt man viereinhalb Stunden – ungefähr doppelt so lange wie von Moskau nach Ber-lin. In der Architektur der Stadt spiegeln sich verschiedene Epo-chen: Ziegelgebäude aus sowjeti-scher Zeit wechseln mit großen Wohnblocks und Einkaufszent-ren neueren Datums. In den Stra-ßen des Stadtzentrums stehen noch einige Holzhäuser reicher Kaufl eute aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Die meisten der Villen könnten einen frischen An-strich gut vertragen; der letzte muss im Sozialismus abgeblättert sein.

Neue Wirtschaftspower hinter dem Ural

Das ändert nichts daran, dass die Region Krasnojarsk für Investo-ren zu den attraktivsten Russlands gehört. Hier werden 90 Prozent des russischen Erdgases gewon-nen, 70 Prozent des Erdöls und der Kohle. Hier gibt es reiche Vor-kommen an Buntmetallen und Seltenen Erden. Zudem grenzt Sibirien an China – einen der An-triebsmotoren der Weltwirtschaft.

Führend ist die Region Krasno-jarsk auch in der Holzgewinnung.Exportiert wurde fast ausschließ-lich Schnittholz zur Weiterverar-beitung im Ausland. Halbfabri-kate höherer Verarbeitungsstufenwurden dagegen bislang nurvereinzelt produziert.Zum Ende des Winters haben dasdeutsche Unternehmen Homagund der russische Möbelher-steller Mekran angekündigt, dieseNische zu nutzen. Während desjüngsten Krasnojarsker Wirt-schaftsforums vereinbarten siedie Lieferung deutscher Ferti-gungsanlagen für ein neuesMekran-Werk, das eines der größ-ten und modernsten Unternehmenin Europa werden wird. Ungeachtet des großen industri-ellen Potenzials ist das Hauptpro-blem Sibiriens der Mangel anArbeitskräften. Auf 700 000 neueArbeitsplätze wird der Bedarf anzusätzlichem Personal in unter-schiedlichen Wirtschaftszweigengeschätzt.

Doch zwischen Russland und China herrscht seit dem Grenz-krieg von 1969 ein unterschwel-liges Misstrauen. Viele chinesisch finanzierten Projekte in der Grenzregion kommen deshalb nur schleppend in Gang. Eine Brücke von der Stadt Blagoweschtschensk über den Amur nach Heihe ist seit 2008 angedacht. Damals einigten sich die Länder über einen genau-en Grenzverlauf. Trotzdem ist das Vorhaben noch weit von seiner Realisierung entfernt.

„Das überrascht kaum, wenn man bedenkt, was damals in Blago-weschtschensk los war. Russischen Veteranen sind in der Stadt Denk-mäler gesetzt, die 1969 im chine-sischen Artilleriefeuer ums Leben kamen“, sagt Charles Kernot, ver-antwortlich für Bergbau und Me-talle bei den Londoner Evolution Securities. Seiner Meinung nach werde durch intensivere wirt-schaftliche Zusammenarbeit eine solide menschliche Vertrauensba-sis geschaffen.

ZAHLEN

8,2Milliarden Tonnen Öl liegen Schätzungen zufolge noch unter

der Erde der Region Krasnojarsk.Hinzu kommen 23,6 Trillionen Kubikmeter Gas.

1Mensch pro Quadratkilo-meter lebt in Russlands Fernem Osten, der vor

allem aus unerschlossenen Wäldern und verschneiter Tundra besteht.

84 Menschen pro Quadratkilometer leben am anderen

Ufer des Amurs, des Grenzflusses zwischen China und Russland.

REISEN

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10. BIS 13. MAI, EXPO-CENTER MOSKAU

Digital, audiovisuell und mobil sind die Schlagworte der Messe, bei der Medien, Provider und Netzbetreiber über neue Informationstrends in Russland informieren werden.

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KALENDER

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90 JAHRE RUSSISCH-DEUTSCHE

WIRTSCHAFTSBEZIEHUNGEN

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MITTELSTANDSKONFERENZ

31. MAI, MOSKAU

Die Konferenz informiert über die aktuelle Mittelstandspolitik in Russ-land und bietet eine Plattform für den Austausch zwischen deutschen und russischen Unternehmen.

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Wirtschaft

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EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU

ROLAND OLIPHANTTHE MOSCOW TIMES

Besonders in der aufstrebenden

Mittelschicht zeichnet sich

ein starker Trend zu

ausländischen Spirituosen ab.

Schottischer Malt Whisky

steht hoch im Kurs.

Fachhändler für Spirituosen meinen einen langsamen, aber merklichen Wandel in den Trink-gewohnheiten der Russen beob-achten zu können: Der Trend geht weg vom traditionellen Wodka, serviert mit Hering, hin zum elegant genippten schottischen Whisky mit seinen rauchigen Aromen. „Der Import von Gin und Tequi-la ist sinkend, von Cognac gleich-bleibend, nur die Importzahlen von Whisky steigen stetig an. Whisky war die einzige Spiritu-ose, die auch während der Krise gut verkauft wurde, inzwischen macht er etwa zwei Drittel des Gesamtimports von Spirituosen aus“, erklärt Jerkin Tusmucham-edow, führender Sommelier und Russlands größter Whiskyfan.„Wer im Spirituosengeschäft tätig ist, weiß bereits seit geraumer Zeit, dass sich Whisky in Russland

schon immer gut verkaufen ließ“, meint Ludovic Ducrocq, ein altgedienter internationaler Botschafter für Grant’s Whisky, der Russland alle paar Jahre einen Besuch abstattet. „Ich stelle fest, dass Länder mit einer ausgepräg-ten Destillationsgeschichte gewöhnlich empfänglicher für schottischen Whisky sind, und auf Russland trifft dies in besonde-rem Maße zu“, teilt er der Redak-tion von The Moscow Times per E-Mail mit.

Russland ist weltweit der größte Markt für SpirituosenAllerdings ist es noch ein langer Weg, bis die Vorherrschaft von Wodka tatsächlich infrage gestellt werden könnte.Die Russische Föderation verfügt über den größten Spirituosen-markt der Welt – nach Angaben der Scotch Whisky Association in Edinburgh wurden im Jahr 2009 275 Millionen Kästen mit je neun Litern Spirituosen konsumiert. Nur 11,6 Millionen dieser Kästen oder 4,2 Prozent enthielten aus-ländische hochprozentige Geträn-ke, 229 Millionen Kästen hinge-gen Wodka aus heimischer Produktion.

Bei den Exporten aus Schottland belege Russland laut Scotch Whis-ky Association nach dem Ver-kaufswert nur Rang 32 – die Direktimporte für Whisky belie-fen sich auf eine Summe von 19 Millionen Pfund (21 Millionen Euro). Der Gesamtanteil in der Russischen Föderation von Schot-tischem Whisky mache 0,5 Pro-zent aus.„In den vergangenen zehn Jahren ist der Umsatz von importierten Spirituosen um das 40-Fache ge-stiegen“, erklärt Wadim Dobris vom Russischen Zentrum für re-gionale und föderale Studien zum Alkoholmarkt. Dies stehe in engem Zusammenhang mit dem relati-ven Anstieg der Einkommen in dieser Zeitspanne und der Herausbildung einer breiteren Mittelschicht.Dennoch können sich den hoch-wertigen schottischen Whisky nur wenige leisten. „Soll eine Spiri-tuose ein echtes Volksgetränk sein, darf der Verkaufspreis keinesfalls über 200 Rubel (etwa fünf Euro) pro 0,7-Liter-Flasche liegen“, meint Dobris, „in russischen Ge-schäften werden Sie aber keinen noch so einfachen Whisky unter 350 Rubel fi nden.“

Wirf die Whiskygläser an die Wand

Alkohol Das russische Nationalgetränk Wodka hat Konkurrenz aus dem Ausland bekommen

Der russische Verbraucher entdeckt den Whisky.

Städtepartnerschaft zwischen Sotschi und Baden-Baden:

W. Subkow, die Bürgermeister von Sotschi und Baden-

Baden A. Pachomow und W. Gerstner und C. Wulff

Rückzug, der traditionelle Scot-tish Malt Whisky steht hoch imKurs. Den Single Malt Whisky auseiner einzigen Brennerei, dessenGetreidebasis ausschließlich ausgemälzter Gerste besteht, könnensich die wenigsten leisten. Beliebtsind deshalb die Verschnitte meh-rerer Whiskysorten.

Kommunale KooperationAustausch Deutsch-russische Städtepartnerkonferenz

ILJA LOKTJUSCHINRUSSLAND HEUTE

Schüleraustausch, City-

marketing, innovative

Verwaltung – deutsche

und russische Städte

wollen in den nächsten

Jahren enger kooperieren.

Zwischen Franzosen und Deutschen sind sie seit dem Zweiten Weltkrieg zu einem Stützpfeiler guter Beziehun-gen geworden: die Städte-partnerschaften. Auch Gütersloh und Rschew, Landshut und Nowosibirsk und 90 weitere russische und deutsche Städte sind heute „Partner“. Die erste west-deutsch-russische Partner-schaft wurde in äußerst „kalten“ Jahren begründet: Leningrad (heute Sankt Pe-tersburg) und Hamburg kooperieren seit 1957.Im April versammelten sich Vertreter aus 70 deutschen und 50 russischen Städten auf Einladung des Deutsch-Russischen Forums zur 11. Städtepartnerkonferenz. Bei einem Empfang im Schloss Bellevue bezeichnete Bun-despräsident Christian Wulff die deutsch-russi-schen Städtepartnerschaf-ten als ein „Geschenk der Versöhnung“. Gleichzeitig rief er dazu auf, den Städ-ten und Gemeinden in beiden Ländern mehr Hand-

lungsspielraum zu geben. In Berlin wurden außerdem zwei neue Partnerschaften begründet: Düren und My-tischtschi sowie das Amt Zarrentin und Murino. Baden-Baden und Sotschi unterzeichneten eine Ab-sichtserklärung. Auf der anschließenden Konferenz im mittelfränki-schen Rothenburg diskutier-ten Entscheidungsträger aus Gemeinden und Kommunen und Vertreter von NGOs, Vereinen und Verbänden über „kommunale Impulse

für die Modernisierung von Gesellschaft, Kommunal-verwaltung und Wirtschaft“. In den nächsten Jahren soll insbesondere der Austausch von russischen und deut-schen Schülern ausgebaut werden.Ein wichtiger Impuls des Dialogs liege in der Zusam-menarbeit von Verwaltung und NGOs, betonte Micha-el Rutz, Moderator der Plen-ardiskussion: „Wo diese Zu-sammenarbeit gut gelingt, sind die Städtepartnerschaf-ten am erfolgreichsten.“

„Mir ist es nie darum gegangen, die Leute unbedingt dazu anzu-halten, Grant’s Blended Scotch Whisky zu trinken und ihr Nati-onalgetränk Wodka nicht mehr anzurühren. Jede der beiden Spirituosen hat ihre Zeit und ihre besondere Gelegenheit“, erklärt Ludovic Ducrocq von Grant’s.Der russische Markt ähnelt heute in vielerlei Hinsicht denen in anderen Teilen der Welt. Der ame-rikanische Whisky ist auf dem

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Die ungekürzte Version dieses Artikelserschien zuerst in

The Moscow Times

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EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAUDas Thema

[email protected]

Der 9. Mai: Michail Zwilling am

Poklonnaja-Berg in Moskau.

