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Osiander Die Geschichte einer Buchhandlung

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OsianderDie Geschichte

einer Buchhandlung

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I. Die Dynastie Cellius/Brunn: 1596-1734

1. Erhard Cellius (1596-1606)• Die Gründung• Erhard Cellius aus Zell• Geschäftseröffnung in der Langen Gasse• Die „imagines Professorum Tubingensium“• Die Universitätsstatuten von 1601• Die Druckermarke von Erhard Cellius• Cellius als Autor• Cellius als Verleger

2. Johann Alexander Cellius (1606-1623)• Württembergs bedeutendster Verleger• Tübingens Bedeutung als württembergischer Druckort

3. Anna Maria Cellius (1623-1625)• Der Schwiegersohn übernimmt die Druckerei

4. Philibert Brunn I (1625-1651)• Tübingen im 30jährigen Krieg

5. Philibert Brunn II (1651-1658)• Ein Prozess mit Harpprechts Erben• Catalogus Universalis Officinae Librariae Philiberti Brunnii

6. Witwe Brunn und Geschäftsführer JohannGeorg Cotta (1658-1681)• Cotta wird nach Tübingen berufen

7. Philibert Brunn III. (1681-1696)• Förderer der „Unverweßlichkeit“

8. Anna Maria Brunn geb. Neuffer (1696-1704)• Ein jahrelanger Prozess belastet die Buchhandlung

9. Gottfried Stoll (1704-1721)• Schwere Zeiten

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10. Theodor Metzler (1721-1724)• Kurze Blütezeit

11. Susanna Dorothea Metzler geb. Brunn und Karl GottliebEbert (1724-1734)• Das Ende der Dynastie Cellius/Brunn

II. Christoph Heinrich Berger: 1734-1778

• 44 Jahre Kontinuität• Bergers Verlagswerk• Das Nachdruckunwesen• Kampf gegen die Zensur• Pflichten und Privilegien• Bibliotheksgroschen und Pflichtexemplar• Bergers Sortiment und sein „Büchervorrath“

III. Die Dynastie Heerbrandt/Osiander/Köhler: 1778 – 1920

1. Jacob Friedrich Heerbrandt (1778 – 1812)• Beginn einer neuen Familientradition• Umzug von der Langen Gasse in die Münzgasse• Tübingen: Eine kleine Stadt und zwei bedeutende Verlage• Und wieder: Zensur, Pflichtexemplare, Nachdruckunwesen• Das Verlagswerk von Heerbrandt

2. Christian Friedrich Osiander (1813-1843)• Die Buchhandlung erhält ihren endgültigen Namen

3. Caroline Osiander, geborene Heerbrandt (1839-1843)

4. Franz Osiander (1843-1861)

5. Louise Osiander, geborene Gebhardt (1861-1880)

6. Karl Köhler (1880-1920)

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IV. Die Familie Jordan/Riethmüller:

1920 - heute

1. Richard Jordan (1920-1955) und GustavPezold• Zwei ehemalige Seeoffiziere beschließen, Buchhändler zu

werden• Oberst Max Bauer: „Der große Krieg in Feld und Heimat“• Die Buchhandlung: Der literarisch-künstlerische Treffpunkt

in Tübingen• Osiander im Nationalsozialismus• Neubeginn nach dem Krieg

2. Brigitte Riethmüller, geborene Jordan und Konrad-DietrichRiethmüller (1955-1996)• Konrad-Dietrich Riethmüller• Die Buchhandlung wächst• „Liebenswürd’ge Priesterinnen: Das Osianderteam• 375 Jahre Osiander

3. Die Osiandersche Buchhandlung GmbH (seit 1980)• GmbH-Gründung und Diversifikation durch Filialisierung• Die große Zäsur: Das Jubiläumsjahr 1996• Osiander online

4. Osiander im Zeitalter der Globalisierung• Eine neue Strategie für ein neues Jahrhundert• Wachstum• Ausblick

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I. Die Dynastie Cellius/Brunn: 1596-1734

1. Erhard Cellius (1596 – 1606)

Die Gründung

Am 4.6.1596 notierte Martin Crusius in seinem Tagebuch: „DecanusM. Erh. Cellius mihi dicit sibi advectam esse typographiam“, Celliushat mir mitgeteilt, dass er eine Druckerei erworben habe. Dies ist dieGeburtsstunde der Osianderschen Buchhandlung, die zwar durchkeinerlei amtliche Dokumente, aber durch diesen Tagebucheintragbelegt ist. Martin Crusius war in Tübingen Professor für Griechischund Latein, Vielschreiber und „das professorale Klatschmaul vonTübingen“ (Setzler, 13). Sein Tagebuch gibt uns Einblick in dasAlltagsleben eines Gelehrten und vermittelt dadurch, dass er gerade-zu mit Besessenheit auch die geringfügigsten Dinge aufschrieb, einenlebendigen Eindruck der damaligen Zeit. So ist es auch nicht ver-wunderlich, dass wir durch ihn vom Kauf der Druckerei erfahrenhaben, auf die die heutige Osiandersche Buchhandlung zurückgeht.

Erhard Cellius aus Zell

Erhard Cellius, der Gründer unserer Buch-handlung, hieß eigentlich Horn und gab sich einen neuen Namennach seiner Geburtsstadt Zell bei Worms. 1546 geboren, verlor er infrüher Jugend seinen Vater, der im Schmalkaldischen Krieg ums Le-ben kam. Über seine Großeltern und seinen neuen Stiefvater kam erzu einem Kaufmann Konrad Rothenburger, der ihn in seine Dienstenahm und sich auch weiterhin, wie es die Vorgänger nach bestem

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Vermögen getan hatten, um seine Erziehung und Bildung kümmerte.Bei Rothenburger lernte er Johann Gößlin kennen, der seine Bega-bung erkannte und die weitere Förderung übernahm. 1564 begannCellius das Studium an der Universität Tübingen, 1567 erhielt er dieMagisterwürde und ein Jahr später wurde er Rektor des Contuberni-ums, des Internats für bedürftige Studenten. 1569 erhielt er in Speyerden poetischen Lorbeerkranz von Kaiser Maximilian II., 1582 wurdeer Nachfolger von Nikodemus Frischlin auf dem Lehrstuhl für Poetikund Geschichte.

In seiner Einleitung zur Neuausgabe der „Imagines Professorum Tu-bingensium“ im Jahr 1981 fasst Wilfried Setzler die Hintergründefür den Lehrstuhlwechsel zusammen. Frischlin war bereits mit 21Jahren zum Professor ernannt, mit 29 Jahren „zum poeta laureatusgekrönt und in den Adelsstand erhoben“ (Setzler, 18) worden. Seinbeißender Spott über die Theologie, die zum Untergang der FreienKünste geboren sei, vor allem seine scharfen Angriffe auf den Adel,führten 1582 zu seiner Vertreibung aus Tübingen; im Jahr 1590 be-ging Frischlin verzweifelt Selbstmord.

„Auf Frischlins Lehrstuhl wurde noch 1582 der damalige Rektordes Contuberniums, Erhard Cellius, berufen, der erst jüngst denProfessoren geschmeichelt hatte, als er vorschlug, sie möchtensich zum hundertsten Jubiläum der Universität – 1577 – ‚abkon-terfeiern‘ lassen. Zwar war seine Berufung nicht unumstritten – ersei ‚notorisch faul‘ und ‚zudem unehelicher Abstammung‘, wurdeihm vorgeworfen -, doch schließlich konnten alle durch das Ar-gument gewonnen werden, daß er ‚sich etwas sagen lasse‘ und‚auf ihre Erinnerung achten‘ werde.Daß Cellius ‚eine gute lateinische Prosa und einen braven lateini-schen Vers schreibe‘, hatte er mit einem langen Gedicht zum hun-dertjährigen Universitätsjubiläum bewiesen. Zudem sei Haus-mannskost immer noch besser als ein ‚poeticum ingenium‘, wieFrischlin einer gewesen sei, meinte Crusius.“ (Setzler, 19)

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1574 hatte Erhard Cellius Barbara Demler geheiratet, die Tochtereines Tübinger Professors der Rechtswissenschaft. Aus der Ehe gin-gen 11 Söhne und eine Tochter hervor, nur sie und drei Söhne über-lebten den Vater.

Alles, was wir außer diesen dürren Lebensdaten über Cellius zu er-fahren versuchten, ist widersprüchlich. Schildert der eine seine lang-weiligen Vorlesungen, meint ein anderer: „seine Reden seien wieMilch hervorgeflossen, die durch ihre angenehme, klare und leiden-schaftliche Aussprache Ohren und Sinne der Zuhörer wie Blitze tra-fen“. Er sei hochbedeutend gewesen, „einer der angesehensten undverdientesten Lehrer seiner Zeit“, schreiben die einen; „kaum vonbesonderer Bedeutung“ die anderen. Von Cellius selbst kennen wirnur zwei persönliche Äußerungen, die sein gespaltenes Verhältniszur Jugend zeigen. In der Leichenrede für Samuel Heiland bekannteer:

„Seitdem ich hier 22 Jahre Rektor des Spitals gewesen bin, wo ichdie Blüte meiner Jugend und die Kraft einer nicht zu verachtendenBegabung - Mißgunst sei der Rede fern - gelassen habe, ich be-klage dies, o Schmerz, zu spät, widerfuhr mir vieles wegen derhäufigen Frechheit der Jugend und öfters auch wegen der Böswil-ligkeit, nicht ohne Lebensgefahr.“

Und ein andermal meinte er: „Ich wundere mich darüber, daß Einigeihr Haar so herrichten und ihren Geist dabei ungeschmückt lassen“.

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Geschäftseröffnung in der Langen Gasse 2

Im Jahr 1596, im Altervon 50 Jahren, erwarb Cellius eine Druckerei und eröffnete sein Ge-schäft in der Langen Gasse 2. In diesem Gebäude, dessen Ladenheute noch genutzt wird, wurde am 1. Januar 1845 auch die erste„Tübinger Chronik“ gedruckt. Der Vorbesitzer der Druckerei, EliasSchad, von dessen Erben Cellius die Druckerei kaufte, stammte ausLiebenwerda und war in Straßburg als Magister, Prediger und Theo-logieprofessor tätig gewesen. Er hatte ein Neues Testament in He-bräisch herausgegeben und sich deshalb 1591 eine Druckerei ge-kauft. Insgesamt sind aus der Presse von Schad sechs Drucke be-kannt.

Was hat Cellius dazu veranlasst, mit 50 Jahren eine Druckerei zukaufen? War es die Faszination, die von diesem neuen technischenMedium ausging? Oder war es die Sorge für die große Familie, die er

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durch einen „Nebenerwerbsbetrieb“ gemildert sehen wollte? Dennals Angehöriger der rangmäßig niedrigsten Artisten-Fakultät gehörteer zu den Geringverdienern unter den Professoren. Während derKanzler Andreae jährlich 280 Gulden, dazu beträchtliche Mengen anGetreide und Wein erhielt, kam Cellius nur auf 60 Gulden ohne jeg-liche Naturaleinkünfte – lediglich der „Musicus“ Leher mit nur 20Gulden war noch schlechter bezahlt (Setzler, 15/16). Ein weiteresMotiv könnte gewesen sein, dass Cellius es satt hatte, sich ewig vonDruckern ärgern zu lassen, die

„nur noch auf ihre Kosten drucken, was sie sofort absetzen zukönnen hoffen. Sonst muß der Verfasser fur jeden Bogen 2~3fl.bezahlen oder einen Mäzen haben, der für die Gesamtunkostenaufkommt. Zu groß ist die Menge der Autoren, und in diesen soschlechten Zeiten werden weniger Bücher gekauft... “

Der Kauf einer Druckerei verwundert umso mehr, als Tübingen be-reits zwei Druckereien besaß, nämlich die des Alexander Hock unddie Georg Gruppenbachs, die in höchster Blüte stand. Außerdemstudierten damals an der Universität nur etwa 500 Studenten, dieEinwohnerzahl Tübingens betrug im 16. Jahrhundert ungefähr 6000.Dass Cellius trotz dieser schlechten äußeren Bedingungen Erfolghatte, spricht für seine verlegerische Leistung.

Die „Imagines Professorum Tubingensium“

Noch im gleichen Jahr, in dem er die Druckerei erworben hatte, be-gann Cellius, einen lang gehegten Plan zu verwirklichen: den Druckder „Imagines Professorum Tubingensium“, der Bildnisse aller ander Universität lehrenden Professoren von 1577 bis 1596. Mit dieserVeröffentlichung gab er den entscheidenden Anstoß zu der umfang-reichen, bis zur Gegenwart fortgeführten Sammlung der BildnisseTübinger Professoren. Viele Bilder dieser Sammlung aus dem Werkvon Cellius sind heute im Sitzungssaal des Senats der Universitätund im Dozentenzimmer der Universitätsbibliothek im Original zubesichtigen. Das Buch enthält die Bilder als Holzschnitte, dazu kur-ze, meist von Cellius verfasste, Lebensläufe in poetischer Form. In-

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teressanterweise wird in den „Imagines“ sein Vorgänger Frischlinmit keinem Wort erwähnt. In der Vorrede heißt es:

„Schon enteilen flüchtigen Fußes die Jahre, seit ich meine Herrendazu bestimmte, sie sollten sich malen lassen zur Freude fürkommende Geschlechter, ein Schmuck für die Aula unserer Uni-versität. Sie sollten aber auch ihr Leben in Versen beschreibenund das Ganze im Druck herausgeben lassen. Ich erreichte dies:Es malte sie alle der Reihe nach Elias Alt, Bürger zu Herrenberg.Sie gefielen dem Herzog Ludwig so sehr, daß er sie für sich schönnachmalen ließ. Der Maler Jakob Züberlein in unserer Stadtzeichnete sie auf Tafeln von Birnbaumholz und der HolzschneiderJakob Lederlin hier schnitt sie mit kundiger Hand ... “

Und wohl nicht ohne Stolz steht auf dem Umschlag dieses schönenWerkes, dass es von Erhard Cellius, dem Dichter und Professor derGeschichte in Tübingen sei und aus des Verfassers Druckerei stam-me. Dass dieses Buch 400 Jahre nach seinem Erscheinen in einemkommentierten Faksimile-Nachdruck von Hansmartin Decker-Hauffund Wilfried Setzler herausgegeben wurde, unterstreicht seine Be-deutung für die Universität Tübingen.

Die Universitätsstatuten von 1601

Nachdem der Herzog eine neue Universitätsordnung erlassen hatte,erschienen im Verlag von Erhard Cellius die „Statuta UniversitatisScholasticae Studii Tubingensis Renovata Anno 1601“. Besondersinteressant sind diese Statuten auch für uns Buchhändler. Das ge-samte Kapitel XV, im Gegensatz zu den sonst lateinisch verfasstenStatuten auf deutsch geschrieben, ist den „Buchtruckern, Buchfüh-rern, Buchbindern, Apoteckern, Mahlern und Illuministen“ gewid-met, die nicht dem Stadtrecht unterworfen waren, sondern als Uni-versitätsangehörige ihre Gewerbegenehmigung vom Rektor erhiel-ten. Der Eid, in dem sie Gott, dem Rektor und Regenten der Univer-siät, dem „Gnädigen Fürsten und Herrn“, der Universität insgesamtund der Stadt Tübingen Gehorsam und anständiges Verhalten ver-sprechen mussten, ist in den Statuten in der vollen Länge von acht

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Paragraphen abgedruckt. Dann wird ganz präzise aufgezählt, wozusich jeder Buchhändler verpflichten musste:• Umfangreiche Zensurbestimmungen: Es dürfen keine „Schmach-

schriften, Bulerische und andere Untüchtige Lieder und Büchlein,unnütz Fabelwerck und dergleichen“ gedruckt oder angebotenwerden. Deshalb benötigte jedes Buch die Druckerlaubnis desjeweiligen Fakulätsdekans – und weil theologische Schriften be-sonders gefährlich erschienen, mussten diese vor Druck „beedesvon den Tübingischen und Stutgartischen Theologen Aprobirtund vergliechen“ werden. Für jeden Fall der Zuwiderhandlungwurde „unnachlässig“ mit einer Geldstrafe von vier Gulden ge-droht.

• Faire Verkaufs- und Druckpreise, die von Rektor, Kanzler undSenat zu überwachen waren.

• Pflichtexemplar: Der Universitätsbibliothek mussten 2 bzw. 3Exemplare jedes Neudrucks übergeben werden, allerdings „gegenzimliche[r] bezahlung“.

• Verpflichung, „nur allein gute, nutzliche und treffenliche Autho-res einzukauffen“.

• „Dagegen der Papistischen, Calvinistischen, Schwenckfeldi-schen, und andern Sectischen Büchern“ sollten sich die Buch-händler enthalten, allerdings auch hier 2 bis 3 Exemplare einkau-fen – für die UB und für die “Professoribus, oder GelehrtenPfarrherrn oder Studenten“.

• Dem Rektor musste von der Frankfurter Buchmesse der Mess-katalog „bey ehster gelegenheit“ geliefert werden.

Da versteht es sich von selbst, dass sich die Gewerbe auch ver-pflichten mussten, „allein Ehrliche, Nüchterne, Redliche Gesellen“einzustellen.

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Die Druckermarke von Gerhard Cellius

Als Druckermarke führte Cellius dasWürttembergische Wappen. Da dieses Wappen zu der damaligenZeit sicher nicht ohne Zustimmung des Herzogs geführt werdenkonnte, muss es ein entsprechendes Gesuch und eine Genehmigunggeben. Leider konnte bisher trotz aller Bemühungen weder die Er-teilung der Druckerlaubnis noch ein entsprechendes Gesuch gefun-den werden. Dass Cellius mit besonderen Privilegien ausgestattetworden war, wissen wir von seinem Grabstein, auf dem stand: „Ty-pographus Academicus Specialiter Constitutus“. Noch hundert Jahrespäter berief sich sein Ur-Urenkel, der Buchdrucker Reiß, allerdingsvergeblich, auf diese Rechte und bat, da er für Frau und 6 Kinder -„darunter ein Paar miserabler Zwillinge ist“ - zu sorgen habe, er au-ßerdem über besondere orientalische Schriften verfüge, ihm dieseRechte wieder einzuräumen, damit er das notwendigste Brot habe.

Cellius als Autor

Nur wenige der von Cellius veröffentlichten Schriften tragen alsAutor seinen Namen; allerdings sind die vielen von ihm verfasstenLeichen- und Gelegenheitsreden wohl nur zum Teil erhalten. Crusiusbemerkt des öfteren, nicht ganz ohne Spitze, dass Cellius die eigenenGeistesprodukte mit besonderer Sorgfalt behandelt habe, der Druck

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sei klar und die Verzierungen besonders schön und kunstvoll. Wirwollen hier nur zwei Werke des Autors Cellius hervorheben, dieauch aus seiner Druckerei stammten, und die von landesgeschichtli-chem Interesse sind:• „Warhaffte Beschreibung zweyer Raisen, welche erste (die Ba-

denfahrt genannt) ... Friedrich Hertzog zu Württemberg ... imJahre 1592 von Mümppelgart auss in Engellandt verrichtet: dieander, so hocbgemelter Fürst auss Stuttgarten im Jahr 1599 inItaliam gethan ... (Mit 5 Tafeln) Tübingen i. d. Cellischen Truk-kerey 1603“

• „Eques auratus Anglo-Wirtembergius: id est: Actus ad modumsolemnis: quo ... Jacobus ... Primus ... rex Anglicae ... Friederi-cum Ducem Wirtembergicum ... per legatum ... Robertum Spen-cerum ... equitem auratum magnificentissime declaravit: Stutt-gardiae anno 1603 die 3. Nov. Tubingae, typis auctoris 1605.“

Dieser Eques Auratus wurde dem Herzog im Manuskript zur Revisi-on übergeben und von ihm dann noch persönlich mit eigenen Anga-ben versehen.

Auch die Hofberichterstattung unterlag der Zensur. Zu einer Be-schreibung der Feierlichkeiten anlässlich Herzog Johann FriedrichsVermählung von Sebastian Honoldt hatte der Herzog ausdrücklichseine Erlaubnis gegeben und selbst 50 Exemplare bestellt. Nun wur-de jedoch eine Visitations-Commission darauf aufmerksam gemacht,„dass die Schrift sowohl in phrasi et genere dicendi, als ipsa materiaet revitate historia voller Fehler seye“, und deren Druck, besondersim Ausland, zur öffentlichen Beschimpfung gereichen würde. Dar-aufhin untersagte der Herzog den Druck; die Commission erklärtewenigstens, der Verfasser und der Drucker müssten fur ihre Unko-sten entschädigt werden.

Cellius als Verleger

Als Verleger war Cellius ausgesprochen rührig. Zwar erscheinen erstab 1600 Bücher aus seiner Presse auf den Messen, aber bereits imJahre 1600 waren es 21 (mit dem Vermerk: „in Commission bei

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Spieß“), während von der großen Konkurrenz Gruppenbach nur 10Bücher ausgewiesen werden.

1601 wird keine Veröffentlichung von ihm aufgeführt,1602: 27, davon 7 in Laugingen gedruckt,1603: 14,1604: 23,1605: 13,1606: 13.

Als „Typographus Academicus“ verlegte Cellius natürlich haupt-sächlich die Werke Tübinger Universitätslehrer. Zu seinen Autorengehörten die damaligen Professoren

• Sebastian Bloß, Professor der Medizin,• Martin Crusius,• Aegidius Hunnius, Professor der Theologie an der Universität

Marburg, später in Wittenberg, ehemaliger Tübinger Stipendi-at,

• Matthias Haffenreffer, Professor der Theologie und Kanzlerder Universität,

• Johannes Harpprecht, Professor der Rechtswissenschaft,• Thomas Lansius, Lehrer am Collegium Illustre für Geschichte

und Politik,• Johann-Georg Sigwart, Professor der Theologie.

