2016 Die Monatszeitschrift - juris.de · RiVG Dr. Thomas Jacob Ransomware als moderne Piraterie –...

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Die Monatszeitschrift Herausgeber: Prof. Dr. Monika Jachmann-Michel Holger Radke Prof. Dr.Thomas Voelzke Prof. Dr. Stephan Weth RA Prof. Dr. Christian Winterhoff In dieser Ausgabe: Die auch unter www.juris.de Topthema: Gerechtigkeit durch Verfahren Prof. Dr. Dr. h.c. Hanns Prütting Das europäische Natur- schutzrecht und der Bau der Dresdner Waldschlöss- chenbrücke RiVG Dr. Thomas Jacob Ransomware als moderne Piraterie – Erpressung in Zeiten digitaler Kriminalität Wiss. Mit. Stephanie Vogelgesang und Wiss. Mit. Frederik Möllers, M.Sc. Gesetzentwurf zur Einfüh- rung der elektronischen Akte in Strafsachen und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsver- kehrs – Digitalisierung der Strafjustiz RiOLG Eric Werner M 10 OKTOBER 2016

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Die Monatszeitschrift

Herausgeber:Prof. Dr. Monika Jachmann-Michel Holger Radke Prof. Dr. Thomas Voelzke Prof. Dr. Stephan Weth RA Prof. Dr. Christian Winterhoff

In dieser Ausgabe:

Die auch unter www.juris.de

Topthema:

Gerechtigkeit durch VerfahrenProf. Dr. Dr. h.c. Hanns Prütting

Das europäische Natur-schutzrecht und der Bau der Dresdner Waldschlöss-chenbrückeRiVG Dr. Thomas Jacob

Ransomware als moderne Piraterie – Erpressung in Zeiten digitaler KriminalitätWiss. Mit. Stephanie Vogelgesang und Wiss. Mit. Frederik Möllers, M.Sc.

Gesetzentwurf zur Einfüh-rung der elektronischen Akte in Strafsachen und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsver-kehrs – Digitalisierung der StrafjustizRiOLG Eric Werner

M 10 OKTOBER

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Straßenverkehrsrecht

Die enthaltene Literatur erläutert die gesamte Straßenverkehrsordnung und die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur StVO. Ob Fehlerquellen in Messverfahren, Unfallfl ucht, Schadensverteilung bei Verkehrsunfällen oder Alkohol und Drogen im Straßenverkehr: Sämtliche Fragen in Verkehrsstraf- und Ordnungswidrigkeitsverfahren werden diskutiert und beantwortet. Zusätzlich nutzen Sie die digitale Ausgabe der „Schmerzensgeldbeträge“ (Hacks). Alle Titel sind in der bewährten juris Qualität digital aufbereitet. Dank professioneller Verlinkung mit der juris Datenbank recherchieren Sie effi zient und absolut rechtssicher.

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INHALT

AUFSÄTZE UND ANMERKUNGEN

Expertengremium:Wolfgang Ball | RA Prof. Dr. Guido Britz | Prof. Dr. Harald Dörig | Dr. Heinz-Jürgen Kalb | Prof. Dr. mult. Michael Martinek | Dr. Wolfram Viefhues

Topthema: Gerechtigkeit durch Verfahren

Prof. Dr. Dr. h.c. Hanns Prütting S. 354

Umfang der Untersuchungs- und Rüge-obliegenheit sowie Darlegungslast bei VerjährungBGH, Urt. v. 24.02.2016 - VIII ZR 38/15Prof. Dr. Michael Jaensch S. 359

Des Parkplatzbetreibers letztes Mittel gegen Falschparker – Anspruch auf UnterlassungserklärungBGH, Urt. v. 18.12.2015 - V ZR 160/14RiLG Torsten Frank Koschinka S. 361

Verschärfung eines nach § 890 ZPO festgesetzten Ordnungsmittels bei unbeziffertem OrdnungsmittelantragOLG Schleswig, Beschl. v. 14.08.2015 - 16 W 76/15RA Karsten Hoof S. 363

Provisionsabgabeverbot: FinTech darf Provision an Kunden weitergebenLG Köln, Urt. v. 14.10.2015 - 84 O 65/15RA Dr. Christian Conreder und RA’in Ulrike Schild, LL.M. (Aberdeen) S. 366

Kein Haftungsausschluss bei Neckerei unter ArbeitskollegenLArbG Kiel, Urt. v. 26.04.2016 - 1 Sa 247/15 AkadR Dr. Sigrid Lorz S. 369

Mistelpräparate in der KrebstherapieBSG, Urt. v. 15.12.2015 - B 1 KR 30/15 RRiSG Dr. Anne Barbara Lungstras, z. Zt. Wiss.Mit. beim BSG S. 372

Das europäische Naturschutzrecht und der Bau der Dresdner WaldschlösschenbrückeRiVG Dr. Thomas Jacob S. 374

Zivil- und Wirtschaftsrecht

Arbeitsrecht

Sozialrecht

Verwaltungsrecht

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Die Monatszeitschrift

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Die Monatszeitschrift

XXXIVXXXIV

Die Monatszeitschrift

AUFSÄTZE UND ANMERKUNGEN

INHALT

Fehlerhafte Rechnungen und Gutglaubens-schutzBFH, EuGH-Vorlagen v. 06.04.2016 - V R 25/15, XI R 20/14RiBFH Dr. Gerhard Michel S. 379

Ransomware als moderne Piraterie – Erpressung in Zeiten digitaler KriminalitätWiss. Mit. Stephanie Vogelgesang und Wiss. Mit. Frederik Möllers, M.Sc. S. 381

Gesetzentwurf zur Einführung der elek-tronischen Akte in Strafsachen und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs – Digitalisierung der StrafjustizRiOLG Eric Werner S. 387

Rainer Schlegel wird neuer Präsident des BSG S. 394

Erweiterte Medienöffentlichkeit in Gerichts-verfahren S. 394

Text- statt Schriftform im AGB-Recht S. 394

Ullmann, juris PraxisKommentar UWGRiOLG Prof. Dr. Stefan Singer S. 395

Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und InsolvenzUniv.-Prof. Dr. Dr. Dr. mult. Michael Martinek,M.C.J. (New-York Univ.), Hon.-Prof. (Johannesburg) S. 395

Steuerrecht

Strafrecht

NACHRICHTEN

BÜCHERSCHAU

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Prof. Dr. Stephan WethLehrstuhl für Deutsches und Europäisches Prozess- und Arbeits-recht sowie Bürgerliches Recht an der Universität des Saarlandes

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EDITORIAL

Ganz oben auf meiner Hitliste berühmter Aussprüche, die ich für falsch halte, steht die Formulierung von Friedrich Stein: „Der Prozess ist für mich das technische Recht in sei-ner allerschärfsten Ausprägung, von wechselnden Zweck-mäßigkeiten beherrscht, der Ewigkeitswerte bar.“ Deutli-cher kann man die Geringschätzung für das Verfahrensrecht nicht zum Ausdruck bringen. Aber ist das Verfahrensrecht wirklich rein technisches Recht, das allein von Zweckmä-ßigkeiten beherrscht wird? Ist es allein der Zweckmäßigkeit geschuldet, dass etwa aufgrund der Rechtskraft ein Verfah-ren beendet ist und bleibt?

Diesen Fragen widmet sich Prütting im Topthema dieses Heftes. Ihm gelingt es glänzend Stein zu widerlegen, indem er darauf hinweist, dass der rein prozedurale Topos „Rechts-kraft ist gleich Endgültigkeit gerichtlicher Entscheidungen“ Grundlage jeder Gesamtgerechtigkeit im Sinne von Rechts-sicherheit, Rechtsfrieden und Berechenbarkeit darstellt und damit einen Eckpfeiler jeden rechtsstaatlichen Systems bil-det. Ohne Rechtkraft könne nämlich die unendliche Fortset-zung eines Rechtsstreits die endgültige Feststellung des be-rechtigten Anspruchs auf Ewigkeit verhindern. Daher sei Rechtskraft auch zwingende Voraussetzung von Einzelfall-gerechtigkeit. Ohne sie könne nämlich der Inhaber eines An-spruchs sein gutes Recht nicht zwangsweise durchsetzen.

Prütting widmet sich auch der Frage, ob die streitbeenden-de Funktion der Rechtskraft bedeutungslos wird, wenn Wutbürger sich mit vehementen Protestaktionen gegen Großprojekte wie etwa „Stuttgart 21“ wenden, obwohl

Verfahrensrecht heute und morgen

längst alle behördlichen und gerichtlichen Hürden genom-men sind und Rechtskraft eingetreten ist.

Die Justitia in unserer Karikatur hat voller Traurigkeit über den Wutbürger, der ihr Urteil durch den Aktenvernichter jagt, das Schwert zur Seite gestellt, die Waage niedergelegt und sich resigniert in die Ecke gesetzt. Diese Reaktion ist verständlich; aber ist sie auch richtig? Muss man den Wut-bürger gewähren lassen? Die Antwort lautet nein, wenn man Prütting folgt, dass die Macht der Entscheidungsträger und derjenigen, die diese Entscheidungen ausführen, durch das rechtsstaatliche Verfahren legitimiert ist.

Mit diesen äußerst lesenswerten Überlegungen ist nachge-wiesen, dass das Verfahrensrecht keineswegs „der Ewig-keitswerte bar“ ist, sondern vielmehr Ewigkeitswerte wie Gerechtigkeit, Rechtssicherheit, effektiver Rechtsschutz und Rechtsstaatlichkeit sichert. Es ist daher den Rechtsan-wendern eine sorgfältige Beachtung des Verfahrensrechts und dem Gesetzgeber ein sorgsamer Umgang mit diesem anzuraten. Letzteres schon deshalb, weil das Verfahrens-recht eine wichtige Zukunftsaufgabe, nämlich die Digitali-sierung der Justiz, bewältigen muss.

Über die Digitalisierung der Strafjustiz, wie sie der Regie-rungsentwurf zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs vorsieht, berichtet in diesem Heft Werner. Der genannte Entwurf sieht für Strafsachen einen Zeitplan vor, der von der bundesweiten, flächendeckenden Eröff-nung des elektronischen Rechtsverkehrs zum 01.01.2018, bis zur bundesweit flächendeckenden Einführung des obli-gatorischen elektronischen Rechtsverkehrs für professio-nelle Einreicher ab dem 01.01.2022 reicht.

Ob dieser Zeitplan eingehalten werden kann, hängt aus meiner Sicht hauptsächlich von der Bewältigung zweier Problemkreise ab. Zum einen von der Frage, ob die notwen-dige Sicherheit des elektronischen Rechtsverkehrs gewähr-leistet werden kann. Zu Recht weisen Vogelgesang und Möllers in ihrem Aufsatz darauf hin, dass sich aus der ge-planten umfassenden Vernetzung digitale Angriffsmöglich-keiten ergäben. Auch für den Justizbereich könnten die Folgen eines solchen Angriffs verheerend sein.

Zum anderen von der Frage, ob die vielfältigen Änderungen der Verfahrensordnungen ausreichen, um die Praxisprobleme des elektronischen Rechtsverkehrs zu bewältigen oder ob der Gesetzgeber zu viele Fragen unbeantwortet gelassen hat.

Vieles mag unsicher sein; eines aber ist sicher: Der Sprung vom Zeitalter der papierzentrierten Kommunikation mit den Gerichten ins Zeitalter der elektronischen Kommunikation kann nur gelingen, wenn sich das Verfahrensrecht bewährt!

Eine spannende Lektüre der neuen jM wünscht Ihnen

Ihr Stephan Weth

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Die Monatszeitschrift

AUFSÄTZE UND ANMERKUNGEN

Zivil- und Wirtschaftsrecht

Gerechtigkeit durch Verfahren*

Prof. Dr. Dr. h.c. Hanns Prütting

A. Einleitung

Das Verfahrensrecht gilt gemeinhin als eine sehr trockene Materie. Das gilt in besonderem Maße für das Zivilprozess-recht. Darüber hinaus wird dem Prozessrecht nicht selten unterstellt, es handele sich um einen rein technischen Rege-lungsbereich zur ordnungsgemäßen Abwicklung von Rechts-streitigkeiten. Hervorgehoben wird daher manchmal die die-nende Funktion des Prozessrechts. Berühmter und viel zitierter Höhepunkt dieser Geringschätzung des Verfahrens ist der Satz von Friedrich Stein, einem bedeutendem Prozes-sualisten aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und Mitbegründers des Großkommentars Stein-Jonas zur ZPO. Dieser hat im Vorwort seines Lehrbuchs zum Zivilpro-zessrecht im Jahre 1921 geschrieben: „Der Prozess ist für mich das technische Recht in seiner allerschärfsten Ausprä-gung, von wechselnden Zweckmäßigkeiten beherrscht, der Ewigkeitswerte bar“.1 Im Folgenden soll der Versuch unter-nommen werden, dieses Vorurteil vom technischen und allzu formalen Verfahrensrecht ein wenig zu relativieren. Dazu sei zunächst auf einige aktuelle Entwicklungen eingegangen.

B. Nationale Krisensymptome

In Deutschland wird in einer sehr eigentümlichen Weise seit einigen Jahren über bauliche Großprojekte gestritten. Dazu gehört z.B. die dritte Start- und Landebahn des Münchener Flughafens. Die Planung dazu hat vor mehr als zehn Jahren begonnen, die Finanzierung (ohne Steuermittel) steht, den-noch wird von den Gesellschaftern der Bau nicht begon-nen, weil man massive Proteste fürchtet. Was dabei wenig bekannt und diskutiert ist: Die erforderlichen Baugenehmi-gungen liegen bestandskräftig vor. Das erinnert an die be-rühmte Causa „Stuttgart 21“. Auch dort begann im Jahr 2010 beim Beginn der Umsetzung des Projekts bekanntlich eine riesige Auseinandersetzung, also zu einem Zeitpunkt, zu dem das 1994 planerisch begonnene Projekt alle be-hördlichen und gerichtlichen Hürden genommen hatte. Se-hen wir uns in der Nachbarschaft des Autors um, so finden wir Ähnliches: Gegen den Braunkohletagebau im Hamba-cher Forst protestiert vor Ort eine Gruppierung in extrem heftiger Form (um das einmal vornehm auszudrücken), ohne dass dabei in der Öffentlichkeit immer deutlich würde, dass die Arbeiten im Tagebau Hambach von Behörden und Gerichten genehmigt sind.

Die schlichte Frage aus solchen Beobachtungen lautet: Sind die in allen Beispielsfällen durchgeführten behördlichen Ge-nehmigungsverfahren und die gerichtlichen Überprüfungen bis hin zu rechtskräftigen Entscheidungen bedeutungslos? Verfehlen sie ihren Zweck? Sind sie nur ein Element der Ver-zögerung für die jeweiligen Planungsgegner? Die möglichen Antworten sollen zunächst einmal offenbleiben, um eine an-dere Blickrichtung über die Grenzen einzunehmen.

C. Internationale Entwicklungen

In unserem Nachbarland Polen hat es bekanntlich im Jahr 2015 einen Regierungswechsel gegeben. Die neue Regie-rung hat am 22.12.2015 ein Gesetz beschlossen, das nach weithin übereinstimmender Auffassung das polnische Ver-fassungsgericht in seiner Funktion stark einschränken (z.B. Erhöhung des Quorums der an den Verhandlungen teilneh-menden Richter auf 13, obgleich derzeit nur 12 Richter ein-satzbereit sind) und seine Unabhängigkeit aushöhlen wird. Am 09.03.2016 hat das polnische Verfassungsgericht ent-schieden, diese Gesetzesnovelle sei in Gänze verfassungs-widrig. Die Regierung weigert sich aber, dieses Urteil im Amtsblatt zu veröffentlichen, wie es auch in Polen erforder-lich wäre. Denn es handele sich nach Auffassung der Regie-rung nicht um ein Urteil im formellen Sinn, sondern nur um eine informelle Mitteilung des Gerichts.

Auch in Spanien wird über die Legitimation des spanischen Verfassungsgerichts gestritten, nachdem es eine Volksab-stimmung der Katalanen über ihre staatliche Unabhängig-keit für unzulässig, weil verfassungswidrig, erklärt hat. In Russland ist man über die Entscheidungen des EGMR in Straßburg so verärgert, dass in Moskau vor Kurzem eine offizielle Erklärung veröffentlicht wurde, man sei an die Entscheidungen des EGMR nicht mehr gebunden. Südafrika erwägt, die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof einzustellen und das Statut von Rom auf-zukündigen, weil es mit der Forderung konfrontiert war, die zwei gegen den sudanesischen Präsidenten Omar al Bashir existenten Haftbefehle zu vollziehen, als dieser sich auf

* Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag, der am 09.04.2016 anläss-lich der 50-Jahr-Feier des Instituts für Verfahrensrecht der Universität zu Köln vom Autor gehalten wurde.

1 Stein, Grundriss des Zivilprozessrechts, 1921, Vorwort S. III.

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südafrikanischem Boden aufhielt. Über die jüngsten Ereig-nisse in der Türkei muss hier nichts berichtet werden.

Es ist allgemein bekannt, dass die hier genannten und will-kürlich ausgewählten Beispiele nur die Spitze des Eisbergs darstellen. Aber schon diese wenigen Hinweise zeigen, dass sich Justiz und Verfahrensrecht möglicherweise in einer Krise befinden. Der Richter am BVerfG Peter Huber hat dies vor Kurzem in die Worte gefasst: „Das Verständnis für die Bedeutung von Form-, Zuständigkeits- und Verfah-rensvorschriften ist geschwunden und erscheint manchem als juristische Quisquilie. Damit gerät jedoch aus dem Blick, dass gerade diese formellen Anforderungen des Rechts-staates Garanten von Legitimität und Rechtssicherheit der staatlichen Ordnung sind“.