ALEXEJ KNELZRUSSLAND HEUTE

Der große Krieg trennte die

Freunde Michail und Roland

voneinander. Der eine landete

im Arbeitslager, der andere

wurde der bekannteste

Dolmetscher des Landes.

DEN RISS IN DER GESCHICHTE KITTEN

ZUM TAG DES SIEGES ROLLEN PANZER UND RAKETEN ÜBER

DEN ROTEN PLATZ. HINTER DEN FEIERLICHKEITEN STECKT

ABER WEITAUS MEHR ALS BLOSSE MACHTDEMONSTRATION

FEIERTAG 9. MAI

„‚Und als ich die deutsche Spra-che vernahm, da ward mir selt-sam zumute; Ich meinte nicht anders, als ob das Herz recht angenehm verblute.‘ Kennen sie das?“, zitiert Michail Zwilling zur Begrüßung. Der 85-Jährige wirkt trotz seines Alters fast jugendlich. Sein Gesicht zeigt kaum Falten, die braune Hose und das beige Hemd sind akribisch gebügelt. Seine Wohnung in einem Plattenbau im Südwesten Moskaus gleicht einer Bibliothek. Hunderte deutscher und russischer Werke stehen hier beisammen: Dostojewski und Kleist, Goethe und Puschkin.Zwilling nimmt gemächlich Platz in seinem Sessel. Sein klar arti-kuliertes Deutsch klingt wie aus einer anderen Epoche: „Das ist Heine. Deutschland. Ein Winter-

Matthias

UhlHISTORIKER

Am 9. Mai 1945 endete für die Sowjetunion der Kampf gegen den deutschen

Faschismus. Der Sieg war mit dem Tod von mehr als 27 Millionen Sowjetbürgern und ungeheuren Zerstörungen des Landes erkauft worden. Alljährlich feiert das Land den 9. Mai deshalb mit gro-ßem Propagandaaufwand als „Tag des Sieges“. Seit mehr als 65 Jahren dient der „Große Vaterländische Krieg“, wie er hier genannt wird, als konstituieren-de gemeinsame Erfolgsgeschichte von Staatsführung und Volk.

KOMMENTAR

Russland siegt nicht mehr allein

metscht. Noch heute übersetzt er simultan und bringt es seinen Stu-denten bei. Deutsch ist seine Lei-denschaft, ja fast schon seine Muttersprache.Zwillings Vater war Vertreter der sowjetischen Außenhandelsbank, der 1925 in Odessa geborene Michail verbrachte seine Kindheit im nichtkommunistischen Aus-land, wo Vertreter des Sowjetstaa-tes verhasst waren – besonders unter den exilierten Anhängern des Zaren. Um sich zu schützen, sprach die Familie auf der Stra-ße Deutsch. Zurück in Moskau kommt Michail im Februar 1935 auf die deutschsprachige Karl-Liebknecht-Schule. Seine Klas-senkameraden sind Russlanddeut-sche und Kinder einfl ussreicher Emigranten aus dem erstarken-den Nazideutschland.Hier lernt Michail seinen später besten Freund Roland kennen, einen Russlanddeutschen. Zusam-men lesen, werken, fantasieren sie. „Wir haben alles geteilt, hatten sogar unseren eigenen Staat – Mursalien.“ Über die Macht- und Rollenverteilung konnten sich die Zehnjährigen indes nicht einigen.

märchen“, sagt er ein wenig stolz – fast, als sei der Romantiker sein persönlicher Freund gewesen.In Russland ist der Lehrstuhl-inhaber für Übersetzungstheorie an der Moskauer Linguistik-Uni-versität eine Legende. Dutzende Standardwerke zur deutschen Sprache hat er verfasst, auf Staats-empfängen von Nikita Chruscht-schow bis Wladimir Putin gedol-

Also wurde es ein Tandem – „wie bei Medwedjew und Putin heute“, lacht Zwilling.Der 85-Jährige lehnt sich in sei-nem Sessel zurück, nimmt seine dickglasige Brille ab und putzt sie bedächtig. Er schöpft Kraft für den Rest seiner Geschichte. Als

Die Russen „pilgern“ zu den zahl-reichen Kriegsdenkmälern. Ver-waltungsgebäude, Wohnhäuser und Geschäfte sind mit Fahnen und Plakaten geschmückt, die Hel-den und Waffen des Krieges dar-stellen. Im Fernsehen laufen Interviews mit Veteranen, Doku-mentationen und Spielfi lme.Fast jede Familie verlor im Krieg irgendeinen Angehörigen. Am 9. Mai steht dennoch nicht das Ge-denken an die Toten im Mittel-punkt. Zwar legt man Blumen und Kränze nieder, stellt Ehrenwachen an Ewigen Flammen auf, den meisten Raum nehmen aber die im ganzen Land stattfi ndenden Militärparaden ein. Sie sollen de-monstrieren, dass die Rote Armee

die Hauptlast des Krieges trug. Bei der Bevölkerung sind die Paraden beliebt, die Sympathie für die Soldaten ist auch ohne Pro-paganda ehrlich gemeint.Der 9. Mai ist der einzige wirk-lich gesamtrussische Feiertag: Über alle Nationalitäten- und Klassengrenzen hinweg gibt es an diesem Tag keine Meinungsver-schiedenheiten. Nur die Erinne-rung an den Sieg und die Opfer zählt. Selbst wer den Tag nutzt, um erstmals nach dem Winter auf seine Datsche zu fahren, erhebt am Abend das Glas ohne anzu-stoßen – so gedenkt man der Verstorbenen.Auf die Paraden folgen Volksfes-te und Konzerte, die sich zuneh-

mender Popularität erfreuen. Denn je mehr die Veteranen als Erlebnisgeneration verschwinden, desto weniger können sie das staatlich gelenkte Gedenken legitimieren. Marschierten die Kriegsteilnehmer im Jahr 2000 noch über den Roten Platz, fuh-ren sie 2005 bereits in Lastwagen an den Tribünen vorbei. 2010 saßen sie als Zuschauer auf den Rängen, ihre Rolle übernahmen Soldaten in historischen Unifor-men. Ob es auf diese Weise gelin-gen wird, die Kriegserinnerung an die Urenkel-Generation zu übertragen, ist fraglich.Denn die Jugend kann mit der tra-ditionellen Symbolik immer weniger anfangen. Deshalb tanzt sie am Abend des 9. Mai zur Rock-musik, die wenigen noch leben-den Veteranen bleiben im Gorki-Park unter sich. Zugleich lässt das

seit mehr als 65 Jahren bestehen-de Bild des Sieges langsam diffe-renzierende Wahrnehmungen zu. Als 2010 erstmals Soldaten aus den USA, England, Frankreich und Polen an der Parade teilnah-men, zeigte das der russischen Öf-fentlichkeit, dass der Sieg, anders als jahrzehntelang propagiert, nur gemeinsam erreicht werden konn-te. Dass zugleich Präsident Med-wedjew und Premier Putin die deutsche Kanzlerin in ihre Mitte nahmen, symbolisierte vor allem eines: Selbst am Tag des Sieges wird Deutschland nicht mehr als Feind und Aggressor wahrgenom-men, sondern als zuverlässiger Partner und Freund.

Dr. Matthias Uhl ist wissen-schaftlicher Mitarbeiter des Deutschen Historischen Instituts in Moskau.

am 22. Juni 1941 die Sowjetuni-on angegriffen wird, ist er gera-de 16. Bei Wjasma, wohin er und andere Schüler für den Bau von Befestigungsanlagen beordert sind, erlebt er seinen ersten Bombenangriff.Nach der Schule lässt er sich am militärischen Fremdsprachenin-stitut zum Militärdolmetscher aus-bilden. Roland hat er aus den Augen verloren. Weil der und andere Hunderttausende Russ-landdeutsche im August 1941 von Stalin deportiert werden. 440 000 kommen in Arbeitslager –

„Tausende Menschen standen in den Straßen, dabei war es still, nur die Stiefel schlugen auf den Pflastersteinen auf.“

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EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU Das Thema

MODERNISIERUNGWie die gesamte Infrastruktur saniert wird,

was hinter der Bildungsreform steckt

und was in der Wissenschaft passiert.

Thema der nächsten AusgabeNoch frischer als aus dem Druck – das Russland HEUTE E-Paper

russland-heute.de/e-paper

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Deutsche und Russen puzzeln an der Versöhnung

MORITZ GATHMANNRUSSLAND HEUTE

Die Mariä-Entschlafenskirche in

Nowgorod schmückten einst 195

Fresken. Im Krieg zerstört,

werden sie nun in mühevoller

Kleinstarbeit von russischen und

deutschen Experten restauriert.