Aber auch ein Sachbuch stammt aus seiner Presse,„Von der Natur und Nützbarkeit des Seidenwurmbs / auch Pfle-gung dessen zu seiner Nahrung hocherorderten Maulbeerbaums.Aus dem Französischen verteutscht durch Jacob Rathgeben. beyErhardo Cellio, 1603“

und selbst eine „gottselige Weibsperson“ durfte zu Wort kommen in:„Kurtzer Unterricht wie sich ein jeder Christ in allem seinen Creutzmit Gedancken Worten und wercken trösten soll, 1605“.

Am 2. Plingstfeiertag 1606 starb Cellius nach schmerzvollem Leidenim Alter von 60 Jahren. Mit einem Zitat aus seiner Autobiographie inden „Imagines“ nehmen wir Abschied von ihm:

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„Non me laudabo (laus propria sordet) ... Non (reror) hanc aliquadedecorabo Scholam.“ (Ich will mich nicht selbst loben - Eigenlobist schmutzig - aber ich habe der Schule nicht zur Schande ge-reicht.)

2. Johann Alexander Cellius (1606-1623)

Nach dem Tod von Erhard Cellius übernahm sein Sohn JohannAlexander, „der das Familienvermögen besonnen und redlich ver-waltet“ hatte, Druckerei und Verlag. Schon 1604 besorgte er für denVater, der in Kur weilte, die Geschäfte, und vertrat ihn im April 1605auf der Buchmesse. Geboren am 14. 10. 1578, hatte er das Druk-kereigeschäft erlernt. Er wird bei seiner Heirat 1611 mit Anna Maria,Tochter des Kaufmanus Abraham Majer aus Pforzheim, als Buch-drucker ausgewiesen.

Württembergs bedeutendster Verleger

Aus dieser Ehe stammen drei Kinder, Johann Anastasius, später Pfar-rer in Willersbach, Anna Maria, die später den Buchdrucker JohannHeinrich Reiß heiratete, und Anna Catherina. Nach GruppenbachsKonkurs 1606 war J. A. Cellius in Tübingen der einzige Drucker vonBedeutung. Vieles, was in dieser Zeit von württembergischen Ge-lehrten veröffentlicht wurde, hat er gedruckt und verlegt. Die Schrif-ten der drei großen Tübinger Theologen Matthias Hafenreffer, An-dreas Osiander und Johann-Georg Sigwart erschienen bei ihm. Vonden Juristen gehörten Christoph Besold, Heinrich Bocer, JohannHarpprecht und Martin Rümelin zu seinen Autoren. Auch WilhelmSchickardt, der Er-finder der Rechenmaschine, zugleich Theologe,Sprachwissenschaftler, Mathematiker, Geologe, Astronom, Schnit-zer, Kupferstecher und Maler, übergab Cellius einige seiner Schriftenzum Druck. 1620 finden wir zum ersten Mal in Tübingen eine drei-sprachige Schrift bei J. A. Cellius angezeigt: „Des Jani AngeliKampf und Trostschul deß Creutzpaniers und geisdichen ZodiacusMenschlichen Lebens“ (Frantzösisch/Teutsch/Lateinisch).

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Tübingens Bedeutung als württembergischer Druckort

Als Johann Alexander Cellius starb, endete damit zugleich eineglanzvolle und ruhmreiche Zeit der Tübinger Drucker. Wie groß dieBedeutung Tübingens als Buchstadt war, kann man recht genau ausden seit 1564 in ununterbrochener Folge erschienenen Mess-Verzeichnissen ersehen. In diesen steht Tübingen 1564 unter zwölfaufgeführten Verlagsorten gleich an dritter Stelle, hinter Frankfurtund Basel. In der Zeit von 1564-1625 werden aus Tübingen 1254gedruckte Bücher aufgeführt, aus Freiburg 260, Heidelberg 965,Stuttgart 60, Ulm 51. Und von 1600 bis 1625 stammen 339 von 501Tübinger Drucken aus der Presse von Cellius! Erst der dreißigjährigeKrieg führte zu einem dramatischen Rückgang des Druckereigewer-bes. Besonders groß waren die Schwierigkeiten der Papierbeschaf-fung – so musste sogar der Senat in Stuttgart vorstellig werden, weilohne Papier der gesamte Universitätsbetrieb gefährdet sei.

Umso erstaunlicher ist, dass in den zahlreichen Veröffentlichungen,die sich mit dem Tübinger Buchhandel vergangener Zeiten beschäf-tigen, der Name Cellius nur ganz nebenbei erwähnt wird. Dabei ge-bührt ihm ein Platz in der ersten Reihe der Tübinger Druckerverleger– nicht nur wegen der hohen Zahl der durch die Mess-Listen belegtenVeröffentlichungen, sondern aufgrund seiner Bedeutung für die gei-stige, geistliche und politische Landesgeschichte, und nicht zuletztauch wegen der Mannigfaltigkeit seiner Typen.

3. Anna Maria Cellius (1623-1625)

Der Schwiegersohn übernimmt die Druckerei

Nach dem Tode von Johann Alexander Cellius führte seine Frau dieGeschäfte weiter. Nach einem Jahr Witwenstand heiratete sie Phili-bert Brunn. Ihr Schwiegersohn Johann Heinrich Reiß übernahm dieDruckerei, während Philibert Brunn Verlag und Sortiment weiterführte.

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4. Philibert Brunn I. (1625-1651)

Philibert Brunn wurde am 5. Mai 1601 als Sohn des BuchbindersHieronymus Brunn geboren, verlor bereits mit sechs Jahren denVater und kam daraufhin nach Nürtingen zu seinem Vetter, wo er dieSchule besuchte, Lesen, Schreiben, Rechnen und Latein lernte. Da-nach kehrte Philibert zu seinem Stiefvater zurück und lernte bei die-sem das Buchbindehandwerk. Nach seiner Lehre begab er sich vierJahre auf Reisen, urn seine Lebensmittel selbst zu gewinnen. Zu-rückgekehrt, heiratete er die Witwe Cellius.

Tübingen im Dreißigjährigen Krieg

Philibert Brunns Tätigkeit fiel in eine der schwierigsten Zeiten derGeschichte Tübingens überhaupt. Durch den Dreißigjährigen Kriegwurde Tübingen schwerstens in Mitleidenschaft gezogen. Verkösti-gungen, Einquartierungen, Kriegssteuern, Kontributionen, Besetzun-gen und Verwüstungen, der Raub der Universitätsbibliothek, Be-schlagnahmungen und Plünderungen brachten den Universitätsbe-trieb fast ganz zum Erliegen, Stadt und Universität nahe an den Ruin.Zudem schleppten durchziehende Truppen 1634 die Pest nach Tü-bingen, die in einem einzigen Jahr 1485 Menschen, etwa ein Viertelder Bevölkerung, hinwegraffte. Innerhaib von vier Jahren starben 14Professoren, die Studentenzahlen sanken. Im Stift, in dem sich sonst170-180 Studierende befanden, lebten nur noch 20, das CollegiumIllustre war von 1630-1648 ganz geschlossen. Und doch brachte esPhilibert Brunn fertig, Buchhandlung und Verlag zu erhalten. Erselbst konnte nur noch zwei Friedensjahre erleben, bis er „am 13. 2.im Jahre 1651 abends zwischen 5 und 6 Uhr in seinem Buchladen beiBerufsarbeit eines plötzlichen Todes durch Erbrechung des Herzge-blüts gestorben und am 16. Februar in sein Ruh-Kämmerlein beivolkreicher Leichbestattung“ beigesetzt wurde. Den Nachruf hieltder Rektor der Universität, die Leichenpredigt Matthaeus Esenwein.In ihr heißt es, dass Philibert Brunn seine

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„Handlung diese grausigen Kriegszeiten wohl und nützlich gefüh-ret und gehalten, viel Ungemach Leibes und Lebensgefahr, saureReisen, Mühe, Sorg und Angst darüber ausgestanden und die Sei-nen im ziemlichen Wohlstande hinterlassen“ habe. Er habe „Got-tes Wort durch Druckerei Kunst in viel und weit entlegene Ort, ja,in die Herzen der Menschen“ geleitet.

Das verlegerische Werk Philibert Brunns ist beachtlich. Auf denMessen finden wir in diesen 25 Jahren 159 Titel aus seinem Verlagangeboten. Er verlegte Werke von Melchior Nicolai, „Prokanzler derUniversität, Probst zu Stuttgart, geheimer Rat und Visitator der Uni-versität und der Klöster“, von Johann Ulrich Pregizer (auch: Pregit-zer), Professor der Theologie und Superintendent in Tübingen,Kanzler der Universität, und Theodor Thurn, Professor der Theologieund Stadtpfarrer in Tübingen. Von den Juristen verlegte er vor allemChristoph Besold und Heinrich Bocer, unter seinen philosophischenAutoren waren Johann Geilfus und der Bibliothekar und ProfessorFriedrich Hermann Flayder. Vier Auflagen erlebte ein 1216 Seitenstarkes Buch

„Theatrum tragicum, Das ist neue, wahrhaftige, traurig, kläglichund wunderliche Geschichten, die wegen Zauberei, Diebstahl,Räuberei, Ehrgeiz, Fluchen, schöbren und anderer seltsamer Zu-fälle; sonderlich aber unzeitig und unordentlicher Lieb halber sichvor wenig Jahren mehrerteils in Frankreich zugetragen haben ...dargebracht von Martin Zeiller“,

dem Verfasser mannigfacher Reiseberichte.

5. Philibert Brunn II. (1651-1658)

Ein Prozess mit Harpprechts Erben

Philibert Brunn II. (1626-1658) übernahm nach dem Tode seinesVaters das Geschäft. Auch er hatte das Buchbindehandwerk erlernt,am 31. 5. 1648 wurde er als Buchbinder in die Universitäts-Matrikeleingeschrieben. Er heiratete die Augsburger GoldschmiedetochterEuphrosina GeIb und hatte mit ihr zwei Söhne. Philibert Brunn II.

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starb schon mit 33 Jahren; nur 8 Jahre konnte er selbständig Buch-handlung und Verlag führen. Leider wissen wir von ihm und seinerGeschäftsführung nur sehr wenig. Ein Streit mit den Erben ProfessorHarpprechts ist bekannt. Diese Erben gaben an, Harpprecht habe vorseinem Tod seinen Kindern anbefohien, dass die vier Bände seinerInstitutiones juris wieder neu aufgelegt, und der studentischen Ju-gend zum besten, gedruckt werden sollten. Philibert Brunn I. habezugesagt, dies zu besorgen und zwar so,

„dass man mit ihm wohl zufrieden sein könne und möge. Unddamit die Harpprecht‘schen Erben auch billigen Genuß daranhätten, so habe Brunn sich dahingehend erklärt, dass er den ge-samten Harpprechtschen Kindern von den neu gedruckten Exem-plaren 25 wolle aushändigen, dazu der verwitweten Frau Rümelinauf der Frankfurter Meß 28 Ellen schwarzen Brokat-Tuchs und 6Ellen gut schwarz Tuch, weiterhin auf die Oster Meß hin noch-mals 8 Ellen; doch dieses solle mit den ihr gehörenden Exempla-ren verrechnet werden. Außerdem solle Johann Christoph Har-pprecht für die Besorgung der Ausgabe einen Gürtel bekommen.Nun sei der Brunn gestorben und nur die Rümelin und ein Kindseien abgefunden worden, während die übrigen von dem jungenBrunn nur böse Worte zu hören bekämen.“

Der Senat wurde gebeten, sich für die Erben zu verwenden. Auf derAkte ist dann vermerkt, dass Philibert Brunn urn seine Verantwor-tung vor den Senat zu bringen sei, und späiter wurde hinzugefügt:„Das Buch wird mit dem ersten zu Frankfurt gedruckt werden“.

Catalogus Universalis Officinae Librariae Philiberti Brunnii

Und so finden wir dieses Werk in Philibert Brunns Sortimentskatalogangezeigt als „gedruckt in Frankfurt bei Beyer“. Wegen dieses Sor-timentskataloges aus dem Jahr 1657 ist uns Philibert Brunn II. ganzbesonders wichtig. Der für damalige Verhältnisse geradezu sensatio-nell umfangreiche Katalog erschien zu einer Zeit, da die Universitäterst langsam begann, sich von ihren desolaten Verhältnissen zu er-holen; Bürgerschaft und Universitätsangehörige waren verarmt, dieStudentenzahlen gering. Dieser „Catalogus Universalis Officinae

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Librariae Philiberti Brunnii“ enthält über 3400 Titel aus acht Wissen-schaftsgebieten, die alle in der Buchhandlung zum Verkauf standen.Dies ist eine einzigartige buchhändlerische und unternehmerischeLeistung. Auf 116 Seiten werden Theologie, Rechtswissenschaft,Medizin und Chemie, Politik und Geschichte, Philosophie und Phi-lologie, Mathematik und Astronomie, Fremde Sprachen und zumSchluss Musikliteratur aufgeführt. Die internationale Literatur kamaus Antwerpen, Venedig, Genf, Utrecht, Paris, Leiden, Brüssel,Haag, Rotterdam und Bologna. Diese Werke sind vornehmlich infranzösischer Sprache abgefasst, es folgen die in italienischer undeinige in spanischer Sprache. Merkwürdigerweise befindet sich nichtein einziges englisches Buch darunter. Als Verlagssignet sehen wirauf diesem Katalog einen in einer lieblichen Landschaft stehendendreistöckigen Brunnen, an dem sich ein Hirsch erlabt, eingerahmtvon dem Spruch aus dem 42. Psalm: „quen admodum desiderat cer-vus ad fontes aquarum ita desiderat anima mea ad te deus“ – „wie derHirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zuDir“. Dieses Bildnis wird wiederum von zwei Wassernixen, die zu-dem noch Flügel haben, gehalten; an den Schwanzenden finden sichdie Initialen PB.

6. Witwe Brunn und Geschäftsführer Johann Georg Cotta

(1658-1680)

Cotta wird nach Tübingen berufen

Als Philibert Brunn II. am 11. September 1658 starb, bestimmte derakademische Senat der Universität den späteren Vizekanzler derUniversität Kurtz zum Vormund der jungen Frau, der den Nürnber-ger Buchhandelsgehilfen Johann Georg Cotta als Geschäftsführer derWitwe nach Tübingen berief. Damit wurde eine Entwicklung einge-leitet, die Tübingen als Verlagsstadt 100 Jabre später Weltgeltungbringen sollte. Denn Cotta heiratete am 22. November 1659 dieWitwe; dieser Hochzeitstag gilt gleichzeitig als Gründungstag desbekanntesten deutschen Verlages, Cotta. Gleichzeitig führte er denbrunnschen Verlag für den noch unmündigen Philibert III, der von

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seinem Stiefvater Cotta „christlich erzogen und fleißig zu Kirchenund Schulen und anderen Christ geziemenden Tugenden angehalten,damit er nicht nur seinem eigenen sondern auch dem gemeinen We-sen nutzen möge“. Diese Mühe ist nicht fehlgeschlagen. PhilibertBrunn sollte zuerst die Buchdruckerkunst erlernen, war aber dazunach einem Unfall nicht mehr in der Lage und erlernte deshalb beiseinem Stiefvater Cotta den Buchhandel, wobei er „weder Müh nochFleiß“ sparte.

7. Philibert Brunn III. (1680-1696)

Förderer der „Unverweßlichkeit“

Nach Lehrjahren in anderen Buchhandlungen und einer großen Reisedurch Deutschland kehrte Philibert Brunn 1680 nach Tübingen zu-rück und übernahm die Buchhandlung seines Vaters. Er heirateteSalome Engel, die Tochter des vieljährigen Prokurators des Theolo-gischen Stipendiums. Mit ihr hatte er zwei Töchter und zwei Söhne,die allerdings sehr bald nach dem Tode der Mutter starben. Aus einerzweiten Ehe mit Anna Maria Neuffer, Tochter des Stadtpfarrers ausWeinsberg, stammten ein Sohn und zwei Töchter, von denen ihnaber nur eine Tochter, Susanna Dorothea, überlebte. Als PhilibertBrunn III. 1696 von der Herbstmesse nach Hause kam, wurde er voneiner Geschwulst und Engbrüstigkeit befallen, die es ihm jedochnoch erlaubte, wenn auch beschwerlich, auszugehen und seine Ge-schäfte zu betreiben. Als jedoch keine Besserung eintrat, sondern dasLeiden sich immer mehr verschlimmerte, suchte er Mitte Mai 1697Linderung in Wildbad. Dort starb er schon wenige Tage nach seinerAnkunft,

„obwohl Ihre Durchlauchte Herrn Herzog Friedrich Karis Hoch-fürstliche Frau Gemahlin aus Hochfürstlichen höchst rühmlichstmitleidenden Fürsten-Hertzen, Mittel, Rat, Tat und Labsal aus derfürstlichen Apothek und Küche gnädigst anerboten und wirklichdargegeben hatte“.

In einem der zahlreichen Nachrufe lesen wir:

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„Das werden die Gelehrten allund was gehört in ihre Zahlvon ihm bezeugen müssenDaß mit ihm wahre Lieb und Treuverbrüderet gewesen sei.Er führte Bücher dann und numit Hauffen den Gelehrten zu,zu fördern das Studieren.Es haben viel gelehrte Leutvon ihm die Unverweßlichkeit.“

8. Anna Maria Brunn geb. Neuffer (1696-1704)

Ein jahrelanger Prozess belastet die Buchhandlung

Nach Philibert Brunn III. Tod war es offensichtlich fur die Witwenicht ganz einfach, mit dem Geschäft zurechtzukommen. Sie ver-harrte neun Jahre in ihrem Witwenstand „unter mancherlei gehabterWiderwärtigkeiten und Prüfungen“. Diese Prüfungen und Widerwär-tigkeiten begannen bald nach dem Tod ihres Mannes. Die Buch-handlung sollte an einen Nürnberger Buchführer aus der Buchhand-lung Endter verkauft werden - wohl einen Collegen Cottas, der je-doch nur 3960 Taler bezahlen wollte, wobei ein Verlust von 1485Talern entstanden wäre. Dieser Kauf kam daher nicht zum Ab-schluss. Schon kurze Zeit später beantragte ein Konrad Reincking dieakademischen Bürgerrechte, um den bereits mit der Witwe durchHandschlag und Glückwunsch unwiderruflich geschlossenen Con-tract zu konfirmieren. Der Senat verweigerte Reincking diese Rechte,es kam zu einem langwierigen Prozess, der immerhin sechs Jahredauerte. Die Witwe bat den Senat, den Verkauf nicht zu gestatten, dasie den Reincking nicht heiraten wolle, endlich sollte Reincking alsSchuldner in Arrest genommen werden. Dagegen legte er Wider-spruch ein, da er

„schließlich ohne all sein Verschulden um Geborgenheit und Ehe-stiftung gekommen sei und daß er durch verzögerte Handlungsdi-

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vision, Inventur und Extraktion um eine so herrliche Gelegenheitsich mittels anständiger matrimonii zu copulieren gebracht unddadurch inhabiert worden sei“.

Das Gericht ordnete wegen der widersprüchlichen Aussagen eineGegenüberstellung von Reincking und Witwe Brunn an, die jedochvon Tag zu Tag hintertrieben und verschoben wurde. Die BrunnschePartei versicherte, dass der Käufer Reincking bereits vor der Ertei-lung des consensus nicht rnehr zahlungsfähig gewesen sei. Im De-zember 1704 verlor Reincking den Prozess dann endgültig.

9. Gottfried Stoll (1704-1721)

Schwere Zeiten

Im Jahre 1701 trat zum ersten Mal der Buchhandelsdiener GottfriedStoll aus Großen-Hagen/Sachsen auf. Wir wissen nicht, ob sein Er-scheinen der Anlass war, dass Reincking durch ihn um die „so herrli-che Gelegenheit“ gebracht wurde, die Witwe Brunn zu heiraten. Tat-sache ist jedoch, dass es nun zur Eheschließung zwischen GottfriedStoll und Anna Maria Neuffer, verwitwete Brunn, kam. Diese Ehe,die kinderlos blieb, dauerte 16 Jahre. Von Stoll wissen wir nicht viel,aber daraus geht hervor, dass er keine „fortune“ hatte. Die verworre-nen Verhältnisse irn Buchhandel der damaligen Zeit, insbesonderedas Nachdruckunwesen, das Verkaufen von Büchern durch Hausiererund wandernde Händler, die geringe Studentenzahl an der Universi-tät, das Aufkommen von Vetternwirtschaft und Protektion, nach de-nen weitgehend Rechte und Privilegien vergeben wurden, machten esStoll schwer, sich zu behaupten. So finden wir auch nur wenige Bü-cher von ihm auf den Messen. 1710 sind es drei, 1718 und 1719 jeeines.

Zusammen mit Johann Georg Cotta II. beschwerte sich Stoll am 23.8. 1708 über die Disputationshändler, die sich nicht an den Erlasshielten, keine Bücher zu vertreiben, sich auch außerhalb derMarktzeiten in Tübingen aufhielten oder versuchten, ihre Ware in

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Commission zu deponieren. Eine Beschwerde Stolls an den Rektorklagte in beredten Worten den Buchbinder Blifer an, dass diesersämtliche Schriften des Disputationshändlers Kohl führe und seinenLaden zu einem Buchladen ausrüste. Stoll berief sich dabei auf einePolizeiverordnung, wonach „niemand dem andern in seiner Hand-lung Eingriff tun, noch doppeltes Gewerbe, so er nicht erlernte, zumNachteil seines Nebenmenschen treiben solle“. Kurze Zeit späterklagten nochmals die Witwe Cotta und Stoll gegen Blifer und er-klärten, dass

„bei diesen ohnehin geldlosen und schweren Zeiten, da mancheZeit kein Heller erlöst würde und der Buchhandel durch große undnur mit barem Geld abzustattende Kosten belastet sei, es sowiesoschon über die Maßen schwer, ja nahezu unmöglich sei“,

durchzukommen. Witwe Cotta wies dabei auf ihre 5 „vaterlosenKinder“ hin, Stoll auf seine, wie dem Senat ja bekannt sei, „schlechteMittel Beschaffenheit“.