Klar ist jedenfalls, dass alle Welt nach Gerechtigkeit ruft, dass aber jedermann darunter seine aus den eigenen Wert-maßstäben abgeleitete Individualgerechtigkeit versteht. Individuelle Moralvorstellungen sind aber keine geeignete Legitimationsgrundlage für richterliche Entscheidungen und erst recht keine Grundlage, um sich über das Recht hin-wegzusetzen.

D. Grundlagen des Verfahrensrechts

Lassen Sie uns bei so vielen aktuellen Problemen und Kri-senszenarien einen Blick zurück auf Grundlagen des Ver-fahrensrechts werfen. Moderne archäologische Forschun-gen zeigen, dass vor ca. 9.500 Jahren im Nahen Osten die ersten Großsiedlungen der Menschheit entstanden. Diese Entwicklung macht es schwierig, soziale Kontrolle und Ver-trauen durch persönliche Verbindungen aufrechtzuerhal-ten, wie sie in winzigen Dörfern offenbar bestand. Der Nachbar wurde zum Fremden. So mussten neue identitäts-stiftende und vertrauensbildende Rituale entwickelt wer-den. Zu den allerersten nachweisbaren Ritualen gehören Bestattungszeremonien. Aber auch soziale Regelungen unter den Lebenden mussten sich entwickeln und griffen zunehmend auch in das Privatleben der Menschen ein. So hat sich in allen Gesellschaften Recht als Verfestigung aus Sitten und Gebräuchen bzw. Ritualen entwickelt. Von An-fang an war dabei der Verfahrensablauf von zentraler Be-deutung. Viele große Kodizes und Rechtsbücher enthalten ausdrücklich auch Verfahrensrecht, so der Kodex Hammu-rabi, der Corpus Iuris Civilis und der Sachsenspiegel, um nur einige berühmte Beispiele zu nennen. Allerdings ist in alten Quellen der Rechtsstoff, den wir heute in materielles und Prozessrecht trennen, oft in einer sehr disparaten Vermen-gung zu beobachten. Die Schaffung vor allem des roma-nisch-kanonischen Prozessrechts durch die wissenschaftli-che Bearbeitung auf der Grundlage des Corpus Iuris Civilis führte dann jedenfalls im Ansatz zu einem mittelalterlichen

Ius commune, das zum Ausgangspunkt modernen Prozess-rechts wurde. Zu diesen Entwicklungen haben sich in jüngs-ter Zeit Peter Oestmann2 und Knut Wolfgang Nörr3 geäu-ßert. Darauf sei hier verwiesen.

Mit der scharfen Trennung von Prozessrecht und materiel-lem Recht im 19. Jahrhundert durch die Sonderung von ma-teriellem Anspruch und prozessualer Klage begann freilich der endgültige Abstieg des Prozessrechts. Verfahrensrecht gilt seither als bloß dienendes und technisches Recht, als Zweckmäßigkeitsrecht. Erst die nationalsozialistische Per-vertierung des Rechts hat nach 1945 neben einer kurzzeiti-gen Renaissance von naturrechtlichem Denken auch zu einem Wandel in der Beurteilung des Verfahrensrechts als Sicherung einer rechtsstaatlichen Ordnung geführt. Das Grundgesetz hat in Art. 103 Abs. 1 und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, aber auch schon in Art. 19 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 GG und weiterhin in Art. 92 sowie Art. 97 GG ver-fahrensrechtliche Garantien von zentraler Bedeutung ver-ankert und auch die wissenschaftliche Diskussion hat nach 1949 den Gedanken aufgenommen, dass es eine eigen-ständige prozedurale Gerechtigkeit gibt und dass allein die Einhaltung des korrekten Verfahrens zur Streitbeilegung und Legitimation führt, letztlich also zu Rechtssicherheit und Legitimität. Das ist im Folgenden kurz zu skizzieren.

E. Prozedurale Gerechtigkeit

Die Frage nach der Gerechtigkeit ist bekanntlich eine Ewig-keitsfrage der Menschheit. Gerne wird Gerechtigkeit bis heute als ergebnisorientierte Einzelfallgerechtigkeit in ma-teriellem Sinn verstanden. Sie wird gewahrt, wenn man sein „gutes Recht“ notfalls vor Gericht durchsetzen kann. Wie heißt es im Corpus Iuris Civilis so schön: „Gerechtigkeit ist der unwandelbare und dauerhafte Wille, jedem sein Recht zu gewähren“.4 Im modernen Recht mit weitgehen-der Prägung durch das positive Gesetzesrecht geht man wohl nicht fehl, wenn man die Frage, wonach sich be-stimmt, was jedem als das Seine zusteht, im Sinne der An-wendung des positiven Rechts interpretiert. Gerechtigkeit ist in diesem Sinne zunächst Gesetzesgehorsam.

In der philosophischen Diskussion hat man stets versucht, die Strukturen der Gerechtigkeit dadurch aufzuhellen, dass man die ausgleichende Gerechtigkeit (iusticia commutati-va), also insbesondere die Tauschgerechtigkeit, die Ver-tragsparität, die Sanktionsgerechtigkeit sowie die Vergel-

2 Oestmann, Wege zur Rechtsgeschichte, 2015.3 Nörr, Ein geschichtlicher Abriss des kontinentaleuropäischen Zivilpro-

zesses, 2015.4 Institutionen 1,1 pr.

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Die Monatszeitschrift

tungs- und Wiederherstellungsgerechtigkeit trennt von der verteilenden Gerechtigkeit (iusticia distributiva), also den vielfältigen Gedanken der Verteilung von Gütern und Teil-haberechten in Familie, Staat und Gesellschaft nach dem Idealbild des modernen Gleichheitsgebots, des sozialstaat-lichen Ausgleichs sowie der allgemeinen und gleichmäßi-gen Bedürfnisbefriedigung.

Es stellt sich nun die Frage, wie in ein solches Bild materia-ler Gerechtigkeitstheorien das Verfahrensrecht eingebracht werden kann. Diese Frage sei im Folgenden an einigen pro-zessualen Grundpositionen verdeutlicht. Ich will dabei mit der Theorie der Rechtskraft beginnen.

I. Durch Rechtskraft

Der Begriff der Rechtskraft wird in einem zweifachen Sinn gebraucht. Als formelle Rechtskraft meint sie die Unan-greifbarkeit einer gerichtlichen Entscheidung mit ordentli-chen Rechtsmitteln. Als materielle Rechtskraft meint sie die absolute Verbindlichkeit einer richterlichen Entscheidung zwischen den Streitparteien, sodass zu einem späteren Zeitpunkt eine erneute Entscheidung in dieser Angelegen-heit unzulässig wäre. Formelle Rechtskraft beschreibt also den endgültigen Abschluss eines laufenden Verfahrens, ma-terielle Rechtskraft will in der Zukunft ein erneutes Verfah-ren in dieser Sache verhindern. Dieser rein prozessuale Ge-danke der Rechtskraft steht zweifellos in einem klaren Gegensatz zu den Wünschen an die materielle Gerechtig-keit des Einzelfalles im Sinne einer richtigen Anwendung materiell-rechtlicher Normen. Denn da über juristische Streitfälle immer Menschen in ihrer Unvollkommenheit und mit ihrer begrenzten Erkenntnisfähigkeit entscheiden, kann niemals ausgeschlossen werden, dass die jeweils zuletzt getroffene Gerichtsentscheidung unrichtig war, eine erneu-te Überprüfung dieser Entscheidung also der materiellen Gerechtigkeit dienen würde.

Demgegenüber ist es klar, dass es ohne Rechtskraft keine Gewährung von effektivem Rechtsschutz und damit letzt-lich keine Rechtsstaatlichkeit geben kann. Denn das Fehlen von Rechtskraft würde bedeuten, dass eine berechtigte For-derung niemals durchsetzbar wäre, wenn die Gegenpartei nicht freiwillig nachgeben würde. Die unendliche Fortset-zung eines Rechtsstreits könnte die endgültige Feststellung des berechtigten Anspruchs auf Ewigkeit verhindern. Die Existenz von Rechtskraft ist also ein Grundanliegen jeder gerichtlichen Rechtsgewährung als Pendant zum Verbot der Selbsthilfe und damit letztlich eine zwingende Grund-lage der Rechtsstaatlichkeit. Nur die Rechtskraft kann zwi-schen Streitparteien auf Dauer Rechtssicherheit und Rechtsfrieden sowie Berechenbarkeit rechtlicher Faktoren wiederherstellen und gewährleisten. Dies zeigt, dass der

rein prozedurale Topos „Rechtskraft ist gleich Endgültigkeit gerichtlicher Entscheidungen“ eine zwingende Grundlage jeder Gesamtgerechtigkeit im Sinne von Rechtssicherheit, Rechtsfrieden und Berechenbarkeit darstellt und damit einen Eckpfeiler jedes rechtsstaatlichen Systems bildet. In Wahrheit geht die Bedeutung der Rechtskraft aber noch darüber hinaus. Denn der Eintritt der Rechtskraft ist auch zwingende Voraussetzung für die Gewährung von Einzel-fallgerechtigkeit durch staatliche Gerichte. Der Inhaber eines berechtigten Anspruchs kann sein gutes Recht zwangsweise letztlich nur durchsetzen, wenn mithilfe der Rechtskraft die Verteidigung der Gegenseite einmal ihr Ende findet.

II. Durch rechtliches Gehör

In einem zweiten Schritt möchte ich mich kurz dem recht-lichen Gehör zuwenden. Der Anspruch auf rechtliches Ge-hör ist in Art. 103 Abs. 1 GG verankert. Das BVerfG hat die-sen Grundsatz einmal als das „prozessuale Urrecht des Menschen“ bezeichnet.5 Im Einzelnen bedeutet der An-spruch auf rechtliches Gehör nach heutiger Auffassung ein dreistufiges Verfahren. Zunächst hat jede Partei im laufen-den Prozess das Recht auf umfassende Information (Recht auf Orientierung). In einem zweiten Schritt folgt daraus das Recht der Partei auf Äußerung vor Gericht. Es muss der Par-tei erlaubt sein, alles für den Prozess Erhebliche in tatsäch-licher wie in rechtlicher Hinsicht vor Gericht vorzutragen (Recht auf Äußerung). Daran schließt sich in einem dritten Schritt der Kernbereich des Anspruchs auf rechtliches Gehör an. Mit den Worten des BVerfG muss das Gericht das von der Partei Vorgebrachte „zur Kenntnis nehmen und in Er-wägung ziehen“.6

Ähnlich wie im Fall der Rechtskraft stellt sich auch beim Anspruch auf rechtliches Gehör die Frage, in welchem Ver-hältnis ein solches grundlegendes Strukturprinzip zur mate-rialen Gerechtigkeit im Sinne der objektiven Ergebnisrich-tigkeit der Entscheidung des Einzelfalles steht. Es ist dabei evident, dass die ausreichende Gewährung von rechtlichem Gehör durch ein Gericht keineswegs zwingend eine objek-tiv richtige Entscheidung des Einzelfalles garantiert. Ebenso ist es selbstverständlich auch möglich, dass der zur Ent-scheidung berufene Richter den Fall materiell-rechtlich richtig entscheidet, ohne dass vorher den Parteien ausrei-chend rechtliches Gehör gewährt worden wäre. Schon dies zeigt wiederum die Eigenständigkeit der Verfahrensgerech-tigkeit. Es gibt offenbar einen eigenen „Gerechtigkeitswert

5 BVerfG, Ablehnung einstweilige Anordnung v. 09.07.1980 - 2 BvR 701/80.

6 Ständige Rechtsprechung seit BVerfG, Beschl. v. 14.06.1960 - 2 BvR 96/60.

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verfahrensrechtlicher Normen“.7 Ganz praktisch folgt aus diesen Erwägungen, dass ein Gerichtsurteil wegen Versto-ßes gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs auch dann im jeweils vorgesehenen Verfahren beanstandet wer-den muss, wenn das materiell-rechtliche Ergebnis der Ent-scheidung nach Auffassung des überprüfenden Gerichts zutreffend wäre.

III. Durch Beweisverbote

Lassen Sie mich noch einen dritten Aspekt kurz andeuten. Es geht um die Problematik der Beweisverbote. Eine aus-schließlich der Wahrheit und der materialen Gerechtigkeit verpflichtete Gerichtsentscheidung müsste nach der Regel verfahren, dass ihr vorliegende Beweismittel auch dann zu verwerten sind, wenn die Erlangung rechtswidrig war. Wer-den dem Gericht also entscheidungserhebliche Briefe oder Dokumente vorgelegt, die gestohlen sind, werden Bilder oder Videos vorgelegt, die rechtswidrig hergestellt wurden, berichtet ein Zeuge über ein heimlich mitgehörtes Telefo-nat, schildert der gedungene Spitzel dem Gericht von sei-nen Beobachtungen durch ein in der Wand angebrachtes Loch oder wurden entscheidungserhebliche Tatsachen klar durch Folterandrohung gewonnen, so würde die blanke Wahrheitsermittlung für eine Verwertung im Prozess strei-ten. Die Rechtsprechung in Deutschland entscheidet in die-sen Fällen in gegenteiliger Weise. Sie lehnt eine Verwertung solcher Beweise ab, soweit dies der Schutzzweck der je-weils verletzten Norm gebietet. Dies ist beim Folterverbot evident, gilt aber auch sonst beim Eingriff in verfassungs-rechtlich geschützte Grundpositionen sowie in die straf-rechtlich gestützte Position der Vertraulichkeit des Wortes, das Briefgeheimnis, das Privatgeheimnis und das Berufs-geheimnis.

Die Konsequenz dieser Auffassung ist klar. Obgleich der ge-stohlene und rechtswidrig geöffnete Brief Informationen enthält, die eine streitige Frage des laufenden Prozesses klären würden, steht das prozedurale Beweisverwertungs-verbot dem entgegen und führt möglicherweise zur Klage-abweisung nach Beweislastgrundsätzen. Beweisverwer-tungsverbote haben also erkennbar einen eigenständigen Gerechtigkeitsgehalt, der einer absoluten Wahrheitsermitt-lung entgegensteht.

IV. Durch weitere verfahrensrechtliche Grundprinzi-pien

Neben den genannten Bereichen der Rechtskraft, des recht-lichen Gehörs und der Beweisverbote ließen sich noch wei-tere verfahrensrechtliche Grundprinzipien nennen, denen ein eigenständiger Gerechtigkeitswert zukommt. Dies gilt etwa für den Verstoß gegen die vorschriftsmäßige Beset-

zung des Gerichts, für das Verbot der Mitwirkung eines kraft Gesetzes ausgeschlossenen oder von einer Partei mit Erfolg abgelehnten Richters, für die fehlende gesetzliche Vertretung einer Partei, für die Verletzung der Öffentlichkeit oder für eine fehlende Urteilsbegründung. In allen diesen Fällen handelt es sich um Verfahrensregelungen mit einem eigenständigen Gerechtigkeitswert, der sich nicht aus der Hinführung zum inhaltlich richtigen Ergebnis legitimiert. Daher verlangen solche Verfahrensgrundsätze unbedingte Beachtung. Eine Heilung durch Ergebnisrichtigkeit kommt nicht in Betracht.

F. Legitimation durch Verfahren?

Kehren wir nunmehr zu den Ausgangsfragen zurück: Die genannten Beispiele des Münchener Flughafens, von Stuttgart 21 oder des Hambacher Forstes sowie viele ähn-liche Fälle von Großprojekten werfen die Frage auf, ob an-gesichts des Protestes von Wutbürgern die streitbeenden-de Funktion der Rechtskraft und damit das Prozessrecht insgesamt bedeutungslos werden. Der frühere Vizepräsi-dent des BVerfG Mahrenholz hatte die Stuttgarter Protes-te nach Verfahrensabschluss mit dem Hinweis gerechtfer-tigt, alle Staatsgewalt gehe vom Volke aus. Der ehemalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler sprach davon, die Zeit der Basta-Entscheidungen sei vorbei. Solche und ähn-liche Rechtfertigungsversuche mögen im Einzelfall gro-tesk sein. Ein 15 Jahre dauerndes Planungsverfahren mit rechtskräftigen Gerichtsentscheidungen am Ende ist wohl das exakte Gegenteil einer Basta-Entscheidung. Vollends abstrus wirkt es, wenn ein ehemaliger Bundesverfas-sungsrichter allen Ernstes die vom Volk ausgehende Staatsgewalt gegen abgeschlossene Gerichtsverfahren in Stellung bringen will. Das erinnert an die Auffassung der neuen polnischen Regierung, der Wille des Volkes (= Par-lamentsmehrheit) stehe über dem Verfassungsgericht. Aber das Problem liegt in Wahrheit sehr viel tiefer. In der Öffentlichkeit und in den Medien wird vielfach die Frage gestellt, wie es zu solchen Konflikten kommen konnte. Eine nicht selten darauf gegebene Antwort lautete, die Ursache liege in den früheren Konflikten. Denn damals wurde die Uneinigkeit in der Sache durch eine formale Ei-nigung per Verfahren ersetzt. Diese Antwort mag nicht völlig falsch sein. Sie verfehlt aber den eigentlichen Kern der Sache. Denn es ist durchaus das Ziel des Verfahrens-rechts, Legitimation durch ein solches Verfahren zu schaf-fen. Es entspricht geradezu dem Wesen der Menschen, dass Einigkeit in der Sache nicht immer erzielt und nicht

7 Henckel, Vom Gerechtigkeitswert verfahrensrechtlicher Normen, Göt-tinger Universitätsreden, 1966, S. 25.

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erzwungen werden kann. Daher muss eine letztlich not-wendige Einigung auf einem verfahrensmäßigen Weg er-zielt werden. Der Abschluss eines solchen Verfahrens durch die Rechtskraft ist also die absolut zentrale Grund-lage jedes rechtsstaatlichen Verfahrens. Vor diesem Hin-tergrund muss man es durchaus als eine Krise moderner Gerichtsbarkeit empfinden, wenn Bürger eine endgültig abgeschlossene Planung und Grundsatzentscheidung auf der Straße abändern wollen. Es könnte nämlich bedeuten, dass unsere Verfahren keine ausreichende Legitimations-wirkung mehr bieten.