Das hier könnte passen. Oben, unten, rechts. Nein. Natascha legt das Teil zurück auf das weiße Papier in der Holzkiste. Dutzende solcher Kisten stehen auf ihrem Tisch, Tausende Puzzleteile, manche so groß wie Geldmünzen, andere nur wenige Millimeter klein. Welches passt? In der mit Neonröhren beleuchteten Werkstatt im Zentrum von Nowgo-rod herrscht absolute Stille. Kein Radio plärrt im Hintergrund, nie-mand tönt am Handy, auch die zehn anderen Frauen arbeiten mit höchs-ter Konzentration. Nataschas Augen suchen weiter, zwischen Daumen und Zeigefi nger hält sie das kleine Stückchen Stuck, mit einem blauen Pinselstrich bemalt vor 650 Jahren, vor 60 Jah-ren herausgerissen aus einem Bild-nis Melchisedeks, König von Jerusalem, als deutsche Granaten auf Nowgorod und die umliegen-den Dörfer hagelten und die ältes-te russische Stadt in eine Geröll-wüste verwandelten. Aus den 195 Fresken der Mariä-Entschlafens-

kirche wurden 1,75 Millionen Ein-zelteile, zehn passende findet Natascha pro Tag, „wenn es gut läuft“. Dann erhebt sie sich und geht zum Nachbartisch. Mit einem kurz-borstigen Pinsel reinigt sie die Schnittstellen, trägt mit einem an-deren Spezialklebstoff auf und drückt die Teile zusammen. Auf dem großen Tisch am Ende des Raumes liegt König Melchisedek und war-tet auf seine Wiederherstellung.Und darauf, dass er in die Mariä-Entschlafenskirche auf dem Wolotower Feld zurückkehren kann, etwa 15 Kilometer außerhalb der Stadt Nowgorod gelegen, am Ufer des Flusses Maly Wolchowez. Tamara Anissimowa, 61 Jahre alt, öffnet die Kirchentür, drin ist es überraschend hell, obwohl das Son-nenlicht nur durch kleine Schlitze in den Raum dringt. Die Kirche ist das Lebenswerk der Nowgoroder Restauratorin Anissimowa.Schon 859 gegründet, entwickelte sich Nowgorod ab dem 12. Jahr-hundert zu einer der reichsten Städ-te Russlands: Die Kaufl eute han-delten mit der Hanse, über das Meer kamen Gewürze, Tuch und sogar Pferde, auf dem Weg zurück nach Westeuropa luden die Schiffe Pelze, Natascha legt das Puzzle ihres Lebens – für die Versöhnung.

Während des Zweiten Weltkriegs wurde die Sowjetunion mit militärischen Gütern aus England und den USA ver-sorgt: Die beiden Seemächte schickten Konvois durch die Arktis, viele wurden von deutschen U-Booten attackiert und versenkt. 2010 versammelten sich zur Siegesparade am 9. Mai erstmals auch britische und amerikanische Marines am Roten Platz, die damals zur „schlimms-ten Reise der Welt“, wie Winston Chur-chill die Konvoi-Route nannte, angetre-ten waren.

IM BLICKPUNKT

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Honig und Holz. Aufgrund des wirt-schaftlichen Aufschwungs erblüh-ten auch Malerei und Architektur: Kaufl eute holten Baumeister und Maler aus Byzanz und vom Berg Athos und ließen Kirchen und Pa-läste errichten. Nowgorod, Weltkul-turerbe seit 1992, ist Geburtsort der altrussischen Malerei – und die Ma-riä-Entschlafenskirche aus dem Jahr 1352 ist eines ihrer prächtigs-ten Beispiele.Seit Ende des 19. Jahrhunderts pil-gerten Forscher auf der Suche nach den Wurzeln der russischen Kultur nach Nowgorod und dokumentier-ten jede einzelne der 195 Fresken. In den 30er-Jahren wurden diese sogar restauriert – im Frühjahr 1941 waren die Arbeiten beendet. Was folgt, ist bittere Geschichte.

Bis auf die Grundmauern von Granaten zerstörtIm Juni überfällt Deutschland die Sowjetunion, schon im August erreicht die Wehrmacht Nowgorod und macht im Kampf gegen die Rote Armee die Stadt dem Erdboden gleich. Die Mariä-Entschlafens-kirche, in der sich die Sowjets verschanzt haben, fällt im Grana-tenhagel bis auf die Grundmauern in sich zusammen.Notdürftig mit einem Schutzdach bedeckt, wurde sie erst 1993 aus ihrem Dornröschenschlaf erweckt. „Wir wussten immer, was für ein Schatz Wolotowo ist“, sagt Anissi-mowa. Die engagierte Restaurato-rin beginnt zusammen mit Kolle-gen auf eigene Faust, Dutzende Kubikmeter Schutt abzutragen und zu fi ltern: hierhin die Granatsplit-ter, dorthin die Einzelteile der Fres-ken. Zwar verfügten sie über Foto-grafi en und Zeichnungen der Wand-gemälde, aber ihnen war klar, dass bei ihrer Arbeit große Lücken blei-ben würden: Viele Teile waren nach der Zerstörung einfach zu Staub zerfallen. Die Kunstexperten hätten die Über-reste wohl, wie sonst üblich, auf Titanplatten montiert und ins Mu-

seum geschafft – wären nicht ihre deutschen Kollegen dazugekommen. 2001 erklärte sich der Verein zur internationalen Verständigung be-reit, die Restaurierung in Angriff zu nehmen. Der Verein, der sich vor allem durch Spenden der Win-tershall GmbH finanziert, teilt sich seit 2009 die Kosten für die Restaurierung mit der russischen Gazprom Export. Er brachte deut-sche Experten in das Projekt, die Unmögliches in Aussicht stellten: die Fresken wieder an den Kirch-wänden anzubringen. „Es war schwer, die russischen Fachleute davon zu überzeugen“, sagt Anissi-mowa. „In Russland wurde das zum ersten Mal gewagt.“

Das Unmögliche wagen2004 wurde die Kirche wieder auf-gebaut, 2007 kamen die deutschen Spezialisten nach Nowgorod, um eine erste Freske an ihren alten Platz im Innern zurückzubringen. Gemein-sam mit den Russen passten sie die bestehende Technologie auf die Be-dingungen in Nowgorod an. Das Ex-periment gelang, die Technologie er-laubt es sogar, die Fresken in Bögen und im Kuppelgewölbe anzubrin-gen. In der internationalen Fachwelt sorgte das Meisterstück von Wolo-towo für einiges Aufsehen.Die Zerstörung der Fresken wird trotz der minutiösen Puzzlearbeit von Natascha und den anderen immer zu sehen sein. Doch es käme Anissimowa gar nicht in den Sinn, die fehlenden Stellen einfach „nach-zumalen“. Denn die Kirche in Wo-lotowo soll, ähnlich wie der „hohle Zahn“, die Kaiser-Wilhelm-Gedächt-niskirche in Berlin, ein Mahnmal werden. Für den Krieg, für Zerstö-rungen, die zu übermalen bedeuten würde, sie zu verschweigen.Fährt Tamara Anissimowa heute mit ihrer Hand die Konturen einer Fres-ke an der Kirchenwand entlang, weiß sie, dass sich das Wagnis gelohnt hat. „Wandmalerei“, sagt sie, „kann nur dort wirken, wo sie ursprünglich gemalt wurde“.

Am Abend des 9. Mai

wird das Fest traditionell

mit Ehrensalven und Feuer-

werken begangen.

Die Kirche in Wolotowo soll, ähnlich der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, ein Mahnmal werden.

„Arbeitsarmeen“, wie sie die kom-munistische Propaganda beschö-nigend nennt. Michail hat Glück. Wegen seiner exzellenten Deutschkenntnisse bleibt er als Dozent am Institut, erst im Februar 1945 kommt er an die Front nach Westpreußen und dolmetscht bei Verhören. Fol-ter hat er dabei nie miterlebt, aber Brandschatzung durch die russi-schen Soldaten. Zwilling hält inne, faltet die Hände. „Sehr viele rus-sische Soldaten hatten alles verloren, wofür sie gelebt haben. Solche Übergriffe wurden dann

von Goebbels propagandistisch bis in die letzte Faser aus-geschlachtet.Auch die Sowjetpropaganda nutz-te jede Chance, die sie kriegen konnte. An eine Episode erinnert Michail Zwilling sich, als sei sie gestern geschehen: Am 17. Juli 1944 lässt der NKWD 57 000 deut-sche Kriegsgefangene auf ihrem Weg ins Lager durch die Straßen Moskaus ziehen. Den Marsch, der eigentlich das nahe Kriegsende symbolisieren und Siegerstim-mung verbreiten sollte, nehmen die Moskauer ganz anders wahr: „Tausende Menschen schauten zu, es war ganz still, nur die Stiefel schlugen auf den Pfl astersteinen auf. Die Menge stand niederge-schlagen da, die Gefangenen zogen bedrückt vorbei. Von Siegerstim-mung keine Spur. Vielmehr dach-ten beide Seiten das Gleiche: So weit hat dieser Krieg uns Men-schen getrieben.“Die zweite große Erinnerung ist das Kriegsende: Am 9. Mai 1945 lagen sich in Moskau wildfremde Menschen in den Armen, wein-ten, küssten sich. Jedes Jahr am 9. Mai zieht der Oberstleutnant nun seine Paradeuniform an und trifft sich mit den wenigen noch lebenden Kameraden am Po-klonnaja-Berg am Stadtrand von Moskau. Den „Tag des Sieges“ feiert Zwilling genauso wie an-dere Russen nicht als Sieg über Deutschland – für ihn ist es ein Tag der Einheit, der Lebensfreu-de und der Hoffnung. Ein Tag, an dem er an die Versöhnung von Russen und Deutschen denken möchte.

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EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU

Über 10�000 Operationssäle wurden komplett neu ausgestattet.

Gesellschaft

GALINA MASTEROWAFÜR RUSSLAND HEUTE

Russische Ärzte und ihre

Patienten fragen sich, ob

Reformen ihnen endlich zu

der medizinischen Infrastruktur

verhelfen, die ihnen laut

Verfassung zusteht.