Traten auch Cotta und Stoll einige Male gemeinsam auf, um ihreInteressen zu verteidigen, so hatte Stoll zunehmend unter der Kon-kurrenz des jungen Johann Georg Cotta (III.) und dessen rigoroserGeschäftstüchtigkeit zu leiden. Als Stolls Stiefschwiegersohn 1720das Geschäft übernehmen wollte, stellte sich bei der Vermögensaus-einandersetzung heraus, dass Stoll, obwohl er auch etwas eingebrachthatte, einen erheblichen Teil des väterlichen Erbes seiner StieftochterSusanna Dorothea verwirtschaftet hatte. Trotzdem wollte er zunächstdie Verantwortung für den Bücherladen nur unter der Voraussetzungan Metzler übergeben, dass dieser den Namen Stoll weiterführe, so-lange er lebe. Metzler ließ sich jedoch auf diese Forderung nicht einund übernahm unter seinem Namen im Dezember 1720 das Geschäft.

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Theodor Metzler (1721-1724)

Kurze Blütezeit

Theodor Metzler wurde am 18. 12. 1690 als Sohn eines Kauf- undHandelsmannes in Frankfurt geboren. Seine Eltern bestimmten ihnzum Studium und schickten ihn zunächst auf die Lateinschule inFrankfurt und anschIießend auf das fürstliche Gymnasium nachStuttgart. Dort nahm sich des Knaben ganz besonders der Bruderseines Vaters, August Metzler, an, der als angesehener Buchhändlerdort lebte. Die Ferien und wann immer es sonst seine Zeit erlaubte,verbrachte der junge Metzler in der Buchhandlung seines Onkels.Dort hatte er Gelegenheit, vieles zu sehen und zu lernen. Nicht weni-ger wichtig war für ihn der Umgang und die Freundschaft mit Chri-stoph Erhardt, der jahrelang die Metzlersche Buchhandlung führteund mit dem er auch später verschwägert war. Theodor Metzler ab-solvierte seine Stuttgarter Gymnasialzeit mit so großem Erfoig, dasser - gleich den Landeskindern - in das Tübinger Stipendium Theolo-gicum aufgenommen wurde. Er studierte zuerst Philosophie und nachAblegung seiner Examina Theologie. 1715 ging er mit erhaltenergnädigster permission fünf Jahre auf Reisen und besuchte dabeiFrankreich, Italien, England, Holland, Schweden, Dänemark undeinen großen Teil Deutschlands. Auf diesen Reisen eignete er sichdie verschiedensten Fremdsprachen an, die er in seinem Buchladengut gebrauchen konnte. Als er im Jahine 1720 zurückkehrte, „erbat erbei gnädigster Herrschaft seine Demission und übernahm die ehedemberühmt gewesene Brunnsche Handlung, wobei ihm die viel Ehr undTugend begabte Jungfrau Susanna Dorothea, Herrn Philibert Brun-nen seel. gewesenen Civis Academici und Buchhändlers allhier hin-terbliebene eheliche Tochter elne vergnügte Ehe-Consortin war“.Nur vier Jabre dauerte diese „höchst zufriedene, liebreiche und be-glückte Ehe, jedoch ohne Kinder Segen“.

Was Metzler in diesen vier Jahren zustande brachte, ist erstaunlich.Bereits im Jahre 1721 finden wir vier Verlagswerke, 1722 sind eszwei, 1723 gar sechzehn, mehr als die doppelte Anzahl derjenigen

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Cottas (III.), während 1724 - im Todesjahr keines verzeichnet ist.Gegen die rüden Geschäftsmethoden Cottas setzte sich Metzler er-folgreich zur Wehr. Er erreichte nach wiederholten Vorstellungenbeim Senat die Schließung des zweiten Cottaschen Buchladens, dendieser statutenwidrig eröffnet hatte. Als Cotta dann versuchte, beimHerzog ein Privileg zu erhalten, wonach ihm allein Druck und Verlagaller in Kirchen, Schulen und Klöstern des Landes gebrauchten Bü-cher zugesprochen werden sollte und sich dabei auf das Recht berief,das schon seine Vorfahren inne gehabt hätten, aber sein Vater wegenseiner Krankheit nicht mehr hätte wahrnehmen können, hagelte esProteste von allen Seiten, besonders auch von Metzler. Dabei wurdeer stark von der Universität unterstützt: „... so können wir nicht zwei-feln, Euer hochfürstlich Durchlauchtigkeit werden dem unterthänigstSupplieren Cottas in solch einem bedencklich und Jedermann nacht-heiligen Gesuch nimmermehr willfahren, sondern ihn damit ernstlichab und zur Ruhe weißen lassen...“

Cotta versuchte ein weiteres Mal, diese Privilegien doch zu erhaltenund seinen angeblichen Rechtsanspruch zu bekräftigen, indem erseine Buchhandiung die älteste irn Lande nannte und sich dabei aufden Druck des Kirchenrechts von 1582 (Gruppenbach) und dasWürttembergische Landrecht 1608 (Cellius) bezog. Sicherlich wuss-ten weder Cotta noch der Senat von der Existenz eines Briefes, derzwanzig Jahre zuvor von Cottas Vater an den Rektor geschriebenworden war, als dieser um Auskunft wegen Brunnscher Verlags-rechte bat. In diesem Brief heißt es: „sintemalen vor Zeit nichtIeichtlich dergleichen schriftliche Contractus wie jetzo üblich aufge-richtet worden. So können auch keine Privilegia vorhanden seyn.“

10. Susanna Dorothea Metzler geb. Brunn und Karl Gottlieb

Ebert (1724-1734)

Das Ende der Dynastie Cellius / Brunn

Nachdem Metzler gestorben war, führte seine Frau die Buchhand-lung weiter. 1727 kam Karl Gottlieb Ebert aus Frankfurt nach Tübin-

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gen und trat „bey der Frau Metzlerin in Condition“. Auch Ebertscheint ausgesprochen rührig gewesen zu sein, denn in den Messka-talogen im Jahre 1727 sind sieben Verlagsprodukte, allerdings nochunter „Theodor Metzlers Witwe“ angezeigt. Nun kam es, wie eskommen musste: Die Frau Metzlerin heiratete 1728 Karl-GottliebEbert. Das Geschäft kam in gute Hände. Leider blieb auch diese Ehekinderlos und dauerte nur bis 1732. Wieder einmal überlebte die Frauihren Mann. Während dieser Zeit werden 23 Verlagswerke von Ebertin den Messkatalogen ausgewiesen, während Cotta nur mit drei ver-treten ist.

Mit dem Tod von Karl Gottlieb Ebert und dem Verkauf der Buch-handlung endet die 140 Jahre dauernde Dynastie der Familie Celli-us/Brunn, die einen entscheidenden Beitrag zur Druck- und Verlags-geschichte Tübingens geleistet hat. Allerdings ging die Buchhand-lung nicht in ganz fremde Hände: der Käufer Christoph HeinrichBerger war Angestellter der Ebertschen Buchhandlung gewesen.

II. Christoph Heinrich Berger: 1734-1778

44 Jahre Kontinuität

Als die Witwe Ebert ihre Handlung nach dem Tod ihres zweitenMannes verkaufte, war die Buchhandlung wesentlich mehr wert alsvor 12 Jabren. Es liegt ein Kaufvertrag vor, wonach Susanna Doro-thea, verwitwete Ebertissin, mit Assistenz von Professor Hallwachsund des ihr obrigkeitlich verpflichteten Kurators Hieronymus Brunnihre Buchhandlung am 7.7. 1734 für 3227 Gulden an ChristophHeinrich Berger verkauft hat. Heinrich Berger, der nun bis 1778 dieBuchhandlung führte, war Faktor in der Ebertschen Buchhandlunggewesen. Die Universität verlieh ihm mit dem Kauf der Buchhand-lung das Akademische Bürgerrecht. Damit war nach vielen Jahrenraschen Wechsels endlich ein Nachfolger gekommen, der nicht nurfähig und tüchtig war, sondern auch 44 Jahre lang die Geschicke sei-ner Firma leiten konnte, bis er sie in jüngere Hände gab. Unter Chri-

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stoph Heinrich Bergers Leitung wurde die Buchhandlung, die schonunter Metzler und Ebert wieder zu Ansehen gelangt war, erneut eineder bedeutendsten Sortimentsbuchhandlungen im süddeutschenRaum. Berger war zwar in erster Linie Sortimenter, trotzdem ver-legte er über 100 Titel. In Tübingen fand die sich im Buchhandelanbahnende Trennung Verlag - Sortiment sehr viel später statt; einGrund dafür lag sicher darin, dass die beiden Buchhandlungen (dievon Berger und die von Cotta) bei der damaligen Studentenzahl oh-ne Verlag wohl kaum hätten existieren können.

Bergers Verlagswerk

Berger verlegte die Schriften von Christian Gottlob Storr (1746-1805), der es bis zum Oberhofprediger und Konsistorialrat in Stutt-gart brachte. Storr spielte in der theologischen Auseinandersetzungder damaligen Zeit eine große, eher konservative Rolle. Auch seineNachfolger, die Professoren Johann Friedrich Flatt, Karl ChristianFlatt und Ernst Gottlieb Benger, die Storrs Schule angehörten, warenBergers Autoren. Ferner verlegte er die Predigtbände des KanzlersJeremias Reuß und die Gottlieb Fabers, „der Heiligen Schrift Doktor,Herzoglich-Württembergischer Consistorialrath und Abt des KlostersAlpirsbach“. Dazu kamen natürlich Bibeln und Gesangbücher, dazudie Schriften des Spezial-Superintendenten Steinhofer, die jedochdurch einen „bekannt heillosen Mann, einen Landstreicher und bos-haften Nachdrucker namens Gegel“ nachgedruckt wurden.

Die Aufzählung von Bergers theologischen Verlagswerken soll mitzwei Namen ihr Bewenden haben, die zu den ganz großen Theologender damaligen Zeit gehörten, mit Johann Albrecht Bengel und Nico-laus Ludwig Zinzendorf. Bengels „Richtige Harmonie der VierEvangelisten“ war durch seine kritische Fragestellung fur die Tübin-ger nicht tragbar. Es hieß, Bengel sei im Neuen Testament und inpatribus sehr gut versiert, gehe aber in der Kritik zu weit und er seiein Visionär. Die „Richtige Harmonie“ erreichte unter Berger dreiAuflagen, Bengels Novum Testamentum Graecurn fünf. Von Zin-

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zendorf verlegte Berger fünf Predigten, die dieser in Tübingen ge-halten hatte.

Die Philosophen waren mit Israel Gottlieb Canz und Georg BernhardBilfinger vertreten, die Juristen Harpprecht, Hoffmann, Moser,Schopf, Schweder, Tafinger verlegten bei Berger, und von den Na-turwissenschaftlern waren es die Professoren Johann Georg Gmelinund sein Nachfolger Philipp Friedrich Gmelin.

Die Medizinische Fakultät, die bisher in Tübingen nur eine unterge-ordnete Rolle gespielt hatte, nahm in dieser Zeit einen glänzendenAufschwung durch die Professoren Autenrieth, Clossius und Kiel-meyer. Besonders Autenrieth und Kielmeyer beeinflussten maßgeb-lich die medizinische Ausbildung weit über Deutschlands Grenzenhinaus. Autenrieth und Clossius verlegten bei Berger, ebenso er-schienen bei ihm zahlreiche Bücher des Professors Ploucquet.

Das Nachdruckunwesen

Anhand dieser Verlagswerke und der damit verbundenen Streitig-keiten bekommen wir auch ein anschauliches Bild vom TübingerBuchhandel der damaligen Zeit. Druckern und Buchhändlern wurdedas Leben durch das in höchster Blüte stehende Nachdruckunwesen,durch Zensur und Kleinstaaterei schwer gemacht. So rissen beimSenat die Klagen der Tübinger Kollegen untereinander wegen derVerletzung von Privilegien und unerlaubtem Nachdruck nicht ab,während zumindest Cotta und Berger sich stets einig waren, wenn esgalt, gegen Nachdrucker und Brotdiebe zu Felde zu ziehen. Natürlichwaren diese beiden Buchhändler durch die Landesuniversität, durchihre Beziehungen zu den einzelnen Professoren gegenüber ihrenKollegen im Lande begünstigt, saßen sie doch an der Quelle undkonnten sich ihrer Autoren annehmen. Die starke Stellung der Tü-binger beklagte der Ludwigsburger Buchhändler Christian HeinrichPfotenhauer, indem er 1756 flehentlich um ein Privileg auf ein odermehrere Verlagsbücher bat:

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„... ist nicht nur durch die schon angezogene generale Nahrungs-losigkeit zu Ludwigsburg, sondern auch wie ich mit Wahrheit zusagen mich nicht entbrechen kann, durch die in den höchsten Florund Aufnahm gekommen, alltägl. aber mit mehrerem Profit undNahrung versorget werdende Buchhändler und Buchdrucker zuStuttgart und Tübingen beeinträchtiget, als denen nicht sowohl eingebannter und gebahnter Weg zu aller nur erdenklichen Nahrungund Verschluß gemacht, und sonderlich mit verschiedenen, ja al-len Schul- und anderen Verlagsbüchern, die im Land eingeführt,am höchsten aufgeholffen, sondern auch übrigens bey aller Gele-genheit, der vordringlichen Favor gewiß und eigen ist...“

Freilich, die Tübinger fanden nicht, dass sie vordringlichen Favorsgewiß und eigen waren.

Kampf gegen die Zensur

Zwei Beispiele zeugen vom oft vergeblichen Kampf des Buchhan-dels gegen das rigide Zensurwesen.1737 musste Berger 50 Taler Strafe bezahlen, weil er ein nicht zu-gelassenes Buch verlegte, das er in Esslingen drucken ließ. Er batvergeblich, ihm die Strafe zu erlassen oder wenigstens zu mildern, dadas Buch durch „auswärtige Gelehrten Censur gelassen und außer-halb gedruckt worden ist“. Zudem müsse er die in Esslingen liegen-den 700 Exemplare mit den größten Kosten wieder nach Tübingenkommen lassen,

„welcher Schade noch mehr vergrößert und mir gar zu empfind-lich werden wird, wann ich dem Vernehmen nach ein und anderesin dem Buch umdrucken lassen sollte, denn dadurch, wann, wirnicht zweifeln, es auswärts bekannt wird, würden mir nicht alleindie noch vorhandenen Exemplaria liegen bleiben, sondern auchnicht ungegründet ein fremder Nachdruck zu befürchten seyn“.Und weiter: „und ich auch als ein junger Civis bey jetzigen trüb-seligen Zeiten um mich in Credit und guten Namen zu erhaltenohnehin genug zu profitieren habe.“

Der Senat ließ sich aber von den Bitten Bergers nur insofern beein-drucken, als er ihm gestattete, wenigstens die eine Hälfte des Betra-

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ges in Büchern zu bezahien. Dabei handelte es sich bei dem bean-standeten Buch um ein Werk des höchst angesehenen TübingerTheologieprofessors Canz „De usu philosophiae Leibnitianae et Wol-fianae in Theologica“.

Und ausgerechnet die Lieder Zinzendorfs, die längst zum Bestanddes offiziellen Gesangbuchs der evangelischen Landeskirche gehö-ren, wurden 1769 als Ausgeburt eines verrückten Gehirns verfemt.Eine Beschwerde der freien Reichsstadt Esslingen an die UniversitätTübingen klagte darüber, dass

„in allhiesiger Stadt, ohne Namen eines Verlegers gedruckt wor-den seyn solle: Erbauliches zur Hausandacht gewidmetes Gesang-buch, bestehend in einer Sammlung 1191 der geistreichsten Liedermit einer Vorrede, 1769, ... und müsse man sich wundern, daß ineiner lutherischen Reichsstadt, wofern dieser Name nicht listiger-weise gewählt worden, eine Sammlung Herrenhuthischer Liederans Licht gesteilt werde, welche offenbar ein verrücktes Gehirn,das nie durch Vernunft regiert noch durch einen gründlichen Ver-stand der Heiligen Schrift geläutert worden, verriethen“, undweiter „... daß wir in Erfahrung gebracht haben, daß Herr Buch-händler Berger in Tübingen über das Herrenhuther Gesangbuch,so bereits in anno 1749 den 30. Juni bey ihm seye gedruckt wor-den, einen neuen Titel hätte drucken, und weil er Tübingen dar-unter zu sagen nicht getraut, Esslingen davor setzen lassen ...“

Auch so konnte man versuchen, die lästige Zensur zu umgehen. Siehtman sich Sortimentskataloge dieser Zeit an, stellt man fest, dass vieleTitel ohne Angabe eines Verlagsortes aufgeführt sind. Bei diesenBüchern dürfte es sich nahezu ausschließlich um Nachdrucke oderunzensierte Bücher handeln. Zensur und Ahndung eines Nachdruk-kes wurden in jedem Land, ja häufig von Ort zu Ort anders gehand-habt.

Pflichten und Privilegien

1744 wurde den Buchhändlern wieder einmal zur Pflicht gemacht,„die von der Messe kommenden Bücher bei der Auspackung den

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Dekanen vorzuzeigen und eine möglichst billige Büchertaxe anzuset-zen“. Außerdem sollten die Buchhändler angewiesen werden, „diepretia librorum ihrem Catalogo mitzuinserieren“, also die Preise je-weils anzugeben. Und in den 1752 erlassenen neuen Statuten derUniversität wurde außer der schon 1601 auferlegten Pflicht, alle zurnDrucke bestirnmten Manuskripte zur Vorzensur den Fakultäten vor-zulegen, und dem Verbot, eitle, ärgerliche, lästerhafte und anzüglicheSchimpfschriften zu verlegen, den Buchdruckern zur Pflicht ge-macht, ihr Typenmaterial von Zeit zu Zeit zu erneuern und Alphabetefür orientalische Schriften anzuschaffen. Gleichzeitig wurde erneutdie Zahl der Buchdruckereien auf vier, die der Buchhandlungen aufzwei begrenzt – so hielten sich die Pflichten und das Privileg desKonkurrenzausschlusses die Waage.

Bibliotheksgroschen und Pflichtexemplar

Ein weiteres Ärgernis bildete die Herzogliche Bibliothek in Lud-wigsburg. Seit ihrer Errichtung 1765 mussten die Verlage sowohlvon den alten Verlagserzeugnissen als auch von den Neuerscheinun-gen ein Pflichtexemplar abliefern. Schon damals war die ÖffentlicheHand äußerst erfindungsreich bei zusätzlichen Abgaben: Berger undCotta wurden aufgefordert, zur Vermehrung der Bibliothek nochzusätzlich jährlich 15 Gulden in bar zu bezahien. Dies Verlangenwiesen beide als unbillig zurück, da die Transportkosten der erstenBücheranlieferung im Jahre 1765 an die Bibliothek schon hoch ge-nug gewesen seien, abgesehen von den nicht unbeträchtlichen lau-fenden Kosten. Dazu käme aber auch, dass sie durch die hiesige Bi-bliotheca publica verbunden seien, von Zeit zu Zeit Beiträge zu lei-sten. Zudem gäbe es auch außerhalb des Landes wohl nirgends einExempel dafür, dass Buchhändlern jemals etwas dergleichen aufer-legt worden sei. Selbstbewusst fügte Berger dem Einspruch hinzu:„welches wenigstens mir Berger umso empfindlicher geschieht, alsmir ehemals die Universität Freyheit der Hauptanlaß meines hiesigenEtablissiments gewesen“ – eine Behauptung, die kaum der Wahrheitentsprochen haben dürfte. Und weiter hieß es in der Weigerung, sol-che Forderungen seien um so weniger zumutbar, als noch keines der

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zur Vermehrung der Bibliothek gekauften Bücher jemals aus ihrenBücherläden stamme, obwohl sie diese sowohl als andere in der Lageseien anzuschaffen.

Nun bat die Regierung die Universität um ihre Stellungnahme. Diesestellte sich auf Seiten ihrer Buchhändler und meinte, mit den Natura-lien-Abgaben müsste es sein Bewenden haben, „sintemalen die Lud-wigsburger Bibliothek ja auch die Bücher ausländischer Autoren, sohier gedruckt“, erhalten würde. Doch der Ludwigsburger Bibliothe-kar Vischer hatte offensichtlich ein geneigteres Ohr beim Herzoggefunden, oder die Staatskasse war zu klamm. Am 15. 8. 1772 wurdean die Universität geschrieben, „daß wir gnädigst verordnet habenwollen, daß die bisherige Verfassung sein Verbleiben haben solle“.

