2015-02 Aufruf - Griechenland - Eine Chance fuer Europa

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 Griechenland nach der Wahl – Keine Gefahr, sondern eine Chance für Europa Der politische Erdrutsch in Griechenland ist eine Chance nicht nur für dieses krisengeschüttelte Land, sondern auch dafür, die Wirtschafts- und Sozialpolitik der EU grundsätzlich zu überdenken und zu korrigieren. Wir unterstreichen erneut die von Seiten der Gewerkschaften in den zurückliegenden Jahren vielfach geäußerte Kritik: Die entscheidenden Bedingungen, unter denen die nanziellen Hilfen für Griechenland gewährt werden, hatten von Anfang an nicht die Bezeichnung »Reform« verdient. Die Milliarden, die nach Griechenland geossen sind, wurden vor allem für die Stabilisierung des Finanzsektors verwendet. Gleichzeitig wurde das Land mit einer brutalen Kürzungspolitik in die tiefste Rezession und damit zugleich in die höchste Staatsverschuldung der gesamten EU getrieben. Die Folge ist eine soziale und humanitäre Krise ohne Beispiel in Europa: Ein Drittel der Bevölkerung lebt in Armut, soziale Absicherungen wurden massiv geschwächt, der Mindestlohn um 22% gesenkt, das Tarifvertragssystem und andere Schutzrechte für noch Beschäftigte demontiert, und ausgerechnet die unteren Einkommensgruppen wurden zusätzlich steuerlich belastet. Die Arbeitslosig- keit liegt jetzt bei 27%, unter Jugendlichen sogar bei über 50%. Vielen Menschen fehlen ausreichende Mittel für Nahrung, Strom, Heizung und Wohnung. Ein großer Teil der Bevölkerung hat keine Krankenversicherung mehr und b ekommt nur noch in Notfällen Zugang zu ärztlicher Versorgung. Das Wahlergebnis ist ein vernichtendes Urteil über diese verfehlte Politik. Mit Reformen, die an den tatsächlichen Problemen Griechenlands ansetzen, hatte all dies nichts zu tun. Keines der struk- turellen Probleme des Landes wurde gelöst, es wurden aber zusätzliche geschaffen. Es war eine Politik des Abbaus, nicht des Aufbaus. Wirkliche Strukturreformen, die diesen Namen verdienen, bahnen Wege zu neuen wirtschaftlichen Entwick- lungsmöglichkeiten des Landes, anstat t eine hochqualizierte junge Generat ion ins Ausland zu vertreiben. Wirkliche Struk- turreformen machen ernst mit der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuerucht. Wirkliche Strukturreformen be- kämpfen Klientelpolitik und Korruption bei öffentlichen Aufträgen. Die neue griechische Regierung ist herausgef ordert, ihre eigenen Wiederaufbau- und Entwicklungsprojekte vorzulegen, die Teil eines »Europäischen Investitionsplanes« werden müssen, wie er seit langem von den Gewerkschaften gefordert wird, und die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass der- artige Projekte Früchte tragen können. Mit der neuen griechischen Regierung muss ernsthaft und ohne Erpressungsversuche verhandelt werden, um dem Land eine wirtschaftliche und soziale Perspektive jenseits der gescheiterten Austeritätspolitik zu eröffnen. Dies gilt insbeson- dere für die mit der bisherigen, jetzt abgewählten Regierung vereinbarten zerstörerischen Auagen, unter denen die inter- nationalen Kredite bislang gewährt wurden. Europa darf nicht auf der Fortsetzung einer Politik zu Lasten der Bevölkerung beharren, die von der Mehrheit der Wählerinnen und Wähler unmissverständlich abgelehnt wird. Ein »Weiter so« darf es nicht geben! Die Abwahl der für die bisherige Politik in Griechenland Verantwortlichen ist eine demokratische Entscheidung, die auf europäischer Ebene respektiert werden muss. Die neue Regierung braucht eine faire Chance. Wer jetzt die Fortsetzung des bisherigen, so genannten Reformkurses verlangt, spricht faktisch der griechischen Bevölkerung das Recht auf eine demo- kratisch legitimierte Neuorientierung de r Politik in ihrem Land ab. Und wenn hinzugefügt wird, eine solche Neuorientierung sei allenfalls möglich, wenn Griechenland aus der Europäischen Währungsunion ausscheide, werden die europäischen Institutionen für unvereinbar mit demokratischen Entscheidungen in den Mitgliedsländern erklärt. So erhalten die erstar- kenden nationalistischen Strömungen in Europa zusätzlichen Rückenwind. Die vielfach beklagten, doch immer noch nicht überwundenen demokratischen Legitimationsdezite auf europäischer Ebe- ne dürfen nicht zusätzlich durch die Einschränkung der Demokratie in den Mitgliedsländern zementiert werden. Vielmehr muss, wie viele von uns 2012 in dem Aufruf »Europa neu begründen« hervorgehoben haben, die Demokratie auf EU-Ebene gestärkt werden, wenn dem europäischen Projekt neue Glaubwürdigkeit gegeben werden soll. Das europäische Projekt wird nicht durch Spardiktate gestärkt, sondern nur durch die demokratische Initiative von unten für wirtschaftlichen Wie- deraufbau und mehr soziale Gerechtigkeit. Diese Initiative muss jetzt im Interesse der Menschen in Griechenland unterstützt werden. Sie gibt zugleich neue Anstöße für einen politischen Kurswechsel in Europa. Der politische Umbruch in Griechenland muss zu einer Chance für ein demo- kratisches und soziales Europa gemacht werden! www.europa-neu-begruenden.de