Als Jewgenia Iwanowna kürzlich ins Krankenhaus kam, spürte ihre Tochter Soja intuitiv, dass sie der Krankenschwester ein inoffiziel-les „Honorar“ in die Hand drü-cken muss, obwohl es sich nicht um eine Privatklinik handelte. Sie gab ihr einen 500-Rubel-Schein, etwa 13 Euro. Soziologen sagen, der Punkt sei nicht die Höhe des „Honorars“, es gehe um die Be-zahlung an sich.Auf dem Papier haben die Russen Anspruch auf eine kostenlose me-dizinische Versorgung, festgelegt in der Verfassung von 1993. In Wirk-lichkeit besitzt Russland jedoch ein zweigeteiltes System aus privater medizinischer Versorgung mit einem weit hinterherhinkenden staatli-chen Gesundheitsapparat. Jahre-lange Sparmaßnahmen brachten das staatliche Gesundheitswesen in eine prekäre Lage mit dem Ergeb-nis: abgewirtschaftete Krankenhäu-ser und frustrierte, elend schlecht bezahlte Mitarbeiter, die nur von dem Geld unter der Hand leben können.Einer der großen Widersprüche in der russischen Gesellschaft besteht darin, dass einige der welt-weit besten Ärzte und bedeutends-ten Wissenschaftler aus einem Land kommen, in dem ein paar hundert Kilometer außerhalb Moskaus von den Patienten erwartet wird, dass sie Verbands-material, Spritzen, Beutel mit ste-riler Kochsalzlösung und anderes für einen Krankenhausaufenthalt notwendiges Material selbst kau-fen und mitbringen.

Ein neues Verständnis in der BevölkerungIn den Zeitungen häufen sich die Berichte über unhygienische Zustände in Krankenhäusern und medizinische Instrumente, die in Kochtöpfen sterilisiert werden.Dmitri Puschkar, 47, ist Russlands führender Urologe und ein Chirurg von Weltruf. Er könnte überall praktizieren, und es gibt vermutlich Tage, an denen er sich wünschte, irgendwo anders zu sein, nur nicht hier. „Sind Sie be-reit, einen täglichen Kampf zu führen, um ein erstklassiger Arzt zu sein? Ich kämpfe für meine Aus-rüstung. Ich kämpfe dafür, dass die feuchten Wände in meinem Operationssaal isoliert werden. Ich muss für alles kämpfen! Die Ge-sellschaft muss eine Botschaft sen-den,“ fügt Puschkar hinzu. „Was bedeutet es, Arzt zu sein? Eine Zivilgesellschaft muss artikulie-ren, was es bedeutet, einen guten Arzt vor sich zu haben.“Die russische Regierung setzt auf großangelegte Reformen und hat über sieben Milliarden Euro für das marode Gesundheitswesen bereit-gestellt, für die Ausstattung und

Modernisierung der Krankenhäu-ser und für eine bessere Bezahlung des medizinischen Personals. Eine bedenklich hohe Mortalitätsrate hat den Prozess beschleunigt. „Russland hat eine Geburtenrate, die typisch für Industrieländer ist, also niedrig. Dagegen ist die Kindersterblichkeit so hoch wie in einem Entwicklungs-land,“ sagt Mascha Lipman, Analystin im Moskauer Carnegie-Zentrum. „Es gibt verschiedene Gründe für die hohe Sterblichkeit, und einer davon ist die geringe Qualität der medizinischen Versorgung.“

Medizinische VorsorgeDie düstersten Voraussagen von Demographen besagen, dass Russ-lands Bevölkerungszahl von 142 Millionen bis 2050 auf 100 Milli-onen sinken könnte. Doch kein Trend ist unumkehrbar: Russen, die mit einem längeren, gesünde-ren Leben rechnen können, tendieren vielleicht auch dazu, mehr Kinder zu haben.Die Regierung hat landesweit eine Reihe von Gesundheitszentren geplant, die auf Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen speziali-siert sind. Die Reformen legen besonderen Wert auf Vorsorgeme-dizin und ein Weiterbildungspro-gramm für Ärzte, ließ die Gesund-heitsministerin Tatjana Golikowa verlauten.Das sowjetische System, das für jedermann kostenlos war, konzen-trierte sich auf fachärztliche und stationäre Behandlung. Vorsorge spielte keine Rolle. Noch immer wird in Russland Krebs sehr häu-fi g erst dann diagnostiziert, wenn die Krankheit sich bereits ausge-breitet hat und im letzten Stadium ist. Der hohen Kindersterblichkeit begegnet man mit neuen Hightech-Kliniken für Perinatalmedizin. Der Einsatz von Neonatalchirurgie werde ausgeweitet und vermutlich alljährlich das Leben Tausender Kinder retten, so Golikowa. Im Moment jedoch hat die russi-sche Bevölkerung nur ein geringes Vertrauen in ihr staatliches

Gesundheitssystem, und nicht wenige entscheiden sich für eine private Absicherung. In der Tat erwartet der Versicherungssektor in den nächsten Jahren zweistel-lige Zuwachsraten. Inzwischen gehen diejenigen, die es sich leisten können, häufi g ins Ausland, um dort eine bessere medizinische Behandlung zu erhalten. Israelische Krankenhäu-ser, die bezeichnenderweise viele Exilrussen beschäftigen, annon-cieren mittlerweile in russischen Zeitungen. Manche Russen sagen, sie sparen Geld für drei Dinge: um ihre Söhne vom Militär fernzuhalten, für den Fall, dass ein Familienmitglied ver-haftet wird, und um einen Arzt zu bezahlen. Diese Summen werden nicht als Bestechungsgeld ange-sehen, eher als inoffizielle Hono-rare für unterbezahlte Dienstleis-ter. Das Problem jedoch bei die-sen „Honoraren“ ist, dass sie ganz und gar ungeregelt sind.

Trend zur medizinischen PrivatversicherungDas musste Soja am eigenen Leibe erfahren, als sie mit ihrer kranken Mutter das Krankenhaus betrat. „Sobald man über die Türschwel-le tritt, muss man an jeden Geld abtreten, man bezahlt die Kran-kenschwestern, die Leute, die den Boden putzen, den Arzt, den Chi-rurgen und das Verbandsmaterial. Über die genaue Höhe der Gelder informiert man sich bei den an-deren Patienten im Umkreis“, sagt Mascha Lipman und betont dabei die formlose Art des Vorgangs. „Natürlich sagt dir keiner ins Ge-sicht, dass du nur eine Blinddarm-operation zweiter Klasse kriegst, wenn du nicht zahlst.“Im Rahmen der Reformen werden die Gehälter der Ärzte um bis zu 35 Prozent erhöht, doch da sie be-reits auf einem extrem niedrigen Niveau sind, sei die Ärzteschaft nicht sonderlich beeindruckt, sagt Kirill Danischewski, unabhängi-ger Gesundheitsexperte. Dmitri Puschkar möchte nicht allein die

Neue Therapien für ein krankes System

Gesundheit Die Bürger blicken gespannt auf die jüngste Reform des russischen Gesundheitswesens

Trotz modernerer Ausstattung bleiben die Ärztegehälter niedrig.

Das besagt eine Untersuchung von Reuters/Ipsos aus dem Jahr 2010. 71 Prozent der Befragten bezweifel-ten, dass sie im Ernstfall ausreichende medizinische Hilfe bekommen wür-den. In der Umfrage belegte Russland den dritten Rang hinter Japan (85 Prozent) und Ungarn (83 Prozent). In Deutschland zweifeln laut Reuters/Ipsos 45 Prozent an der Effektivität des Gesundheitswesens.

Medizinische Versorgung in Russland

NUR 29 PROZENT DER RUSSEN GLAUBEN, DASS SIE IM KRANKHEITSFALL AUSREICHEND

MEDIZINISCH VERSORGT WÄREN UND DIE KOSTEN TRAGEN KÖNNTEN.

UMFRAGE

fi nanzielle Lage für das marode Gesundheitssystem verantwortlich machen. Vielmehr handele sich es um ein moralisches Problem. „Es ist unmöglich, eine Reform in einem Monat oder nur einem Jahr durchzuführen, aber wir können damit anfangen umzudenken und gute von schlechten Ärzten zu un-terscheiden“, so Dmitri Puschkar. „Die guten sollten wir mit aller Kraft unterstützen.“

Finanzspritzen, Wettbewerb und Qualitätskontrolle

Die Reform des russischen Gesundheitswesens begann im Jahr 2006 mit dem „Nationalpro-jekt Gesundheit“. Unter diesem Deckmantel fl ossen in den letz-ten fünf Jahren 780 Milliarden Rubel (fast 20 Milliarden Euro) in den Gesundheitssektor. Lan-desweit wurden 10 000 Kranken-häuser mit moderner Technik aus-gestattet und 13 000 neue Kran-kenwagen gekauft. Bis 2013 sollen weitere 800 Milli-arden Rubel in die medizinische Versorgung investiert werden: Premierminister Putin kündigte an, den Anteil der Staatsausga-ben für das Gesundheitswesen hochzufahren: Heute fl ießen nur 3,9 Prozent des Bruttoinlandspro-dukts in die medizinische Versor-

gung, in naher Zukunft werdenes fünf Prozent sein.Bedeutende Veränderungen brach-te ein in diesem Jahr in Kraftgetretenes Gesetz: Russische Pa-tienten können nun erstmals dasKrankenhaus, in dem sie behan-delt werden wollen, frei wählen.Dadurch erhofft man sich einenverstärkten Wettbewerb unter denmedizinischen Einrichtungen.Auch soll den großen qualitativenUnterschieden zwischen Klinikenin der Stadt und auf dem Landentgegengewirkt und von den Ver-sicherungen Qualitätskontrollendurchgeführt werden.In den nächsten zwei Jahren darfsich das medizinische Personalauf Gehaltserhöhungen zwischen30 und 35 Prozent freuen.

" Ich kämpfe für meine Ausrüs-tung. Ich kämpfe dafür, dass die feuchten Wände in mei-

nem Operationssaal isoliert werden. Ich muss für alles kämpfen! Die Ge-sellschaft müsste ein Signal senden."FÜHRENDER UROLOGE UND CHIRURG

ZITAT

Dmitri Puschkar

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EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU Reisen

Anreise Direktflüge von München nach Woronesch bietet Polet Air-lines an (www.polet.ru).

Per Anschlussflug ist Woronesch über die Moskauer Flughäfen Vnukovo und Domodedovo erreichbar. Alternativ starten vom Moskauer Pawelezki-Bahnhof Nachtzüge mit Schlafwagen. Fahrtzeit: zehn Stunden.

UnterkunftEin empfehlenswertes Hotel im Zentrum mit gehobenem Standard ist das Art-Hotel

(www.arthotelv.com, DZ ca. 150 Euro). Für Rucksacktouristen empfiehlt sich das Hostel Aschur, nur fünfzehn Geh-minuten vom Zentrum (www.star-hos-tel.ru/gostinica_ajur.html, 12 Euro).