Bergers Sortiment und sein „Büchervorrath“

Verlassen wir nun den Verleger Berger und wenden uns dem Sorti-menter zu. Glücklicherweise können wir sein großes Sortiment unddamit seine Bedeutung als Sortimenter ziemlich exakt ermitteln. DaBerger keinen Nachfolger hatte, war er gezwungen, nach einem Käu-fer Ausschau zu halten. Seine Erwartungen auf einen entsprechendenVerkaufserlös waren wohl nicht realisierbar. Deshalb zeigte er die inseinem Sortiment befindlichen Bücher jeweils als Sonderangebotean. So heißt es im Vorwort zum„Theologischer Bücher-Vorrath, welcher die in der Berger‘schenBuchhandlung befindlichen Theologischen Bücher und Schriftenenthält, so auf nachstehende Bedingungen abgegeben werden - Tü-bingen 1773“:

„Schon im Jahr 1760 ließe der Buchhändler C. H. Berger, in derwahren Absicht, sich nach und nach seines ganzen Bücher-Vorraths zu entschlagen, Verzeichnisse von Büchern aus allenTeilen der Gelehrsamkeit drucken, um solche, unter gewissen Be-dingungen, um den halben Theil des Ansatzes loszuschlagen. Nunwurde zwar jene Absicht damals ziemlichermaßen erreicht; alleines ist seit dieser Zeit, dem ernstlich gehabten Vorsatz gerad entge-gen, die Menge der Bücher, ohnvermerkt wieder so sehr ange-

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wachsen, dass deren Besitzer solchen fast keinen Platz mehr zugeben weiß. derselbe siehet sich daher gedrungen, jenen Wegnochmals und zwar urn so mehr einzuschlagen, als zu denen vorelf Jahren vorgewalten Ursachen, noch zwey wichtigere hinzukommen, nemlich1. daß der Eigenthümer, bey seinem stark anwachsenden Alter,den Geschäften je Länger je weniger vorstehen kan, 2. aber Er,bey erfolgendem Ableben, einem Käufer, die Uebernahme einesso grossen - mithin kostbaren Corporis, gern erleichtern möchte.Da bereits, zu gleichem Zweck, im Jun. des Jahrs 1771 das Ver-zeichniß der sogenannten Miscellan-Bücher, welche den philo-soph. philologischen, historischen, mathematischen, Ökonom- undpolitischen Bücher-Vorrath enthielt, nicht weniger auch zu EndeNovember ej. anni, das Verzeichniß der juristischen Bücher, er-schienen ist; so trifft nun die Reihe, den Vorrath der theologischenBücher, welche, wie jene, unter nachstehenden billigen Bedin-gungen, abgegeben werden sollen:1. Wenigstens muß man, nach dem Ansaz, vor 10 fl. Bücher

nehmen, welche mit 5 fl. bezahlt werden.2. Seyn es aber Hauptbücher von 5 und mehr Gulden, so wird

keines davon allein weggegeben, sondern der Käufer muß sichgefallen lassen, vor noch so viel, als eines derselben beträgt,auch Bücher im geringeren Preis zu nehmen, damit der Ver-lust diß Orts nicht zu groß ist.

3. Da von den meisten Büchern wenige - oder gar nur ein Exem-plar vorhanden, so bittet man, falls, zumal wenn die Bestel-lungen spät eingehen, nicht alle Liebbaber versehen werdenkönnen, solches dem Besizer nicht zur Last legen, indem ehr-lich versichert wird, daß, solang Exemplaria diß oder jenenBuchs da seyn, man solle niemand vorenthalten, sondern derErste, so sich meldet, den Vorzug haben solle.

4. In Absicht auf diesen Umstand, hoffet man, daß diejenige, de-nen es Ernst ist, sich Bücher urn diesen überbilligen Preiß an-zuschaffen, um so schleuniger ihre Bestellungen machen wer-den.

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5. Gleichwohl aber muß man hiermit zum voraus sezen, daßdenjenigen Käufern, welche schon seit mehreren Jahren sichdieses Vorraths bedienen, billigermassen der Vorzug gewied-met ist.

6. Die Zahiung muß baar, Zug um Zug, geschehen, weilen ohnesolche nichts verabfolgt wird.

7. Da dieser Catalogus ein Alphabet stark ist, und nicht viel Ex-emplarien gedruckt worden, so wird es nicht unbillig seyn, 24kr. davor zu fordern; doch soll derjenige, so 5 fl. bezahlt, sol-che wieder abrechnen dürfen.

8. Das Verzeichniß der medicin. chirurg. anatom. botan. Bücher,wird gegen Ostern h. a. nachfolgen.“

Dieser theologische Büchervorrat enthält über 3800 Titel. An ersterStelle stehen die Bibeln: deutsche, griechische, hebräische und latei-nische neben einer dänischen Ausgabe, auch eine „Biblia Pentaplaoder 5fache, der Römisch-Catholischen, Evangelisch-Lutherischen,Reformierten, Jüdischen Übersetzung des AT und NT und in derHolländischen Verdolmetschung“ ist aufgeführt. Reich vertreten sindBiographien und Lebensläufe, Gebet- und Gesangbücher und Pre-digten. Die Schriften von Jacob Böhme sind in einer achtbändigenAusgabe zu haben und La Bruyère ist in deutscher Sprache, aberauch in der Originalausgabe auf Lager – diese Beispiele zeigen dieweite geistige Spannweite trotz Zensur. Unter den theologischenSchriften ist auch die Württembergische Schulordnung zu finden, dieSchriften Zinzendorfs dürften nahezu vollständig aufgeführt sein,dazu kommen 41 Veröffentlichungen „In causa Zinzendorfiana, proet contra gewechselte Schriften“. Auch dem wahren Christenbrauchte es nicht bange zu werden, konnte er doch in Bergers Buch-laden Schriften für alle Lebensfragen erwerben. Allerdings mussteman für „Der Christ in der Nacht“ 48 Kr. bezahlen, während „DerChrist für gefährliche Kriegszeiten“ wohlfeiler, nämlich für 16 Kr.,zu haben war.

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Über 4500 Titel weist der „Miscellan Bücher Vorrath“ auf, davonsind über 500 Titel in französischer Sprache, einige in englischer,italienischer und spanischer. Auffallend sind die zahlreichen Nach-richten über große Bibliotheken und Büchersammlungen. Alles, wasdas geistige Deutschland dieser Zeit zu bieten hatte, finden wir, dazusehr viele Reiseberichte, Lexika, Fachbücher, viele Robinsonadenund Übersetzungen aus allen Ländern Europas. Die Juristen findenüber 1500 Titel angezeigt, die Mediziner 1300. Damit weist „BergersBüchervorrath“ insgesamt über 11000 Titel aus, und wir können an-hand dieser Verzeichnisse die erstaunliche Leistungsfähigkeit eines„Kleinstadtbuchhändlers“ feststellen, uns aber auch das unerhört gei-stig rege Leben vorstellen, das in Tübingen geherrscht haben muss.

III. Die Dynastie Heerbrandt – Osiander - Köhler: 1778-1920

1. Jacob Friedrich Heerbrandt (1778 – 1812)

Beginn einer neuen Familientradition

Ein Rundschreiben vom 6. 10. 1778 zeigt an, dass Jacob FriedrichHeerbrandt die Bergersche Buchhandlung käuflich erworben hat unddieselbe mit göttlicher Hilfe unter eigener Firma fortzusetzen ge-denkt:

„Mit äußerster Sorgfalt werde ich mich bestreben, den guten Cre-dit, welchen diese Handlung bisher vor sich gehabt hat, ferner zuerhalten, und das Zutrauen und die Freundschaft so EE zeitherogenießen zu lassen, die Güte gehabt haben, durch das redlichsteund gefälligste Betragen auch mir zu verdienen.“

Der Name Jacob Friedrich Heerbrandt (1742-1812) erscheint zumersten Mal in der Universitäts-Matrikel 1763 mit dem Vermerk: „obpaupertatem nihil solvit“. Heerbrandt wurde also offensichtlich alsbedürftig angesehen. Sein Vater, Christoph Friedrich, war Kaufmannund Land-Umgelder in Balingen, seine Mutter Christine Dorotheawar eine Tochter des Tübinger Buchdruckers Hiob Frank. Heer-

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brandt war als Buchhandlungsbediensteter in die Bergersche Buch-handlung eingetreten. Wie schon sein Chef und Vorgänger, erwarbauch er nun als Angestellter die Buchhandlung, die ohne Erben war.Seine Heirat mit Regina-Christina Walther, Tochter des Zeugfabri-kanten Walther in Nürtingen, mochte ihm dies ermöglicht haben.

Umzug von der Langen Gasse in die Münzgasse

Gleichzeitig mit dem Kauf der Buchhandlungerwarb Heerbrandt in unmittelbarer Nachbarschaft von Stiftskircheund Alter Aula das Anwesen Münzgasse 9, das abgebrannt war, underrichtete dort 1780 ein stattliches Gebäude, das bis heute nahezuunverändert erhalten ist und beinahe 100 Jahre lang das Domizil die-ser Buchhändler-Familie blieb. Wie wichtig dieser Umzug aus ge-schäftlichen Gründen war, wird aus der Beschreibung Tübingens inNicolais „Reise durch Deutschland“ ersichtlich:

„Das Äußere der Häuser in den unbequemen und schmutzigenGassen dieser Stadt ist höchst elend. Ich kenne keine Stadt inDeutschland von einiger Bedeutung, deren äußeres Aussehen sohäßlich wäre, als diese“. Nicolai fährt nach weiteren wenigschmeichelhaften Worten fort: „besonders aber unterscheidet sichdie Münzgasse, die im oberen Theil der Stadt nach der Neckar-seite liegt. Sie war im Jahr 1781 die einzige schöne Straße in Tü-bingen, so, dass man sich dünkte in einer ganz anderen Stadt zuseyn. Sie hat mehrere gut gebaute Häuser. Eins der vorzüglichstenderselben ist das Haus des Buchhändlers Herrn Heerbrandt. DieMünzgasse ist auch reinlicher als die übrigen Straßen, wenigstensfindet man daselbst keine Misthaufen.“

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Tübingen: eine kleine Stadt für zwei bedeutende Verlage

Unter Heerbrandts Leitung entwickelten sich Verlag und Sortimentweiterhin aufwärts. Es ist eigentlich kaum fassbar, dass eine solchkleine Stadt trotz der für sie trostlosen Zeiten zwei weit über Tübin-gen hinaus bedeutende Buchhandelsunternehmen hatte. JohannFriedrich Cotta hatte 1787, also neun Jahre nach Heerbrandts Über-nahme der Bergerschen Buchhandlung, die Leitung des väterlichenGeschäfts übernommen und baute es zum größten deutschen Ver-lagsunternehmen seiner Zeit aus. Heerbrandt war im süddeutschenRaum, nach Cotta, der bedeutendste Verlag. Wie trostlos die Zeitenfür Tübingen und die Universität waren, mögen folgende Zahlen be-legen. Die Studentenzahl nahm stetig ab. Waren 1775 noch über 300Studenten an der Universität, so erreichte ihre Zahl 1791 mit 188Studenten ihren tiefsten Stand seit dem 30jährigen Krieg. Der Uni-versität war mit der Karlsakademie in Stuttgart, die Kaiser Joseph II.1781 zur Hochschule erhoben hatte, eine ernsthafte Konkurrenz ent-standen. Ihr ließ Herzog Karl alle Gunst und Förderung angedeihen,da er hoffte, hier, ungestört vom Widerstand einer eigenständigenUniversität, all seine Ideen verwirklichen zu können.

Und wieder: Zensur, Pflichtabgabe und Nachdruckunwesen

Lähmend wirkten ferner die lästigen Zensurbestimmungen, die manimmer wieder zu umgehen versuchte. Laufend wurden Buchhändlerund Buchdrucker aufgefordert, Verzeichnisse des bisher Gedrucktenvorzulegen, die Manuskripte vor Drucklegung zensieren zu lassenund die Pflichtexemplare an die Universitätsbibliothek abzuliefern.1796 wehrten sich Cotta und Heerbrandt gemeinsam und meinten,man könne sie nicht belangen, es sei Sache der Buchdrucker, sich umZensur und Exemplare für die Universitätsbibliothek zu kümmern,denn die Buchdrucker stellten ihnen diese Kosten ja auch in Rech-nung. Darauf antworteten wiederum die Buchdrucker mit einemflammenden Protest:

„Von allem, was der Buchdrucker in seinem eigenen Verlagdruckt, ist er nach diesem verehrlichen Decret vom 20. Juli 3 Ex-

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emplare abzuliefern schuldig; was er aber im Lohn fur einenBuchhändler zu drucken übernimmt, das ist des Buchhändlers Sa-che, darüber hat der Buchdrucker gar nichts zu disponieren. Diehiesigen zwey Buchhandlungen sind, gleich den Buchdruckern,dem academischen Senat unterworfen, und können so gut als dieBuchdrucker zur Ablieferung der drey Exemplare von ihremVerlag angehalten werden. Wenn nun öfters der Buchhändler aneinem Werke in zwey bis drey Buchdruckereyen arbeiten läßt; wiedenn da die drey Exemplare zusammenbringen? Und da vieleWerke Kupfer und Karten haben, die der Buchhändler dem Buch-drucker zu geben sich weigert; wie unendlich viele Verdrießlich-keiten würde dies verursachen. Die Buchhäindler würden z. B.kostbare Werke, um nicht drey Exemplare davon abliefern zumüssen, auswärts drucken lassen und dadurch den hiesigen Buch-druckern das Brod entziehen. Wird hingegen der BuchhändIer an-gehalten von allen seinen Verlagsartikeln, wo sie auch gedrucktseyn mögen, drey Exemplare selbst abzuliefern, so kann dadutrhden Buchdruckern kein Schaden erwachsen, und der Buchhändlerwird auch, wenigstens aus Interesse, nichts auswärts drucken las-sen können. Aber wie, wenn ich ein Werk z. B. in die Schweiz,nach Frankfurt, nach Strasburg und anderer Orten hin drucke, oh-ne den Titelbogen? Sollen wir denn da die Exemplare ohne titel-bogen, ohne Kupfer, oder öfters nur halb abliefern? AuswärtigenBuchhändlern dürfen wir, wenn wir unsere Kundschaft und unserBrod nicht verlieren wollen, eben so wenig das Fehlende, als zehnKreutzer für CensurGebühr vom gedruckten Bogen fordern; unddaß wir diese Zahlung von unseren schlechten Accorden wobeyman kaum das Leben davon trägt und aus unseren Mitteln be-streiten sollten, dieses wird man unmöglich von uns fordern kön-nen. Wir müssen also den Academischen Senat gehorsamst bitten,daß jedem der Verleger eines Werkes seyn will, aufgetragen wer-den möge, seine drey Exemplaren selbst abzuliefern, er mag nunBuchhäindler, Buchdrucker, Antiquar oder sonst ein Privatmanseyn. Denn außerdem würde es zwischen den Buchhändlern undBuchdruckern immer Streit geben, letztere würden nichts mehr zu

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drucken erhalten, das Geld der hiesigen Buchhändler würde außerLand gehen und dem Ganzen würde dadurch ein beträchtlicherSchaden zugefügt werden.“

Unterschrieben wurde diese Eingabe von den Tübinger DruckernFues, Schramm, Reis, Balz und Hopfer.

Weiterhin lähmend wirkte nach wie vor der Nachdruck. Auch hiersetzten sich Cotta III. und Heerbrandt gemeinsam zur Wehr undklagten die Buchdrucker Schramm und Franck an, die

„zur Enterprise einer solch vorteilhaften Brod Dieberei verleitet,indem diese ein Kaiserl. Allerhöchstes Privilegium ausgewürzelthaben, kraft dessen sie die Freiheit haben sollen, sämtliche Bü-cher, die kein kaiserl. Privileg tragen, nachdrucken zu dürfen“.Die Anklage fährt fort: „Unser Unglück hierbei ist umso größer,als hiesige Brod Diebe nur allein mit dem Nachdruck derjenigenBücher abgeben, wovon sie einen schnellen und zahlreichen Ver-schleiß mithin auch einen gewissen Profit zu hoffen haben, unduns bleiben dieser - mit andern kostbaren Werken die sie nichtnachdrucken können, wir aber mit schweren Kosten führen müs-sen, vollkommen liegen“, und weiter: „Der Geheime Justiz RathPütter beschließt die Vorrede von seinem tractat über den BücherNachdruck mit den Worten: ‚Ein sicheres Mittel, beides: Gelehr-samkeit und Buchhandel zu ersticken, ist der Büchernachdruck‘.“

Aber es waren nicht nur die Tübinger Buchhändler, die sich gegenSchramm und Franck zur Wehr setzten. In einer „Collektiveingabe“an Herzog Karl Eugen vom 10. 2. 1779 aus Leipzig, Berlin, Halleund Göttingen beschwerten sich 41 Buchhändler, darunter auch heutenoch so bekannte Namen wie Weidmann, Gleditsch, Crusius, Van-denhoeck, Metzler, Heinsius, Breitkopf, Haude & Spener, Nicolai,Lange und Hallische Waisenhausbuchhandlung über diese beidenBuchdrucker Franck und Schramm, denen sie dann noch den NamenGottfried Cottas hinzufügten, die sich nicht

„entblöden, Eingriff in fremde Rechte zu tun“. Auf diese Art aberwürde „der ganze Buchhandel in Deutschland überhaupt und in all

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seinen einzelnen Provinzen den empfindlichsten Stoß erleiden unddieser edle Zweig der Handlung endlich völlig abgeschnitten wer-den, wenn jeder gewinnsüchtige Nachdrucker das erste besteVerlagsbuch eines andern, welches seinem gewissenlosen Eigen-nutz gemäß wäre, nicht allein widerrechtlich drucken, sondernsolch einen ungerechten Druck sogar durch ein Kaiserliches Pri-vilegium rechtfertigen, und mithin recht vor den Augen des Publi-ci als ein Stöhrer der Buchhandlung unverschämt auftreten könn-te.. .“.

Auf diesem Gesuch hatte der Herzog den Vermerk angebracht: „Geh.rath soll nach wichtigkeit der sache u. gutachten zu erstatten, ob esbei der bereits ertheilten Resolution zu belassen, oder was weiters incausa zu verfügen seye“.

Heerbrandts Verlagswerk

Hans Widmann hat in seinem Buch „Tübingen als Verlagsstadt“wichtige Verlagswerke Heerbrandts erwähnt. Eine gewisse Wieder-holung mag dennoch statthaft sein, da eben diese Verlagswerke engmit der Firmengeschichte verbunden sind. Die meisten Universitäts-lehrer aller Fakultäten tauchen teils mit einigen, teils mit ihren sämt-lichen Werken im Heerbrandtschen Verlag auf. Zwei Frühschriftenvon Schelling sind bei Heerbrandt erschienen, zu einer Zeit, da ernoch „Stiftler“ war: „Über die Möglichkeit einer Philosophie über-haupt“ (1795) und, im gleichen Jahr „Vom Ich, als Princip der Philo-sophie, oder über das Unbedingte im Menschlichen Wissen“.

Drei interessante Veröffentlichungen zur Landeskunde sind zu er-wähnen. Von Jeremias Höslin, Pfarrer in Böhringen, erschien 1798„Beschreibung der Wirtembergischen Alp mit landwirtschaftlichenBemerkungen“, über die Widmann schreibt, dies sei „die erste mo-nographische Darstellung der Schwäbischen AIb und damit ein klei-nes Kompendium über die nach den damaligen Erkenntnissenzweckvolle Nutzung und Pflege von Böden der Alb“. Daniel Christ-mann, Pfarrer in Hirsau, ist der Autor der ersten zusammenfassenden

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Beschreibung des ehemals berühmten Benediktiner-Klosters Hirsau.Als letzte der landeskundlichen Schriften sei noch der Titel „Überdie Auswanderungen der Wirtemberger“ von einem anonymen Ver-fasser erwähnt, der 1796 heraus kam.

Nachdem bei Berger die Schriften des Kanzlers Reuß erschienenwaren, verlegte der Nachfolger die Bücher des Reuß-Sohnes Jere-mias David Reuß. Er war der erste hauptamtliche Bibliothekar derhiesigen Universitätsbibliothek und veröffentlichte die „Beschrei-bung einiger Handschriften aus der Universitätsbibliothek zu Tübin-gen, nebst Anzeige der verschiedenen Lesarten“ (1778) mit zweiKupferplatten; ein ganz besonders liebevoll und sorgfältig gedrucktesBüchlein. Zwei Jahre später erschien von ihm die „Beschreibungmerkwürdiger Bücher aus der Universitätsbibliothek zu Tübingenvom Jahre 1468-1477 und zweier hebräischer Fragmente“. Mit die-sen Schriften dürfte Reuß den Anfang der wissenschaftlichen Veröf-fentlichungen über die Universitätsbibliothek gemacht haben. „EinMittel, den Büchernachdruck zu verhindern“ mag nur der Kuriositäthalber erwähnt werden, und von den vielen „Sachbüchern“ soll nureines des berühmten Professors J. G. Gmelin genannt werden, der

„Über Grundsätze der richtigen Behandlung von Trauben bei derBereitung der Weine in Würtemberg und Regeln, nach denen auchandere als die gewöhnlichen Sorten von Weinen und namentlichfranzösische bereitet werden können“

schrieb. Ob sich wohl viele Tübinger oder gar Reutlinger Wengerterdieses Buch gekauft haben? Wir finden ein Buch „Über den vorteil-haften Anbau der Erdäpfel oder Grundbirnen und von der Erzeugungdes Erdäpfelsamens“ oder „Verfertigung der im gemeinen Lebenvorkommenden schriftlichen Aufsätze und vorzüglich der Briefe“.Und da man in Tübingen in die Zukunft dachte, verlegte Heerbrandt1784 ein Buch von Lana und Lohmeir mit dem Titel „Von der Luft-schiffkunst“.

Bevor wir uns nun Heerbrandts Nachfolger zuwenden, soll noch aufzwei interessante Veröffentlichungen hingewiesen werden. Heer-

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brandt druckte, für sein Sortiment, einen eigenen Kinder- und Ju-gendschriftenkatalog, und in seinem Verlg erschien 1813 ein schma-ler Band, der in seiner Wirkung auf die literarische Romantik inSchwaben kaum zu überschätzen ist: der von Justinus Kerner heraus-gegebene Gedichtband „Deutscher Dichterwald“, ein Almanach, indem Schwab, Kerner und Uhland neben Friedrich Baron de Ia MotteFouqué und Eichendorff - dieser unter dem Pseudonym „Florens“ -viele ihrer ersten Gedichte veröffentlichten. Die Schwäbische Schule,deren Kern sich bereits im Deutschen Dichterwald findet, traf aufden beißenden Spott Heines, dem er im „Wintermärchen“, in Ge-dichten und im „Atta Troll“ immer wieder Ausdruck gab. So trifft im„Atta Troll“ der Dichter auf einen Mops – einen Dichter aus Schwa-ben, der von einer Hexe, weil sie ihn nicht zu verführen mochte, ver-zaubert wurde:

„Oh, ich armer Schwabendichter!In der Fremde muss ich traurigAls verwünschter Mops verschmachtenUnd den Hexenkessel hüten!“

2. Christian Friedrich Osiander (1813-1839)

Die Buchhandlung erhält ihren endgültigen Namen

217 Jahre nach ihrer Gründung erhielt dieBuchhandlung endlich den Namen, den sie auch heute noch führt.Christian Friedrich Osiander wurde am 22. 1. 1789 als Sohn des

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Arztes Dr. Friedrich Benjamin Osiander, später Professor der Medi-zin in Göttingen, und seiner Frau Friederike-Charlotte, Tochter desJohann David Weber, Bürgermeister in Cannstatt, in Kirchheim ge-boren. Zwei Brüder seines Urahns, Andreas und Lucas Osiander d.J.,waren zur Zeit von Cellius und ab 1630 Kanzler der Universität Tü-bingen gewesen. Christian Friedrich Osiander heiratete KarolineHeerbrandt und übernahm 1813 Buchhandlung und Verlag unter sei-nem Namen.