Was könnte man an deren Stelle setzen? Immer häufiger wird hier ein plebiszitärer Gedanke ins Spiel gebracht. Entscheidungen sollen unabhängig von sonstigen Verfah-rensabläufen durch Volksentscheid und Bürgerbefragung getroffen werden. Nun wird man jungen Menschen ihr durchaus sympathisches Engagement und ihr naives Ver-trauen auf einen Volksentscheid nicht vorwerfen können. Wir als Juristen wissen aber, dass die Väter und Mütter des Grundgesetzes im Jahr 1949 zwar in Art. 20 Abs. 2 GG bestimmt haben, dass die Staatsgewalt vom Volke in Wah-len und Abstimmungen ausgeübt wird, dass sich aber in der Praxis ganz bewusst die Möglichkeiten des Volkes weitgehend auf Wahlen beschränkt haben. Wir sollten vielleicht stärker verdeutlichen, dass diese Entscheidung für eine mittelbare Demokratie sehr gut begründet ist. Würden wir alle wesentlichen Entscheidungen dieses Staatswesens durch Volksentscheide bestimmen, so hät-ten wir bekanntlich über lange Jahrzehnte in Deutschland mit der Todesstrafe leben müssen, die bis vor wenigen Jahren im Volk stets eine Mehrheit hatte. Sollen wir ernst-haft die Bürger von Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf zusammenrufen, damit sie in ihrer Mehrheit ein generel-les Bauverbot für Moscheen beschließen, wie dies vor ei-nigen Jahren in der Schweiz geschehen ist? Wir alle wis-sen, dass die direkte Demokratie in unserem Nachbarland Schweiz nur angesichts der teilweise winzigen Kantone und unter den besonderen neutralen Bedingungen dieses Landes funktionieren kann und funktioniert. Die Ergebnis-se sind im Übrigen oft wenig eindrucksvoll. Dies hat nicht zuletzt die Brexit-Entscheidung noch einmal verdeutlicht. Die Vorstellung wäre geradezu grotesk, wollte man in großen Staaten, die stark in den Macht- und Interessen-strukturen der Weltpolitik verankert sind, eine unmittel-bare Demokratie einführen. Man überlege einmal, welche Auffassungen in den USA im Rahmen solcher Volksent-scheide als mehrheitsfähig zum Gesetz werden könnten.

Die bisherigen Überlegungen führen also nicht nur zurück zum Verfahren allgemein und zur Rechtskraft mit ihrer streitbeendenden Wirkung, sondern sie nähern sich auch der Systemtheorie von Niklas Luhmann, der mit seiner

Arbeit aus dem Jahr 1969 mit dem Titel „Legitimation durch Verfahren“8 geradezu programmatisch formuliert hat, was mehr denn je im Zentrum der Überlegungen ste-hen sollte. Luhmann hat neben den Verfahrensvorausset-zungen, nämlich der Wahl eines vorkonstituierten Typus von Verfahren und dessen Autonomie (Judikative als unab-hängige dritte Gewalt) die Rollenübernahme in einem sol-chen kontradiktorischen Verfahren beschrieben. Die Konse-quenzen sind eine Reduktion von Komplexität, eine Umstrukturierung des Streitverhältnisses allein auf die kon-kret bezeichneten Tatsachenbehauptungen sowie die gene-relle Erwartung unvermeidbarer Enttäuschungen. Durch eine Spezifizierung der Unzufriedenheit wird der letztlich negativ Betroffene isoliert und jeder Dritte vom Verfahren ausgeschlossen. Andererseits schafft die Öffentlichkeit des Verfahrens eine Konsensvermutung und vermittelt die Überzeugung, dass im Prozess das Recht obsiegt. Insge-samt führen nach Luhmann also die Einhaltung von Ver-fahrensregeln und die Beachtung des geschilderten kondi-tionalen Programms zu einer Legitimationswirkung und damit letztlich zu einer formal als Gerechtigkeit verstande-nen Wirkung.

Die Thesen von Niklas Luhmann haben in der Wissen-schaft mancherlei Kritik ausgelöst. In unserem Kontext erscheinen sie allerdings durchaus erhellend. Denn erfasst werden mit solchen Überlegungen nicht nur die Vorgänge, die es einem bestimmten Verfahren ermöglichen, zu Kon-fliktlösungen beizutragen, obgleich der Grunddissens zwischen den Streitparteien nicht konsensfähig lösbar ist. Mit der Anwendung von Recht in einem strikt verfahrens-förmigen Vorgang wird auch der eigentliche gesellschaft-liche Sinn von Recht umgesetzt, nämlich die Schaffung von Freiheit und gesellschaftlichem Frieden. Gegensätzli-che Interessen und damit Konfliktpotenzial sind in einem Staat und darüber hinaus sicherlich unvermeidbar. Die Lösung dieser Konflikte setzt letztlich voraus, dass Ent-scheidungen getroffen werden. Die Entscheidungsträger und diejenigen, die diese Entscheidung ausführen, müs-sen also mit Macht ausgestattet sein. Diese Macht legiti-miert sich (jedenfalls auch) durch ein vorhersehbares Ver-fahren unter Beachtung von Normen mit prozeduralem Gerechtigkeitsgehalt. Verfahrensrecht ist also keineswegs ein rein technisches Recht, ein reines Zweckmäßigkeits-recht, sondern es ist eine Legitimationsgrundlage unseres gesamten menschlichen Zusammenlebens.

8 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 1969, S. 27 ff.

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2016

Umfang der Untersuchungs- und Rügeob-liegenheit sowie Darlegungslast bei Verjäh-rungBGH, Urt. v. 24.02.2016 - VIII ZR 38/15

Prof. Dr. Michael Jaensch

A. Problemstellung

Im Rahmen eines gewährleistungsrechtlichen Schadens-ersatzprozesses hatte sich der BGH mit den Anforderungen an die Untersuchungs- und Rügeobliegenheit nach § 377 HGB sowie mit der Darlegungs- und Beweislast für die Ver-jährungsfristen nach § 438 Abs. 1 BGB auseinanderzusetzen.

Sofern der Kauf für beide Parteien ein Handelsgeschäft dar-stellt, muss der Käufer die Ware unverzüglich nach Erhalt untersuchen, soweit dies nach ordnungsgemäßem Ge-schäftsgang tunlich ist, und erkannte Mängel rügen, § 377 Abs. 1 HGB. Zeigt sich der Mangel später, muss die Mängel-anzeige unverzüglich erfolgen, § 377 Abs. 3 HGB. Genügt der Käufer dem nicht, gilt der Mangel als genehmigt, § 377 Abs. 2 HGB, sodass Rechte wegen Gewährleistungen nicht mehr geltend gemacht werden können. Aufgrund des § 381 Abs. 2 HGB gilt § 377 HGB auch für Werklieferungsverträge. Die Untersuchungs- und Rügeobliegenheit dient dem Inter-esse des Verkäufers an einer zügigen Abwicklung des Ge-schäfts, um nicht längere Zeit nach Lieferung wegen dann nur noch schwer feststellbarer Mängel in Anspruch genom-men zu werden. Andererseits hat die Untersuchung nur in dem Umfang zu erfolgen, wie sie im ordnungsgemäßen Ge-schäftsgang tunlich ist, sodass die Anforderungen an die Rügeobliegenheit nicht überspannt werden dürfen. Für die hierzu erforderliche Abwägung der Interessen von Verkäu-fer und Käufer liefert der BGH Kriterien.

Gewährleistungsansprüche des Käufers verjähren gemäß dem in § 438 Abs. 1 BGB angelegten Fristenkatalog, der über § 651 BGB auch für Werklieferungsverträge gilt. Be-ruht der Mangel auf dinglichen oder sonstigen im Grund-buch eingetragenen Rechten, beträgt die Verjährungsfrist 30 Jahre (Nr. 1); bei Bauwerken und Baustoffen fünf Jahre (Nr. 2) und in den übrigen Fällen zwei Jahre (Nr. 3). Nach Ablauf der Frist ist der Verkäufer gem. § 214 Abs. 1 BGB berechtigt, die Leistung zu verweigern. In der Literatur wird zuweilen davon ausgegangen, dass die Zweijahresfrist nach § 438 Abs. 1 Nr. 3 BGB den Regelfall bildet.1 Hieraus wird von einigen geschlossen, dass den Käufer die Darle-gungs- und Beweislast für das Eingreifen einer längeren Verjährungsfrist trifft, wenn der Verkäufer unter Berufung auf die Zweijahresfrist die Verjährungseinrede erhebt.2 Der BGH nimmt zur Beweislastverteilung des § 438 Abs. 1 BGB erstmalig Stellung.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Zum Bau einer Trocknungsanlage für Klärschlamm wurde die Klägerin mit der Anfertigung von Antriebs- und Spannwalzen betraut. Die Klägerin erteilte der Beklagten den Auftrag, die für die Walzen benötigen Walzenzapfen herzustellen, welche die Beklagte sodann am 03.06.2008 lieferte. Am 05.12.2008 teilte die Klägerin der Beklagten mit, dass bei einer Walze ein Zapfenbruch aufgetreten sei. Gut ein Jahr später kam es beim Betrieb der Anlage zu weiteren Zapfenbrüchen. Auf Kosten der Klägerin stellte die Beklagte weitere Walzenzapfen her, die sie einer Ultraschalluntersuchung unterzog. Aus den Zap-fen fertigte die Klägerin neue Spannwalzen, die der Auftrag-geber ihr vergütete. Dieser verlangte daraufhin von der Kläge-rin Ersatz der Vergütung, woraufhin die Klägerin gegen die Beklagte im März 2012 in den Vorinstanzen erfolglos Klage auf Freistellung der Schadensersatzforderung erhob.

Der BGH urteilt, dass der Klägerin mit der Argumentation des Berufungsgerichts ein Schadensersatzanspruch nach §§ 651, 434 Abs. 1, § 437 Nr. 3, § 280 Abs. 3, §§ 281, 249 Abs. 1 BGB nicht verwehrt werden kann. Das Berufungs-gericht habe bei der nach § 377 Abs. 1 HGB erforderlichen Interessenabwägung die Anforderungen an eine ordnungs-gemäße Untersuchung überspannt, indem es den Kosten- und Zeitaufwand der Klägerin nicht richtig gewürdigt habe. Der BGH bemängelt, dass die Vorinstanz einseitig den Tat-sachenvortrag der Beklagten, wonach die Ware nach Erhalt unzureichend untersucht worden sei, berücksichtigt und das gegenteilige Vorbringen der Klägerin, gemäß dem sich der Mangel nur bei Zerstörung der Ware zeigt, zur Beurtei-lung der Untersuchungsobliegenheit nach § 377 Abs. 1 HGB unbeachtet gelassen habe. Da das Berufungsgericht den Umstand, dass sich der Mangel später zeigt, im Rah-men von § 377 Abs. 3 HGB aber sehr wohl erkannt hat, sei die Argumentation zudem widersprüchlich. Mit der Forde-rung, die Klägerin hätte bei Erhalt eine Ultraschalluntersu-chung durchführen müssen, übergeht das klägerische Vor-bringen, dass eine solche Untersuchung keine gesicherten Erkenntnisse gebracht hätte und nicht branchenüblich sei.

Zudem habe das Berufungsgericht rechtsfehlerhaft das Eingreifen der zweijährigen Verjährungsfrist nach § 438 Abs. 1 Nr. 3 BGB bejaht, indem es der Klägerin die primäre Darlegungs- und Beweislast für die Anwendung der Fünf-jahresfrist für Baustoffe gem. § 438 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b) BGB auferlegt hat. Rechtsvernichtende Einwendungen sei-

1 Pammler in: jurisPK BGB, 7. Aufl. 2014, § 438 Rn. 15 („Normalfall“); Wes-termann in: MünchKomm BGB, 7. Aufl. 2016, § 438 Rn. 11; a.A. Faust in: BeckOK BGB, 38. Ed., § 438 Rn. 28, Stand 01.08.2014 (Auffangregel).

2 Matusche-Beckmann in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2013, § 438 Rn. 119; Becker in: Baumgärtel/Laumen/Prütting, Handbuch der Be-weislast, 3. Aufl. 2009, § 438 BGB Rn. 3.

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Die Monatszeitschrift

en jedoch von der Partei darzulegen und zu beweisen, die sich darauf beruft, was auch für verschieden lange Verjäh-rungsfristen gelte. Somit habe der Verkäufer, der die Zwei-jahresfrist geltend macht, darzulegen und zu beweisen, dass nicht die vorrangigen längeren Fristen nach § 438 Abs. 1 Nr. 1 und 2 BGB greifen. Der Beklagten obliege die Darlegungs- und Beweislast, dass die Walzenzapfen nicht für ein Bauwerk oder entgegen ihrer üblichen Verwendung für ein Bauwerk verwendet wurden. Zur Definition des Be-griffs Bauwerk greift der Gerichtshof auf die zu § 638 Abs. 1 Satz 1 BGB a.F. entwickelten Kriterien3 zurück. Dem-nach ist ein Bauwerk eine unbewegliche Sache, die mit dem Erdboden verbunden ist. Umfasst seien auch in das Gebäude fest eingebaute Teile. Die Walzenzapfen könnten entweder Bauteile der als Bauwerk einzuordnenden Trock-nungsanlage für Klärschlamm oder Teil der Trocknungsan-lage sein, welche wiederum Bauteil des Bauwerks „Klär-anlage“ sein könnte. Denn § 438 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b) BGB erfasse sämtliche für ein Bauwerk eingesetzten Mate-rialien, unabhängig von der Anzahl der Verarbeitungs-schritte und nehme nur unübliche Verwendungen aus. Al-lerdings dürfe das Berufungsgericht an den Vortrag der beklagten Verkäuferin, bei den Walzenzapfen handele es sich nicht um Baustoffe i.S.v. § 438 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b) BGB, keine übermäßigen Anforderungen stellen. Die Dar-stellung müsse nur schlüssig, brauche jedoch nicht wahr-scheinlich zu sein. Sollte die Beklagte ihrer primären Dar-legungslast nicht genügen können, überlässt der BGH dem Berufungsgericht die Prüfung der Frage, ob die Klägerin eine sekundäre Darlegungslast trifft.

C. Bewertung

I. Zu Recht legt der BGH dem Verkäufer, der sich auf die kurze Verjährungsfrist gem. § 438 Abs. 1 Nr. 3 BGB beruft, die primäre Darlegungs- und Beweislast dafür auf, dass die längeren Fristen nach § 438 Abs. 1 Nr. 1 und 2 BGB nicht greifen. Macht der Verkäufer mit der Verjährungseinrede die Zweijahresfrist geltend, muss er darlegen und bewei-sen, dass der Mangel nicht in einem dinglichen Recht – Nr. 1 a) – oder sonstigen Recht im Grundbuch – Nr. 1 b) – besteht und nicht ein Bauwerk – Nr. 2 a) – oder eine Sache betrifft, die für ein Bauwerk oder entsprechend ihrer übli-chen Verwendung für ein Bauwerk verwendet wurde – Nr. 2 b). Aus dem Umstand, dass § 438 Abs. 1 Nr. 3 BGB den überwiegenden Teil der Anwendungsfälle deckt,4 kann nicht geschlossen werden, bei Nr. 3 handele es sich um den Regelfall5 mit der Folge, dass die Nr. 1 oder Nr. 2 Ausnahme-tatbestände betreffen,6 deren Eingreifen der Käufer darzu-legen und zu beweisen hätte.7 Wie der Wortlaut der Norm „im Übrigen“ andeutet, handelt es sich bei Nr. 3 um einen Auffangtatbestand,8 der nur greift, wenn die vorrangigen

Tatbestände der vorangehenden Nummern nicht erfüllt sind. Der Verkäufer, der sich auf Nr. 3 beruft, hat somit dar-zulegen und zu beweisen, dass die vorrangigen längeren Fristen nach Nr. 1 und 2 nicht einschlägig sind.

II. Hingegen verdient die Feststellung, die Verjährung sei eine rechtsvernichtende Einwendung,9 keine Zustimmung. Zwar unterscheidet der Gerichtshof im Einklang mit der Li-teratur10 zwischen rechtshindernden, rechtsvernichtenden und rechtshemmenden Einwendungen.11 Seine Einstufung der Verjährungseinrede ist jedoch uneinheitlich.12 Tatsäch-lich handelt es sich bei dem Leistungsverweigerungsrecht aufgrund Verjährung nach § 214 Abs. 1 BGB um eine rechts-hemmende Einwendung (materiell-rechtliche Einrede).13 Eine rechtsvernichtende Einwendung führt zum Erlöschen des Anspruchs, was von Amts wegen zu berücksichtigen ist. Hingegen bleibt ein verjährter Anspruch mit Ausnahme von §§ 901, 1028 BGB bestehen,14 lediglich seine Durchsetz-barkeit ist gehemmt.15 Zudem ist die Verjährung nicht von Amts wegen zu berücksichtigen, sondern muss vom Schuld-ner geltend gemacht werden.16 Auch wenn die Unterschei-dung zwischen rechtsvernichtender und rechtshemmender Einwendung fließend sein mag,17 sollte die Verjährung ein-heitlich als rechtshemmende Einwendung oder als Einrede bezeichnet werden.

III. Gegenstand der Entscheidung ist der gewährleistungs-rechtliche Schadensersatzanspruch des Käufers. Der Ge-richtshof gibt als Anspruchsgrundlage die §§ 651, 434 Abs. 1,

3 BGH, Urt. v. 09.10.2013 - VIII 318/12 Rn. 19.4 Weidenkaff in: Palandt, BGB, 75. Aufl. 2016, § 438 Rn. 11; Grunewald

in: Erman, BGB, 14. Aufl. 2014, § 438 Rn. 13.5 Matusche-Beckmann in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2013, § 438

Rn. 119; Pammler in: jurisPK BGB, 7. Aufl. 2014, § 438 Rn. 15 („Nor-malfall“); Westermann in: MünchKomm BGB, 7. Aufl. 2016, § 438 Rn. 11 (Grundfall).