Essen & Trinken Gute russische Küche bietet das Restaurant Puschkin im sogenannten Bügeleisenhaus

(Puschkinstraße 1). Wer nicht ohne deutsches Bier, Brezeln und Weiß-würste kann: Bierkeller de Bassus in der Plechanowskaja-Straße 22. Tortil-las und Livebands gibt es im BARack o’Mama (Prospekt Revoluzii 35).

99 Luftballons aus WoroneschAnderes Russland Deutsche erzählen aus den russischen Regionen, wie es sich außerhalb der Hauptstadt lebt

Am Ufer des Woronesch legen sich die Bewohner der gleichnamigen Stadt gerne auf die faule Haut.

Woronesch bietet viel Lokalkolorit: den historischen Petersplatz mit zahlreichen Brunnen, die neu erbaute

Mariä-Verkündigungs-Kathedrale und jede Menge Biogemüse und Eingemachtes am Marktplatz.

HEIDI BEHAEXKLUSIV FÜR RUSSLAND HEUTE

490 Kilometer südöstlich von

Moskau liegt sie, die Fast-

Millionenstadt. Neben

authentischen Märkten und

Frauenfußball hat sie vor allem

eines zu bieten: Lebensfreude.

Woronesch, ein Millionendorf: 960 000 Menschen leben im Zen-trum des Schwarzerdegebiets, der Kornkammer Russlands. In den letzten Jahren ist die Stadt rasant gewachsen und wirkt wie eine aus allen Nähten platzende, vitale Kleinstadt. Weder Tram noch Metro fahren hier, und im vollbe-setzten Bus wandern Rubel-Schei-ne von hinten nach vorne und die Wechselmünzen wieder zurück. Wer nach Woronesch reist, bewegt sich jenseits der ausgetretenen Touristenpfade.Als „Woronescher Meer“ verklä-ren Einheimische ihren Stausee, der die Stadt teilt. Vielleicht den-ken sie daran, dass Peter der Große eine Schiffswerft mit Zugang über den Fluss Don zum Asowschen Meer gründete. Der russische Zar lebte lange Zeit in Woronesch und baute hier seine Flotte aus. Am rechten Ufer des Stausees liegt das historische Zentrum der 425 Jahre alten Festungsstadt. Dort, nur ein paar Querstraßen von McDonald’s und Urbanität ent-fernt, bröckeln unbefestigte Steil-straßen den Hang hinunter, bunt gestrichene Häuschen sind nicht an die Kanalisation angeschlos-sen und Menschen grüßen freund-lich die Spaziergänger, die an ihren Häusern vorübergehen. Links des Stausees, über den vier große Brücken führen, entwickeln viele mikrokosmische Viertel rund um Märkte, Kinos und Cafés ihr eigenes Leben. Die Woronescher trotzen Hitze, Kälte und Verkehrschaos: Die Straßen und Bürgersteige sind belebt, und auf dem Zentralny Rynok, dem zentralen Markt, wühlen sich die Menschen zu Stoßzeiten auch bei 20 Grad minus durch. Hier würde jede Touris-muswerbung Erlebnis-Shopping versprechen: Fische springen aus ihren Wannen förmlich in die Ein-kaufstaschen, an zahlreichen CD-Verkaufsständen beschallen alte russische Schlager die authenti-sche Szenerie.

Kommen Sie wieder!Betritt man die Markthalle, rei-hen sich im Untergeschoss kleine Salatstände aneinander, an denen Vera, Julia und Lena um Kund-schaft buhlen. Bei ihnen können sich die Kunden durch russische Salatsortimente probieren. Auch an den Käseständen darf man, wie die Kinder in deutschen Metzge-reien, von dem Angebot naschen. Oft laden die Verkäuferinnen von selbst zur Verköstigung von Rosinen-Vanille-Quark, selbst gemachtem Ziegenkäse oder eingelegten Gurken. Wenn man nichts kauft, gibt es keine Miss-töne, höchstens noch die Frage: „Woher kommen Sie?“ und „Kom-men Sie wieder!“ Rund um die Markthalle sitzen Babuschkas auf Klappstühlen vor ihren Waren. Es sind Großmüt-terchen, denen man glaubt, dass

sie den feilgebotenen Lauch oder die erdigen Karotten in ihrem ei-genen Garten pfl anzen und ern-ten. Hier kauft man Waren von Menschen, nicht von Marken. An einer anderen Ecke des Marktes werden Vollkornbrote und frische Brötchen angeboten, die es mit deutschen Backwaren aufnehmen könnten. Auch braut ein Woronescher Bier-lokal nach deutschem Reinheits-gebot. Zu Songs wie „99 Luftbal-lons“ oder dem „Kufsteinlied“ werden Weißwürste, süßer Senf und selbst geschlungene Brezeln serviert, falls man Lust auf rus-

sisch interpretierte Oktoberfest-atmosphäre verspüren sollte.See und Stadt im Überblick bekommt man bei einem Spazier-gang über die ehemalige Tram-bahnbrücke Sewerni Most, wo in der Ferne ein paar Fabrikschlote rauchen, Plattenbauten zu sehen sind und die Baumwipfel des Dynamo-Parks im Gegenlicht zu dunkelgrünen Schatten ver-schmelzen. Woronesch lädt zum Staunen ein: Man kann sich wun-dern über einen ganzen Hubwa-gen voll gestapelter Speckseiten, der herrenlos im Gang der Markt-halle herumsteht. Oder über Fahr-

gäste, die im Bus schnell einmal mit gekonnten Handgriffen kaputte Türen reparieren.Im Zweiten Weltkrieg wurde die Stadt beinahe vollständig zer- stört, dennoch säumen die zen-trale Hauptstraße Prospekt Revoluzii keine Plattenbauten, sondern Häuser in ganz unter-schiedlichen Baustilen. Von säu-lenverzierten Balkonen bröckelt bunter Putz, und man möchte den Verfall aufhalten. Für Kulturliebhaber hat Woro-nesch russische Standards zu bie-ten: Denkmäler für Lenin, den Dichter Sergej Jessenin, eine

Ewige Flamme und andere Vete-ranen-Denkmäler. Das Kramskoj-Museum oder die Galerie „Gesich-ter Woroneschs“ laden zur Kunst-betrachtung. Fast täglich gibt esAufführungen im Opern- undBallett-Theater, wo sich klassischeRepertoirestücke wie „Schwanen-see“ mit schrillen russischen Ope-retten und avantgardistischenInterpretationen von „Macbeth“abwechseln. Auch lohnenswert:„Aschenputtel“ im russlandweitbekannten staatlichen Puppen-theater Schut, zu Deutsch: „Narr“.Unlängst wurde hier der Weltpup-penspielertag gefeiert.

Bei durchschnittlich minus 20Grad im Winter sitzen Angler wieFliegen auf dem Stausee undbehaupten noch Ende März, jedesAuto könne das Eis befahren, ohneeinzubrechen. Sie freuen sich überinteressierte Besucher und erzäh-len bereitwillig, wo gestern einKollege wieder eingesunken ist,wie man ihn „schnell, schnell“ ausden eisigen Fluten herausgezogenhat und sich dann einfach weiterans Angeln setzte. Im Sommerkehrt sich das Kontinentalklimaum, und es wird bis zu 40 Gradheiß, im September und Oktoberwärmt die Sonne länger als inDeutschland. Verglichen mit sauberer Schwarz-waldluft stinkt Woronesch. Wasin Deutschland weggefi ltert wird,gibt es hier noch in Reinform. Aberwer vermisst nicht ab und zu denbeißenden Abgasgeruch einesalten Dieselschleppers? Auch fürdie Ohren sind die russischenLadas, Wolgas und Gazels einKlangerlebnis der besonderen Art,wie man es in Westeuropa kaumnoch genießen kann. Frischluft kann schnuppern, werzum „9. Kilometer“ fährt, Stütz-punkt für Langlaufloipen querdurch die Wälder. Das Leihen vonRetroskiern kostet für zwei Stun-den etwa zwei Euro fünfzig. ImSommer verleiht man an dersel-ben Stel le Fahr räder undInlineskates. Sportlich hat Woronesch nochmehr zu bieten: Es ist die Hoch-burg des Frauenfußballs – dasPendant zum FFC Frankfurt hathier Heimrecht: FK EnergijaWoronesch. Viele Bewohner wis-sen nicht einmal, dass es sich umden erfolgreichsten Frauenfuß-ballclub Russlands handelt. Über-haupt wirken die Menschenbescheiden, was die Identifi kati-on mit ihrer Stadt angeht. Sielieben sie nicht übermäßig, sindnicht stolz auf sie, sie nutzen sieganz einfach. Daher mag Woro-nesch sauber gefegte Bürgerstei-ge oder rußgefilterte Luft viel-leicht vermissen, nicht aber dieunmittelbare und überbrodelndeVitalität, die einer Stadt erst ihrenbesonderen Charakter verleiht.

Heidi Beha ist Lektorin derRober t -Bosch- St if tung inWoronesch.

Wer vermisst nicht von Zeit zu Zeit den beißenden Abgas-geruch eines alten Dieselschleppers?

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EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAUMeinung

LESERBRIEFE

Russland und die Stereotypen Die Russen sind ein in Unfreiheitgeknechtetes Volk in einem repres-siven Regime und saufen den gan-zen Tag frustriert Wodka. WennSie es aber zu etwas gebrachthaben, dann durch kriminelleEnergie und schlechtes Benehmen,was man ihnen auch immer so-fort ansieht. Auf diese oder ähn-liche Bilder wird Russland in derdeutschen Presselandschaft oftreduziert.Danke für die doch etwas diffe-renziertere Weitwinkelperspekti-ve in dieser Beilage. Die Artikelwecken Neugier und machen Lustauf mehr. Weiter so.

T. DautnerBAMBERG

Sehr aufschlussreich und faszinie-rend fi nde ich die „Entwicklungs-analyse“, die Ihr Blatt bietet. Hierwird eine ökonomische, kulturel-le, soziale und politische Dynamikverschiedener Geschwindigkeitenerkennbar, die uns als Westeuro-päer und insbesondere als Deut-sche zwar nicht fremd ist, aber inseiner Pluralität immer wieder aufsNeue überrascht. Das Wissen umdiese Entwicklungen ist wesent-lich für eine, wie auch immer ge-artete, Partnerschaft mit Russland,denn die Kenntnis des Partners er-öffnet die Chancen auf einenfruchtbaren Austausch. Es geht umdie Gestaltung einer gemeinsamenZukunft, und Russen und Deut-sche können einen wichtigen Bei-trag leisten, diese anzudenken.