Inzwischen hatten sich die Verhältnisse im Tübinger Buchhandelsehr verändert. Cotta war mit seinem Verlag 1810 nach Stuttgart ge-zogen, das Sortiment vertraute er der Obhut des Jacob HeinrichLaupp an. Neue Vertriebsformen entstanden, der Tauschhandel hörteauf. Die Trennung Verlag, Sortiment, Druckerei, begünstigt durchdie damalige Bildungsexplosion - vornehmlich in den Städten -,wurde immer häufiger. Der Bedarf an nichtwissenschaftlicher Lite-ratur schnellte in die Höhe. Die einsetzende Liberalisierung des Han-dels führte 1812 dazu, dass in Württemberg die Gewerbefreiheit ein-geführt wurde. Dies führte zur Gründung vieler und unterschiedlicher„Literaturbetriebe“. Leistungsfähige Druckmaschinen konnten mehrund schneller drucken, und mancher erhoffte sich durch die Kon-junktur im Buchhandel leichten Gewinn. So kam es nicht nur zu ei-ner Überbesetzung in diesen Gewerben, sondern auch zu Überpro-duktion, wie die Tabelle der Titelproduktion von 1730 bis 1830zeigt. Der Buchmarkt wurde für die Sortimentsbuchhandlungen un-überschaubar. Das Urheberrecht hinkte der Entwicklung hinterher, sodass insbesondere die gut verkäuflichen Bücher nicht vor einemNachdruck sicher waren. Um den Sortimenterrabatt einzusparen,verkauften Drucker und Verleger häufig ihre Bücher selbst, und dasoft noch unter dern Einstandspreis des Sortimenters, so dass dieserauf seiner Ware sitzenblieb und seinerseits nun wieder versuchenmusste, durch ruinöse Rabattgewährung seine Kunden zu halten.

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Die Titelproduktion in Deutschland von 1730 - 1830

Jahr

Titel

gesamt deutsch lateinisch französisch

1730 993 703 260 281750 1296 878 261 1371770 1807 1287 216 2731790 3560 3027 277 1821810 3864 3226 188 31830 7308 6273 517 339

Zu all diesen Schwierigkeiten karn zusätzlich nach wie vor die Zen-sur, die wiederum von Land zu Land, von einer Stadt zur anderen,verschieden gehandhabt wurde. Von ihr wurden meist nur die ortsan-sässigen Buchhandelsbetriebe betroffen, da die ortsfremden Druckerund Verleger nicht zu fassen waren. Mancher reiner Sortimentsbuch-händler konnte diese Zeiten nicht überstehen, während in Universi-tätsstädten, in denen ein Sortimenter gleichzeitig einen Universitäts-verlag betrieb, die Verluste besser untereinander ausgeglichen wer-den konnten. Diese Kombination von Sortiment und kleinerem Uni-versitätsverlag, die ihre Autoren unter den Universitätslehrern fandenund deren Bücher einen überschaubaren Absatz garantierten, habensich zum Teil bis in unsere Zeit gehalten.

Tübingen hatte durch den Wegzug Cottas, durch die wachsende Be-deutung der Landeshauptstadt und durch die veränderten ökonomi-schen Verhältnisse seine Stellung als bedeutendste Verlagsstadt desLandes an Stuttgart abgeben müssen. Vorbei waren auch für Stutt-garts Literaturproduzenten die herrlichen Zeiten, in denen man, wienoch keine 100 Jahre zuvor, Metzler ein eigenes Haus, freies Holzund darüber hinaus noch bares Geld hatte bieten müssen, nur damiter sich dort als Buchhändler niederließ. In Tübingen blieb der Buch-handel die wichtigste Handelsbranche. Die beiden „alten“ Buch-händler Laupp und Osiander wehrten sich mit allen Kräften gegendie sie bedrohenden Widerwärtigkeiten. Immer wieder forderten sieSchutz gegen Nachdruck und Schleuderkonkurrenz. In einem Brief

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von Laupp wird die schwierige Wirtschaftslage eindringlich geschil-dert:

„Die Reuttlinger und Stuttgarter Nachdrucker verkaufen ihre ge-stohlenen oder eingetauschten Waaren mit solchem Rabbat, daßder rechtliche Mann ohnehin nie Schritt mit diesen halten kann;und da diese Leute ihre Unterhändler jeder Art finden, so ist derPlatz immer mit ihren Waaren überschwemmt. So schlimm alsdiese Buschmänner wirken auf den Sortimentshandel die UlmerBuchhändler, die mit 20 pro Cent allgemein, ja zuweilen mit 25pro Cent verkaufen, und dazu noch in die hiesige Gegend die Sa-chen frei liefern ... Noch ärger machen es die Augsburger Hand-lungen, die ihre Reisenden alljährlich 2 bis 3mal in Schwabenherumschicken, alles zu 20 bis 25 pro Cent anbieten, nebst freierLieferung ...“

Bis 1829 gab es in Tübingen nur die beiden Buchhandlungen Lauppund Osiander: „beide sind gleich solid und wohl mit Sortiment ver-sehen, auch wird von ihnen eine nicht unbedeutende ZahI vonSchriften jährlich verlegt“, schreibt Eisenbach in seiner „Beschrei-bung der Stadt und Universität Tübingen“, verlegt von C. F. Osian-der. Kein Wunder, dass auch die Tübinger Buchdrucker immer wie-der versuchten, ihrerseits Bücher zu verkaufen. Inzwischen warenweitere Druckereien hinzugekommen, obwohl bereits die schon be-stehenden nicht ausreichend beschäftigt waren. 1829 wurde demOberjustizprokurator Hofacker die Erlaubnis erteilt, eine dritteBuchhandlung zu führen. Es war dies die Buchhandlung „zu Gutten-berg“, die später in Stuttgart weitergeführt wurde; aus ihr ging derheutige Klett Verlag hervor. Bereits zwei Jahre später wurde Fues dieErlaubnis zu einer weiteren Sortimentshandlung erteilt, und im glei-chen Monat erhielt Flopfer von der Kreisregierung die Erlaubnis,einen fünften Buchladen aufzumachen.

Dies war Laupp und Osiander nun doch zu viel, und es ist kein Wun-der, dass sie aufs schärfste dagegen protestierten. In ihrer Eingabevom 1. 2. 1831 beschwerten sie sich schriftlich direkt beim König.

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Sie erinnerten daran, dass ein Jahr zuvor das Ministerium den Buch-drucker Bähr mit seinem Gesuch, einen Buchladen einzurichten, mitder Begründung abgewiesen hatte, „daß gegenwärtig kein Grundvorliege, die Zahl der bereits in Tübingen bestehenden Buchhand-lungen zu vermehren. Fünf Buchhandlungen gebe es an keiner ande-ren Universität, ja in keiner anderen Stadt, man wolle gar nicht davonreden, dass es auch noch drei Verlagsdruckereien gäbe: „Ja es hatdie unterm 1. April 1829 unter der Firma ‚zu Guttenberg‘ errichteteBuchhandlung noch nicht einmal die Probe erstanden, ob nur einedritte Buchhandlung sich mit dem hiesigen litterarischen Verkehrvereinigen lasse.“ Neben dem Hinweis, dass die wirtschaftliche Si-cherheit der Buchhandlungen gefährdet sei, führten Laupp undOsiander einen ihrer Meinung nach besonders triftigen Grund an, denBücherdiebstahl:

„Die K. Stadtdirektion wird uns bezeugen, daß die Fälle in neue-rer Zeit nicht selten sind, wo Studierende, um sich baare Mittel zuVergnügungen zu schaffen, in jeder der hiesigen BuchhandlungenBücher bis auf den nach dem Credit Gesetz legalen Betrag aus-nehmen, sie sogleich wieder veräußern und am Ende außer Standsind, den Buchhändler zu befriedigen. Diesem für die Moralitätder Studierenden höchst nachtheiligen und das Interesse derBuchhändler so sehr verletzenden Unfuge würde aber durch eineweitere Zahl von Buchhandlungen die Gelegenheit nur erweitert.“

Zunächst wurde diese Beschwerde abgelehnt, da sie auf keinenRechtsgrund gestützt sei, aber dann verfügte das Innenministeriumdoch, dass dem Hopfer die Genehmigung wieder zu entziehen sei.Vergeblich legte Hopfer gegen diesen Bescheid mehrfach Beschwer-de ein.

Einfach war es also nicht, sich gegen die starke Konkurrenz zu be-haupten, das bisher Vorhandene zu erhalten oder gar noch weitervoran zu treiben. Osiander gelang dies dennoch, er erwarb sogar1836 noch eine eigene Druckerei. Es wäre reizvoll, einmal im Ver-laufe unserer Firmengeschichte das Erwerben, Verkaufen und Erer-ben eigener Pressen zu verfolgen. Bei C. F. Osiander finden wir wie-

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derum wie bei seinem Vorgänger nahezu sämtliche Tübinger Univer-sitätslehrer unter seinen Autoren. Naturgemäß trat bei ihm die Medi-zin mehr in den Vordergrund, da der Vater, Friedrich Benjamin, demSohn seine Bücher zum Verlag gab. Friedrich Benjamin Osiandersdreibändiges Hauptwerk „Handbuch der Entbindungskunde“, wozudann noch ein Atlas-Band zu erhalten war, erschien mit 1200 Exem-plaren 1828 bereits in zweiter Auflage, wobei lediglich 350 Exem-plare als Deckungsauflage kalkuliert waren. Schnell vergriffen wardas „Hebammenbuch“ von Osiander. Ebenso ein verlegerischer Er-folg, wenn auch schon wegen des Umfangs natürlich wesentlichkleiner, war Justinus Kerners „Das Wildbad im Königreich Würt-temberg nebst Nachrichten über die benachbarten Heilquellen Lie-benzell und Teinach und das Kioster Hirsau“, das vier Auflagen, dievierte mit 1200 Exemplaren, erlebte. Von Schübler erschien die „Flo-ra von Württemberg“ und ein „Systematisches Verzeichnis der beiTübingen und in den umliegenden Gegenden wild wachsenden pha-nerogamischen Gewächse mit Angabe ihrer Standorte und Blüthe-zeit“. Autenrieth und Bohnenberger gaben von 1815-1817 bei Osian-der die „Tübinger Blätter fur Naturwissenschaften“ heraus.

Alter Tradition gemäß fanden sich die Theologen mit ihren Werkenim Verlage der Osianderschen Buchhandlung gut aufgehoben. E. G.Bengel gab dort bis zu seinem Tode 1826 das „Archiv für Theologieund ihre neueste Literatur“ heraus, das dann von Steudel unter demNamen „Zeitschrift für evangelische Theologie“ noch kurze Zeitfortgeführt wurde. Vermutlich war die Unduldsamkeit des Herausge-bers der entscheidende Grund zum Aufgeben dieser Zeitschrift.

Ein Exkurs:

David Friedrich Strauss, das Leben Jesu

Das wichtigste Buch, das jemals bei Osiander erschien, ist mit Si-cherheit das geniale Erstlingswerk des Stiftlers David FriedrichStrauss: Das Leben Jesu. Es erregte sofort nach seinem Erscheinenunerhörtes Aufsehen und gehört zu den erregendsten und meist dis-kutierten Büchern seiner Zeit.

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David Friedrich Strauss, geboren 1808, warnach seinem Theologiestudium am Stift und dem Vikariat 1832 alsPhilosophierepetent ans Stift zurück gekehrt. Dort hielt er, beein-flusst vor allem von Schleiermacher und Hegel, Vorlesungen, die sozahlreichen Zulauf fanden, dass die neidischen Professoren, derenAnsehen und auch Hörergeld unter dem jungen Außenseiter litten,Einspruch erhoben. Als deshalb Strauss das Recht genommen wurde,für das Studium anerkannte Vorlesungen zu halten, gab er diese ganzauf und schrieb „wie besessen“ zwölf Monate lang, fast 1500 Druck-seiten. Das Ergebnis:

„Das Leben Jesu – kritisch bearbeitet von David Friedrich Strauss,Dr. der Philosophie und Repetent am evangelischen Seminar zuTübingen – Erster Band – Mit königlich württembergischen Pri-vilegien gegen den Nachdruck, Tübingen, Verlag von C.F. Osian-der, 1835.“

In seinem Vorwort spricht der Autor die radikale Kehrtwendung ge-genüber der traditionellen Theolgie sehr offen an:

„Mögen die Theologen diese Voraussetzungslosigkeit seinesWerkes unchristlich finden, er findet die gläubigen Voraussetzun-gen der ihrigen unwissenschaftlich.“

Die radikale Bibelkritik, die den biblischen Berichten über Jesu jeg-liche historische Wahrheit absprach, sie als „Christusmythen“ neudefinierte und damit der vor allem in der theologischen Fakultät Tü-bingen entwickelten altwürttembergischen Theologie fundamentalwidersprach, kostete Strauss zunächst die Repetentenstelle; dasBuch wurde in verschiedenen Ländern verboten, allerdings „nicht in

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Preußen, da es seiner griechischen und hebräischen Citate wegendem größeren Publicum nicht verständlich war“. Karl Moersch hatdiese theologische Auseinandersetzung in seiner kleinen, 1984 beiOsiander erschienenen Schrift „David Friedrich Strauss und dieFrommen im Lande“ anschaulich geschildert.

Am 26. Januar 1939 berief der Erziehungsrat des Kantons Zürichdurch Stichentscheid den erst 31jährigen Strauss als Professor nachZürich. Diese Berufung war der Tropfen auf den heißen Stein, derden Unmut des Volkes über eine ungeschickte Regierung in einenechten Volksaufstand umwandelte. Ein „Glaubenscomitee“ erzwangmit einer von mehr als 30000 Personen unterzeichneten Petition diesofortige Pensionierung Straussens, die den Volkszorn allerdingsnicht mehr zu lindern vermochte. Trotz des „Straussenhandels“, wieder Vorgang spöttisch genannt wurde, zogen am 6. September über4000 Bauern in die Stadt, es kam zu blutigen Zusammenstößen, demZüri-Putsch und zum Sturz der liberalen Regierung.

Strauss hatte damit jede Aussicht auf eine Universitätslaufbahn ver-loren, er lebte und wirkte in Ludwigsburg als Schriftsteller undGymnasialprofessor. 1848 holte ihn die Vergangenheit nochmals ein.Als großer Favorit der Liberalen kandidierte er in Ludwigsburg fürdie Frankfurter Nationalversammlung und verlor haushoch gegeneinen völlig unbekannten Konkurrenten, weil die Theologen, vorallem im ländlichen, pietistisch geprägten, Umfeld von Ludwigsburg,gegen den gottlosen Politiker von der Kanzel wetterten.

„Das Leben Jesu“ dagegen war ein großer verlegerischer Erfolg underlebte viele Auflagen, 1969 erschien ein Reprint bei der Wissen-schaftlichen Buchgesellschaft, 1984 bei Osiander – beide Auflagensind inzwischen wieder vergriffen. 1848 übersetzte die bekannteenglische Schriftstellerin George Eliot das Buch ins Englische („Lifeof Jesus“), 1967 zählten die Engländer Carter und Muir das Werk zuden 424 wesentlichen Büchern, die ihrer Meinung nach die Welt ver-ändert haben.

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Das Kapitel David Friedrich Strauss und Osiander war für einen an-deren Stiftler Anlass für einige ironische Strophen, die das angemes-sene Ende eines wichtigen Kapitels unserer Buchhandelsgeschichtebilden:

„Meine B-Ansicht

Wer aus reinem Wahrheits-EiferZweifel an der Bibel wagt,Sie mit Spottes Gift und GeiferZu beschmitzen sich versagt:Bleibt, wie Dr. Paulus lehrt,Immerhin höchst achtungswert.

Strauss hab ich noch nicht gelesen.Weil der Preis zu diffizil;Doch, er sei zu plumb gewesen,Selbst in Hinsicht auf den Stil.Steudel, Bahn- und EschenmaierLieben keine Straussen-Eier.

Aber, schröcklich ist‘s zu hören,Strauss will durch sein Teufels-WerkDie Unsterblichkeit zerstören,Auch sogar in Württemberg!Dieses zeigt doch mehr und minderEinen ganz verstockten Sünder!

Strauss und OsianderMüssen beide sterb‘,Einer wie der ander,Trotz der Christoterp‘!

Glaubt nur, daß die Hölle drübenEuch mit gleichem Recht verschluckt,Denn der eine hat’s geschriebenUnd der andre hat’s gedruckt! Eduard Mörike

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Commersbuch und Umweltschutz

Die Aufzählung von Verlagserzeugnissen soll mit der Erwähnungvon zwei weiteren Büchern ihr Bewenden haben. 1815 erschien beiOsiander ein „Neues teutsches allgemeines Commers und Lieder-buch“, eine Sammlung von Studentenliedern, die sofort vergriffenwar und bereits 1820 eine dritte Auflage erlebte. Der Begriff „Com-mersbuch“ ist von hier aus in den allgemeinen Sprachgebrauch über-nommen worden. Um zu zeigen, dass auch der heutige „Umwelt-schutz“ nicht erst eine Erfindung unserer Zeit darstellt, sei noch aufeine Veröffentlichung von Moreau verwiesen: „Untersuchungen überdie Veränderungen, die durch die Ausrottung der Wälder in demphys. Zustand der Länder entstehen“ (1828 bei Osiander).

Als Osiander im Oktober 1839 „sanft und mit vollem Bewußtseinnach fünfwöchigem Krankenlager im noch nicht vollendeten einund-fünfzigsten Lebensjahr an den Folgen einer Magenverhärtung starb,verloren vier Generationen von der greisen Aeltermutter bis hin zuder unmündigen, harmlosen Kinderseele, ihren Mittelpunkt. Trotzaller Schwierigkeiten hatte er sich seinem Beruf mit ebensoviel Ein-sicht und Fleiß, als mit gesegnetem Erfolg gewidmet“

3. Carolina Osiander, geborene Heerbrandt

(1839-1843)

Bis zum Jahre 1843 führte Frau Carolina Osiander, geb. Heerbrandt,das Verlags- und Sortimentsgeschäft unter dem Beistand erprobterGehilfen wie zuvor fort, bis sie dieses ihrem Sohne Franz übergab,der die Buchhandlung bis 1851 gemeinsam mit Ludwig Aster, da-nach allein weiter führte.

4. Franz Osiander (1843-1861)

Tübingen, das um die Mitte des vorigen Jahrhunderts etwa 9000Einwohner zählte, hatte vier Buchdruckereien mit zwei Schnellpres-sen, fünf Verlagshandlungen, dazu vier Buchhandlungen und zwei

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Antiquariate. Lag es nun an dieser starken Konkurrenz oder war et-was Wahres an dem Gemunkel von dem Spielkasino in Baden-Badenund einer russischen Großfürstin – Tatsache war, dass die Geschäftestark nachließen. 1852 verkaufte er die Druckerei an Fues, dessenGeschäft unter der zielstrebigen Leitung seines Inhabers in allen Be-reichen großen Aufschwung genommen hatte.

Und doch finden wir auch im Verlage des Franz Osiander wieder einVerlagswerk, dessen Bedeutung mit der damaligen geschäftlichenKleinkariertheit kaum in Einklang gebracht werden kann. JohannKonrad Friederich gab Franz Osiander 1847 die von ihm verfassten„Dämonische Reisen in alle Welt“, jedoch ohne Namensnennung, inden Verlag. Ein Jahr später erschien in Fortsetzungen das schließlichdreibändige Werk „Vierzig Jahre aus dem Leben eines Todten“, demdann ein Ergänzungsband „Noch 15 Jahre aus dem Leben einesTodten“ folgte. Diese Lebenserinnerungen gehören zu den hervorra-gendsten Werken der deutschen Memoirenliteratur überhaupt. Immerwieder finden wir Nachdrucke oder Neubearbeitungen dieses Wer-kes, so zum Beispiel:• Friederich, Johann Konrad: Abenteuer unter fremden Fahnen.

Berlin : Brandenburgisches Verl.-Haus, 1990, 1. Aufl. der bearb.Fassung

• Friederich, Johann Konrad: Als Soldat und Liebhaber durch Eu-ropa. Heidenheim a. d. Brenz : Heidenheimer Verlagsanst., 1970.

• Spiess, Th. P.: Ein deutscher Casanova. München : List, 1963• Friederich, Johann Konrad: Der deutsche Casanova. Frankfurt am

Main : Insel-Verlag• Friederich, Johann Konrad: Denkwürdigkeiten. Leipzig, Weimar

: Kiepenheuer.

Es würde den Rahmen sprengen, ausführlich über diesen interessan-ten Mann zu berichten, der die ersten Übersetzungen Schillers insItalienische vornahm, der selbst sang, komponierte, schauspielerteund als lebender Don Juan und napoleonischer Offizier durch Europazog und Mozart in Italien bekannt machte. Nach dem Sturz Napole-

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ons diente Friederich noch kurze Zeit bei den Preußen, nahm dannjedoch wegen unüberbrückbarer Differenzen seinen Abschied undwidmete sich nun nur noch seinen künstlerischen und literarischenAmbitionen. Der Briefwechsel zwischen Franz Osiander und Friede-rich ist ein Musterbeispiel zweier sehr verschiedener Persönlichkei-ten, der eine sprühend, voller Pläne, voll Drängen und voller Vor-schläge, der andere nüchtern, trocken und humorlos.