6 Westermann in: MünchKomm BGB, 7. Aufl. 2016, § 438 Rn. 11.7 Matusche-Beckmann in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2013, § 438

Rn. 119; Becker in: Baumgärtel/Laumen/Prütting, Handbuch der Be-weislast, 3. Aufl. 2009, § 438 BGB Rn. 3.

8 Faust in: BeckOK BGB, 38. Ed., § 438 Rn. 28, Stand 01.08.2014.9 BGH, Urt. v. 24.02.2016 - VIII ZR 38/15 Leitsatz sowie Rn. 40, 52.10 Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht, 25. Aufl. 2015, Rn. 732; Peter-

sen, Jura 2008, 422 ff.11 BGH, Urt. v. 27.02.1975 - III ZR 9/73 unter 2.12 Rechtsvernichtender Umstand: BGH, Urt. v. 20.05.2003 - X ZR 57/02

unter 2b); rechtshemmende Einrede: BGH, Urt. v. 21.04.2015 - XI ZR 200/14 Rn. 11; BGH, Urt. v. 21.03.2001 - VIII ZR 244/00 unter 2.

13 Siehe Preuß in: BeckOK ZPO, 20. Ed., § 767 Rn. 24, Stand 01.03.2016; Stadler in: Jauernig, BGB, 16. Aufl. 2015, § 359 Rn. 4.

14 Grothe in: MünchKomm BGB, 7. Aufl. 2015, § 214 Rn. 1; Henrich in: BeckOK BGB, 38. Ed., § 214 Rn. 1, Stand 01.02.2016.

15 BGH, Urt. v. 27.01.2010 - VIII ZR 58/09 Rn. 27.16 Ellenberg in: Palandt, BGB, 75. Aufl. 2016, § 214 Rn. 2.17 Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht, 25. Aufl. 2015, Rn. 734.

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18 BGH, Urt. v. 24.02.2016 - VIII ZR 38/15 Rn. 17, 34, 48; üblicherweise wird schlicht § 280 BGB zitiert, siehe z.B. BGH, Urt. v. 22.06.2005 - VIII ZR 1/05 unter 1.; BGH, Urt. v. 02.04.2014 - VIII ZR 46/13 Rn. 9 oder § 280 Abs. 1 BGB, siehe z.B. BGH, Urt. v. 21.12.2011 - VIII ZR 70/08 Rn. 10.

19 Regierungsbegründung zur Schuldrechtsreform, BT-Drs. 14/6040, S. 135 „einzige Anspruchsgrundlage“.

20 BGH, Urt. v. 24.02.2016 - VIII ZR 38/15 Rn. 18, 48.

§ 437 Nr. 3, § 280 Abs. 3, §§ 281, 249 Abs. 1 BGB an.18 Es verwundert, dass § 280 Abs. 1 BGB als zentrale Norm für Schadensersatzansprüche19 nicht in der Paragrafenkette auf-geführt wird. Die Vorschrift enthält als lex generalis nicht nur den Haftungsgrund der Pflichtverletzung, sondern auch die Tatbestandsvoraussetzung des Vertretenmüssens und ist da-her mit zu zitieren. Der Werklieferer schuldet den Schadens-ersatz nur, wenn er die Pflichtverletzung (hier: den Mangel) zu vertreten hat, was der BGH zutreffend erkennt.20

Des Parkplatzbetreibers letztes Mittel gegen Falschparker – Anspruch auf Unter-lassungserklärungBGH, Urt. v. 18.12.2015 - V ZR 160/14

RiLG Torsten Frank Koschinka

A. Problemstellung

Es häufen sich Fälle, in denen Betreiber privater Parkplätze sich des Aufwandes, den Parkplatzwächter bzw. automati-sierte Schrankensysteme bedeuten, entledigen wollen. Dies, indem sie auf ihren Parkplätzen zwar Parkscheinautomaten installieren, die entgeltlose Benutzung dieser Parkplätze aber allein dadurch einzugrenzen versuchen, dass sie für den Fall der Nichtlösung eines Parkscheines durch am Parkplatz aus-gehängte Allgemeine Geschäftsbedingungen den Parkplatz-nutzern eine Vertragsstrafe androhen. Auch hat sich, wie man der Presse1 entnehmen konnte, ein großer deutscher Discounter entschlossen, die – bei ihm im Übrigen kosten-freie – Inanspruchnahme seiner Kundenparkplätze bei Über-schreitung einer gewissen Parkdauer mit einer Vertragsstrafe zu belegen. Die Eintreibung dieser erhöhten Entgelte soll in allen diesen Fällen primär durch die Inanspruchnahme des Kraftfahrzeughalters gewährleistet werden.

Nachdem lange Zeit heftig umstritten war, ob und wie der Parkplatzbetreiber diese Ansprüche gegen den Halter durchsetzen kann, hat der BGH mit der vorliegenden Ent-scheidung einen neuen Weg aufgezeigt. Anderen Lösungs-ansätzen, insbesondere demjenigen eines Auskunftsan-spruches auf Fahrermitteilung gegen den Halter, hat er damit zumindest inzident eine Absage erteilt.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Klägerin betreibt einen privaten, der Öffentlichkeit gegen Entgelt zugänglich gemachten Parkplatz. Auf ihre Vertrags- und Einstellbedingungen weist sie die Nutzer durch entspre-chende Beschilderung hin. Sie sehen vor, dass die Nutzer sich mit der Einfahrt in den Parkplatz zur Zahlung des Mietpreises und zur gut sichtbaren Auslegung des Parkscheines hinter der Windschutzscheibe verpflichten. Nichtlösen und/oder Nichtauslegen des Parkscheines sowie ein Überschreiten der Parkzeit um mehr als 15 Minuten soll zur Fälligkeit eines er-höhten Nutzungsentgelts i.H.v. 20 € führen.

Der Beklagte ist Halter (sic!) eines dort ohne Auslegung eines entsprechenden Parkscheines abgestellten Pkw. Die Klägerin führte eine Halterabfrage durch und forderte den Beklagten fruchtlos zur Zahlung des erhöhten Entgelts oder zur Benennung des Fahrers auf. Mit der Klage zielt sie nun-mehr darauf, es dem Beklagten bei Meidung eines Ord-nungsgeldes von 600 € zu untersagen, seinen Pkw auf ihrem Gelände unberechtigt zu parken oder von einem Drit-ten dort abstellen zu lassen. Darüber hinaus verlangt sie die Erstattung von 5,65 € Kosten der Halterermittlung.

Der BGH erörtert zunächst die Zulässigkeit des Unterlas-sungsantrages. Insofern enthält die Entscheidung nur Alt-bekanntes, insbesondere den Hinweis darauf, dass der An-trag ausgelegt werden muss und dabei der wirkliche Wille der Parteien zu erforschen ist. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Unterlassung des Parkens in einer das erhöhte Ent-gelt auslösenden Form begehrt wird.

Anders als die Instanzgerichte bejaht der BGH dann einen auf § 862 BGB – verbotener Eigenmacht – beruhenden Unterlassungsanspruch der Klägerin. Er führt aus, dass das unbefugte Abstellen eines Kraftfahrzeuges auf einem Pri-vatgrundstück verbotene Eigenmacht darstellt. Dies auch dann, wenn es „nur“ unter Verletzung bestimmter vom Be-treiber gestellter Bedingungen erfolgt. Zwar sei vorliegend zwischen dem Fahrer des Kraftfahrzeuges und der Klägerin ein Mietvertrag zustande gekommen. Aus diesem folge je-doch, anders als bei klassischen Mietverhältnissen, keine Pflicht des Vermieters zur unbedingten Besitzeinräumung. Vielmehr verlangten die Besonderheiten des anonymen Massengeschäftes die Auslegung, dass gerade keine unbe-dingte Besitzverschaffung geschuldet sei, der Parkplatzbe-treiber vielmehr das Parken von der Zahlung des Entgelts und der Auslegung des Parkscheines abhängig machen könne. Ein Mieter, der gegen diese Bedingungen verstoße, begehe verbotene Eigenmacht. Dem Halter des Kraftfahr-zeuges sei diese verbotene Eigenmacht, auch wenn er das

1 http://www.welt.de/wirtschaft/article148845617/Aldi-verteilt-Knoell-chen-an-Falschparker.html (abgerufen am 24.03.2016).

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Die Monatszeitschrift

2 BGH, Urt. v. 21.09.2012 - V ZR 230/11.3 Vgl. inter alia: AG Bad Hersfeld, Urt. v. 08.11.2011 - 10 C 491/11; AG

Darmstadt, Urt. v. 10.10.2002 - 310 C 287/02; AG Wiesbaden, Urt. v. 13.09.2007 - 91 C 2193/07.

4 AG Schwabach, Urt. v. 29.05.2009 - 1 C 1279/08.5 Vgl. http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/docu-

ment.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=5298e18540382662ed4db49d4b0e5af5&nr=73509&pos=0&anz=1 (abgerufen am 24.03.2016).

Fahrzeug nicht selbst abgestellt habe, als Zustandsstörer zuzuschreiben. Denn er beherrsche die Quelle der Störung, da er alleine darüber bestimme, wie und von wem sein Fahrzeug genutzt werde. Hinsichtlich all dieser Gesichts-punkte rekurriert der BGH zutreffend auf seine ständige Rechtsprechung.

Die für einen Unterlassungsanspruch notwendige Wieder-holungsgefahr konstruiert der BGH dann wie folgt: Zwar sei für den Halter selbst, der bloßer Zustandsstörer sei, eine Wiederholungsgefahr durch das bloße einmalige Abstellen des Kraftfahrzeuges nicht indiziert. Dies sei jedoch anders zu bewerten, wenn er auf die Aufforderung des Parkplatz-betreibers, den für die Besitzstörung als Handlungsstörer verantwortlichen Fahrer zu benennen, schweige. Dieses Verhalten mache bei wertender Betrachtung künftige Be-sitzstörungen wahrscheinlich.

Einen Anspruch auf Erstattung der Kosten der Halterfeststel-lung gegen den Halter verneint der BGH hingegen unter Auf-gabe seiner bisherigen Rechtsprechung.2 Ein Anspruch aus GoA scheide aus, da es weder dem tatsächlichen noch dem mutmaßlichen Willen des Halters entspreche, als Adressat einer Unterlassungsaufforderung ermittelt zu werden. Denn anders als in Fällen wettbewerblicher Abmahnungen, bei denen der potenzielle Rechtsverletzer die in seinem Interesse liegende Gelegenheit erhalte, einen kostspieligen Rechts-streit zu vermeiden, habe der Halter kein Interesse aus seiner Anonymität herauszutreten. Nachdem der BGH noch die Vo-raussetzungen des § 679 BGB sowie eines Anspruches aus §§ 677, 684 Satz 1, § 818 Abs. 1, Abs. 2 BGB verneint hat, lehnt er schließlich auch einen Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 858 Abs. 1 BGB mit der Begrün-dung ab, es fehle an einem Verschulden des Halters, soweit er nicht selbst Fahrer war oder die verbotene Eigenmacht durch den Fahrzeugführer für ihn konkret vorhersehbar war.

C. Kontext der Entscheidung

Die Entscheidung stellt, wie oben dargelegt, in weiten Tei-len die Anwendung altbekannter Rechtsprechung auf den vorliegenden – häufigen – Sachverhalt dar. Interessant ist sie in den Teilen, in denen sie von alter Rechtsprechung ab-weicht und/oder explizit oder inzident Neuland betritt. Ers-teres betrifft, wie vom BGH klar herausgestellt, die Frage der Erstattungsfähigkeit der Kosten der Halterermittlung aus GoA. Letzteres betrifft insbesondere die Annahme der Wiederholungsgefahr als Folge der Weigerung des Halters, den Fahrer zu benennen; aber auch die Klarstellung, dass dem Halter kein Verschulden i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB zuge-rechnet werden kann. Alles in allem stellt die Entscheidung wohl eine abschließende höchstrichterliche Handlungsan-weisung für die Vielzahl der bisher unterschiedlich ent-

schiedenen Fälle3 der unter dem Punkt „Problemstellung“ benannten Art dar.

D. Auswirkungen für die Praxis

Die in der gerichtlichen Praxis bisher uneinheitliche Bewertung der verschiedenen Möglichkeiten des Parkplatzbetreibers, gegen „Falschparker“ vorzugehen, dürfte aufgrund dieses Ur-teiles des BGH nunmehr vereinheitlicht werden. Der Entschei-dung ist inzident, dass eine – teilweise für zulässig erachtete4 – Inanspruchnahme des (bloßen) Halters als Schuldner des erhöhten Entgelts nicht in Betracht kommt. Denn wäre dies der Fall, bestünde keine Notwendigkeit, dem Parkplatzbetreiber einen Unterlassungsanspruch der vorliegend zugesprochenen Art zu gewähren, seine tatsächlichen Interessen wären einfa-cher zu befriedigen. Ebenso ist ihr inzident, dass dem Park-platzbetreiber kein klagbarer Anspruch auf Auskunft hinsicht-lich der Person des tatsächlichen Fahrers zusteht. Denn wäre dies anders, wären die Ausführungen des BGH zu der aus der Weigerung des Halters, eben diese Auskunft zu erteilen, fol-genden Annahme der Wiederholungsgefahr nicht verständlich. Parkplatzbetreiber werden daher in Zukunft gut beraten sein, weiterhin zunächst einmal dem Halter eine Aufforderung zur Erstattung des erhöhten Entgelts zukommen zu lassen und ihn gleichzeitig unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BGH dazu aufzufordern, eine entsprechende Unterlassungserklä-rung abzugeben, falls er die Zahlung mit der Begründung, er sei nicht selbst gefahren und wolle auch den Fahrer nicht be-nennen, verweigere. Zur Abschreckung von Wiederholungstä-tern dürfte dies hervorragend geeignet sein, wenn es auch das Geschäft von Inkassoinstituten, die oftmals mit der außerge-richtlichen Beitreibung der erhöhten Entgelte beauftragt wer-den, erheblich beeinträchtigen dürfte. Es versteht sich von selbst, dass die Variante der Aufforderung zur Abgabe einer Unterlassungserklärung auch für nicht kommerzielle Park-platzbesitzer nunmehr das Mittel der Wahl zur Abschreckung von Wiederholungstätern sein dürfte.

E. Bewertung

Es überrascht, dass der BGH diese Entscheidung nicht für die amtliche Sammlung vorgesehen hat,5 obwohl er aus-drücklich eine in der Praxis wichtige Rechtsprechung auf-gegeben hat. Die Aufgabe dieser Rechtsprechung erscheint

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sinnvoll, denn tatsächlich dürfte es nur schwer möglich sein, irgendjemandem zu vermitteln, dass er ein Interesse daran haben soll, in derartigen Fällen auf Unterlassung in Anspruch genommen zu werden.

Darüber hinaus scheint die besondere Bedeutung der Ent-scheidung aber gerade in dem zu liegen, was nur inzident entschieden worden ist. Wie oben bereits kurz angemerkt, wird der private Parkplatzbetreiber, will er nicht das mit er-heblichen Kostenrisiken verbundene Wagnis eingehen, ein unter Verstoß gegen seine Einstellbedingungen abgestell-tes Kraftfahrzeug abschleppen zu lassen, durch diese Ent-scheidung quasi auf die Option beschränkt, den Halter des Kraftfahrzeuges auf Unterlassung in Anspruch zu nehmen. Dass dies den Parkplatzbetreiber wirtschaftlich zufrieden-stellen kann, darf bezweifelt werden. In der Folge könnte es daher für viele Parkplatzbetreiber lohnenswert erscheinen, doch entweder ein Schrankensystem zu montieren oder einen das Parkentgelt direkt einkassierenden Parkplatz-wächter zu beschäftigen. Problematisch und vom BGH trotz recht ausführlicher Behandlung in der Ausgangsentschei-dung6 nicht ansatzweise erörtert, bleibt die Frage, ob trotz Fehlens einer expliziten gesetzlichen Grundlage eine der-artige Form der indirekten Halterhaftung – die Entschei-dung schafft quasi auf Umwegen einen faktischen Zwang zur Benennung des Fahrers – für im Ausgangspunkt rechts-konformes Halterverhalten überhaupt ohne systematische Brüche im Gefüge des Zivilrechts geschaffen werden kann. Ebenfalls unentschieden bleibt, ob der Halter für die mit der Abgabe der Unterlassungserklärung und ihrer Vorbereitung entstehenden Kosten einzustehen hat; dies dürfte meiner Auffassung nach mangels Verschuldens und mangels einer Rechtsgrundlage für eine verschuldensunabhängige Haf-tung im Hinblick auf diese Kosten zu verneinen sein.

6 AG Regensburg, Urt. v. 11.11.2013 - 10 C 2620/13, nicht veröffentlicht.

geld oder zur Zwangshaft verurteilt. Die Auswahl von Art und Höhe des Ordnungsmittels obliegt dem Gericht. Der Gläubiger ist gesetzlich nicht verpflichtet, sich im Ordnungsmittelantrag zu seinen Vorstellungen hinsichtlich der Art und Höhe des Ord-nungsmittels zu äußern. Dies wirft die Frage auf, ob der Gläu-biger dann dennoch gegen die erstinstanzliche Verhängung eines Ordnungsmittels Beschwerde mit dem Ziel der Verschär-fung des Ordnungsmittels einlegen kann.

Die Verhängung eines Ordnungsgeldes nach § 890 ZPO setzt einen schuldhaften Verstoß gegen den Unterlassungs- oder Duldungstitel voraus. Juristische Personen haben ana-log § 31 BGB zunächst nur für das Verschulden ihrer Orga-ne einzustehen. Eine Haftung für Verletzungshandlungen durch Angestellte und Beauftragte kommt nur in Betracht, soweit den Organen ein Organisationsverschulden anzu-lasten ist. Hier äußert sich das OLG Schleswig zu den Orga-nisationspflichten, welche den Organen einer juristischen Person abzuverlangen sind.