Heinrich WassermannBERLIN

RUSSLAND HEUTE: DIE DEUTSCHE AUSGABE VON RUSSLAND HEUTE ERSCHEINT ALS BEILAGE IN DER SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG. FÜR DEN INHALT IST AUSSCHLIESSLICH DIE REDAKTION DER TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU, VERANTWORTLICH. VERLAG: ROSSIJSKAJA GASETA, UL. PRAWDY 24 STR. 4, 125993 MOSKAU, RUSSISCHE FÖDERATION. TEL. +7 495 775-3114 FAX +7 495 988-9213 E-MAIL REDAKTION@

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HERAUSGEBER: JEWGENIJ ABOW; CHEFREDAKTEUR DEUTSCHE AUSGABE: ALEXEJ KNELZ GASTREDAKTEUR: MORITZ GATHMANN WEBREDAKTEUR: MAKAR BUTKOW ANZEIGEN: JULIA GOLIKOVA, GESAMTANZEIGENLEITERIN, +7 495 775-3114PRODUKTION: MILLA DOMOGATSKAJA, PRODUKTIONSLEITUNG; ILJA OWTSCHARENKO,

LAYOUT; ANDREJ SAJZEW, BILDBEARBEITUNG; WSEWOLOD PULJA, CHEF VOM DIENST FÜR ONLINE; BARBARA MÜNCH-KIENAST, PROOFREADINGDRUCK: SÜDDEUTSCHER VERLAG ZEITUNGSDRUCK GMBH, ZAMDORFERSTRASSE 40, 81677 MÜNCHEN; VERANTWORTLICH FÜR DEN INHALT: ALEXEJ KNELZ, SCHÜTZENWEG 9, 88045 FRIEDRICHSHAFENCOPYRIGHT © FGU „ROSSIJSKAJA GASETA“, 2011. ALLE RECHTE VORBEHALTENAUFSICHTSRATSVORSITZENDER: ALEXANDER GORBENKO; GESCHÄFTSFÜHRER: PAWEL NEGOJZA; CHEFREDAKTEUR: WLADISLAW FRONIN ALLE IN „RUSSLAND HEUTE“ VERÖFFENTLICHTEN INHALTE SIND URHEBERRECHTLICH GESCHÜTZT. NACHDRUCK NUR MIT GENEHMIGUNG DER REDAKTION.

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RUSSLAND HEUTE ODER VON ROSSIJSKAJA GASETA DAR.

RAUS AUS DEM VORSTAND

Unlängst ging Präsident Dmitri Medwedjew gegen die Verfilzung von Wirt-

schaft und Politik vor und unter-schrieb einen Präsidialerlass zur Verbesserung des Investitions-klimas, demgemäß Regierungs-beamte zum 1. Juli die Vor-standsposten in staatlichen Unternehmen räumen müssen. Der erste „entlassene“ Regie-rungsbeamte war Igor Setschin, Vorstandsvorsitzender von Rosneft, Russlands größtem Mineralölkonzern und vermutlich der engste Vertraute von Minis-terpräsident Wladimir Putin. Medwedjew will seit je die Bedin-gungen für in- und ausländische Investoren verbessern, jetzt zeigt er Taten und setzt Fristen. Und da einige dieser Maßnahmen mit Sicherheit auf den Widerstand mächtiger Interessengruppen sto-ßen werden, sind die Reformen ein wichtiger Test für sein Durchset-zungsvermögen und seine Pläne, für eine weitere Amtszeit als Prä-sident zu kandidieren. Selbst nur ein Teilerfolg würde Medwedjew erlauben, beim Wahlkampf auf die Themen Korruptionsbekämp-fung und staatliche Transparenz zu setzen.Damit wird er vermutlich die auf-strebende Mittelschicht erreichen und einige „Protestwähler“. Das

zwischen öffentlichem und unter-nehmenseigenem Interesse.Wie üblich kommt es bei solchen Initiativen auf die Umsetzung an. Zunächst einmal ist noch nicht klar, wer die Staatsbeamten auf dem Vorstandssessel ablösen soll. Kritiker behaupten, Medwedjew verfüge über kein geeignetes Team. Ob das zutrifft, werden die von ihm vorgeschlagenen Kandi-daten zeigen.Zweitens ist unsicher, ob die neuen Vorstandsvorsitzenden ihre Un-ternehmen auch tatsächlich füh-ren. Es wäre durchaus denkbar, dass sie das Management schlicht übergeht. Oder umgekehrt die Vor-stände nach den Direktiven der Regierung agierten. Im letzteren Fall wären alle reformistischen Bestrebungen eine Farce. Die gute Nachricht ist jedoch laut Medwed-jews wichtigstem Wirtschaftsbe-rater Arkadi Dworkowitsch, dass auch die staatlichen Direktiven „reformiert“ werden sollen. Bestimmt erfahren wir noch vor dem 1. Juli, ob Medwedjew sein ehrgeiziges Programm umsetzen kann und in der Lage ist, weite-ren Einfl uss zu gewinnen.

Sergej Gurijew ist Direktor der New Economic School in Moskau. Alexander Zywinski ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Yale Universität.

Dieser Beitrag erschien in The Moscow Times

schlechte Abschneiden der Regie-rungspartei Einiges Russland bei den jüngsten Regionalwahlen zeigt, dass die Wähler mit dem Status quo unzufrieden und zu einem Wechsel bereit sind.Der Erfolg von Alexej Nawalny, führender Blogger gegen Korrup-tion, ist ein weiteres Alarmsignal für Medwedjew. Bemerkenswer-terweise ähneln eine ganze Reihe der vom Präsidenten vorgeschla-genen Maßnahmen den Forderun-gen Nawalnys.Medwedjew hat ein einfaches und überzeugendes Argument: Trans-parenz fürchten nur jene, die

etwas zu verbergen haben. Das ist keineswegs eine abstrakte Be-hauptung. Nawalnys wiederholte Forderung nach Einsicht in die Protokolle von Vorstandssitzun-gen staatlicher Unternehmen stieß auf heftigen Widerstand.Die umstrittenste von Medwed-jews Maßnahmen ist die Entlas-sung der Staatsbeamten aus den Vorständen, darunter einfl ussrei-che Minister und mehrere Vize-premiers. Die Logik dahinter ist indes einfach: Ein Regierungsbe-amter, der gleichzeitig einen Kon-zern oder eine Bank leitet, steht vor einem inhärenten Konflikt

Eines der tragischsten Bilder des Jahres 2010: das leichen-blasse Gesicht Jaroslaw

Kaczynskis, der ins russische Smolensk geeilt war, um seinen Bruder Lech zu identifi zieren. Es muss furchtbar sein, so plötzlich den nächsten Menschen zu ver-lieren. Ist dieser obendrein der äu-ßerlich kaum zu unterscheidende Zwillingsbruder, sieht man sich quasi selbst da liegen. Wie übersteht man etwas Derar-tiges? Man kann inneren Frieden und Demut im Gebet suchen. Oder man tut das genaue Gegenteil, indem man sich voll und ganz einer Sache verschreibt. Jener Sache bei-spielsweise, die der so tragisch ver-unglückte Bruder als seine Lebens-aufgabe ansah. Der polnische Prä-sident Lech Kaczynski war am Tage seines Flugzeugabsturzes beileibe nicht auf dem Weg nach

EIN BAZILLUS DES HISTORISCHEN MASOCHISMUS

Sergej Gurijew,

Alexander Zywinski WIRTSCHAFTSEXPERTEN

Fjodor

LukjanowPOLITOLOGE

Katyn, um eine Aussöhnung zwi-schen Polen und Russland herbei-zuführen. Diese schwierige Mate-rie hatten vielmehr drei Tage zuvor die pragmatischeren Premiers bei-der Länder, Wladimir Putin und Donald Tusk, anzugehen versucht. Lech Kaczynski hatte dagegen die Absicht, allen erneut ins Gedächt-nis zu rufen, dass es für das Grau-en von Katyn keine Verjährungs-frist gibt, dass die Wunde weiter-bluten muss, dass man nicht vergessen darf, wer die Schuld trägt. Und wer sich hier schuldig gemacht hatte, das stand für ihn außer Zweifel: auf der einen Seite die zynischen Mörder des Stalin-regimes und auf der anderen – die prinzipienlosen Konformisten. Mithin diejenigen, als deren mo-derne Verkörperung der Präsident die beiden Premiers ansah. Jaroslaw Kaczynski trat nicht von der politischen Bühne ab, obwohl die Präsidentschaftswahlen 2010 für ihn in eine Niederlage mün-deten. Wahrscheinlich hätte auch

der eigentliche Kandidat – sein Zwillingsbruder Lech – diese Wahl verloren. Doch Jaroslaw Kaczyn-ski machte aus der gemeinsamen Partei Prawo i Sprawiedliwosc (Recht und Gerechtigkeit) einen Gedenkverein für Lech. „Die Wahrheit, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit“ über den Tod des polnischen Präsidenten ein-zufordern, wurde zum Leitmotiv ihres Wirkens, ja zur beinahe ein-zigen programmatischen Zielset-zung. Jaroslaw Kaczynski und – von ihm aufgeklärt – auch manch anderer Parteimitstreiter und Tat-sachenfanatiker, kennen die Wahr-heit selbstredend schon: Lech ist

nicht verunglückt, sondern in Russland ermordet worden, und die käufl ichen Liberalen der Bür-gerplattform Platforma Obywa-telska decken seine Mörder. Mit diesem Schlachtruf ziehen die Konservativen in die Parlaments-wahlen im Herbst. An überbor-denden Emotionen dürfte es im Wahlkampf also kaum mangeln, umso mehr, als die polnische Ge-sellschaft, zumindest aber ihr me-dial präsenter Teil, dafür durch-aus empfänglich ist. Die Beziehungen zwischen Russ-land und Polen bilden ein fest ge-schürztes Knäuel aus historischen Schuldzuweisungen, psychologi-schen Traumata und einer fast überspannten wechselseitigen kul-turellen Anziehung. Ein Knäuel, das scheinbar niemand entwirren kann. Besonders, wenn die Tra-gödie von Katyn wie ein Menete-kel eine zweite Katastrophe fol-gen lässt. Russland und Polen eint eine abstruse Fixierung auf die Ver-gangenheit, auch bei uns gibt es eine Vielzahl von Kaczynskis. Aufgrund der Spezifi k des russi-schen politischen Systems haben sie sich einfach noch nicht zu einer Partei zusammengeschlossen, wobei es nur eine Frage der Zeit sein dürfte, bis das „Versäumnis“

nachgeholt wird. Schon jetzt set-zen sie alles daran, dass dieNation auf gar keinen Fall dasGefühl ihrer historischen Ver-sehrtheit verliert – ein Gefühl, dasdiese Kräfte aus unerfi ndlichenGründen „Nationalstolz“ nennen.Für die Brüder Kaczynski als ein-gefleischte Konservative ist dieVergangenheit zugleich die Zu-kunft, folglich muss man an denalten Wunden rühren, wenn esvorwärtsgehen soll. Ihre Gesin-nungsgenossen in Russland tickenähnlich, anders lässt sich das un-aufhörliche Tränenvergießen umdie UdSSR nicht erklären. EineUdSSR, die es kein zweites Malgeben wird, was selbst diejenigenwissen, die den Verlust am lau-testen beklagen. Die Diagnose fürdie russisch-polnischen Beziehun-gen ist seit Langem gestellt. Russ-land und Polen werden entwedergemeinsam gesunden oder sichauch in Zukunft endlos gegensei-tig mit dem Bazillus des histori-schen Masochismus infi zieren.