Als die Geschäfte immer schlechter gingen, versuchte Franz Osian-der durch „Change=Anerbieten Verlagsbücher zu sehr ermäßigtenPreisen von der Osianderschen Buchhandlung in Tübingen, welchedurch alle Buchhandlungen zu beziehen sind, so lange der für diesenZweck bestirnmte Vorrath reicht“, seine Lage zu verbessern.Schließlich musste er jedoch die Buchhandlung „wegen angegriffe-ner Gesundheit“ 1861 an seine Frau Louise Osiander, geb. Gebhardtübergeben.

5. Lousie Osiander, geborene Gebhardt (1861-1880)

Louise Osiander nahm 1862 ihren Schwiegersohn und bisherigenGeschäftsführer, Robert Witzgall, als Teilhaber auf. Es kam zu gra-vierenden Geschäftsveränderungen. Die Verlagsrechte wurden ver-kauft, zum größten Teil an Fues aus Tübingen, Scheuerlen aus Heil-bronn und Danz aus Leipzig.

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Umzug von der Münzgasse in die Neue Straße

Im Jahr 1868 erwarb Louise Osianderin der inzwischen besseren Geschäftslage Neue Straße das GebäudeNr. 8, das nach dem verheerenden Tübinger Brand 1789 neu aufge-baut worden war. Das Haus wurde 1882 von Osiander an PrivatierJohannes Schuler verkauft, 1892 an dessen Tochter Berta vererbt, diemit dem Buchhändler Karl Köhler verheiratet war. Nachdem dasHaus 1920 von Karl Köhler an Forstmeister Hermann Leibnitz ver-kauft worden war, erbte es Frau Anna geb. Leibnitz, die Gattin desspäteren Teilhabers der Osianderschen Buchhandlung, Gustav Pe-zold.

1869 wurde dem dreistöckigen Haus noch ein weiterer Stock aufge-baut, so dass nun reichlich Platz zur Verfügung stand und die Ge-schäftsräume sich über zwei Stockwerke erstreckten. Eine Musikali-enhandlung wurde eingerichtet, und nun war die Osiandersche Buch-handlung eine „Buch-Kunst-Musik und Antiquariatshandlung“, diein ihren Abteilungen vornehmlich Theologie und - mit Abstand -Medizin führte.

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Rottenburg, die erste Filiale, Buchhändlerfamilie Bader

Von sehr kurzer Dauer war der Versuch Witzgalls, 1862 im benach-barten Rottenburg, das aufgrund seiner vorderösterreichischen unddamit katholischen Vergangenheit einen kräftigen Kontrast zumwürttembergisch-protestantischen Tübingen bildete, mit dem Kaufder dortigen Gack’schen Buchhandlung eine Filialbuchhandlung un-ter dem Namen Osiander’sche Buch- Kunst- und Antiquariatshand-lung in Rottenburg a.N.“ zu gründen. Offensichtlich war damals dieZeit für den ökumenischen Handel mit einem evangelisch-theologischen Sortiment in Tübingen und einem katholischen Sorti-ment in Rottenburg noch nicht reif. Schon ein halbes Jahr späterwurde die Buchhandlung an Georg Schmid, Inhaber der „Buch-Kunst- Musikalien- Schreib-Materialien- Handlung“ in SchwäbischGmünd verkauft, der zunächst als Geschäftsführer Wilhelm Badereinsetzte, bis dieser 1867 die Buchhandlung seinem Chef abkaufte.

124 Jahre lang bestimmte „der Bader“ die Buchhandelsgeschichte inRottenburg, bis der Enkel Wilhelm Baders, Ludwig Bader, seineBuchhandlung 1985 an Iris Schweitzer verkaufte, die Frau des Chefsder Metzlerschen Verlagshandlung in Stuttgart, die weitläufig mitTheodor Metzler zusammenhängt, der unsere Buchhandlung im 18.Jahrhundert geprägt hatte – irgendwie hängt in Württemberg Allesmit Allem zusammen! Nach 134 Jahren schließt sich der Kreis: DieFamilie Riethmüller übernahm zum 1. Januar 1996 den „Bader“ vonFrau Schweitzer; heute sind die Rottenburger stolz, dass sie eineneigenen Osiander haben..

6. Karl Köhler (1880-1920)

Am ersten Februar 1880 schloss Frau Louise Osiander mit HerrnKarl Köhler, einem Enkel C. F. Osianders, Sohn des BuchhändlersHeinrich Köhler in Stuttgart (Bruder von Franz Köhler aus Leipzig)einen Vertrag ab, wonach dieser als Geschäftsführer und Prokuristgegen eine Jahresvergütung von 1600 Mark in die OsianderscheBucbbandlung eintrat. Ausdrücklich war jedoch in diesem Vertrag

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vermerkt worden, dass Köhler keine wichtigen Geschäfte ohne Zu-stimmung von Frau Osiander vornehmen dürfe.

Ein erfolgreicher Buchhändler wider Willen

Köhler hatte den Buchhandel bei Oetinger in Stuttgart gelernt, derihm als Zeugnis ausstellte, dass er sich die Zufriedenheit seinesLehrherrn durch Fleiß, Geschäftseifer sowie sittliches Betragen er-worben habe. Bevor er dann nach Tübingen kam, arbeitete Köhler inder Schweiz. 1882 ging die Osiandersche Buchhandlung in seinenBesitz über. Köhler war kein Buchhändler aus Leidenschaft, er hatteeigentlich Schauspieler werden wollen, musste jedoch der buch-händlerischen Tradition seiner Familie folgen. Trotzdem hatte Köh-ler Erfoig, vor allem durch seine großartige Idee, Geschäftsbücherspeziell für den Gebrauch des Buchhändlers zu verlegen, die jederfortschrittliche Verleger und Sortimenter zu seinem eigenen Vorteilverwenden konnte. Da gab es ein Inventur- und Bilanzbuch, einJournal- und ein Hauptkassenbuch, Verlagsauslieferungsbücher, Ein-kaufs-, Lieferanten- und Remittendenbücher fur Verleger und Sorti-menter. Die Bücher waren übersichtlich und praktisch. Als dieOsiandersche Buchhandlung 1920 verkauft wurde, blieb der Ge-schäftsbücherverlag vom Verkauf ausgeschlossen.

Zu den Kunden der Buchhandlung gehörten das württembergischeKönigshaus und der Großherzog von Baden; sogar Kaiser WilhelmI., das Bureau des Reichskanzlers und die Königlich-RumänischeHofverwaltung gaben Bestellungen auf. Kein Wunder, dass Köhler1901 das Prädikat „Königlicher Hofbuchhändler“ verliehen wurde,eine Auszeichnung, auf die er immer besonders stolz war. Neben derArbeit in der Buchhandlung wirkte Köhler bei Theater-Aufführungenmit, trat öffentlich als Sänger auf und war ein sehr aktives Mitgliedder Museums-Gesellschaft.

Karl Köhler, der erfolgreiche Buchhändler wider Willen, war derLetzte in der Dynastie des Namengebers. Als er sich nach dem Er-sten Weltkrieg nach einem Käufer für seine Buchhandlung umsah,

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weil er kränkelte und noch in Ruhe die Früchte seiner Arbeit genie-ßen wollte, kam es zur größten Inhaberzäsur in der Firmengeschich-te.

IV. Die Familie Jordan/Riethmüller: 1920 bis heute

1. Richard Jordan (1920-1955)

Zwei Seeoffiziere beschließen, Buchhändler zu werden

Richard Jordan war am 21. 4. 1891 als drittes von fünf Kindern desFabrikdirektors Heinrich Emil Jordan und dessen Ehefrau AugusteKaroline Dorothea geb. Rißling, in Oker, Stadtbezirk Goslar, gebo-ren worden. Mit 18 Jahren trat Jordan in die Kriegsmarine ein undwurde kaiserlicher Seeoffizier. 1914 heiratete er Eva Wischhusen,Tochter des Sanitätsrates Dr. Wischhusen, zuletzt in Bad Berka. DerEhe entstammten vier Töchter. Nach dem Krieg begann er mit sei-nem Freund Gustav Pezold ein Studium in Tübingen. Zufällig erfuh-ren die beiden Studenten vom beabsichtigten Verkauf der Köhler-schen Buchhandlung. Sie beschlossen, ihr Studium aufzugeben unddie Buchhandlung zu kaufen. Doch sie kamen zunächst zu spät:Köhler hatte bereits einen anderen Interessenten gefunden, der sogarschon zur Einarbeitung in die Buchhandlung eingetreten war, undverständlicherweise setzte Köhler auch kein absolutes Vertrauen indie buchhändlerischen Fähigkeiten dieser beiden Offiziere. Doch derZufall wollte es anders. Es fiel auf, dass der zukünftige Inhaber Pa-kete über Pakete auf die Post schleppte, und als man der Sache nach-ging, merkte man, dass er bereits umfangreiche "Bücherentnahmen"vorgenommen hatte, um den Wert des Lagers und damit den Kauf-preis zu mindern.

Auf diese Weise wurden dann Pezold und Jordan doch noch Inhaberder Osianderschen Buchhandlung, die wiederum über 140 Jahre un-unterbrochen in Familienbesitz gewesen war. Mit Wirkung vom 1.11. 1920 ging das Unternehmen für 205.722,18 Mark in ihren Besitz

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über. Zum ersten Mal in der inzwischen vielhundertjährigen Ge-schichte der Buchhandlung hatten die neuen Inhaber weder mit derInhaberfamilie noch vor dem Kauf mit dem Geschäft selbst zu tun.

Oberst Max Bauer:

Der große Krieg in Feld und Heimat

Mit entscheidend dafür, dass die Buchhandlung den Inhaberwechselauf zwei unerfahrene Kaufleute und die wirtschaftlichen Folgen derInflation überleben konnte, war das Buch „Der große Krieg in Feldund Heimat. Erinnerungen und Betrachtungen“ von Oberst Bauer,das 1921 in der Osianderschen Buchhandlung erschien und reißen-den Absatz fand. Diese erste zusammenfassende Geschichte des er-sten Weltkriegs, verfasst von einem Stabsoffizier im Dunstkreis Lu-dendorffs, formuliert sehr präzise die Sichtweise des konservativ-nationalistischen Militärs, das die militärische Niederlage des Deut-schen Reiches nicht wahrhaben wollte und deshalb die Dolchstoß-Legende vom „Verrat der Heimatfront“ erfunden hat. Auch wenn dieNationalkonservativen später, vor allem nach 1945, ihre tiefen Diffe-renzen zu dem als plump und plebejisch empfundenen Nationalso-zialismus betonten: Dieses Buch zeigt auf exemplarische Weise, dassdie Ideologie der Nazis nahtlos auf der Weltanschauung der deut-schen Rechten aufbauen konnte. Dolchstoßlegende, „Ehrabschneide-rei“, „wirtschaftliche Versklavung“ und „Ermordung Deutschlands“durch den Friedensvertrag von Versailles, die „absolute Pflicht, nurdem Staat zu leben und zu sterben“, die Verhöhnung von Demokratieund Liberalismus als einem Werk von „Phantasten, Narren und ziel-bewussten Verbrechern“, diese Klischees der Nationalen Rechte, diesich in Bauers Machwerk finden, konnten von der Nazipropagandafast wortgetreu übernommen werden. Besonders abstoßend sind dieantisemitischen Tendenzen. Zu den Soldatenräten heißt es: „Ganzüberwiegend bestanden diese Herren ‚Räte‘ – und das ist ein weitererSchandfleck für diese Rasse – aus Juden“, natürlich bereicherte sichdas „jüdisch-demokratisch orientierte Bürgertum ... skrupellos“ amKrieg, und „der sittliche Gehalt des deutschen Volkes“, die Weltauf-

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fassung von Friedrich II bis Hegel, war nach Herrn Bauer „natürlich... nur auf der Basis arisch-germanischen Blutes möglich“.

Wie konnte ein solches Buch im Verlag der Osianderschen Buch-handlung erscheinen? Die beiden Inhaber, Jordan und Pezold, hattensich als ehemalige See-Offiziere im „Stahlhelm, Bund der Frontsol-daten“ und auch in der berüchtigten „Marine-Brigade Erhardt“ enga-giert. So ist es nicht verwunderlich, dass sie ein Buch verlegten, dasihrem nationalistischen Kodex entsprach. Zur persönlichen Sympa-thie kam allerdings der völkisch-nationalistische Zeit-Ungeist, der inTübingen und vor allem auch in der Universität nach dem erstenWeltkrieg den Ton angab. Der Berliner Journalist Hermann Schüt-zinger geißelte in einem Artikel der „Weltbühne“ 1926 Tübingen alsdumpfe „Pflanzstätte schwäbisch germanischer Studentenkultur“:

über Bürgersöhne und korporierte Studenten „herrscht mit einerdurch das Milieu dieser sonderbaren Stadt gestärkten Autorität derverbissene Kleinstadtprofessor, der Rauschebart, und knetet denTeig zu einem völkisch-deutschnationalen Kuchen. In denBuchläden liegen breit und protzig die ‚Werke‘ des J.F. Lehmann-und des Scherl-Verlges: ‚In Stahlgewittern‘ von Jünger, Hitlersund Ludendorffs ‚Memoiren‘ und aller von der Großstadt ausge-spiene antisemitisch-teutonische Kitsch ...“

David Friedrich Straussens „Leben Jesu“ und Oberst Bauers „Dergroße Krieg in Feld und Heimat“ markieren die beiden Pole, zwi-schen denen sich Tübingen, die Universität und damit auch dieOsiandersche Buchhandlung als Sprachrohr und Sammelbecken desgeistig-kulturellen Lebens in Tübingen bewegte. Bauers Hetzbuchverweist auf die dunkle Seite unserer Geschichte, darauf, wie langevor Hitlers Machtergreifung das nationalistische Bürgertum antide-mokratischen und antisemitischen Parolen verfallen war, so wie ge-rade einmal knapp 90 Jahre früher im Evangelischen Stift als demgeistigen Zentrum Württembergs ein kritisches Werk entstehen undin der Osianderschen Buchhandlung erscheinen konnte, das ganz imZeichen freiheitlicher Aufklärung steht.

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Die Buchhandlung: Der litararisch-künstlerische Treffpunkt in

Tübingen

Durch den Erwerb der BuchhandlungFischer, vorm. Kloeres, gelang es im Jahr 1925, in das Haus Wil-helmstraße 12 und damit näher an das neue Universitätsviertel zukommen. Nun wurden in der Neuen Straße Theologie, Geisteswis-senschaften, Musik und Belletristik und in der WilhelmstraßeRechtswissenschaft, Medizin, Geschichte und Politik sowie eineKunstabteilung geführt. Außerdem war die Buchhandlung Konzertdi-rektion, die in eigener Regie Konzerte durchführte, und zugleichVorverkaufsstelle für das Staatstheater und die Staatsoper in Stutt-gart. Auch Dichter-Lesungen und Vorträge wurden veranstaltet.Kleine Kunstausstellungen ermöglichten so manchem jungen Talent,sich zurn ersten Mal in der Öffentlichkeit zu zeigen.1929 suchte der Langen-Müller Verlag, der dem Deutschen Hand-lungsgehilfen-Verband gehörte, einen Verlagsleiter, der das etwaslecke Schiff wieder flott machen sollte. Pezold wurde die Geschäfts-führung angetragen, und er nahm sie an. Trotz aller Dynamik in derArbeit und allem Einfallsreichtum hatte es sich nämlich herausge-stellt, dass zwei große Familien, wie sie die Inhaber hatten, zwar sattwerden konnten, aber keinerlei Rücklagen möglich waren. So schied

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Pezold 1930 aus der Osianderschen Buchhandlung aus, blieb ihr aberbis nach dem 2. Weltkrieg als Teilhaber verbunden.

Es war die Zeit von Rezession und Weltwirtschaftskrise, von derauch die Osiandersche Buchhandlung nicht verschont blieb. Die Stu-denten mussten sich großenteils ihr Studium erhungern. Die Beam-ten, durch Notverordnungen in ihren Bezügen drastisch gekürzt, wa-ren nicht mehr in der Lage, größere Einkäufe zu tätigen. Der Umsatz,der 1929 die Rekordhöhe von 380.000 RM erreicht hatte, sank 1932auf 270.000 RM, dagegen stiegen die Außenstände in ähnlichemAusmaß, wie der Absatz abnahm. Nach langsamer Erholung erlebtedie Buchhandlung 1939 einen neuen Schlag. Der 2. Weltkrieg brachaus, die Universität wurde geschlossen, weil Tübingen keine„Schwerpunktuniversität“ war. Die gesamte Semesterliteratur warjedoch bereits eingekauft und konnte nur mit erheblichen Verlustenan die Kollegen der bevorzugten Universitäten abgegeben werden.Die Tageskassen sanken. Wer Geld hatte, kaufte erst einmal alles,was es an Lebensmitteln und Kleidung zu kaufen gab. In der NeuenStraße waren Tagesumsätze unter zehn Mark keine Seltenheit, diesbei 4 Angestellten und 2 Lehrlingen. Schnelles Handeln tat not,wollte man überleben. So wurde kurz entschlossen das Geschäft inder Neuen Straße aufgelöst, die Bestände kamen in die Wilhelmstra-ße, man arbeitete dort in einer zunächst qualvollen, aber auch heil-samen Enge. Zum Sommersemester 1940 wurde dann die Universitätwieder geöffnet, zum Glück war die Gesundschrumpfung jedochnicht mehr rückgängig zu machen.

Osiander und der Nationalsozialismus

Universität und Stadt Tübingen waren lange vor der Machtübernah-me am 20. Januar 1933 zum Nationalsozialismus übergelaufen. Wi-derstand gab es nicht. Auch Richard Jordan, von seiner ganzen Naturher streng nationalkonservativ ausgerichtet, ergab sich dem neuenGeist: „Am 1.5.33 habe ich mich zum Eintritt in die Partei gemeldet

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unter dem Eindrucke, dass man jetzt, nachdem beinah das gesamtedeutsche Volk im Reichstag dem Kabinett Hitler sein Vertrauen aus-gesprochen hatte, seine Bedenken zurückstellen müsse ...", so be-schönigte Jordan nach dem Krieg die anfängliche Begeisterung fürdas neue Hitler-Regime.

Die Buchhandlung wurde trotzdem, soweit möglich, im alten wissen-schaftlichen und literarischen Sinn weiter geführt. Deshalb gab esständig Auseinandersetzungen mit dem Parteiverlag der NSDAP,dem Eher-Verlag in Ulm, der sich wiederholt darüber beschwerte,dass Osiander in Württemberg die Buchhandlung mit dem geringstenUmsatz sei, und offen mit der Schließung der Buchhandlung drohte.Als Mitglied der Stahlhelm-Reserve wurde Jordan bereits 1933 au-tomatisch in die SA übernommen und dort, ohne eigenes Zutun undohne jemals SA-Dienst geleistet zu haben, als Marineoffizier auto-matisch bis zum Obersturmbannführer befördert. Doch auch der hoheRang schützte ihn nicht davor, dass die von dem Tübinger ProfessorKarl Heim bei Osiander herausgebrachten Predigtbände von der SSbeschlagnahmt, weitere Veröffentlichungen verboten wurden und dieOsiandersche Buchhandlung vom Vorverkauf für Veranstaltungender Museumsgesellschaft (während der NS-Zeit: "NS-Kulturgemeinde") ausgeschlossen wurde. Als Richard Jordan 1940wegen seiner Schwerhörigkeit zum Bürodienst beim Oberkommandoder Kriegsmarine in Berlin eingezogen wurde, ernannte er Julie Gastlzur "Betriebsführerin", obwohl er damit – wie der Säuberungsaus-schuss später feststellte - wegen ihrer politischen Unzuverlässigkeitgegen eindeutige Vorschriften verstieß.

Vor allem wegen seines hohen SA-Ranges wurde Richard Jordansofort nach Kriegsende von der französischen Besatzungsbehördeverhaftet und kam für zwei Jahre in das Internierungslager in Balin-gen. Mehrere Versuche, Haftverschonung für den kranken undschwerhörigen Mann zu erreichen, blieben erfolglos, obwohl derLeiter der Kriminalabteilung Tübingen, der Kommunist Zeeb, in ei-

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nem Gutachten Jordans tadellose, völlig unpolitische Haltung bestä-tigte und zahlreiche Bürger Tübingens für den Häftling eintraten.