Ein dritter Aspekt der Entscheidung betrifft die Bemessung des Ordnungsmittels, wenn zwar der festgestellte Einzel-verstoß für sich genommen nur ein geringes wirtschaftli-ches Gewicht hat, die Art der Zuwiderhandlung aber weite-re – bisher unentdeckt gebliebene – Verstöße vermuten lässt.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

I. Der Gläubiger ist ein in die Liste der qualifizierten Ein-richtungen nach § 4 UKlaG eingetragener Verbraucher-schutzverein. Die Schuldnerin ist eine große Anbieterin von Telekommunikationsleistungen im Mobilfunkbereich.

Der Gläubiger hatte gegen die Schuldnerin einen Unterlas-sungstitel erstritten. Durch diesen Titel war der Schuldnerin untersagt worden, in Allgemeinen Geschäftsbedingungen zum Abschluss von Verträgen über Mobilfunkdienstleistun-gen gegenüber Verbrauchern näher bezeichnete Rücklast-schriftpauschalierungsklauseln mit einer Pauschale von 10 € oder höher zu verwenden. Das Urteil war im Juli 2014 rechtskräftig geworden.

Noch vor ihrer Verurteilung zur Unterlassung hatte die Schuldnerin mit Rechnungen vom 05.07., 11.08. und 14.09.2011 ihrem Kunden Herrn L. drei Rücklastschriftpau-schalen i.H.v. jeweils 20,95 € berechnet und – nachdem Herr L die Bezahlung der Pauschalen zum überwiegenden Teil ab-gelehnt hatte – mit Inkassierungsmaßnahmen begonnen. Die Schuldnerin setzte die Inkassierungsversuche auch nach Rechtskraft des Unterlassungstitels fort. Zuletzt ließ sie durch

Verschärfung eines nach § 890 ZPO festge-setzten Ordnungsmittels bei unbeziffertem Ordnungsmittelantrag OLG Schleswig, Beschl. v. 14.08.2015 - 16 W 76/15

RA Karsten Hoof*

A. Problemstellung

Unterlassungs- und Duldungstitel werden gem. § 890 ZPO vollstreckt, indem das Gericht den Schuldner wegen einer Zu-widerhandlung auf Antrag des Gläubigers zu einem Ordnungs- * Der Autor vertrat den Gläubiger im erörterten Verfahren.

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Die Monatszeitschrift

ein Inkassounternehmen am 19.12.2014 einen gerichtlichen Mahnbescheid gegen Herr L beantragen.

II. Wegen dieses Vorgangs beantragte der Gläubiger die Ver-hängung eines Ordnungsgeldes gegen die Schuldnerin, wo-bei er zur Höhe des von ihm für angemessen gehaltenen Ordnungsgeldes keine Angaben machte. Die Vorinstanz1 gab dem Antrag statt und setzte ein Ordnungsgeld i.H.v. 200 € gegen die Schuldnerin fest. Mit seiner sofortigen Beschwerde wendete sich der Gläubiger ausschließlich gegen die Höhe des verhängten Ordnungsgeldes. Er beantragte, das Ord-nungsgeld auf einen vom Gericht zu bestimmenden, ange-messenen, erheblich höheren Betrag heraufzusetzen.

III. Die Beschwerde hatte Erfolg. Das OLG Schleswig änder-te den angegriffenen Beschluss ab und setzte das Ord-nungsgeld auf 10.000 € herauf.

Das OLG Schleswig befasste sich zunächst mit der Zulässig-keit der sofortigen Beschwerde. Hierzu schloss es sich der kürzlich auch vom OLG Düsseldorf2 vertretenen Auffassung an, nach der der Gläubiger gegen die Festsetzung eines Ordnungsmittels nach § 890 ZPO immer sofortige Be-schwerde einlegen kann, wenn er die festgesetzte Strafe für zu niedrig hält. Dies setze nicht voraus, dass der Gläubi-ger in seinem Antrag auf Festsetzung eines Ordnungsmit-tels zuvor einen konkreten Betrag oder eine Größenord-nung genannt hat.

Sodann stellte das OLG Schleswig fest, dass die Schuldnerin die Zuwiderhandlungen auch schuldhaft begangen habe. Den Schuldner eines Unterlassungstitels treffe die Organi-sationspflicht, alle erforderlichen und zumutbaren Maß-nahmen zu ergreifen, um Zuwiderhandlungen durch Ange-stellte und Beauftragte zu verhindern. Ihn treffe ein eigenes Organisationsverschulden hinsichtlich solcher Verstöße, die durch derartige Maßnahmen verhindert worden wären. Den Schuldner treffe jedenfalls eine sekundäre Darlegungs-last hinsichtlich der von ihm zur Vermeidung von Zuwider-handlungen ergriffenen Maßnahmen. Vorliegend hatte die Schuldnerin lediglich pauschal behauptet, alle ihr zumut-baren Maßnahmen ergriffen zu haben, damit sich die ihr untersagten Verhaltensweisen nicht wiederholten. Dem Vortrag vermochte das Oberlandesgericht jedoch weder entnehmen, wann die Schuldnerin etwas veranlasst, noch was sie konkret veranlasst haben will.

Seine Entscheidung, das Ordnungsgeld auf 10.000 € her-aufzusetzen, stützte das OLG Schleswig im Wesentlichen darauf, dass der Zweck des Ordnungsgeldes nach § 890 ZPO grds. die Festsetzung empfindlich hoher Beträge ver-lange. Eine Titelverletzung solle sich für den Schuldner nicht lohnen. Zwar handele es sich vorliegend nur um wenige Verstöße und dies auch nur bezogen auf einen Kunden. An-dererseits sei zwischen den Parteien aber unstreitig, dass

die Gläubigerin keinerlei organisatorische Maßnahmen in die Wege geleitet hat, um Verstöße in laufenden Verfahren, in denen bereits eine Rücklastschriftgebühr angefordert, aber noch nicht gezahlt worden ist, rückgängig zu machen. In Anbetracht der Finanzkraft und Größe der Schuldnerin sei daher eine deutliche Anhebung des Ordnungsgeldes auszusprechen. Das Geständnis des Gläubigers habe unter diesen Umständen auch nicht mildernd berücksichtigt wer-den können, zumal die Verstöße mühelos anhand der vor-liegenden schriftlichen Unterlagen nachweisbar waren und sowieso hinsichtlich des faktischen Ablaufs nur schwer hät-ten bestritten werden können.

C. Kontext der Entscheidung

I. Die prozessuale Seite der Entscheidung betrifft die Frage, wann der Gläubiger eines Unterlassungs- oder Duldungsti-tels durch eine im Zwangsvollstreckungsverfahren nach § 890 ZPO auf seinen Antrag gegen den Schuldner ergan-gene Ordnungsmittelentscheidung beschwert ist und damit sofortige Beschwerde mit dem Ziel der Verschärfung des Zwangsmittels einlegen kann. Diese Problematik stellt sich in gleicher Weise bei Zwangsgeldanträgen nach § 888 ZPO.

Der Gläubiger ist zweifelsfrei beschwert, wenn das Gericht die Festsetzung eines Ordnungsmittels ganz abgelehnt hat, aber auch dann, wenn das Gericht hinter einem bezifferten Ordnungsmittelantrag zurückgeblieben ist.3

Der Gläubiger ist zweifelsfrei nicht beschwert, wenn er die Festsetzung eines bestimmten Ordnungsmittels, eines Min-destbetrages oder die Festsetzung innerhalb eines be-stimmten Rahmens verlangt hat und das Gericht nicht hin-ter diesen Vorstellungen zurückgeblieben ist.

Verlangt der Gläubiger die Festsetzung eines bestimmten Ordnungsmittels, kann er jedoch nach § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO mit einer Quote an den Kosten des Zwangsmittelver-fahrens beteiligt werden, wenn das Gericht hinter seinem Antrag zurückbleibt.4 Der Gläubiger verringert also sein Kostenrisiko, wenn er den Ordnungsmittelantrag nicht be-ziffert. Fraglich ist aber, ob er sich damit von vornherein zugleich der Möglichkeit begibt, gegen eine ihm zu milde erscheinende Ordnungsmittelfestsetzung Beschwerde ein-legen zu können.

1 LG Kiel, Beschl. v. 16.06.2015 - 17 O 242/11.2 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 24.10.2014 - 6 W 47/14.3 Vgl. BGH, Beschl. v. 19.02.2015 - I ZB 55/13.4 Bisher streitig, so jetzt aber BGH, Beschl. v. 19.02.2015 - I ZB 55/13;

ebenso z.B. Ahrens in: Ahrens, Der Wettbewerbsprozess, 7. Aufl. 2014, Kap. 68, Rn. 32; jetzt auch Lackmann in: Musielak, ZPO, 13. Aufl. 2016, § 890 Rn. 11; Letzterer noch a.A. in der 11. Aufl. 2014.

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Die wohl h.M. verneint dies. So hat in jüngerer Zeit z.B. das OLG Düsseldorf5 ausführlich dargelegt, warum der Gläubiger auch bei unbeziffertem Ordnungsmittelantrag durch eine ihm zu milde erscheinende Ordnungsmittelfestsetzung be-schwert ist. Allerdings hat der BGH in der bereits zitierten Entscheidung6 zur Kostenquotelung bei beziffertem Antrag formuliert, dass „sich der Gläubiger durch die Angabe eines bestimmten Ordnungsgeldes oder eines Mindestbetrages eine Beschwer und damit eine Rechtsmittelmöglichkeit schaffen“ könne, weshalb es gerechtfertigt sei, ihn nach § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO an den Kosten des Verfahrens zu beteili-gen. Aus dieser Formulierung könnte im Umkehrschluss ge-folgert werden, dass der Gläubiger nicht beschwert ist, wenn er weder ein bestimmtes Ordnungsmittel noch eine Mindest-höhe genannt hat. Zwingend ist diese Folgerung jedoch nicht.7 So hat sich denn auch das OLG Schleswig in dem vor-liegenden Beschluss ausdrücklich der Auffassung des OLG Düsseldorf angeschlossen und die Rechtsmittelbeschwerde des Gläubigers allein daraus abgeleitet, dass der Gläubiger das tatsächlich festsetzte Ordnungsmittel für zu niedrig hielt.

Diese Auffassung erscheint auch vorzugswürdig. Der Gläu-biger ist bei einem Antrag nach § 890 ZPO – anders als etwa bei einem Schmerzensgeldantrag – unstrittig gar nicht verpflichtet, den Antrag zu beziffern oder wenigstens ein gefordertes Mindestmaß anzugeben, weil das Gericht von Amts wegen das geeignete Ordnungsmittel (Ordnungs-geld oder Ordnungshaft) auszuwählen und dessen Höhe nach eigenem Ermessen zu bestimmen hat. Wenn aber der Gläubiger von Gesetzes wegen gar nicht verpflichtet ist, in seinem Antrag wenigstens ein gefordertes Mindestmaß zu beziffern, kann seine Beschwer auch nicht von einer sol-chen Angabe abhängen, sondern allein davon, ob das Ge-richt das Ordnungsmittel – objektiv betrachtet – angemes-sen festgesetzt hat. Insofern muss auch berücksichtigt werden, dass der Gläubiger im Ordnungsmittelverfahren – im Unterschied etwa zum Schmerzensgeldverfahren – von der Festsetzung eines bestimmten Ordnungsmittels in kei-nem Fall einen unmittelbaren Vorteil hat, weil ein festge-setztes Ordnungsgeld der Staatskasse und nicht ihm zu-fließt. Das Interesse des Gläubigers richtet sich allein auf die Durchsetzung des zu vollstreckenden Titels. Insofern muss ihm die Beschwerde möglich sein, wenn er meint, dass das von Amts wegen festgesetzte Ordnungsmittel nicht ausreichend ist, um den Schuldner zur Befolgung des zu vollstreckenden Titels zu veranlassen.

II. Die materiell-rechtliche Seite der Entscheidung betrifft zunächst die Frage der Verschuldenszurechnung innerhalb juristischer Personen. Zutreffend hebt das Gericht darauf ab, dass der Schuldner eines Unterlassungstitels unter dem Aspekt des Organisationsverschuldens für von seinen An-gestellten und Beauftragten begangene Verletzungshand-

5 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 24.10.2014 - 6 W 47/14.6 BGH, Beschl. v. 19.02.2015 - I ZB 55/13.7 So auch Möller, jurisPR-WettbR 5/2015, Anm. 3, dort unter C.

lungen einstehen muss, soweit er keine ausreichenden or-ganisatorischen Maßnahmen ergriffen hat, solche Verletzungshandlungen zu verhindern. Nur konsequent ist die ausdrückliche Klarstellung des Gerichts, dass den Schuldner im Ordnungsmittelverfahren jedenfalls eine se-kundäre Beweislast dafür trifft, ob und ggf. welche organi-satorischen Maßnahmen er zur Verhinderung von Verlet-zungshandlungen ergriffen hat. Schließlich geriete der im Ordnungsmittelverfahren grds. vortrags- und beweispflich-tige Unterlassungsgläubiger, der regelmäßig keinen Ein-blick in die internen Strukturen des Schuldners hat, in eine ausweglose Beweissituation, wenn er den Negativbeweis erbringen müsste, dass der Schuldner keine geeigneten or-ganisatorischen Maßnahmen ergriffen hat.

III. Immer heikel ist die Bemessung der Höhe des Ordnungs-geldes. Schon anhand des in Rechtsprechung und Literatur insoweit unstreitigen Ausgangspunkts, dass der Zweck des Ordnungsgeldes, spürbaren Druck auf den Schuldner aus-zuüben, die Berücksichtigung der Vermögensverhältnisse des Schuldners erfordert, war die erstinstanzliche Bemes-sung des Ordnungsgeldes mit nur 200 € ein offensichtlicher Fehlgriff. Unter welchem Gesichtspunkt das LG Kiel anneh-men konnte, dass ein Ordnungsgeld von nur 200 € geeignet ist, ein großes Telekommunikationsunternehmen zu irgend-einer Verhaltensänderung zu veranlassen, ist schlicht nicht nachvollziehbar.

Ob und ggf. wie es sich auf die konkrete Bemessung des Ordnungsgeldes auswirkt, dass der Schuldner neben den konkret nachgewiesenen Titelverstößen mutmaßlich weite-re, noch unentdeckt gebliebene Titelverstöße begangen hat, ist freilich problematisch. Letztendlich hat das OLG Schleswig aber auch nicht unmittelbar auf die mutmaßliche Existenz weiterer unentdeckt gebliebener Titelverstöße ab-gestellt, sondern die potenzielle Gefährlichkeit der Verlet-zungshandlung bzw. hier der Unterlassung abgestellt: Weil die Unterlassung der Ergreifung jeglicher geeigneter Maß-nahme gerade das Risiko beinhaltete, dass weitere Verlet-zungshandlungen begangen worden sind, war dies straf-schärfend zu berücksichtigen, um den Schuldner zur Ergreifung geeigneter – ihm schließlich auch Kosten verur-sachender – Maßnahmen anzuhalten.

D. Auswirkungen für die Praxis

Mit der Entscheidung des OLG Schleswig kann zunehmend empfohlen werden, bei der Beantragung eines Ordnungsmit-tels nach § 890 ZPO (und ebenso bei der Beantragung eines

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Zwangsgeldes nach § 888 ZPO) keine konkreten Vorstellun-gen zu Art und Höhe des Ordnungsmittels zu nennen. An-dernfalls geht der Gläubiger das Risiko ein, auch im Erfolgs-fall mit einer Kostenquote belastet zu werden, soweit das Gericht hinter seinen Vorstellungen zurückbleibt. Dagegen dürfte das Risiko, bei unbeziffertem Antrag keine sofortige Beschwerde mit dem Ziel der Verschärfung eines festgesetz-ten Ordnungsmittels einlegen zu können, mit dem Beschluss des OLG Schleswig tendenziell weiter abgenommen haben. Andererseits ist offen, wie die Rechtsprechung die insoweit uneindeutige Formulierung des BGH in dem Beschluss vom 19.02.20158 aufnehmen wird. Ein Gläubiger, dem es gerade darauf ankommt, gegen eine – für ihn möglicherweise schon konkret absehbar – zu niedrige Ordnungsgeldbemessung Beschwerde einlegen zu können, sollte sorgfältig abwägen, ob er sich insofern vorsorglich durch die Bezifferung seines Ordnungsmittelantrags absichert und dafür das Risiko einer Kostenquote in Kauf nehmen will.

8 BGH, Beschl. v. 19.02.2015 - I ZB 55/13.

Provisionsabgabeverbot: FinTech darf Provi-sion an Kunden weitergebenLG Köln, Urt. v. 14.10.2015 - 84 O 65/15

RA Dr. Christian Conreder und RA’in Ulrike Schild, LL.M. (Aberdeen)*

A. Problemstellung

Der klassische Finanzsektor hat sich in den vergangenen Jahren durch den Markteintritt von Finanztechnologie-Startups (FinTechs) verändert. Insbesondere im Geschäfts-bereich Banking versuchen FinTechs mit neuen, kunden-freundlichen und innovativen Geschäftsmodellen die gesamte Wertschöpfungskette traditioneller Banken zu be-setzen. Auch in der Versicherungsbranche drängen mittler-weile FinTechs (teilweise auch InsureTechs genannt) auf den Markt und stellen vermehrt eine Konkurrenz zu tradi-tionellen Versicherungsunternehmen bzw. -vermittlern dar. Ein solches FinTech ist die moneymeets community GmbH (moneymeets), deren Geschäft eine digitale Alternative zu klassischen Finanz- und Versicherungsmaklern ist. Bei mo-neymeets handelt es sich um eine Plattform, in die u.a. be-reits bestehende Versicherungsverträge eingebunden wer-den können, wobei moneymeets die von den Versicherungsunternehmen erhaltene Provision mit ihren Kunden teilt. Daneben hatte moneymeets in ihren Allge-

meinen Geschäftsbedingungen (AGB) einen Ausschluss der Beratung und Haftung festgelegt. Laut dem LG Köln stellt die (teilweise) Weitergabe der erhaltenen Provision keinen Verstoß gegen das sog. Provisionsabgabeverbot dar. Die AGB-Regelungen dagegen sieht das LG Köln als unzulässig an.