Fjodor Lukjanow ist Chef-redakteur der Zeitschrift Russiain Global Affairs. Seit 1990 kom-mentiert er das außenpolitischeGeschehen.

Dieser Beitrag erschien zuerst inRussia in Global Affairs

Von der Vergangenheit zehren und immer wieder an den alten Wunden rühren, wenn es vorwärtsgehen soll.

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EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU Feuilleton

NACHLESE

Lenas Opa erklärt Russland

Moritz Gathmann

Andreas Meyer-Landrut: MitGott und langen Unterhosen.Edition Q, 2003, 295 Seiten

Es verwundert nicht, dass die-ses Buch vergriffen ist: Imletzten Jahr gewann Lena

Meyer-Landrut für Deutschlandden Eurovision Song Contest, undplötzlich wollten viele wissen,woher die Sängerin ihre fröhlich-unbekümmerte Art hat. Ab 10. Mai wird Lena versuchen,in Düsseldorf den Titel zuverteidigen, und ihr bekannterGroßvater wird ihr dabei die Dau-men drücken: Andreas Meyer-Landrut, 81, ehemaliger deutscherSpitzendiplomat.Der im estnischen Reval (heuteTallinn) geborene Meyer-Landrutwar insgesamt vier JahrzehnteDiplomat für die Bundesrepub-lik, und den größten Teil seinesberufl ichen Lebens verbrachte erin Russland: 1957 kam er zum ers-ten Mal an die gerade eröffnetewestdeutsche Botschaft in Mos-kau, von 1980-1983 und 1987-1989war er dort Botschafter. 2003schrieb Meyer-Landrut seine Er-innerungen auf.Darin kann man lesen, wie erneben Breschnew im SchwarzenMeer schwamm, wie er Franz-Jo-sef Strauß vor einem Sturz aufdem Glatteis am Roten Platzbewahrte, und wie Kohl und Gor-batschow die deutsche Einheitverhandelten. Einen nicht gerin-gen Teil des Buches nimmt auchdie große Leidenschaft des Dip-lomaten ein: der Reitsport. Er be-richtet von seinen häufi gen Aus-flügen in bekannte Gestüte imSüden Russlands, natürlich untersteter Bewachung des KGB.Etwas befremdlich ist der Ton,mit dem Meyer-Landrut amAnfang des Buches über dieSowjetrussen urteilt, die derAtheismus zu unhöflichen,unflätigen Menschen gemachthabe. Die Sichtweise des 28-jäh-rigen Jungdiplomaten änderte sichallerdings über die Jahre: Meyer-Landrut ist heute Ehrenvorsit-zender des Deutsch-RussischenForums, das sich um die Verstän-d i g u n g z w i s c h e n d e nbeiden Völkern bemüht.

KULTUR-

KALENDER

MUSEUMSFEST

66 JAHRE FRIEDEN IN EUROPA

8. MAI, AB 12 UHR, BERLIN, DEUTSCH-

RUSSISCHES MUSEUM KARLSHORST

Am 8. Mai 1945 wurde in Karlshorst die deutsche Kapitulation unterschrie-ben. Das Museum begeht das Ereignis wie jedes Jahr mit Lesungen, Swing und Soljanka bis spät in die Nacht.

museum-karlshorst.de ›

BALLETT-SHOW

ANASTASIA WOLOTSCHKOWA

15. MAI, LEINFELDEN-ECHTERDINGEN,

FILDERHALLE, WEITERE TERMINE

Mit dem Moskauer Bolschoi-Theater hat sich die Primaballerina zerstritten, jetzt macht sie ihr eigenes Ding. Und tourt mit einer explosiven Mischung aus Ballett, Tanz und Pop.

friedmann-agentur.de ›

THEATER

DIE RUSSEN KOMMEN!

31. MAI, NÜRNBERG, STAATSTHEATER,

WEITERE TERMINE

In der Sowjetunion als „Deutsche“bezeichnet, wurden die Russlanddeut-schen hierzulande zu den „Russen“. Das Stück beschäftigt sich mit der Ge-schichte dieser „doppelt Fremden“.

staatstheater-nuernberg.de ›

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ÜBER RUSSISCHE KULTUR AUF

RUSSLAND-HEUTE.DE

Wie lebt sich’s in ... Tambow? Ein Deutscher vor Ort berichtet.

IN DER NÄCHSTEN AUSGABELORI/LEGION MEDIA

ANASTASIA GOROKHOVARUSSLAND HEUTE

Ein 60-Meter-Phallus und

umgestürzte Polizei-Ladas:

Die Künstlergruppe Wojna

hält die russische Öffentlichkeit

in Atem. Und erhielt jetzt

einen staatlichen Preis.

Es wird eine unruhige Sommer-nacht für die Petersburger Poli-zei am 82. Geburtstag des Revo-lutionärs Che Guevara. Neun junge Leute, schwarz gekleidet, maskiert und bewaffnet mit wei-ßer Farbe, stürmen die Litejny-Zugbrücke im Herzen Sankt Pe-tersburgs. Jede Nacht wird sie bis zum Morgengrauen hochgezogen. Bis die zwei Brückenhälften senk-recht stehen, vergehen genau40 Sekunden. Für ihr Action Painting brauchen die neun Künstler nur 23. Die Brü-ckenwache versucht sie zu fassen, erwischt aber nur einen jungen Mann. Alle anderen rennen davon. Was bleibt, ist ein senkrecht ste-hender, 65 Meter hoher Phallus, der auf das Hauptquartier des FSB-Geheimdienstes zeigt.

Aktion „Palaststreich“Hinter der Aktion steckt die Art-Gruppe Wojna – auf Russisch „Krieg“. „Der Pimmel in der FSB-Gefangenschaft“, wie sich das Kunstwerk nennt, macht landes-weit Schlagzeilen. Wem ihre Aktionen „Gruppensex im Zoo-logischen Museum“ oder „Sturm des Weißen Hauses“ nicht aufge-fallen waren – jetzt kam niemand mehr an ihnen vorbei. Über 60 Leute sollen der 2007 gegründeten Gruppe angehören, den Kern bilden drei: Philosoph Oleg Worotnikow, seine Frau Natalja Sokol, Physikerin, und Leonid Nikolajew, Spitzname „Ljonja der Durchgeknallte“, der in einer gar nicht fernen Vergan-genheit Büroangestellter bei einem Heizkörperhersteller war. 48 Stunden verbringt er nach der Phallus-Aktion auf dem Polizei-revier, wird aber nur des Rowdy-tums bezichtigt und darf gehen. Abschrecken ließ er sich nicht: Kurz nach der Nacht- und Ne-belaktion marschierte „der Durchgeknallte“ mit einem blau-en Eimer auf dem Kopf vor dem Kreml über ein Fahrzeug des Ge-heimdienstes: Protest gegen die Blaulichter an den Dienstwagen von Regierungsbeamten, die sich auf Moskaus Straßen zu viel erlauben. „Wojna spiegelt lediglich die Mei-nung des Volkes wider“, sagt der

GeschlechtsreifeGroßstädterkunst

Straßenkunst Eine russische Künstlergruppe will die Gesellschaft wachrütteln

Der Phallus auf der Brücke machte Wojna landesweit bekannt.

Der harte Kern: Oleg Worotnikow, Natalja Sokol, Leonid Nikolajew

Nach der Aktion „Palaststreich“ platzte der Polizei der Kragen.

Wie viele Streifenwagen die Künstlergruppe bei dem „Palast-streich“ in jener Nacht auf den Kopf stellten, wurde nicht pub-lik. Es ging nicht um Quantität, sondern um Qualität: Die Künst-ler wollten ein Exempel statuie-ren, zeigen, wie die Polizeireform angegangen werden sollte – radi-kal und kompromisslos.Die Aktion wurde Wojna zum Ver-hängnis. Die Polizei tat das, was viele schon für lange überfällig hielten: Sie erstattete Anzeige wegen Vandalismus und brachte Oleg und Leonid für vier Monate in Untersuchungshaft. Und hätte der bekannte britische Streetart-Künstler Banksy nicht eine groß-zügige Spende überwiesen, säßen die beiden noch immer im Knast. Nun warten sie in Freiheit auf das kommende Gerichtsverfahren.