1947 wurde Jordan vom "Säuberungsausschuss für freie Wirtschaft"zu einer Geldbuße von 5.000 RM und der "Versagung der politischenWählbarkeit für die Dauer von fünf Jahren" verurteilt. Die Urteilsbe-gründung weist darauf hin, dass Richard Jordan die OsianderscheBuchhandlung beanstandungslos geführt habe, aber durch seinenParteibeitritt und sein passives Verhalten als angesehener TübingerBürger persönliche Schuld auf sich geladen hat:

"Jordan, der unter Schwerhörigkeit leidet, ist politisch nie undauch als PG in keiner Weise hervorgetreten, sodass auch vielenseiner Kunden unbekannt war, dass er der NSDAP angehörte. Jor-dan hat auch die Osiandersche Buchhandlung keineswegs in na-tionalsozialistischem Sinne geführt, geschweige sie zu einer Nazi-Buchhandlung ausgestaltet. Entsprechend der Tradition der altenUniversitätsbuchhandlung wurde gediegene wissenschaftliche undschöngeistige Literatur in der alten Weise weitergeführt ... Diepassive Einstellung Jordans zu der nationalsozialistischen Kultur-politik führte zu schweren Auseinandersetzungen mit dem Ver-treter des Eher-Verlges, zu Drohungen, dass die OsianderscheBuchhandlung geschlossen würde, und zu dem Verbot, Neuaufla-gen der Heimschen Werke herzustellen. Vom Personal der Buch-handlung – etwa 16 Angehörige – war nur eine einzige Ange-stellte Parteimitglied, während besonders das von Jordan als Lei-terin der Buchhandlung nach seiner Einziehung zur Wehrmachteingesetzte Fräulein Julie Gastl aus Reutlingen politisch verfolgtwurde; aber auch andere (besonders die Halbjüdin Ursula Schei-be) bei der NSDAP supekt waren ... Im übrigen wies Jordan einerKleindruckerei, in der drei ehemalige Kz-Häftlinge beschäftigtwaren, laufend Druckaufträge zu. ... Die politische BelastungJordans besteht in seinem frühen und freiwilligen Eintritt bei derNSDAP gleich nach der 'Machtergreifung', wodurch er als ange-sehener Bürger und Buchhändler in Tübingen ein schlechtes Bei-

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spiel gegeben hat ... Eine weitere Belastung stellen auf den erstenBlick die hohen Ränge Jordans bei der SA ... dar. Da Jordan aber... ohne sein Zutun ... befördert wurde, kann ihm dies, da er nie-mals Dienst getan hat, ... nicht als besonders politisch belastendangerechnet werden ... Als Nutzniesser des Nationalsozialismuskann Jordan ebenfalls nicht bezeichnet werden ... Geschädigtwurde Jordan auch dadurch, dass sein kleiner Verlag durch dasVerbot der Heim’schen Bücher schwer beeinträchtigt wurde undseiner Buchhandlung auch der Vorverkauf für die Veranstaltungender früheren Museumsgesellschaft – dann 'Ns-Kulturgemeinde'genannt – entzogen wurde."

Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg

Erst am 20. Juni 1948, dem Tag der Währungsreform, konnte Jordanwieder die Leitung seiner Buchhandlung übernehmen. Die Bilanzwar erschütternd, weder Warenbestände noch Kapital waren vorhan-den, dafür aber die Schulden an den früheren Teilhaber. Jedochbrachten das ungeheure Lesebedürfnis und der Nachholbedarf, vorallem an ehemals verbotener deutscher und moderner ausländischerLiteratur, sowie an Klassikern starke Umsatzzuwächse. Die Verlageproduzierten, soviel sie konnten, und sie stießen ihre auf schlechte-stem Papier gedruckten und vor der Währungsreform zurückgehalte-nen Bestände ab. Die Sortimenter kauften, was sie nur haben konn-ten. Vergessen hatten sie die Zeiten, in denen der Kunde König war;zu sehr hatten sie sich an die für sie im Grunde problemlosen Zeitengewöhnt, in denen ihnen die Kunden auf Gnade und Barmherzigkeitausgeliefert waren und sie den wenigen Bevorzugten eines der spär-lich zugeteilten Bücher unter dem Ladentisch zugeschoben hatten. Esist eines der großen Verdienste Jordans, dass er sich dem Drängennach noch größeren Einkäufen widersetzte, denn er hatte die schwe-ren Zeiten nicht vergessen. Und trotzdem musste er nach einem Re-kord-Weihnachtsgeschäft 1948/49 feststellen, dass das Lager mitBüchern minderwertiger Qualität, die völlig unverkäufIich waren,

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verstopft war. Der erhoffte Gewinn bestand in Wirklichkeit aus La-denhütern.

Die Jahre brachten aber auch noch andere, ungeahnte Schwierigkei-ten. Auf Befehl der Militärregierung bzw. auf deren „Anregung“ hinsollten die Tübinger Buchhändler mit je 20.000.- DM zur Gründungeiner weiteren Buchhandlung beitragen, die vornehmlich französi-sche Literatur führen sollte. Jordan weigerte sich standhaft, seineeigene Konkurrenz zu finanzieren, obwohl „sanfter“ Druck auf ihnausgeübt wurde. Mit welchen Geldern diese Buchhandlung schließ-lich aufgemacht wurde, ist unbekannt. Sie konnte sich, trotz besterGeschäftslage und jeder Protektion, nicht lange halten, letztendlichwar eben doch die unternehmerische Persönlichkeit ausschlagge-bend. Gleichzeitig versuchten Studentenbuchhandlungen an der Uni-versität, den Studenten Lehrbücher zu billigeren Preisen zu liefern,vor allem Anfang der fünfziger Jahre, als DDR-Literatur in jederMenge von allen anderen - außer von Buchhändlern – beschafft wer-den konnte. Zudem genossen diese Studentenbuchhandlungen denVorteil, weder Steuern, Mieten noch Sozialabgaben zahlen zu müs-sen. So machten sie dem ortsansäßigen Buchhandel große Konkur-renz, konnten sich allerdings nicht lange behaupten. Außerdem hattesich Julie Gastl, die seit Jordans Einberufung Geschäftsführerin derBuchhandlung gewesen war, selbständig gemacht und eine eigeneBuchhandlung eröffnet. Dennoch wurde Jordan durch seinen Einsatz,seine rastlose Arbeit, vor allem aber durch seine Persönlichkeit mitdiesen Schwierigkeiten fertig, und die Osiandersche Buchhandlungerholte sich langsam. Alles schien sich günstig weiterzuentwickeln -bis Richard Jordan im April 1955 innerhalb weniger Stunden starb.

Mit ihm verlor die Buchhandlung einen Chef, der vor allem wegenseiner Lauterkeit, wegen seines Humors und seiner Güte nicht nurbei seinen Mitarbeitern und in Tübingen, sondern weit darüber hin-aus, bei Kunden und Kollegen, geachtet und geschätzt wurde. ErnstHeimeran schrieb wenige Wochen vor seinem eigenen jähen Tod:

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". . ich lernte ihn schon beim ersten Besuch als junger Verleger alseinen Edelmann kennen. Ja, diesen Ehrennamen muß ich ihm ge-ben in seiner Ritterlichkeit, in seiner Nachsicht und bei seinemHumor. Noch nie auch habe ich jemanden gesehen, der sich unge-achtet von Hörschwierigkeiten seine Arglosigkeit und sein freiesheiteres Zutrauen so bewahrt hätte ...".

Und Hermann Leins ergänzte dieses Bild:

"... wenn sich auch unsere Lebenswege in den letzten Jahren nursehr selten gekreuzt haben, so fühle ich mich ihm doch unablässigin großer Dankbarkeit verbunden, war er es doch, der mich behut-sam in die Kunst des Beurteilens eines Buches eingeführt hat. Erwar es, der immer wieder ernsthaft vor oberflächlichem, lieblosemoder gar arrogantem Beurteilen warnte. Er hat immer wieder zubedenken gegeben, wie schwer es ist, auch nur ein gutes Unter-haltungsbuch zu schreiben, wieviel dazu gehört, einer Handlungeinen sauberen Aufbau zu geben..."

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2. Brigitte Riethmüller, geb. Jordan und Konrad-Dietrich Rie-

thmüller (1955-1996)

Brigitte und

Konrad-Dietrich Riethmüller

Im Sommer 1945 hatte Osiandereinen Lehrling bekommen, Konrad-Dietrich Riethmüller, Schwieger-sohn von Richard Jordan. Geboren am 2. 3. 1918 in Stuttgart alszweiter Sohn des Regierungsbaumeisters Hermann Riethmüller undseiner Frau Pauline, geb. Stahl, verlor er schon in frühester Jugendseinen Vater. Die Familie blieb daher von wirtschaftlicher Not nichtverschont. Nach Abitur und Arbeitsdienst trat Riethmüller als Offi-ziersanwärter in die Fliegertruppe ein; das Ende des Krieges erlebteer als Hauptmann der Transportfliegertruppe. Nun galt es, eine neueExistenz aufzubauen. Was lag näher als der Buchhandel, hatte erdurch ihn doch seine Frau Brigitte kennengelernt, die in der Buch-handlung ihres Vaters als Buchhändlerin arbeitete. Als Richard Jor-dan verhaftet wurde, war das Risiko, als Schwiegersohn weiterhin inder Buchhandlung zu arbeiten, zu groß, vor allem auch deshalb, weilseine Frau dort ebenfalls noch tätig war und auch mit ihrer Entlas-sung gerechnet werden musste, falls die Besatzungsmacht die fami-liären Zusammenhänge erkennen sollte. So schied Riethmüller wie-der aus und eröffnete ein Transportgeschäft, das er im Laufe der Zeitzu einer Spedition ausbaute. Während langjähriger häuslicher Ge-meinschaft hatte sich zwischen Jordan und Riethmüller ein besonde-res Vertrauensverhältnis entwickelt, buchhändlerische Fragen, Be-lange und Schwierigkeiten waren stets gemeinsam besprochen wor-den. Deshalb beauftragte Frau Jordan nach dem Tode ihres Mannes

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ihren Schwiegersohn mit der Leitung der Osianderschen Buchhand-lung. Die Buchhandlung ging 1960 zunächst in Brigitte RiethmüllersEigentum über. 1966 trat Konrad-Dietrich Riethmüller, nach demVerkauf der Spedition, die zwischenzeitlich von seiner Frau geleitetworden war, als persönlich haftender Kommanditist in die zu einerKG umgewandelte Buchhandlung ein.

Konrad-Dietrich Riethmüller übernahm als Außenstehender eineschwierige Aufgabe, musste zum Beispiel jahrelang darum kämpfen,als Lehrherr von der IHK anerkannt zu werden. Mit dem Kauf derersten elektrischen Rechenmaschine begannen Rationalisierung undbetriebswirtschaftliche Methoden in die Buchhandlung einzukehren.

Schon Jordan hatte die Notwendigkeit zu einer Änderung der fastnicht mehr tragbaren räumlichen Verhältnisse sowie einer Moderni-sierung des Betriebes erkannt, konnte dies jedoch nicht mehr in An-griff nehmen. So war es Riethmüllers Aufgabe, nach einer Lösung zusuchen. Sie ergab sich, als die Hausbesitzerin zwei weitere Räumeim darüberliegenden Stockwerk zur Benutzung anbot. Im Frühjahr1958 wurde mit dem Umbau begonnen und dank genauer Vorberei-tung innerhalb von 13 Tagen durchgeführt. Dabei hatte sich das zumersten Mal praktizierte „teamwork“ hervorragend bewährt. JederMitarbeiter hatte bis ins Detail an der Planung seines Arbeitsgebietesund -platzes mitgewirkt, seine Vorschläge und Änderungswünschevorgebracht, so dass innerhalb der gegebenen Möglichkeiten em Op-timum erreicht werden konnte. Der Umbau und die in diesem Zu-sammenhang durchgeführte Umorganisation waren ein voller Erfolg.Der alte „Osiander“ war eine der modernsten Buchhandlungen ge-worden, es gab keine Leitern mehr, alle Bücher waren dem Kundendirekt zugänglich.

Die Buchhandlung wächst

Selbstbedienung ist heute längst selbstverständlich, damals war dierevolutionäre Ladengestaltung noch ein Anlass, Riethmüller nichtnur Niveaulosigkeit, sondern auch baldigen Ruin vorauszusagen. Auf

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der anderen Seite wurden durch diesen Umbau auch manche Kolle-gen angeregt, zu einem Erfahrungsaustausch nach Tübingen zukommen. Bald tauchte ein neues Problem auf: die Flut der Taschen-bücher. Aucb hier hatte Osiander als eine der ersten Buchhandlungendie Chance erkannt, durch das billige Buch an junge Kunden heran-zukommen, die sogenannte Schwellenangst zumindest bei diesemKäuferkreis abzubauen und dadurch das Buch zu einem selbstver-ständlicben Gebrauchsgegenstand zu macben. Doch wohin mit die-sen Reihen? Ihre Unterbringung schien ein unlösbares Problem zusein, als sich plötzlich die Gelegenheit hot, das gesamte erste Stock-werk zu bekommen. Dadurch wurde bereits nach vier Jahren derzweite Umbau durchgeführt, wobei ein eigener Taschenbuchladeneingerichtet wurde. Kunst- und Notenabteilung - dazu als neues Ge-biet klassische Schallplatten - wurden in das erste Stockwerk verlegt.Als schließlich 1968 das zweite Stockwerk im Haus frei wurde,konnte die Buchhandlung sich erneut weiter ausbreiten. Es folgten inregelmäßigen Abständen weitere Um- und Ausbauten – 1984 wurdeein Anbau errichtet, 1990, 1996 und 2000 folgten weitere Ladener-weiterungen, um die Buchhandlung den ständig steigenden Kun-denerwartungen anzupassen.

Konrad-Dietrich Riethmüller war ein weitblickender Unternehmer,der mit seiner Frau Brigitte ständig auf der Suche nach Innovationenwar. So führte er die Offene Postenbuchhaltung und moderne Daten-verarbeitungsmaschinen ein – zuerst Lochkarten, dann Magnetkar-ten, ab 1980 EDV, er konnte stolz eine eigene Offsetmaschine bedie-nen und revolutionierte mit dem Durchschreibebestellzettel die Ar-beit in der Bestellabteilung. Eine eigene Kundenkarte wurde bereitsin den 70ern eingeführt.

Das Buchmobil

Als mit den Söhnen die dritte Generation in den Osiander kam, er-füllte er sich einen alten Traum. Ein Bus wurde gekauft, in den Buswurden nach seinen Plänen Regale eingebaut. Zuerst Sohn Heinrich,dann Michael fuhren mit dem „Buchmobil“ durch Schwaben und

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hatten feste Verkaufszeiten in Wurzach, Kisslegg, Aulendorf undHorb. So kam Osiander vom 1.1.1979 bis zum 31.5.1981 per Bü-cherbus zu den Menschen auf dem Land – der Bus wurde zunächstmit Begeisterung aufgenommen, musste aber nach zweieinhalb Jah-ren seine Fahrten einstellen, weil es immer größere bürokratischeHemmschwellen gab.

„Liebenswürd’ge Priesterinnen“: Das OsianderteamDazu kamen eine ausgeprägte soziale Fürsorge und Weitsicht. BeiOsiander waren schon in den sechziger Jahren moderne Füh-rungsprinzipien, „Management by“ Delegation, Motivation und Ei-genverantwortlichkeit selbstverständlich. Die Mitarbeiter wurdendurch Gewinnbeteiligung eingebunden und erhielten eine zusätzlichebetriebliche Altersversorgung. Dies fiel umso leichter, als sich Bri-gitte und Konrad-Dietrich Riethmüller auf einen ausgezeichnetenMitarbeiterstab stützen konnten. An dieser Stelle sollen einige weni-ge Namen für Alle stehen, allen voran Siegfried Wittmann, der am25. April 1922 als Sechzehnjähriger in der Buchhandlung eine Lehrebegonnen hatte und als Altprokurist erst im Alter von 85 Jahren end-gültig in den verdienten Ruhestand trat. Prokurist Kurt Strauss dienteebenfalls jahrzehntelang von der Lehrzeit bis kurz vor seinem Todder Buchhandlung als wandelndes Lexikon, die „ersten Sortimente-rinnen“ Cäcilie Samulski (Theologie, Philosophie) und DorotheaReidel (Medizin und Naturwissenschaften), die langjährige Sachver-ständige für Kunst, Musik, Noten und klassische Schallplatten UrsulaPlag, Gisela Frohn (zuerst Jura, dann jahrzehntelang verantwortlichfür die Belletristik) und Gerda Scharnberg (Theologie, Philosophie),wirkten im Laden als kompetente Sachwalterinnen des Buches.

Ihnen hat der Tübinger Philosoph Eduard Spranger im Gästebuch derFirma ein Denkmal gesetzt

„Ist auch Delphi längst versunken,Hier bewahrt man seine FunkenWas Du sollst und was Du mußt,Wird Dir hier durch Rat bewußt.

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Liebenwürd’ge PriesterinnenLeiten dich. Du gehst von hinnenBesser und emporverwandelt.Hast Du hier ein Werk erhandelt,Wird Dein GeistesdurcheinanderDelphisch hell. – Heil Osiander!“

7. Juli 1956 Eduard Spranger

Auch nach dem Krieg hatte Osiander Fahrten zu Staatsoper undStaatstheater in Stuttgart organisiert und war als Konzertveranstalteraufgetreten, bis diese Funktionen von Verkehrsverein und Museums-gesellschaft übernommen wurden. Aber auf einem Gebiet bliebOsiander bis heute praktisch ohne Konkurrenz. Fast alle Autoren vonRang und Namen – oft bereits dann, wenn sie noch unbekannt waren– haben bei Osiander gelesen. Nur einige wenige Namen aus demwho is who der Literatur: Ingeborg Bachmann, Max Brod, MarionGräfin Dönhoff, Hilde Domin, Günter Eich, Ralph Giordano, GünterGrass, Peter Härtling, Wolfgang Hildesheimer, Ephraim Kishon,Lew Kopelew, Siegfried Lenz, Astrid Lindgren, Adolf Muschg, StenNadolny, Joanne K. Rowling, Manés Sperber, Martin Walser: Undnatürlich die Tübinger: Theodor Eschenburg, Inge und Walter Jens,Hans Küng, Karl-Josef Kuschel, Hans Mayer, Carlo Schmid.

Bemerkenswert ist auch der Einsatz Konrad-Dietrich Riethmüllersfür den Berufsstand. Er gehörte viele Jahre lang dem Vorstand vonLandesverband und Börsenverein an, als Schatzmeister des Börsen-vereins war er maßgeblich an der Rettung der Deutschen Buchhänd-lerschule in Frankfurt vor dem finanziellen Ruin beteiligt. Jahrzehn-telang vertrat er als Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft wissen-schaftlicher Buchhandlungen (AWS) kompetent und nachdrücklichdie Interessen des wissenschaftlichen Sortiments.

375 Jahre Osiander

Brigitte Riethmüller war, zunächst als Inhaberin, dann als Komman-ditistin, Geschäftsführerin und bis 1995 Gesellschafterin, zusammen

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mit ihrem Mann verantwortlich für die Geschicke der Buchhandlung,weil alle geschäftlichen Entscheidungen immer vorher besprochenund gemeinsam getroffen wurden. In der kargen Freizeit, die ihr alsGeschäftsfrau und Mutter blieb, widmete sie sich der Geschichteunserer Buchhandlung. Ihr war der Triumph vergönnt, bei ihren Re-cherchen das genaue Gründungsdatum zu entdecken und den lük-kenlosen Nachweis für die lange Kette der Inhaber zu führen. IhrBeitrag in der Festschrift zum 375jährigen Firmenjubiläum, „1596 –1971. Die Geschichte der Osianderschen Buchhandlung“, bildet dieGrundlage dieser weiterführenden Darstellung. Am Ende ihres Bei-trages konnte Brigitte Riethmüller das stolze Fazit einer jahrhun-dertealten Tradition ziehen:

„Die Osiandersche Buchhandlung ist eine Universitätsbuchhand-lung, wie es heute nur noch wenige gibt. Sie führt alle Wissen-schaften, die an der Universität gelehrt werden. Dies bedeutet, daßimmer neue Spezialgebiete geführt werden müssen: Soziologie,Didaktik, Politologie, Futurologie sind hierfür nur einige heraus-gegriffene Beispiele.

Das Lager, das in seiner Reichhaltigkeit und Vielfalt – „I neverseen it“ schrieb darüber ein amerikanischer Professor - die alteTradition fortführt, gehört bei den literarisch Interessierten mit zuden Sehenswürdigkeiten Tübingens. Die Kunden der Osiander-schen Buchhandlung kommen aus allen Erdteilen und aus fast al-len Ländern der Welt. Zahlreiche Ausländer lernen durch sie dasgeistige Deutschland kennen, viele Deutsche in der Ferne erhaltensich durch „Osiander“ die Bindung zu ihrer Heimat.

375 Jahre Buchhandel.Die schriftlichen Zeugnisse des religiösen, politischen und geisti-gen Erwachens Europas bis zu dem Aufbruch in den Weltenraum,gedruckt mit Gutenbergs beweglichen Lettern und mit Lichtsetz-maschinen, gehandelt im Tausch und mittels Elektronik, warenund sind - ein getreues Spiegelbild ihrer Zeit - die Handelsgüter

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dieser Buchhandlung. Ihre Vergangenheit, ihre Entwicklung sollfür die Zukunft verpflichtend sein.“

3. Die Osiandersche Buchhandlung GmbH: Die dritte Genera-

tion

Am 1. Januar 1973 traten der Sohn Hermann-Arndt Riethmüller,nach Studium in Tübingen, München und Berlin und Volontariat beiHugendubel in München, und seine Frau Claudia Zürcher-Riethmüller, die er als Lehrling im elterlichen Geschäft kennen ge-lernt hatte, in die Buchhandlung ein. Am 1. August 1977 folgte Hein-rich Riethmüller, der in Heidelberg, am 1. April 1982 Michael Rie-thmüller, der in München den Buchhandel erlernt hatte. Michael ver-ließ Osiander nach zehn Jahren, machte sich selbständig und eröff-nete in Ravensburg 1992 die erfolgreiche Buchhandlung „Ravens-buch“. Schließlich kam Richard-Hans Riethmüller, der vierte Bruder,1994 als EDV-Spezialist in das elterliche Unternehmen. Nach demTod von Konrad-Dietrich Riethmüller im Jahr 1996 wurden die Söh-ne Heinrich und Hermann-Arndt zu gleichen Teilen geschäftsführen-de Gesellschafter der Osianderschen Buchhandlung.

GmbH-Gründung und Diversifikation durch Filialisierung

Am 28. März 1979 wurde die Osiandersche Buchhandlung von einerKG in eine GmbH umgewandelt, um die dritte Generation schritt-weise in die Mitverantwortung ziehen und an der Buchhandlung alsMitinhaber beteiligen zu können. Die Verstärkung der Geschäftsfüh-rung machte sich bald in neuen Aktivitäten bemerkbar, Osiander be-gann im regionalen Bereich zu filialisieren. Es waren vor allem dreiGründe:1. die schon in der Vergangenheit bewährte Regel, dem wichtigsten

Kunden, der Universität, möglichst nahe zu sein – an der AltenAula, in der Wilhelmsvorstadt, jetzt auf dem Schnarrenberg, wodie Neubauten der naturwissenschaftlichen Fakultäten und dasneue Klinikum entstanden. So entstand Osiander auf der Morgen-

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stelle im Gebäude der neuen Mensa mit dem Schwerpunkt Na-turwissenschaft und Medizin (1974).