In der nachfolgenden Anmerkung wird die Entscheidung des LG Köln besprochen.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

I. Der Kläger, ein Versicherungsmakler, verklagte seine Kon-kurrentin, moneymeets (Beklagte), wegen der Weitergabe von Provisionen an ihre Kunden sowie des Ausschlusses von Beratungsleistungen und Haftung in den AGB.

Die ebenfalls als Versicherungsmakler zugelassene Beklag-te bietet u.a. die Übernahme der Betreuung von bereits be-stehenden Versicherungsverträgen über ihre Internetplatt-form an und wirbt damit, alle erhaltenen Provisionen mit ihren Kunden zu teilen. Ihre Kunden bekommen somit 50 % der Vergütungen, die die Beklagte von den Versicherungs-unternehmen erhält, ausbezahlt. Dabei handelt es sich ins-besondere um sog. Bestandsprovisionen. Unter Bestands-provisionen wird dabei eine laufende Vergütung für die Bestandspflege, insbesondere für die Betreuung der Kun-den, verstanden.

Ferner heißt es in dem „Auftrag zur Betreuung von Versi-cherungsverträgen“ in Ziffer 5.2 der AGB der Beklagten u.a.: „moneymeets Mitglieder verzichten auf jegliche Be-ratung durch moneymeets.“ Daneben regelt Ziffer 5.5 der AGB: „Jedes moneymeets Mitglied verzichtet auf etwaige Schadensersatzansprüche gegenüber moneymeets. Das gilt auch für den Fall, dass eine getroffene Finanzentscheidung allein auf Informationen beruht, die moneymeets oder Drit-te oder moneymeets Mitglieder bereitgestellt haben.“

Der Kläger ist der Meinung, dass die 50 %ige Weitergabe der Provisionen an den Kunden gegen das Provisionsabga-beverbot verstoße. Ferner hält er die AGB für unwirksam.

Nach Auffassung der Beklagten liege kein Verstoß gegen das Provisionsabgabeverbot vor, da es zu unbestimmt und verfassungswidrig sei. Im Hinblick auf die AGB trägt sie vor, dass diese seit dem 24.09.2015 nicht mehr verwendet wer-den.

II. Das LG Köln hatte zum einen zu klären, ob die Weiter-gabe von Provisionen unter das sog. Provisionsabgabever-bot fällt. Zum anderen war zu klären, ob der Ausschluss von

* Rechtsanwälte Dr. Christian Conreder, Hamburg / Ulrike Schild, LL.M. (University of Aberdeen), Frankfurt; beide KPMG Rechtsanwaltsge-sellschaft mbH.

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Beratungsleistungen und Haftung in den AGB der Beklag-ten rechtlich zulässig ist.

1. Unter Bezugnahme auf das Urteil des VG Frankfurt1 stellt das LG Köln fest, dass Provisionsabgabeverbot mangels hinreichender Bestimmtheit nicht anwendbar ist. Die Be-klagte dürfe ihren Kunden daher einen Teil ihrer erhaltenen Provisionen weiterreichen.

Das LG Köln stellt zunächst die Herleitung des sog. Provi-sionsabgabeverbots, das ein Unterfall vom Verbot der Ge-währung von Sondervergütungen sei, dar. Das Sonderver-gütungsverbot sei in drei Verordnungen, in der Verordnung vom 08.03.1934 für die Lebensversicherung,2 der Verord-nung vom 05.06.1934 für die Krankenversicherung3 und der Verordnung vom 17.08.1982 für die Schadensversiche-rung4 geregelt. Ermächtigungsgrundlage dieser Verordnun-gen war § 81 VAG a.F.5 Danach wurde das Bundesministe-rium der Finanzen (BMF) zum Erlass von Rechtsverordnungen ermächtigt, in denen allgemein oder für einzelne Versiche-rungszweige den Versicherungsunternehmen und Vermitt-lern von Versicherungsverträgen untersagt werden kann, dem Versicherungsnehmer in irgendeiner Form Sonderver-gütungen zu gewähren. Das LG Köln stellt dar, dass die Er-mächtigungsgrundlage sowie die Vorschriften in den Ver-ordnungen dabei nur den Begriff „Sondervergütungen“ verwenden. Sie enthielten jedoch keine Definition des Be-griffs „Sondervergütung“.6

Im Anschluss daran schließt sich das LG Köln ausdrücklich den Ausführungen des VG Frankfurt, wonach „das Verbot der Gewährung von Sondervergütungen in irgendeiner Form nicht hinreichend bestimmt“7 ist, an. Es führt aus, dass seit dem Urteil des VG Frankfurt auch die Bundesanstalt für Fi-nanzdienstleistungen (BaFin) davon absehe, gegen etwaige Verstöße von Versicherungsmaklern bzw. -vermittlern gegen das Provisionsabgabeverbot vorzugehen.8

Das LG Köln gibt dem Kläger allerdings insoweit Recht, dass es sich bei dem Begriff „Sondervergütung“ um einen unbe-stimmten Rechtsbegriff handele und unbestimmte Rechtsbe-griffe grds. auslegungsfähig seien. Dazu muss jedoch das Ziel der gesetzlichen Ermächtigung – damals wie heute – nach-vollziehbar sein. Ziele des Provisionsabgabeverbots waren laut der Begründung des Bundestagsfinanzausschusses zur Änderung des VAG im Jahr 1994 der Verbraucherschutz, und zwar durch Sicherung der Beratungsqualität und Markttrans-parenz, sowie die finanziellen Interessen der Versicherungs-vermittler.9 Diese Ziele könnten nach Ansicht des LG Köln jedoch nicht durch ein Provisionsabgabeverbot erreicht wer-den. Ebenso wenig führe diese Zielsetzung dazu, dass das Provisionsabgabeverbot einen hinreichend bestimmten bzw. präzisierten Inhalt erhalte. Das Provisionsabgabeverbot sei damit unwirksam.

2. Im Hinblick auf die beiden Regelungen bezüglich des Ausschlusses von Beratung und Haftung in den AGB der Beklagten entschied das LG Köln, dass beide Regelungen unwirksam sind.

Der Ausschluss der Beratung in Ziffer 5.2 der AGB der Be-klagten sei unwirksam, da sich bereits aus der Auftragser-teilung selbst eine Beratungspflicht ergebe. Die Beklagte habe sich bei Auftragserteilung zur Verwaltung und Betreu-ung der ihr übertragenen Verträge verpflichtet. Da dem Auftrag kein genereller Ausschluss der Beratung zu entneh-men sei und lediglich Rechts- und Steuerberatung ausge-nommen wurden, gehen mögliche Unklarheiten gem. § 305c Abs. 2 BGB zulasten der Beklagten. Diese bestehen-de vertragliche Verpflichtung dürfe auch nicht durch die Regelung in Ziffer 5.2. der AGB abbedungen werden. Inso-fern handele es sich bei Ziffer 5.2 der AGB nach Ansicht des LG Köln um eine überraschende Klausel gem. § 305c Abs. 1 BGB.

Auch die Regelung in Ziffer 5.5 der AGB der Beklagten, die einen generellen Haftungsausschluss beinhalten, verstoße gegen §§ 307, 309 Nr. 7a BGB und sei daher unwirksam.

3. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Der Kläger hat Be-rufung vor dem OLG Köln eingelegt.10

C. Kontext der Entscheidung

Das LG Köln hat sich in seinen Entscheidungsgründen den Ausführungen des Urteils des VG Frankfurt11 ausdrücklich angeschlossen. Das VG Frankfurt hat in seinem Urteil ent-schieden, dass der Kläger, ein Abschlussvermittler, der Fi-nanz- und Versicherungsprodukte online vertrieb, einen Teil seiner Vermittlungsprovisionen an seine Kunden weiterge-ben dürfe. Entgegen der Ansicht der Beklagten, der BaFin,

1 VG Frankfurt, Urt. v. 24.10.2011 - 9 K 105/11.F.2 Bekanntmachung des Reichsaufsichtsamtes für Privatversicherung

vom 08.03.1934 betreffend die Lebensversicherung (veröffentlicht in Nr. 58d des Deutschen Rechtsanzeigers und Preußischen Staatsanzei-gers vom 09.03.1934).

3 Bekanntmachung des Reichsaufsichtsamtes für Privatversicherung vom 05.06.1934 betreffend die Krankenversicherung (veröffentlicht in Nr. 129d des Deutschen Rechtsanzeigers und Preußischen Staats-anzeigers vom 06.06.1934).

4 Verordnung über das Verbot von Sondervergütungen und Begüns-tigungsverträgen in der Schadenversicherung vom 17.08.1982 (BGBl. I, 1243).

5 Seit 01.01.2016 in § 298 Abs. 4 VAG geregelt.6 LG Köln, Urt. v. 14.10.2015 - 84 O 65/15.7 VG Frankfurt, Urt. v. 24.10.2011 - 9 K 105/11.F Rn. 28.8 LG Köln, Urt. v. 14.10.2015 - 84 O 65/15.9 Vgl. BT-Drs. 12/7595, S. 5, 104, 109.10 OLG Köln - 6 U 176/15.11 VG Frankfurt, Urt. v. 24.10.2011 - 9 K 105/11.F.

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Die Monatszeitschrift

liege in dieser Praxis kein Verstoß gegen das Provisionsab-gabeverbot als Teil des Verbotes von Sondervergütungen vor. Vielmehr sei das Sondervergütungsverbot in der Ver-ordnung vom 08.03.1934 für die Lebensversicherung man-gels hinreichender Bestimmtheit unwirksam.

Rechtsgrundlage für die Beurteilung des Falles vor dem VG Frankfurt war die Ziffer I der Verordnung vom 08.03.1934 für die Lebensversicherung. Danach ist es den Versicherungs-unternehmen und den Vermittlern von Versicherungsverträ-gen untersagt, dem Versicherungsnehmer in irgendeiner Form Sondervergütungen zu gewähren.12 Zutreffend hat das VG Frankfurt damals festgestellt, dass weder in dieser Verord-nung noch in der Ermächtigungsgrundlage des § 81 Abs. 3 Satz 1 VAG a.F. eine Definition des Begriffs „Sondervergü-tung“ erfolge.13 Nach Ansicht des VG Frankfurt hätte aber „in der Verordnung schon klargestellt werden müssen, was im Bereich des Verkaufs oder der Vermittlung von Lebensversi-cherungen eine Sondervergütung an den Versicherungsneh-mer, die Versicherungsnehmerin sein soll.“14 Die Verordnung beschränke sich nach Auffassung des Gerichts lediglich auf die Wiederholung des gesetzlichen Wortlauts der Ermächti-gungsgrundlage und sei daher nicht hinreichend bestimmt.

D. Anmerkung

Das Thema Provisionsweitergabe ist seit der Entscheidung im Jahr 2011 durch das VG Frankfurt wieder präsent. Seit-dem ist im Hinblick auf das Provisionsabgabeverbot ein Schwebezustand eingetreten, der auch gerade in letzter Zeit wieder zu starken Unsicherheiten und Diskussionen in der Versicherungsbranche führt.

Die BaFin hat im Anschluss an das Urteil des VG Frankfurt ein Konsultationsverfahren zum Provisionsabgabe- und Be-günstigungsverbot durchgeführt.15 Sie kam dabei zu dem Ergebnis, dass die Regelungen des Provisionsabgabeverbo-tes in den drei Verordnungen entweder beibehalten werden können, dann aber unter Berücksichtigung des Urteils des VG Frankfurt modifiziert oder aber vollständig bzw. teilwei-se aufgehoben werden müssten.16 Im Jahr 2014 verfolgte die BaFin diesen Ansatz weiter. Sie erklärte im Hinblick auf Bausparverträge, bei denen ein ähnliches Provisionsabga-beverbot geregelt ist, dass sie die Erstattung der Abschluss-gebühr für Bausparverträge durch Vermittler an ihre Kun-den nicht mehr grds. als Abweichung von den Allgemeinen Bedingungen für Bausparverträge ansehe.17 Hieraus kann geschlossen werden, dass sich die BaFin zumindest in Hin-blick auf Bausparverträge vom Verbot der Provisionsabga-be distanziert hat. Dieser Schritt sei laut BaFin aufgrund der zwischenzeitlich erfolgten Rechtsfortbildung erforderlich gewesen. Gleichwohl hat sich die BaFin eine Prüfung im Einzelfall vorbehalten.

Diese eingeschlagene Richtung wird nun auch vom LG Köln fortgesetzt. Gleichwohl ist fraglich, ob das Urteil des VG Frankfurt wirklich als das Urteil über die Rechtmäßigkeit der Provisionsabgabeverbote angesehen werden kann. Das VG Frankfurt setzt sich bei genauem Hinsehen nur mit der Ver-ordnung vom 08.03.1934 für die Lebensversicherung ausein-ander und erklärt nur diese für unwirksam. Dies wird vom LG Köln nicht berücksichtigt. Vielmehr verweist es pauschal auf die Begründung des Urteils des VG Frankfurt und zählt sämt-liche Verordnungen auf, die das Provisionsabgabeverbot re-geln. Eine konkrete Benennung der einschlägigen Verord-nung für den vorliegenden Fall nimmt das LG Köln nicht vor. Ferner behauptet es, der Begriff „Sondervergütung“ werde in keiner der Verordnungen definiert. Damit verkennt das LG Köln, dass der Begriff „Sondervergütung“ in § 1 Abs. 2 der Verordnung vom 17.08.1982 für die Schadensversicherung als „jede unmittelbare oder mittelbare Zuwendung neben den Leistungen auf Grund des Versicherungsvertrages, ins-besondere jede Provisionsabgabe“ definiert wird. Eine diffe-renziertere Auseinandersetzung mit dem Provisionsabgabe-verbot in dem Urteil wäre begrüßenswert gewesen.

Im Hinblick auf die Diskussion über das Provisionsabgabe-verbot könnte auch ein Blick auf den Gedanken des § 667 BGB geworfen werden.18 Nach § 667 BGB ist der Beauf-tragte verpflichtet, alles, was er zur Ausführung des Auf-trags erhält und was er aus der Geschäftsbesorgung er-langt, an den Auftraggeber herauszugeben. Der Beauftragte, im Fall des LG Köln der verklagte Online-Makler money-meets, schließt mit seinem Kunden einen Auftrag zur Be-treuung von bestehenden Versicherungsverträgen und er-hält dafür eine Provision von den Versicherungsunternehmen. Diese erhaltenen Provisionen gibt moneymeets jedenfalls zu einem Teil an seine Kunden weiter. Dies entspräche da-her grds. dem Gedanken des § 667 BGB. Da diese Regelung kein zwingendes Recht darstellt, können auch abweichen-de Vereinbarungen dahin gehend getroffen werden, dass der Auftraggeber einen Teil bzw. die gesamte Summe ein-behält. Voraussetzung hierfür wäre jedoch eine hinreichend klare und bestimmte Regelung. Ob Vermittler im Allgemei-

12 Veröffentlichungen des Reichsaufsichtsamtes für Privatversicherung 1934, S. 99 f. = Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger v. 09.03.1934, S. 3.

13 VG Frankfurt, Urt. v. 24.10.2011 - 9 K 105/11.F Rn. 26.14 VG Frankfurt, Urt. v. 24.10.2011 - 9 K 105/11.F Rn. 34.15 BaFin Konsultation 04/2012 – Zukunft des Verbots der Gewährung

von Sondervergütungen und der Schließung von Begünstigungsver-trägen vom 26.04.2012 (Gz. VA 31-I 4318-2012/0002).

16 BaFin, Jahresbericht 2012, S. 88.17 BaFin, Änderung der Auslegungsentscheidung vom 30.05.2005, Er-

stattung der Abschlussgebühr für Bausparverträge durch Vermittler vom 03.12.2014 (Gz. BA 34-K 6389-2014/0001).

18 Vgl. Schwintowski, VuR 2012, 241.

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Arbeitsrecht

nen eine solche Vereinbarung zum (teilweise) Behalten der Provision treffen, ist eine noch nicht abschließend unter-suchte Frage. Auch ist dieses Thema bisher weder in der Entscheidung des VG Frankfurt noch in der Entscheidung des LG Köln diskutiert worden.

Im Rahmen der aktuellen Novelle des VAG,19 die am 01.01.2016 in Kraft getreten ist, wurde die Ermächtigungs-grundlage zum Erlass von Rechtsverordnungen zur Unter-sagung von Provisionsabgaben in § 298 Abs. 4 VAG n.F. zwar beibehalten. Das BMF bleibt also ermächtigt, durch Rechtsverordnungen Provisionsabgaben zu untersagen. Al-lerdings werden die drei Verordnungen, die bisher das Ver-bot von Provisionen regeln, zum 01.07.2017 aufgehoben.20 Ab diesem Zeitpunkt wäre daher zur Aufrechterhaltung des Provisionsabgabeverbotes der Erlass einer neuen Verord-nung notwendig. Die Bundesregierung soll im Rahmen der Umsetzung der Versicherungsvertriebsrichtlinie (Insurance Distribution Directive – IDD)21 prüfen, ob bzw. welche Re-gelungen die Verordnungen ersetzen sollen. Das Thema ist daher aktueller denn je.

Sollte die Rechtsauffassung des LG Köln in den weiteren Instanzen bestätigt werden, führt dies zu einer größeren Rechtssicherheit im Umgang mit der Frage, ob die Weiter-gabe von Provisionen zulässig ist.

E. Auswirkungen für die Praxis

Das LG Köln hat Regelungen zum Ausschluss von Bera-tungspflichten und der Haftung ausdrücklich abgelehnt. Bei

19 Mit dem Gesetz zur Modernisierung der Finanzaufsicht über Versi-cherungen, das Änderung des VAG enthält, wurde die europäische Solvency-II-Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt.