Offener Streit über KunstBanksys Begeisterung teilen in Russland allerdings nicht alle. Im Internet brach ein offener Streit aus, als sich vor wenigen Wochen ein Teil der Künstler-Communi-ty zusammenraufte und erwirk-te, dass Wojna für einen staatlich dotierten Preis nominiert wurde. Der Künstler Andrej Erofeew, der als Kurator der Ausstellung „Ach-tung Religion!“ kürzlich selbst vor Gericht stand, ließ verlauten: „Das Riesengraffiti ist ein Protestsym-bol, es verdient den Preis.“Wojna selbst boykottierte die Preisverleihung: Die Prämie werde vom Kulturministerium vergeben – dem erklärten Feind der Künst-lergang. Nach der Nominierung gerieten ihrerseits Vertreter des Ministeriums in Panik und verkündeten in einem offiziellen Schreiben, dass die Entscheidung nicht aus ihren Reihen stamme.Auch viele etablierte Künstler stellen sich quer. Der Maler Ilja Glasunow etwa mit seiner Gale-rie direkt am Kreml: „Geschlechts-organe auf Brücken zu malen, das ist keine Kunst.“ Kunsthistoriker Joseph Backstein widerspricht: „Nicht alle Aktio-nen der Gruppe sind eindeutig. Viele sind sehr skandalös, und das ist für unser heutiges Russland eine Seltenheit, gibt aber der Ge-sellschaft wichtige Impulse.“ Genau das ist das Ziel von Wojna: „Wir wollen die Gesellschaft wachrütteln“, sagt Oleg Worotni-kow. „Und einen Staat brauchen wir nicht, das ist eine veraltete Gesellschaftsform.“ Seine Frau Natalja wird noch konkreter: „Wir wollen das Putin-Regime stürzen.“ Mit ihren politischen Aussagen begreifen sich beide doch immer noch als Künstler. Aktivisten der kremlnahen Bewe-gung „Junges Russland“ sehen das anders. Die 20-jährigen Jugendli-chen protestierten vor dem Kulturministerium gegen die Preis-verleihung. Wojna seien keine Künst-ler, sondern Extremisten. Wenigs-tens jemand, der sich sicher ist.

Philologe Alexej Pluzer-Sarno, ebenfalls Wojna-Mitglied. In letz-ter Zeit allerdings eher passiv: Nach der letzten Wojna-Aktion setzte er sich vorsorglich nach Estland ab. Die bisher folgenreichste Aktion richtete sich gegen die viel zu milde Polizeireform – ein Thema, das die russische Gesellschaft stark beschäftigt. Wojna hatte die

Diskussionen darüber in eine Per-formance auf dem Palastplatz in Sankt Petersburg umgesetzt. Nachts patrouillieren zahlreiche Polizeistreifen auf dem Platz, in den Seitengassen stehen die Strei-fenwagen. Der zweijährige Sohn von Oleg und Natalja ließ seinen Ball unter einen Wagen rollen, vier junge Männer kippten dann die Polizei-Ladas aufs Dach.

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EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAUPorträt

Vom Moskauer Partymensch zum Missionar: Roman Sablin in seinem Öko-Loft unweit des Kreml

ANASTASIA GOROKHOVARUSSLAND HEUTE

Auf seiner grünen Visitenkarte

stand Roman „Green“ und

darunter: „Party-Mensch“. Das

war vor zwei Jahren. Heute ist

er einer der bekanntesten

Umweltaktivisten Moskaus.

Grün, alles grün. Chucks, Jacke, Handy und auch das Moped – das war damals mein erster Eindruck von Roman Sablin. Beim WG-Cas-ting begrüßte er mich im Flur der Wohnung, die wir gemeinsam mieten sollten, strahlte mich an und erdrückte mich fast mit einer Umarmung, und das, obwohl er mich das erste Mal in seinem Leben sah. Die Liebe zur grünen Farbe setzte nach der Scheidung von seiner Frau ein. Vielleicht, weil Grün die Farbe der Hoffnung ist, und das war es, was Roman Sab-lin in dem Moment brauchte.Als Philologe aus einem kleinen Dorf bei Nowosibirsk war er mit seinem gut dotierten Bürojob in einem Bauunternehmen ganz gut gestellt, aber so etwas konnte ihn nicht wirklich zufriedenstellen. Weltoffen und auf der Suche nach sich selbst fl üchtete er nach Fei-erabend in die Welt der Partys und Diskotheken. Doch auch das reich-te ihm bald nicht mehr. Roman wollte seine (Um-)Welt verändern und versuchte sich in der Kunst. Die eben gegrün-dete Wohngemeinschaft taufte er „Art-WG“, in der sich seinesglei-chen, mit Rotwein, Wodka und Zigaretten bewaffnet, über eine bessere Welt unterhielt.Nach einigen Monaten hatte sich eine solche Anzahl an leeren (vor allem grünen) Weinflaschen angesammelt, dass Roman anfi ng, sie zwischen die Doppelfenster-rahmen zu schichten. Glascontai-ner gibt es in Russland nicht. Das ärgerte ihn. Es war der Zeitpunkt, an dem er anfing, über eine umweltbewusstere Existenz nachzudenken.

Das Ökoloft an der Pjatnizkaja Und dabei blieb es nicht. Alle Glühbirnen in der Wohnung muss-ten Energiesparlampen weichen. Eine für Russland außergewöhn-liche Tat, die künstlerischen Wein-flaschenfreunde staunten nicht schlecht.Wenig später standen Plastik-tüten mit den Aufschriften „Pa-pier“, „Plastik“ und „Kompost“ in der Küche. Roman trennte jetzt Müll. Die Initiative verlor aller-dings ihren Sinn, weil alle Tüten in einen einzigen Container im Hof wanderten. Doch das sollte sich ändern.Roman zog aus und gründete das Ökoloft unweit des Kreml an der Pjatnizkaja-Straße in einem Alt-

Wie Roman lernte, Müll zu trennenUmweltschutz Mitten in Moskau leitet ein junger Russe seine Landsleute an, umweltbewusst zu handeln

worden: Mehr als 70 passen beim besten Willen nicht rein, dabei sind es über 100, die jeden Don-nerstag kommen. Roman ist jetzt so etwas wie eine Berühmtheit. Alle russischen TV-Sender waren schon da, Zeitun-gen und Magazine ebenso. Es klin-gelt an der Haustür, fünf junge Leute treten ein. Sie kommen aus der Ukraine und Weißrussland und haben schon viel von der Öko-kommune gehört. Nun wollen sie das Experiment mit eigenen Augen sehen. Zum tausendsten Mal zeigt Roman die Wohnung, die Stofftaschen, die Mülltonnen. Der Strohballen im Wohnzimmer ruft Begeis-terung hervor, ebenso die Dusche im Flur und die bemalten Wände. Und ganz besonders Roman. Die fünf lauschen mit großen Augen, als er erzählt, dass er sei-nen gut bezahlten Job geschmis-sen hat, wie auch Anzug und Krawatte, und sich nun voll und

ganz der Umwelt widmet. Geldverdient er nebenher als Freibe-rufl er, denn er braucht nicht mehrviel. Im Mai startet das neue Pro-jekt: ein Ökohaus im Grünen. Ja, ein ganzes Haus, in einem Dorfunweit von Moskau, mit einemgroßen Garten, Solarenergie,vegetarischem Essen, Yoga undanderen Elementen des umwelt-bewussten Lebens. Zwölf jungeund in verschiedenen Bereichentätige Aktivisten werden dort ge-meinsam wohnen. Bis zu 100 Men-schen sollen in das Haus passen,für interessierte Besucher stündedie Tür immer offen.Eine Woche kann man dort lebenund lernen, was Energieeffizienzbedeutet. Sponsoren sucht Romannoch, doch es sieht gut aus, meinter. Wie findet sein vierjährigerSohn Ljona die neue Lebenswei-se des Vaters? „Er erklärt meinerExfrau inzwischen ganz genau,wie man Müll trennt“, sagt RomanSablin schmunzelnd.

bau von 1901. Gemeinsam mit vier Freunden bezog er im Sommer 2010 die geräumige Fünf-Zimmer-Wohnung. Jahrzehntealte Tapetenschichten runter, Ökofarbe drauf, bunt und umweltbewusst – im Wohnzim-mer ein alter russischer Ofen, darauf sowjetische Aufkleber. Daneben steht auf der Wand in großen Lettern die Internetseite des Ökolofts, und auf einem Tisch liegt Infomaterial für zahlreiche Besucher, die wissen wollen, wie man umweltbewusst leben kann in einer Stadt, in der es einem rich-tig schwer gemacht wird. Vor Eröffnung des Lofts rasier-ten sich alle Bewohner die Köpfe: kein Shampoo mehr, ergo weni-ger Wasserverbrauch. Im Flur wurden Stofftaschen aufgehängt – als Kampfansage gegen das allgegenwärtige Plastik. Die Müll-trennung nahmen die Bewohner proaktiv in Angriff: Sie eruier-ten, wo man in Moskau Plastik,

Kartons und leere Flaschen ab-geben kann.Roman hatte seine Mission gefun-den und blühte auf: Er ist jetzt gertenschlank, trägt einen Zie-genbart, dazu eine modische ecki-ge Brille. Grün natürlich. Kein Alkohol, kein Fleisch, kein unnö-tiger Energieverbrauch, dafür ein riesiges Engagement und der Wunsch, die Denkweise von Mos-kaus Bürgern zu verändern.

Schule des gesunden LebensEin Bildungsprojekt nennt Roman Sablin sein Loft, es sei dazu da, jungen Menschen zu zeigen, dass Umweltschutz auch unter widri-gen Umständen möglich ist.Jeden Donnerstagabend lädt die WG zur Ökoschule: Umweltexper-ten, Wissenschaftler, Aktivisten – sie alle fi nden früher oder spä-ter ihren Weg in das Wohnzim-mer an der Pjatnizkaja und geben ihre Erfahrungen weiter. Mittler-weile ist der Raum zu klein ge-

Roman Sablin wird 1979 in der Siedlung Timer Tau, Kemerovo, in Westsibirien geboren.Sein Studium der Philologie und Lite-ratur in der Stadt Nowosibirsk been-det er 2001 und geht nach Moskau.

Dort arbeitet er bei dem Bauunter-nehmen TechnoNIKOL, wo er bis 2010 zum Leiter der PR-Abteilung aufsteigt.2010 kündigt Sablin bei TechnoNIKOL und bezieht mit vier anderen ein Öko-loft (www.ecoloft.ru). Gleichzeitig gründet er die Agentur GreenUp, die Firmen bei der umweltbewussten Gestaltung ihrer Büroräume berät. Ebenfalls seit 2010 ist Sablin Projekt-koordinator des Community-Portals www.ecowiki.ru. 2011 ruft er das Pro-jekt „Ökohaus“ in der Nähe Moskaus ins Leben (www.ecohouse2011.ru).

Roman Sablin

KURZVITA

HERKUNFT: SIBIRIEN

ALTER: 32

PROFIL: GRÜNER VORDENKER

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