2. Die langfristige Überlegung, unabhängiger von Universität undÖffentlicher Hand zu werden und auch das allgemeine Sortimentauszubauen. Das führte zur Buchhandlung im neuen ARA-Einkaufszentrum in Böblingen, das auf dem Weg zum täglichangefahrenen Barsortiment lag und deshalb besonders attraktiverschien.

3. Die Gründung des „Kleinen Osiander“, einer eigenen Jugend-buchhandlung gegenüber dem Hauptgeschäft in Tübingen, zeigteinen weiteren Grund, die Begeisterung der Familie Riethmüllerfür neue Ideen. Hier konnte Juniorchefin Claudia Zürcher-Riethmüller ihre Vorstellungen eines eigenen Jugendbuchladensverwirklichen. 1984 wurde dieser kleine Laden infolge der Er-weiterung des Hauptgeschäfts wieder „eingezogen“, erhielt aberim März 2002, fast 20 Jahre später, in der AltstadtbuchhandlungMetzgergasse wieder das großzügige Ambiente, das im Hauptge-schäft aus Platzmangel nicht mehr aufrecht zu erhalten war.

Einen großen Schritt, der zunächst sehr bescheiden begann, bedeu-tete im Jahr 1987 die Gründung einer Osiander-Buchhandlung in derneuen Kaiserpassage in Reutlingen, die von Michael Riethmülleraufgebaut und geleitet wurde. Auch wenn sich die Träume vonStadtplanern, Architekten und Ladenbesitzern nicht erfüllten, weildie Anbindung der Kaiserpassage an das Stadtzentrum vom Kundennicht wahrgenommen wurde – Osiander war nun in Tübingens alt-ehrwürdiger Nachbarstadt Reutlingen präsent. Und als sich 1992 dieGelegenheit bot, das Untergeschoß im Listhaus zu übernehmen,wurde die Chance zum Wechsel in die größte Reutlinger Buchhan-delsfläche mitten im Stadtzentrum genutzt. Nach einer ersten Aus-dehnung im Listhaus im Jahr 1997 auf 1.600 m² – damals wurde dergrößte Teil des Erdgeschosses dazu gemietet - wurde im September2001 das gesamte Listhaus von Osiander übernommen, weil dasHaushaltswarengeschäft Panne den Geschäftsbetrieb eingestellt hat-te. Die Erweiterung der Fläche, die Osiander Reutlingen mit über

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3.500 m² zur größten Buchhandelsfläche in Baden-Württembergmachte, führte zur nochmaligen Verbesserung des Angebots: dieanspruchsvolle Papeterie und das Zeitschriftenangebot wurden er-weitert, eine große CD-Abteilung mit klassischer Musik aufgebaut,der Bereich „Tischkultur“ als Erinnerung an die Tradition desListhauses beibehalten. Und vor allem die Bücher bekamen nochmehr Platz, von der großen Krimiabteilung über das noch weiter aus-gebaute Jugendbuch bis zur Fachabteilung für Jura und Wirtschaft.Wichtiger Bestandteil des Konzepts war der Ausbau der gastronomi-schen Betreuung – neben dem Restaurant „Friedrichs“ entstand,ebenfalls unter der Leitung des Gastronomenehepaars Vuckovic, dasCafé Libresso. Um die Vielfalt im Listhaus zu erhöhen und auch dieMietkosten zu reduzieren, wurde zum 1.10.2003 die Markwiese,„Das Haus der schönen Dinge“, im ersten Stock Untermieter, ab1.5.2004 auf einer Fläche von 630 m². Leider ging für die Markwiesedie Rechnung nicht auf. Osiander nutzte die Schließung der Mark-wiese am 29.2.2008 für eine grundlegende Renovierung von Erdge-schoß und Obergeschoß mit einer neuen großzügigen Treppenlösung.

In den Jahren 1995 und1996 kamen zwei neue Filialen hinzu; zuerst eine neue Buchhand-lung in Schwenningen, im ersten Stock des in der Fußgängerzonegelegenen City-Rondells; ab 1. Januar 1996 wagte Osiander mit demKauf der ehemaligen Buchhandlung Bader 135 Jahre nach dem er-sten, fehlgeschlagenen Versuch erfolgreich die Rückkehr in Tübin-gens Nachbarstadt Richtung Westen, die Bischofstadt Rottenburg.

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Die neuen Buchhandlungen führten zu einem starken Anwachsen derhereinkommenden Bücherberge, die vom Wareneingang auf die un-terschiedlichen Buchhandlungen verteilt und von Osianders „Lesela-ster“ zugestellt werden mussten. Deshalb war auch eine Erweiterungim Verwaltungsbereich notwendig – Mitte 1995 mietete Osiandereine Halle im Derendinger Industriegebiet Steinlachwasen, die 1996zum Logistikzentrum für alle Buchhandlungen ausgebaut wurde.

Die große Zäsur: Das Jubiläumsjahr 1996

Tradition und Moderne: Das Jahr 1996 stellt in der Geschichte vonOsiander eine gewaltige Zäsur dar. Am 22. April 1996 starb im Altervon 78 Jahren ganz plötzlich der Senior Konrad-Dietrich Riethmüllerauf dem Weg zur Arbeit. Er hat, zusammen mit seiner Frau Brigitte,Osiander zu einer der wichtigsten deutschen Buchhandelsadressengemacht - seine Persönlichkeit, seine Weitsicht, seine auf idealeWeise mit gesundem Realitätsbewusstsein verbundenen Visionenhaben die solide Grundlage geschaffen, auf der seine Nachfolgeraufbauen konnten. Im November 1996 feierte Osiander sein vier-hundertjähriges Jubiläum, bei dem Ministerpräsident Erwin Teufeldie Festrede hielt. Und im Juli 1996 ging Osiander mit dem Webshopwww.osiander.de ins Internet, ohne damit zu rechnen, dass das neueMedium innerhalb von zehn Jahren vollkommen neue Bedingungenfür den Buchhandel schaffen würde.

Osiander online: VonAnfang an war klar, dass das neue Medium Internet mehr bedeuteteals einen interessanten zusätzlichen Vertriebsweg. Deshalb wurdedie Internetpräsenz nicht als Ergänzung oder Konkurrenz zum tradi-

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tionellen Ladengeschäft konzipiert, sondern als selbstverständlicheIntegration des neuen Mediums in die Gesamtstrategie des HausesOsiander. Während die Gesetzgebung bis heute völlig wirklichkeits-fremd zwischen dem Internetkunden und dem Ladenkunden unter-scheidet, gibt es für Osiander nur den einen Kunden, der je nach Be-dürfnis und ganz spontan zwischen den unterschiedlichen Angebotenwechselt: Unser Kunde kann bequem von zu Hause aus zu jeder Zeitin unserer virtuellen Buchhandlung stöbern, er kann nachsehen, obder gewünschte Titel in einer unserer Buchhandlungen im Regalsteht, er kann selbstverständlich in den Laden kommen, um sein perInternet bestelltes Buch abzuholen und sich von der Vielfalt der imLaden gezeigten Bücher verführen zu lassen, oder er entscheidet sichfür versandkostenfreie Zustellung – in Reutlingen per Fahrradkurier,der das gewünschte Buch, falls vorrätig und am Vormittag bestellt,bereits am gleichen Tag zustellt.

In zehn Jahren gab es drei größere Relaunchs, zuletzt im Jahr 2008eine komplett neue Version. Heute bietet die Internetadresse vonOsiander weit mehr als eine komfortable Bestellanstalt: Immerwichtiger wird die aktuelle Information über Veranstaltungen undneue Bücher, die von den Mitarbeitern persönlich besprochen wer-den, die direkte Kommunikation per E-Mail und die Einbindung desKunden in die tägliche Arbeit der Buchhandlung: durch Informatio-nen über das Unternehmen, durch die Möglichkeit des Dialogs perInternet, durch die Möglichkeit, die Leistung von Osiander zu be-werten. Dabei gelten für Osiander zwei Grundsätze:1. der direkte persönliche Kontakt zum Kunden bleibt erhalten. Je-

der Kunde kann direkt mit unseren Buchhändlerinnen und Buch-händlern sprechen, ob im Laden oder per Telefon.. Kommunika-tion per Internet ist ein Angebot, keine Kommunikations-Sackgasse.

2. Individuelle Kundendaten werden, abgesehen von den reinenUmsatzdaten, nicht für Kundenprofile ausgewertet. Soweit Be-nutzerverhalten ausgewertet wird, geschieht dies anonym durch

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einen Dienstleister, der keine Verbindung zwischen Netznutzungund individuellem Kunden herstellen kann.

4. Osiander im Zeitalter der Globalisierung

Eine neue Strategie für ein neues Jahrhundert

Noch immer gilt auf dem deutschen Buchmarkt das Privileg derPreisbindung, das den Buchhandel lange Zeit wie ein schützenderZaun umgab und auch heute noch dafür verantwortlich ist, dass sichder Wettbewerb im Buchmarkt auf den Dienstleistungsbereich kon-zentriert und nicht, wie zur Zeit in England zu beobachten, buchferneBranchen dem traditionellen Buchhandel die Luft zum Überlebenimmer mehr abschneiden. Doch trotz dieses Privilegs hat sich derBuchmarkt in den letzten Jahren vollkommen verändert – sichtbar-stes Zeichen dafür sind im Buchhandelsbereich die zwei nationalenGroßketten, Thalia und DBH, die damit verbundene Konzentrationund der härtere Wettbewerb, der in manchen Orten im Wettbewerbum die besten Flächen den Charakter eines Verdrängungswettbe-werbs annimmt. Die Konzentration im Buchhandel, die lediglich, um20 Jahre verzögert, den allgemeinen Tendenzen im Einzelhandelfolgt, ist allerdings nicht Ursache, sondern Folge des gesellschaftli-chen und technischen Wandels. Die wichtigsten Komponenten diesesWandels :1. Der neue Markt im Internet: Heute kann jede Person, die über

einen Computer verfügt, von zu Hause oder dem Büro aus siebenTage in der Woche und 24 Stunden täglich einkaufen; die Fülleder Suchoptionen, die angebotenen Informationen und Bespre-chungen, der riesige, über die Internetportale für jedermann völ-lig transparente Markt, in denen verlagsneue Bücher zusätzlichmit Gebrauchtbüchern konkurrieren müssen, sind Kaufargumen-te, die durchschlagen und dazu führen, dass die Wachstumsratenim Internetbuchhandel weit höher sind als im traditionellen Sor-timent.

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2. Die Informationsvermittlung im multimedialen Zeitalter:

Zeitschriften, Fortsetzungen, Fachbücher, Studentenliteratur, Bi-bliotheksliteratur bildeten vor wenigen Jahren noch die Brotarti-kel für das Sortiment, weil die Druckmedien das nahezu aus-schließliche Monopol auf die Informationsvermittlung hatten.Heute findet Forschung nicht mehr in der wissenschaftlichenZeitschrift statt, sondern in Internetforen und elektronischen „Pa-pers“. Das Lexikon wird durch Wikipedia, das Wörterbuch durchelektronische Übersetzungshilfen, die Landkarte durch GPS-Systeme ersetzt. Die Buchhandlungen verkaufen immer weniger„Mussbücher“, ohne die ein Studium oder die Berufsausübungnoch vor wenigen Jahren undenkbar war, und stehen immer mehrin Konkurrenz mit anderen Branchen (Reise, Freizeit, Unterhal-tung, Geschenkemarkt) um das beschränkte Zeit- und Geldbudgetder potentiellen Kunden.

3. Der mobile Kunde: Der Kunde nutzt die Freiheiten, die ihm derMarkt bietet. Er kauft dort, wo er für sich den größten Nutzensieht – ob das der Großeinkauf bei Aldi ist oder der Erlebnisein-kauf in einer teuren Boutique, ob im Internetshop oder bei derBuchhandlung, an der er vorbei kommt.

Nur was sich ändert, bleibt: Mit diesem Wahlspruch konnte Osiandervier Jahrhunderte überdauern, und so wurden auch diese Herausfor-derungen aufgenommen und in eine neue Strategie umgesetzt. DasJahr 2002 bedeutete wieder eine Zäsur: Von einem Monat auf denanderen brachen die Umsätze weg – die bedrohliche betriebswirt-schaftliche Situation erforderte Sofortmaßnahmen; im August 2002trat der Sohn von Claudia Zürcher-Riethmüller und Hermann-ArndtRiethmüller, der 1974 geborene Christian Riethmüller nach be-triebswirtschaftlichem Fachhochschulstudium, einem Praktikum ineiner Londoner Bank und einer Ausbildung zum Bereichsleiter beiAldi in das Unternehmen ein; Osiander erhielt die Chance, das Kon-stanzer Traditionsunternehmen Gess zu erwerben.

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In dieser Zeit des Umbruchs wurde zusammen mit engagierten Mit-arbeiterinnen und Mitarbeitern für Osiander ein Leitbild unternehme-rischen Handelns formuliert. Diesem Leitbild liegt das Ziel zugrun-de, das Unternehmen als unabhängiges Familienunternehmen fit fürdie Herausforderungen des Buchmarkts zu machen: Osiander alsgewinnorientiertes Unternehmen, das auf Wachstum setzt, seineKunden begeistern kann und die Mitarbeiter motivieren will. Gleich-zeitig wurde mit über 90% der Mitarbeiter eine freiwillige Vereinba-rung getroffen, die in guten Zeiten eine Gewinnbeteiligung, inschlechten Zeiten den Verzicht auf Urlaubsgeld und Weihnachtsgelvorsieht. Mit der Volksbank Tübingen konnte ein Finanzierungskon-zept erarbeitet werden, das trotz drohender Verluste den Kauf derBuchhandlung Gess ermöglichte.

Wachstum

Dass jede unternehmerische Entscheidung ein Risiko birgt, zeigtesich, als Osiander mit einer neuen Buchhandlung im damals nochrenommierten Haushaltswarengeschäft Tritschler am Marktplatz imOktober 1998 den Sprung in die Landeshauptstadt Stuttgart wagte.Der Standort erwies sich als falsch; nach fünf Jahren zog die Ge-schäftsleitung die Konsequenz und schloss die Buchhandlung Ende2003. Sehr positiv dagegen erwies sich die nächste Entscheidung, dieOsiander zurück in die Altstadt Tübingens brachte. Im März 2000eröffnete Osiander auf zwei Ebenen „Osiander Media“ im ehemali-gen Elektro-Mayer, mit den Schwerpunkten Jugendbuch und NeueMedien. Im Untergeschoß des vollständig umgebauten Geschäftsentstanden ein Telefonladen und ein Sony-Fachgeschäft für Radiound Fernsehen. Allerdings musste das ursprüngliche Konzept baldverändert werden, weil der Kunde sich mit Fachabteilungen nichtzufrieden gab, sondern eine Vollbuchhandlung erwartete. Im Oktober2001 wurde auch das Untergeschoß übernommen, um die BereicheTaschenbuch und Romane aufzunehmen. Der Wandel von einer Spe-zialbuchhandlung zu einer Buchhandlung mit allgemeinem Sortimentdrückte sich auch im Namenswechsel zu „Osiander Metzgergasse“aus.

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Ebenfalls als sehr erfolgreich erwies sich der Kauf der traditionsrei-chen Buchhandlung Gess im März 2003 mit der architektonisch reiz-vollen Buchhandlung in der Altstadt und einem Ableger auf demUniversitätscampus. Die Buchhandlung wurde zunächst als eigen-ständige GmbH geführt, im Jahr 2004 aber auch formal mit OsianderTübingen verschmolzen. Auch die nächsten beiden neuen Osiander-Filialen waren Übernahmen bestehender Buchhandlungen: Im März2004 wurde aus der Buchhandlung Hügle in Villingen eine Osiander-Filiale; jetzt ist Osiander in der Doppelstadt Villingen-Schwenningenin jedem Stadtteil mit einer Buchhandlung vertreten. Und zum 1.Oktober 2005 kaufte Osiander die Buchhandlung Librodrom inSpeyer und wagte sich damit zum ersten Mal, wenn auch nur umeinige hundert Meter, über die baden-württembergische Landesgren-ze ins benachbarte Rheinland-Pfalz.

Am 12. August 2006 wurde in bester Lage in der Fußgängerzone vonHeilbronn die neue Buchhandlung Osiander Heilbronn eröffnet, zweiMonate später als geplant, nach einem vollständigen Umbau der La-denräume, in denen zuvor ein Schuhgeschäft residiert hatte. Die neueBuchhandlung war vom ersten Tag an ein Erfolg und bestätigte ein-drucksvoll die These, dass in der Großstadt Heilbronn eine moderneGroßbuchhandlung gefehlt hatte. Für die alteingesessene HeilbronnerBuchhandlung Determann, die schon vor der Eröffnung von Osian-der mit einem ungünstigen Standort in wirtschaftliche Schwierigkei-ten geraten war, bedeutete die neue Konkurrenz das endgültige Aus.Sie schloss Ende Januar 2007 und übergab Kundenstamm und Lageran Osiander. Bereits einen Monat nach der Neueröffnung in Heil-bronn, am 21. September 2006, eröffnete eine neue Osiander-Filialein Baden-Baden in der vollständig erneuerten Wagener Galerie.

Service-CenterIm März 2006 wurden im Gebäude der Firma Transtec knapp 400qm Bürofläche gemietet, um für das Rechnungswesen, das Service-Center und das firmeneigene Call-Center angemessene Räume zu

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schaffen. Dort befindet sich mit der Warenauslieferung auch dasHerz des Webshops www.osiander.de.

Das Wachstum geht weiter: Seit Anfang 2007 gehört die ehemaligeBuchhandlung Weichhardt in Biberach zum Osiander-Unternehmen,im Juni 2007 wurde in Neustadt an der Weinstraße eine neue Buch-handlung eröffnet. Im März 2008 eröffnete der Laden „Osiander &2001“ in der Wilhelmstraße 14 in Tübingen, am 5. April 2008 aufdem Holzmarkt eine weitere Osiander-Filiale in Tübingen. Am5.12.2008 wurde in Konstanz in der Rosgartenstraße 29 eine zweiteInnenstadtbuchhandlung eröffnet, auf dem Weg von der Altstadt zumLago Center. Zum 2.10.2009 übernahm Osiander die BuchhandlungSchwanen in Backnang, die 1980 von Dorothee Winter gegründetworden war, am 19.11.2009 eröffnete in Albstadt-Ebingen eine neueOsiander-Buchhandlung in dem zentralen M52-Gebäude in derMarktstraße 52.

Ende 2009 nutzte der Vermieter von OSIANDER Baden-Baden eineKündigungsoption im Mietvertrag, um so eine Mieterhöhung durch-zusetzen – weil sich die Geschäftsleitung von OSIANDER nicht er-pressen ließ, wurde die Buchhandlung in Baden-Baden bereits drei-einhalb Jahre nach ihrer Öffnung wieder aufgegeben. Die Mitarbeite-rinnen und ein Großteil der Möbel wanderten 40 km weiter in dieSchlössle-Galerie nach Pforzheim, wo am 13. März 2010 eine neueOSIANDER-Buchhandlung öffnete. Ihr folgte zehn Tage späterOSIANDER in Schwäbisch Hall; am 1.9.2010 schließlich öffnete inCalw die 22. Buchhandlung des Unternehmens.

Auch in den Jahren 2011 und 2012 setzt sich das kontinuierlicheWachstum fort. Im August 2011 übernahm OSIANDER die Buch-handlung Jahn in Aalen, im Oktober 2011 zog OSIANDER in dasvon Grund auf renovierte Gebäude in der Maximilianstraße, den alt-eingesessenen Memmingern als Kino „Schauburg“ in Erinnerung.Die neuen OSIANDER-Buchhandlungen im Jahr 2012: im MärzBietigheim, zum 1. Oktober die Übernahme der Buchhandlung Verza

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in Landsberg, zum 1.12.2012 die Eröffnung der 27. Buchhandlung inÜberlingen.

Ab 2. Januar ist OSIANDER auch wieder in Stuttgart aktiv; die tra-ditionsreiche Buchhandlung Lindemanns wurde übernommen, ummit ihr im Frühjahr 2014 in das neue Gerber-Viertel zu ziehen, indem zur Zeit ein neues attraktives Einkaufszentrum entsteht.

Der Buchmarkt verändert sich weiterhin mit atemberaubender Ge-schwindigkeit. Die ersten zehn Jahre des neuen Jahrtausends warengeprägt von Wertewandel, Bankenkrise, Wirtschaftskrise. Der statio-näre Sortimentsbuchhandel sah sich zusätzlich der expansiven Groß-flächenpolitik der nationalen Ketten Thalia, DBH und Weltbild aus-gesetzt. Im Jahr 2011 hat der Konzentrationsprozess ein sehr plötzli-ches Ende gefunden. Inzwischen werden unrentable Großflächengeschlossen, die neue Zielgröße optimaler Buchhandelsflächenschrumpft auf überschaubare 500 bis 600 m². Die Gründe für dieKehrtwendung liegen im technologischen Wandel vor allem durchdas Internet und das E-Buch.

Der Marktumbruch kann nur durch starke, innovative Unternehmenbestanden werden, welche in der Lage sind, ihre Märkte zu sichernund auszubauen, ihre Mitarbeiter zu motivieren und ihre Kunden zubegeistern. Dazu kommt die gesellschaftliche Herausforderung, dersich jedes Unternehmen stellen muss: Umweltschutz, soziale Ver-pflichtung gegenüber den Mitarbeitern und in der Gesellschaft.

Das unabhängige Familienunternehmen Osiander nimmt diese Her-ausforderungen an.

Stand: 1.1.2013Brigitte Riethmüller (1596 – 1971)

Hermann-Arndt Riethmüller (Ergänzungen, ab 1971)