20 Art. 5 der Verordnung zur Aufhebung von Verordnungen nach dem VAG, BGBl. I, 2345 ff.

21 Richtlinie (EU) 2016/97 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.01.2016 über Versicherungsvertrieb (Neufassung).

neuen Geschäftsmodellen im Versicherungsbereich können sich daher die Anbieter, insbesondere auch FinTechs bzw. InsureTechs, nicht ihrer gesetzlichen Beratungspflicht sowie ihrer Haftung entziehen. Diesbezügliche Regelungen in Ver-trägen sind unwirksam.

Indem das LG Köln die Weitergabe von Provisionen erlaubt, wird zugleich die Einführung von innovativen Geschäfts-modellen gefördert. Die Möglichkeit, mit Kunden Vereinba-rungen über die Weitergabe eines Teiles bzw. der gesamten Provisionen zu treffen, begünstigt das Angebot neuer Ge-schäftsmodelle und könnte weitreichenden Einfluss auf die Versicherungsbranche haben. Die Vereinbarung zur Weiter-gabe einer Provision könnte auch zur Offenlegung von der Tatsache, dass Provisionszahlungen erfolgen sowie deren Höhe, führen. Dies würde zu einer größeren Markttranspa-renz in der Versicherungsbranche führen und letztlich den Verbrauchern zugutekommen. Dennoch sollten die Betrof-fenen im Hinterkopf behalten, dass eine abschließende Klä-rung u.a. auch im Rahmen der Umsetzung der IDD durch den Gesetzgeber derzeit noch nicht erfolgt ist.

Kein Haftungsausschluss bei Neckerei unter ArbeitskollegenLArbG Kiel, Urt. v. 26.04.2016 - 1 Sa 247/15

AkadR Dr. Sigrid Lorz

A. Problemstellung

Neckereien unter Arbeitskollegen gehören zum Alltag und können durchaus das Betriebsklima fördern. Problematisch wird es allerdings, wenn ein Arbeitnehmer dadurch zu Schaden kommt. Nach dem in § 105 Abs. 1 SGB VII geregel-ten Haftungsprivileg haftet ein Arbeitskollege einem ande-ren Arbeitskollegen nicht für einen fahrlässig zugefügten Personenschaden, den er durch eine betriebliche Tätigkeit

verursacht hat. Mit der Frage, ob zu dieser Tätigkeit auch eine Neckerei gehören kann, befasste sich das LArbG Kiel.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Das der Entscheidung zugrunde liegende Geschehen be-gann zumindest aus Sicht des Beklagten lustig, endete aber tragisch: Der Kläger und der Beklagte waren Arbeitskolle-gen im selben Betrieb. Der Beklagte fuhr mit einem Gabel-stapler auf einem zehn Meter breiten Weg in Richtung einer Betriebshalle, um ihn dort abzustellen. Hierbei nahm er nicht den direkten Weg, sondern machte einen Umweg in Richtung des Klägers, der gerade einen Pritschenwagen entlud und säuberte. Auf dessen Höhe angekommen lehnte sich der Beklagte aus dem Führerhaus, um den Kläger in die

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Brust zu zwicken. Nach seiner Behauptung habe der Kläger ihn zuvor ebenfalls in die Brust gezwickt.

Als der Beklagte wieder anfuhr, rollte er versehentlich mit dem linken Hinterrad des Gabelstaplers über den Fuß des Klägers. Dieser schrie, sodass der Beklagte irrtümlich an-nahm, der Gabelstapler stehe noch auf dessen Fuß. Daher setzte er mit dem Gabelstapler zurück und fuhr dem Kläger ein zweites Mal über den Fuß. Dadurch erlitt dieser einen mehrfachen Bruch des Mittelfußknochens mit Gelenkbetei-ligung. Noch bis zur Berufungsverhandlung hatte er Schmerzen und war arbeitsunfähig.

Der Kläger verklagte daraufhin den Beklagten vor dem ArbG Elmshorn wegen seiner erlittenen Verletzungen auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes nebst Zin-sen. Außerdem verlangte er die Feststellung der Verpflich-tung, dass dieser ihm sämtliche künftige Schäden aus dem Unfallereignis ersetzen wird. Das erstinstanzliche Gericht gab der Klage vollumfänglich statt und verurteilte den Be-klagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes i.H.v. 10.000 €. Auf die Berufung des Beklagten hin bestätigte das LArbG Kiel das Urteil und stützte den Schmerzensgeldanspruch des Klägers auf § 823 Abs. 1, § 253 Abs. 2 BGB.

Hierbei bejahte das Berufungsgericht zunächst eine fahr-lässige Verletzung von Körper und Gesundheit durch das zweimalige Überfahren des Fußes des Klägers. Der Beklag-te habe die erforderliche Sorgfalt in gravierendem Maße außer Acht gelassen. Als Fahrer eines Gabelstaplers sei er verpflichtet gewesen, vor dem Losfahren darauf zu achten, ob sich Personen im Gefahrenbereich des Gabelstaplers be-fänden. Dies gelte erst recht für das zweite Überfahren des Fußes, da der Beklagte durch den Schrei des Klägers ge-warnt gewesen sei.

Im Zentrum der Entscheidung stand die Problematik, ob die Haftung des Beklagten nach § 105 Abs. 1 SGB VII ausge-schlossen war. Dies sei – so das Gericht weiter – nur dann der Fall, wenn er das Schadensereignis durch eine Tätigkeit ver-ursacht habe, die ihm von dem Betrieb oder für den Betrieb, in dem sich der Unfall ereignet habe, übertragen oder die von ihm im Betriebsinteresse erbracht worden sei. Hierbei wies es darauf hin, dass weder die Zugehörigkeit des Schädigers zum Betrieb noch dessen Handeln im Betrieb ausreiche. Ebenso wenig führe die Benutzung eines Betriebsmittels zur Annahme einer betrieblichen Tätigkeit. Entscheidend sei viel-mehr der Zweck der schädigenden Handlung.

Nach diesen Maßstäben sei der Schaden nicht während einer betrieblichen Tätigkeit, sondern anlässlich einer Neckerei des Klägers durch den Beklagten entstanden. Auch wenn er den Gabelstapler in die Betriebshalle habe fahren wollen, um ihn dort abzustellen, habe er keinen direkten Weg gewählt. Viel-mehr habe er einen Umweg auf dem zehn Meter breiten Weg

gemacht, um den Kläger in die Brust zu zwicken. Dadurch habe die betriebsbezogene Tätigkeit geendet. Das vom Be-klagten eingesetzte Betriebsmittel sei nur noch bei Gelegen-heit der Tätigkeit im Betrieb benutzt worden.

Dies gelte auch für das zweite Überfahren des Fußes, da der Beklagte dadurch keine betriebliche Tätigkeit aufgenom-men habe. Davon könne nur ausgegangen werden, wenn er auf direktem Weg in die Betriebshalle zurückgekehrt wäre. Demzufolge habe der Beklagte den Schaden nicht in Aus-führung einer betriebsbezogenen Tätigkeit, sondern nur bei Gelegenheit der Tätigkeit verursacht. Die gefahrträchtige Neckerei sei seinem persönlichen/privaten Bereich zuzu-rechnen, sodass seine Haftung nicht ausgeschlossen sei.

Das LArbG Kiel sprach dem Kläger ein Schmerzensgeld i.H.v. 10.000 € nebst Zinsen zu. Hierbei berücksichtigte es die Art und Folgen der Verletzung, nämlich die schwere Fußfraktur verbunden mit Schmerzen und die fortdauernde Arbeitsunfähigkeit des Klägers. Ebenfalls ging zulasten des Beklagten, dass er zweimal über den Fuß des Klägers ge-fahren sei und beim zweiten Mal besonders sorgfaltswidrig gehandelt habe.

C. Kontext der Entscheidung

Der Haftungsausschluss nach § 105 Abs. 1 SGB VII schützt den Betriebsfrieden in zweifacher Weise: Einerseits werden die Beziehungen der Arbeitnehmer untereinander, die eine betriebliche Gefahrengemeinschaft bilden, nicht durch die Geltendmachung von Haftungsansprüchen belastet. Ande-rerseits bleibt auch die Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer unbelastet. Ohne den Haftungsaus-schluss könnte ein von einem Kollegen geschädigter Arbeit-nehmer von seinem Arbeitgeber nach den Grundsätzen zum innerbetrieblichen Schadensausgleich Freistellung analog § 670 BGB i.V.m. § 257 BGB verlangen.1

Die Haftung eines Arbeitnehmers ist aber nur ausgeschlos-sen, wenn keine vorsätzliche Schädigung und kein Wegeun-fall vorliegen. Vor allem muss er den Personenschaden durch eine betriebliche Tätigkeit und nicht nur bei Gelegenheit der Tätigkeit im Betrieb verursacht haben. Eine solche Tätigkeit kann nicht bereits wegen der Zugehörigkeit des Schädigers zum Betrieb, seines Handelns im Betrieb oder seiner Benut-zung eines Betriebsmittels angenommen werden. Vielmehr ist – wie auch das LArbG Kiel ausführte – entscheidend, wel-chen Zweck er mit der schädigenden Handlung verfolgt.2

So liegt eine betriebliche Tätigkeit vor, wenn sie dem Be-schäftigten von dem Betrieb oder für den Betrieb übertra-

1 Hollo in: jurisPK SGB VII, 2. Aufl. 2014, § 105 Rn. 3, 9.2 BAG, Urt. v. 19.03.2015 - 8 AZR 67/14.

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gen worden ist oder von ihm im Betriebsinteresse ausge-führt wird. Dies ist insbesondere dann zu bejahen, wenn er eine Tätigkeit verrichtet, die in seinen zugewiesenen Auf-gabenkreis fällt. Es reicht aber auch aus, dass er bei objek-tiver Betrachtungsweise aus seiner Sicht im Betriebsinter-esse handeln darf, sein Verhalten unter Berücksichtigung der Verkehrsüblichkeit nicht untypisch ist und keinen Exzess darstellt.3

Eine betriebliche Tätigkeit scheidet hingegen aus, wenn sie nicht auf die Förderung der Betriebsinteressen ausgerichtet ist oder ihnen sogar zuwiderläuft. So können zwar Necke-reien unter Arbeitskollegen durchaus für das Betriebsklima förderlich sein. Nichtsdestotrotz widersprechen jedenfalls Neckereien, bei denen ein Gefährdungspotenzial für den betroffenen Arbeitnehmer besteht, allein schon wegen des Risikos einer Arbeitsunfähigkeit dem Betriebsinteresse. Da-her ist ein Schaden, der durch eine gefahrenträchtige Spie-lerei, Neckerei oder Schlägerei neben der betrieblichen Tä-tigkeit verursacht wird, dem privaten Lebensrisiko des schädigenden Arbeitnehmers zuzurechnen.4

D. Auswirkungen für die Praxis

Die Frage, ob ein Arbeitnehmer durch eine betriebliche Tä-tigkeit zu Schaden gekommen ist, ist entscheidend für die Wahl des richtigen Anspruchsgegners und des zulässigen Rechtswegs.

Ein Arbeitnehmer haftet für den einem Arbeitskollegen fahrlässig zugefügten Personenschaden nur, wenn sein schädigendes Verhalten seinem privaten Lebensbereich zuzuordnen ist. In diesem Fall kann er auch keine Freistel-lung gegenüber seinem Arbeitgeber nach den Grundsät-zen zum innerbetrieblichen Schadensausgleich verlangen, da ein solcher Anspruch eine betrieblich veranlasste Tätig-keit voraussetzt.5 Da dieser Begriff der betrieblichen Tä-tigkeit i.S.v. § 105 Abs. 1 SGB VII entlehnt ist, besteht in-soweit zwischen dem Haftungsausschluss im Arbeitsrecht und dem im Sozialversicherungsrecht weitgehend De-ckungsgleichheit.6

Ist dagegen die Haftung des Schädigers nach § 105 Abs. 1 SGB VII ausgeschlossen, so geht der geschädigte Arbeit-nehmer dennoch nicht leer aus, soweit er Ersatz seines ma-teriellen Personenschadens begehrt. Vielmehr stehen ihm Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu, de-ren Träger die Berufsgenossenschaften und Unfallkassen sind. Schmerzensgeldansprüche sind von dem in §§ 26 ff. SGB VII geregelten Leistungskatalog allerdings nicht er-fasst. Durch den Haftungsausschluss ist zugleich der Unter-nehmer, der mit seinen Beiträgen nach § 150 SGB VII allein die gesetzliche Unfallversicherung finanziert, vor einem

Freistellungsanspruch und damit vor einer Doppelbelas-tung geschützt. Die Gesamthaftung aller beim Unfallversi-cherungsträger zusammengeschlossenen Arbeitgeber er-setzt die privatrechtliche Haftung des einzelnen Arbeitnehmers.7 Bei grob fahrlässigem Handeln kann der zuständige Unfallversicherungsträger nach § 110 Abs. 1 SGB VII Regress beim Schädiger nehmen.

Ansprüche gegen einen Unfallversicherungsträger sind vor den Sozialgerichten, Ansprüche gegen einen Arbeits-kollegen sind vor den Arbeitsgerichten zu verfolgen. § 108 Abs. 1 SGB VII enthält allerdings eine maßgebliche Ein-schränkung für die Entscheidungen der Arbeitsgerichte über den Haftungsausschluss. Danach dürfen diese nur entscheiden, wenn zuvor ein bestandskräftiger Bescheid des Unfallversicherungsträgers oder ein rechtskräftiges Urteil der Sozialgerichte darüber ergangen ist, ob ein Ver-sicherungsfall vorliegt, in welchem Umfang Leistungen zu erbringen sind und ob der Träger zuständig ist. An deren Entscheidung sind die Arbeitsgerichte gebunden, wäh-rend sie das Vorliegen einer betrieblichen Tätigkeit eigen-ständig beurteilen.

E. Bewertung

Die vom LArbG Kiel getroffene Einordnung der schadens-verursachenden Handlung als private Tätigkeit verdient Zu-stimmung und steht im Einklang mit den vom BAG entwi-ckelten Abgrenzungskriterien. Auch wenn der Beklagte im selben Betrieb wie der Kläger beschäftigt war und den Ga-belstapler als Betriebsmittel auf dem Betriebsgelände be-diente, so handelte er nur bei Gelegenheit seiner betriebli-chen Tätigkeit. Zutreffend erkannte das Gericht, dass die betriebliche Tätigkeit endete, als er einen Umweg machte, um den Kläger in die Brust zu zwicken. Auch durch das er-neute Überrollen nahm er seine betriebliche Tätigkeit nicht wieder auf, da er dadurch vom Fuß des Klägers und nicht in die Betriebshalle fahren wollte. Gleichwohl enthält das Urteil keinerlei Feststellungen darüber, dass bereits eine Entscheidung der zuständigen Berufsgenossenschaft er-gangen wäre.

3 BAG, Urt. v. 22.04.2004 - 8 AZR 159/03; Hollo in: jurisPK SGB VII, 2. Aufl. 2014, § 105 Rn. 15.

4 BAG, Urt. v. 22.04.2004 - 8 AZR 159/03; BAG, Urt. v. 19.03.2015 - 8 AZR 67/14.

5 BAG, Beschl. v. 27.09.1994 - GS 1/89 (A); Linck in: Schaub, Arbeits-rechts-Handbuch, 16. Aufl. 2015, § 59 Rn. 32.

6 Brose, RdA 2011, 205, 209 f.; Pallasch, RdA 2016, 118, 119.7 Stelljes in: BeckOK SozR, SGB VII, 41. Ed., § 105 Rn. 3.

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Sozialrecht

Mistelpräparate in der KrebstherapieBSG, Urt. v. 15.12.2015 - B 1 KR 30/15 R

RiSG Dr. Anne Barbara Lungstras, z. Zt. Wiss. Mit. beim BSG

A. Problemstellung

Die Versorgung mit Arzneimitteln gehört zum Leistungska-talog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Davon ausdrücklich ausgenommen sind aber u.a. nicht verschrei-bungspflichtige Arzneimittel, wie § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB V vorgibt. Der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) legt gem. § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V in seinen Richtlinien fest, welche nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel, die bei der Behandlung schwerwiegender Erkrankungen als Therapiestandard gelten, zur Anwendung bei diesen Er-krankungen mit Begründung vom Vertragsarzt ausnahms-weise verordnet werden dürfen. Der Gesetzgeber gibt dem GBA zudem auf, „der therapeutischen Vielfalt Rechnung zu tragen“, was insbesondere im Zusammenhang mit Arznei-mitteln der besonderen Therapierichtung, wie der Anthro-posophie und der Homöopathie, zum Tragen kommt.

Der GBA hat in der Anlage I zur Arzneimittelrichtlinie (AM-RL) aufgeführt, welche nicht verschreibungspflichtigen Arz-neimittel zulasten der GKV verordnet werden können. Die Anlage I wird auch als OTC-Anlage bzw. OTC-Übersicht be-zeichnet. Die Abkürzung OTC steht für „over the counter“ (= über den Tresen). Damit sind die Arzneimittel gemeint, die zwar apothekenpflichtig, aber nicht verschreibungspflichtig sind und somit auch ohne Rezept des Arztes von jedem Bür-ger in der Apotheke gekauft werden können. Entsprechend spielt die OTC-Anlage und in diesem Zusammenhang die Be-rechtigung des GBA zu den Festlegungen in der OTC-Anlage sowohl bei den Klagen der Arzneimittelhersteller, die die Auf-nahme des von ihnen hergestellten nicht verschreibungs-pflichtigen Arzneimittels in die OTC-Anlage bewirken wollen (§ 34 Abs. 6 SGB V), als auch bei Klagen Versicherter, die die Kostenübernahme nicht in der OTC-Anlage aufgeführter Arz-neimittel begehren, eine wichtige Rolle.