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2015-02 Aufruf - Griechenland - Eine Chance Fuer Europa. Zum Unterzeichnen: http://europa-neu-begruenden.de/

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  • Griechenland nach der Wahl Keine Gefahr, sondern eine Chance fr EuropaDer politische Erdrutsch in Griechenland ist eine Chance nicht nur fr dieses krisengeschttelte Land, sondern auch dafr, die Wirtschafts- und Sozialpolitik der EU grundstzlich zu berdenken und zu korrigieren.

    Wir unterstreichen erneut die von Seiten der Gewerkschaften in den zurckliegenden Jahren vielfach geuerte Kritik: Die entscheidenden Bedingungen, unter denen die fi nanziellen Hilfen fr Griechenland gewhrt werden, hatten von Anfang an nicht die Bezeichnung Reform verdient. Die Milliarden, die nach Griechenland gefl ossen sind, wurden vor allem fr die Stabilisierung des Finanzsektors verwendet. Gleichzeitig wurde das Land mit einer brutalen Krzungspolitik in die tiefste Rezession und damit zugleich in die hchste Staatsverschuldung der gesamten EU getrieben. Die Folge ist eine soziale und humanitre Krise ohne Beispiel in Europa: Ein Drittel der Bevlkerung lebt in Armut, soziale Absicherungen wurden massiv geschwcht, der Mindestlohn um 22% gesenkt, das Tarifvertragssystem und andere Schutzrechte fr noch Beschftigte demontiert, und ausgerechnet die unteren Einkommensgruppen wurden zustzlich steuerlich belastet. Die Arbeitslosig-keit liegt jetzt bei 27%, unter Jugendlichen sogar bei ber 50%. Vielen Menschen fehlen ausreichende Mittel fr Nahrung, Strom, Heizung und Wohnung. Ein groer Teil der Bevlkerung hat keine Krankenversicherung mehr und bekommt nur noch in Notfllen Zugang zu rztlicher Versorgung. Das Wahlergebnis ist ein vernichtendes Urteil ber diese verfehlte Politik.

    Mit Reformen, die an den tatschlichen Problemen Griechenlands ansetzen, hatte all dies nichts zu tun. Keines der struk-turellen Probleme des Landes wurde gelst, es wurden aber zustzliche geschaffen. Es war eine Politik des Abbaus, nicht des Aufbaus. Wirkliche Strukturreformen, die diesen Namen verdienen, bahnen Wege zu neuen wirtschaftlichen Entwick-lungsmglichkeiten des Landes, anstatt eine hochqualifi zierte junge Generation ins Ausland zu vertreiben. Wirkliche Struk-turreformen machen ernst mit der Bekmpfung von Steuerhinterziehung und Steuerfl ucht. Wirkliche Strukturreformen be-kmpfen Klientelpolitik und Korruption bei ffentlichen Auftrgen. Die neue griechische Regierung ist herausgefordert, ihre eigenen Wiederaufbau- und Entwicklungsprojekte vorzulegen, die Teil eines Europischen Investitionsplanes werden mssen, wie er seit langem von den Gewerkschaften gefordert wird, und die Voraussetzungen dafr zu schaffen, dass der-artige Projekte Frchte tragen knnen.

    Mit der neuen griechischen Regierung muss ernsthaft und ohne Erpressungsversuche verhandelt werden, um dem Land eine wirtschaftliche und soziale Perspektive jenseits der gescheiterten Austerittspolitik zu erffnen. Dies gilt insbeson-dere fr die mit der bisherigen, jetzt abgewhlten Regierung vereinbarten zerstrerischen Aufl agen, unter denen die inter-nationalen Kredite bislang gewhrt wurden. Europa darf nicht auf der Fortsetzung einer Politik zu Lasten der Bevlkerung beharren, die von der Mehrheit der Whlerinnen und Whler unmissverstndlich abgelehnt wird. Ein Weiter so darf es nicht geben!

    Die Abwahl der fr die bisherige Politik in Griechenland Verantwortlichen ist eine demokratische Entscheidung, die auf europischer Ebene respektiert werden muss. Die neue Regierung braucht eine faire Chance. Wer jetzt die Fortsetzung des bisherigen, so genannten Reformkurses verlangt, spricht faktisch der griechischen Bevlkerung das Recht auf eine demo-kratisch legitimierte Neuorientierung der Politik in ihrem Land ab. Und wenn hinzugefgt wird, eine solche Neuorientierung sei allenfalls mglich, wenn Griechenland aus der Europischen Whrungsunion ausscheide, werden die europischen Institutionen fr unvereinbar mit demokratischen Entscheidungen in den Mitgliedslndern erklrt. So erhalten die erstar-kenden nationalistischen Strmungen in Europa zustzlichen Rckenwind.

    Die vielfach beklagten, doch immer noch nicht berwundenen demokratischen Legitimationsdefi zite auf europischer Ebe-ne drfen nicht zustzlich durch die Einschrnkung der Demokratie in den Mitgliedslndern zementiert werden. Vielmehr muss, wie viele von uns 2012 in dem Aufruf Europa neu begrnden hervorgehoben haben, die Demokratie auf EU-Ebene gestrkt werden, wenn dem europischen Projekt neue Glaubwrdigkeit gegeben werden soll. Das europische Projekt wird nicht durch Spardiktate gestrkt, sondern nur durch die demokratische Initiative von unten fr wirtschaftlichen Wie-deraufbau und mehr soziale Gerechtigkeit.

    Diese Initiative muss jetzt im Interesse der Menschen in Griechenland untersttzt werden. Sie gibt zugleich neue Anste fr einen politischen Kurswechsel in Europa. Der politische Umbruch in Griechenland muss zu einer Chance fr ein demo-kratisches und soziales Europa gemacht werden!

    www.europa-neu-begruenden.de

  • ErstunterzeichnendeReiner Hoffmann, DGBFrank Bsirske, ver.diRobert Feiger, IG BAUAlexander Kirchner, EVGMichaela Rosenberger, NGGMarlis Tepe, GEWMichael Vassiliadis, IG BCEDetlef Wetzel, IG Metall

    Gewerkschaftsvorsitzende anderer LnderErich Foglar, GB

    Stefan Krzell, DGBDr. Steffen Lehndorff, SozialwissenschaftlerWolfgang Lemb, IG MetallProf. Birgit Mahnkopf, SozialwissenschaftlerinLisa Paus, MdB, Bndnis 90/Die GrnenProf. Thomas Sauer, WirtschaftswissenschaftlerThorsten Schfer-Gmbel, MdL Hessen, SPD, stv. VorsitzenderDr. Wolfgang Schfer-Klug, Gesamtbetriebsrats-VorsitzenderArmin Schild, IG Metall, Mitglied des SPD-ParteivorstandsProf. Mechthild Schrooten, WirtschaftswissenschaftlerinDr. Thorsten Schulten, SozialwissenschaftlerIrene Schulz, IG MetallProf. Michael Schumann, SozialwissenschaftlerDr. Ralf Stegner, SPD, stellv. Vorsitzender, MdL in Schleswig-HolsteinJutta Steinruck, MdEP, SPDProf. Olaf Struck, SozialwissenschaftlerDr. Axel Troost, MdB, Die LinkeDr. Hans Jrgen Urban, IG MetallProf. Frieder Otto Wolf, PhilosophProf. Karl Georg Zinn, WirtschaftswissenschaftlerRoman Zitzelsberger, IG Metall

    Weitere ErstunterzeichnendeProf. Elmar Altvater, SozialwissenschaftlerProf. Brigitte Aulenbacher, SozialwissenschaftlerinKlaus Barthel, MdB, SPD, AfA-VorsitzenderChristiane Benner, IG MetallProf. Hans-Jrgen Bieling, SozialwissenschaftlerDr. Reinhard Bispinck, SozialwissenschaftlerProf. Gerhard Bosch, SozialwissenschaftlerProf. Ulrich Brand, SozialwissenschaftlerProf. Christine Brckner, ErziehungswissenschaftlerinDr. Udo Bullmann, MdEP, SPDAnnelie Buntenbach, DGBProf. Dr. Frank Deppe, SozialwissenschaftlerProf. Klaus Drre, SozialwissenschaftlerProf. Trevor Evans, WirtschaftswissenschaftlerJens Geier, MdEP, SPDThomas Hndel, MdEP, Die LinkeElke Hannack, DGBProf. Arne Heise, WirtschaftswissenschaftlerProf. Rudolf Hickel, WirtschaftswissenschaftlerOlivier Hbel, IG MetallJrg Hofmann, IG MetallInstitut Solidarische Moderne, VorstandDr. Andreas Keller, GEWJrgen Kerner, IG MetallCansel Kiziltepe, MdB, SPD

    Verantwortlich: Initiative Europa neu begrnden

    Dr. Hans-Jrgen Urban, Vorstand der IG MetallWilhelm-Leuschner-Str. 79 | 60329 FrankfurtTel: 069 / 66 93 [email protected]

    Dr. Steffen LehndorffKarl-Korn-Str. 18 | 50678 KlnTel: 0221 / 91 28 07 [email protected]