Der GBA hat die Regelungen des § 34 Abs. 1 SGB V in der Weise konkretisiert, dass er in der OTC-Anlage schwerwiegen-de Erkrankungen aufführt und dazu Arzneimittel benennt, die als Standardtherapeutika für deren Behandlung anerkannt waren. Unter Ziff. 32 ist dort aufgeführt: „Mistel-Präparate, parenteral, auf Mistellektin normiert, nur in der palliativen Therapie von malignen Tumoren zur Verbesserung der Lebens-qualität“. Die Behandlung mit Mistelpräparaten im Rahmen

einer adjuvanten – also zur Unterstützung der Heilung durch-geführten – Therapie ist in der OTC-Anlage nicht genannt.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der 1. Senat des BSG hatte im Dezember 2015 über die Frage zu entscheiden, ob die Krankenkasse verpflichtet war, der klagenden Versicherten die Kosten für das anthroposo-phische Arzneimittel Iscador – ein Mistelpräparat – zu erstat-ten.

Die Klägerin war an einem Mammakarzinom erkrankt und wurde nach der operativen Entfernung des Karzinoms im Anschluss an die durchgeführte Chemotherapie mit dem apothekenpflichtigen, nicht verschreibungspflichtigen Mis-telpräparat Iscador im Rahmen einer adjuvanten Therapie behandelt. Die beklagte Krankenkasse lehnte den Antrag auf Übernahme der Kosten für das Präparat ab. Sie begrün-dete dies damit, die Tumorbehandlung mit Mistelpräpara-ten zulasten der Krankenkasse sei auf die palliative Be-handlung beschränkt. Die Klägerin beschaffte sich deshalb das Arzneimittel Iscador aufgrund privatärztlicher Verord-nung für insgesamt rund 1.500 € selbst. Die gegen die ab-lehnende Entscheidung der Krankenkasse gerichtete Klage blieb in allen Instanzen ohne Erfolg.

Das BSG bestätigte die Auffassung der Vorinstanzen. Die Versorgung Versicherter mit dem Arzneimittel Iscador zur adjuvanten Krebstherapie sei nicht vom Leistungskatalog des SGB V umfasst. Nach der OTC-Anlage zur AM-RL des GBA könne das nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel Iscador lediglich im Rahmen der palliativen Therapie aus-nahmsweise zulasten der GKV verordnet werden.

Anderes ergebe sich auch nicht daraus, dass das Arznei-mittel Iscador den Arzneimitteln der Anthroposophie und Homöopathie zuzuordnen sei. Die in der OTC-Anlage vor-gesehenen Indikationsgebiete seien zu beachten. Entspre-chend gelte die in der OTC-Anlage in Nr. 32 genannte Anwendungsbeschränkung für Mistelpräparate „in der palliativen Therapie“ auch für Arzneimittel der besonderen Therapierichtungen. Die Regelung in der AM-RL für Arznei-mittel der Anthroposophie und Homöopathie gebe deut-lich vor, dass bei schwerwiegenden Erkrankungen auch Arzneimittel der Anthroposophie und Homöopathie ver-ordnet werden könnten, „sofern die Anwendung dieser Arzneimittel für diese Indikationsgebiete nach dem Er-kenntnisstand als Therapiestandard in der jeweiligen The-rapierichtung angezeigt ist“ (Nr. 16.5 AM-RL a.F.). Schon nach dieser bis zum 20.06.2012 geltenden Fassung der

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AM-RL seien durch den Begriff „Indikationsgebiete“ auch die Anwendungsvoraussetzungen („in der palliativen The-rapie“) erfasst. Dies gelte erst recht nach der klarstellen-den Ergänzung der Regelung um den Begriff „Anwen-dungsvoraussetzungen“ in der ab dem 21.06.2012 geltenden Fassung (§ 12 Abs. 6 AM-RL n.F.).

Es stehe auch mit Gesetzesrecht im Einklang, dass die adju-vante Tumortherapie mit Iscador nicht in die OTC-Anlage aufgenommen worden sei. Dabei handele es sich nicht um den Therapiestandard, wie dies von § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V gefordert werde. Die Arzneimittel der Anthroposo-phie und Homöopathie seien von dem Erfordernis, dass es sich um den Therapiestandard handeln müsse, nicht befreit. Vielmehr könnten auch sie nur dann verordnet werden, wenn sie nach dem Erkenntnisstand als „Therapiestandard in der jeweiligen Therapierichtung angezeigt“ seien. Eine Sonderstellung räume der Gesetzgeber den Arzneimitteln der besonderen Therapierichtung nicht ein. Die Klägerin könne deshalb nichts für sich daraus herleiten, dass Be-handlungsmethoden, Arznei- und Heilmittel der besonde-ren Therapierichtungen generell gesetzlich nach § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB V nicht ausgeschlossen seien. Schon das um-fassende Verständnis des „Therapiestandards“ i.S.d. § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V und die Pflicht des GBA nach § 34 Abs. 1 Satz 3 SGB V „in einem zweiten Schritt“ der thera-peutischen Vielfalt Rechnung zu tragen, mache deutlich, dass für alle nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel die gleiche Hürde unter Achtung des Qualitätsgebots (§ 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V) und des Wirtschaftlichkeitsgebots (§ 12 Abs. 1 SGB V) gelte.

Dabei stellte der 1. Senat klar, dass der GBA über eine hin-reichende demokratische Legitimation verfüge, die entspre-chenden Festlegungen in der AM-RL vorzunehmen. Mit Blick auf den Beschluss des BVerfG vom 10.11.20151 quali-fizierte er die Ermächtigung des GBA, von dem Verord-nungsausschluss nicht verschreibungspflichtiger Arzneimit-tel Ausnahmen vorzusehen, als geringen Eingriff hinsichtlich der Ärzte und Versicherten. Die eigentliche Belastung der Betroffenen liege in dem gesetzlichen Ausschluss. Zudem werde der GBA auch inhaltlich hinreichend normdicht für seine zu treffende Entscheidung gesetzlich angeleitet. Die Bedeutung und Reichweite der Entscheidung des GBA sei von vornherein durch den gesetzlich normierten Grundsatz begrenzt, dass apothekenpflichtige nicht verschreibungs-pflichtige Arzneimittel i.d.R. nicht zum GKV-Leistungskata-log gehörten. Welche Arzneimittel nach dem gesetzlichen Normprogramm „apothekenpflichtig“, aber „nicht ver-schreibungspflichtig“ seien, sei präzise durch die Regelung des Arzneimittelgesetzes bestimmt. Die Begriffe der „Be-handlung schwerwiegender Erkrankungen“ und „als The-rapiestandard“ seien zumindest durch die Rechtsprechung

des BSG so präzisiert, dass dem GBA kein nennenswerter Auslegungsspielraum verbleibe. Auch bei der Feststellung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Er-kenntnisse zur Operationalisierung der genannten Rechts-begriffe unterliege der GBA weitgehender gerichtlicher Kontrolle: So überprüfe das Gericht bei entsprechendem Anlass auch die Vollständigkeit der vom GBA zu berück-sichtigenden Studienlage und die Vertretbarkeit seiner Schlussfolgerung.

Der Anspruch der Klägerin folge auch nicht aus den Grund-sätzen grundrechtsorientierter Auslegung. Die Klägerin lei-de nach den Feststellungen des Landessozialgerichts nicht mehr an einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödli-chen bzw. wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung.2 Zu-dem habe mit der Chemotherapie für die Klägerin eine all-gemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung zur Verfügung gestanden, die sie auch erhalten habe. Schließlich habe die Klägerin auch nicht geltend gemacht, durch die Eigenfinanzierung der ad-juvanten Therapie unzumutbar belastet zu werden.

C. Kontext der Entscheidung

Durch die Entscheidung wird die Rechtsprechungslinie des BSG zu Arzneimitteln der besonderen Therapierichtung fortgesetzt und die nicht gegebene Sonderstellung dieser Arzneimittel noch stärker hervorgehoben. Die Frage, ob Mistelpräparate der besonderen Therapierichtungen über den Wortlaut von Ziff. 32 der OTC-Anlage hinaus („in der palliativen Therapie“) auch im Fall der adjuvanten Therapie verordnet werden dürfen, war auch schon Gegenstand einer Entscheidung des 6. Senats gewesen. Nachdem ein Streit darüber entstanden war, ob das anthroposophische Mistelpräparat Helixor auch im Rahmen der adjuvanten Therapie verordnet werden dürfe, hatte der GBA – der eine Fehlinterpretation seiner Regelung zu den Arzneimitteln der Anthroposophie und Homöopathie vermutete – an das Wort „Indikationsgebiete“ zur Klarstellung den Passus „und Anwendungsvoraussetzungen“ eingefügt. Im Zusam-menhang mit der Klage des GBA gegen die diesbezügliche Beanstandung des Ministeriums hatte der 6. Senat des BSG entschieden, dass es rechtlich nicht zu beanstanden sei, wenn der GBA die Ausnahmen vom Verordnungsausschluss bei anthroposophischen und homöopathischen Arzneimit-teln nicht weiter fasse als bei allopathischen Arzneimit-teln.3 In einer Entscheidung, in der es um die Aufnahme des nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittels Vertigoheel in

1 BVerfG, Beschl. v. 10.11.2015 - 1 BvR 2056/12.2 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 06.12.2005 - 1 BvR 347/98 bzw. § 2 Abs. 1a

SGB V, am 01.01.2012 in Kraft getreten.3 BSG, Urt. v. 11.05.2011 - B 6 KA 25/10 R.

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die OTC-Anlage ging, hatte der 6. Senat des BSG ebenfalls betont, dass die im Rahmen von § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V an Qualität und Wirksamkeit von Arzneimitteln der beson-deren Therapierichtungen zu stellenden Anforderungen identisch mit den Maßstäben seien, die bei allopathischen Arzneimitteln anzulegen sind. Abweichendes lasse sich dem Gesetz nicht entnehmen.4

Bei der Entscheidung des 1. Senats zu „Mistelpräparaten in der Krebstherapie“ handelt sich um die erste Antwort des BSG auf den Beschluss des BVerfG vom 10.11.20155 zur demokratischen Legitimation des GBA. Der 1. Senat greift die Gesichtspunkte auf, die das BVerfG in dem Beschluss angesprochen hat und hält – mit ergänzenden Erwägungen – an seiner bisherigen Rechtsprechung fest. Die Anforde-rungen, die im Rahmen der funktionellen Selbstverwaltung an die demokratische Legitimation gestellt würden, seien hinsichtlich des Erlasses der betroffenen AM-RL durch den GBA erfüllt.

4 BSG, Urt. v. 22.10.2014 - B 6 KA 34/13 R.5 BVerfG, Beschl. v. 10.11.2015 - 1 BvR 2056/12.

D. Auswirkungen für die Praxis

Die Auswirkungen dieser Entscheidung für die Versicherten sind deutlich: Die Kostenübernahme für nicht verschrei-bungspflichtige Arzneimittel der Homöopathie und Anthro-posophie durch die GKV ist an die gleichen – hohen – An-forderungen geknüpft, wie die für allopathische Arzneimittel. Den besonderen Therapierichtungen soll gegenüber denen der Schulmedizin insoweit keine Sonderstellung eingeräumt werden. Entsprechend sind die anthroposophischen Mistel-präparate (dies betrifft z.B. auch die Arzneimittel abnobaVi-scum, Helixor und Iscucin), die arzneimittelrechtlich sowohl für die palliative als auch die adjuvante Therapie zugelassen sind, nicht vom Leistungskatalog der GKV erfasst, sofern es um den Einsatz im Rahmen der adjuvanten Therapie geht.

Verwaltungsrecht

A. Einführung

Mit seinem Urteil vom 14.01.20161 sprach der EuGH ein ge-wichtiges „Zwischenwort“ im seit 2004 andauernden Rechtsstreit um die Dresdner Waldschlösschenbrücke. Nun folgte seitens des BVerwG das – zumindest vorläufige – Schlusswort, indem es mit Urteil vom 15.07.2016 den mehr-fach geänderten Planfeststellungsbeschluss für den Bau der Waldschlösschenbrücke für rechtswidrig erklärte.2 Das BVerwG befasst sich hier mit den durch den Gerichtshof vor-gegebenen Auslegungen des europäischen Naturschutz-rechts. Diese betreffen sämtlich die sog. Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie3 (FFH-Richtlinie) und den dort geregelten Schutz der Lebensräume bestimmter Tier- und Pflanzenarten (Habi-tatschutz). Der Zugang zu den Rechtsproblemen des Habitat-schutzes ist schon an sich nicht einfach, was die zahlreichen unbestimmten Rechts- und Fachbegriffe anschaulich bele-gen, die ohne die Interpretation durch Justiz und Wissen-schaft kaum verständlich sind. Überdies befasst sich das ak-tuelle Urteil des EuGH mit komplexen Detailfragen, die sicher nicht für jeden Dresdner auf der Hand liegen, der die seit 2013 für den Verkehr freigegebene Brücke überquert. Dieser

Beitrag gibt daher zunächst einen Überblick über die Grund-bestimmungen der FFH-Richtlinie (B.), bevor das grundlegen-de EuGH-Urteil und die aktuelle Entscheidung des BVerwG selbst in den Blick genommen werden (C.).

B. Die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie und ihre Be-deutung

I. FFH-Recht und Planungsrecht

Das europäische Umwelt- und Naturschutzrecht ist vielfäl-tig mit anderen Rechtsgebieten und -fragen verzahnt. Die FFH-Richtlinie steht dabei keineswegs allein im Zentrum der Aufmerksamkeit. Bekannt sind bspw. die Diskussionen4 um Verbandsklagerechte und Einwendungspräklusion, die

Das europäische Naturschutzrecht und der Bau der Dresdner Waldschlösschenbrücke

RiVG Dr. Thomas Jacob

1 EuGH, Urt. v. 14.01.2016 - C-399/14.2 BVerwG, Urt. v. 15.07.2016 - 9 C 3.16.3 Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21.05.1992 zur Erhaltung der

natürlichen Lebensräume sowie der wild lebenden Tiere und Pflan-zen, ABl. L 206, S. 7.

4 Vgl. zuletzt EuGH, Urt. v. 15.10.2015 - C-137/14 - mit Anmerkung Jacob, jM 2016, 166.

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jedoch zumeist in das nationale Prozessrecht in umwelt- und planungsrechtlichen Streitigkeiten einwirken. Die FFH-Richtlinie5 hingegen bildet den materiell-rechtlichen Prü-fungshintergrund, vor dem sich Eingriffe in Natur und Landschaft heute bewähren müssen. Dabei ist grds. zu unterscheiden zwischen dem sog. Habitat- bzw. Gebiets-schutz (siehe unten B.II.) und dem besonderen Artenschutz (siehe unten B.III.), die auch in der Prüfung strikt zu trennen sind. Trotz gemeinsamer Zielrichtung und Ausrichtung am europarechtlichen Vorsorgegrundsatz (Art. 191 Abs. 2 Satz 2 AEUV) handelt es sich um zwei selbstständig neben-einanderstehende Rechtsbereiche, die in unterschiedlichen Vorschriften mit je eigenem Gehalt und unterschiedlichen Prüfprogrammen geregelt sind.6 Gewisse Problemfelder bestehen gleichwohl in beiden Bereichen, so bspw. die Fra-ge der Anerkennung behördlicher Beurteilungsspielräume, die in Gebiets- wie Artenschutz eine Rolle spielen.7

Das deutsche Naturschutzrecht verfolgt grds. einen integ-rierten Ansatz, der die Auswirkungen eines Vorhabens um-fassend in den Blick nimmt. Es findet als Querschnittsrecht Anwendung (erst) in den konkreten fachrechtlichen Zulas-sungsverfahren.8 Das bedeutet, dass die materielle Prüfung der naturschutzrechtlichen Verträglichkeit eines Vorhabens nicht gesondert, sondern gleichsam als „Huckepackverfah-ren“9 im Rahmen des eigentlichen Verwaltungsverfahrens stattfindet, das über die Zulässigkeit des Projekts insge-samt entscheidet. De facto geht damit einher, dass insbe-sondere Planfeststellungsbeschlüsse (vgl. §§ 72 ff. VwVfG), durch die i.d.R. größere, raumbedeutsame Infrastrukturvor-haben zugelassen werden,10 an den Vorgaben des FFH-Rechts zu messen sind. Das Planungsrecht ist in der Praxis nicht ohne den materiellen Maßstab des Naturschutzrechts zu denken, was sich anschaulich u.a. in den zahlreichen Entscheidungen der erst- wie revisionsinstanzlich mit die-sen Materien befassten Senate des BVerwG spiegelt – und aktuell eben auch im gerade beendeten Rechtsstreit um die Dresdner Waldschlösschenbrücke.

II. Der FFH-Gebietsschutz

1. Struktur und Systematik

Ziel der FFH-Richtlinie ist es, zur Sicherung der Artenvielfalt beizutragen, und zwar durch Erhaltung der natürlichen Le-bensräume sowie der wild lebenden Tiere und Pflanzen im Gebiet der Mitgliedstaaten (Art. 2 Abs. 1 FFH-RL). Die vor diesem Hintergrund getroffenen Maßnahmen zielen darauf ab, einen günstigen Erhaltungszustand der natürlichen Le-bensräume und wild lebenden Tier- und Pflanzenarten von gemeinschaftlichem Interesse zu bewahren oder wiederher-zustellen (Art. 2 Abs. 2 FFH-RL). Zu diesem Zweck sieht die Richtlinie die Errichtung eines kohärenten europäischen öko-

logischen Netzes besonderer Schutzgebiete mit der Bezeich-nung „Natura 2000“ vor (Art. 3 Abs. 1 FFH-RL). Dieses Netz besteht aus Schutzgebieten, deren Bestimmung sich nach den Anhängen der Richtlinie bemisst sowie aus den beson-deren Schutzgebieten, die aufgrund der sog. Vogelschutz-richtlinie11 ausgewiesen werden. In den Anhängen der Richt-linie sind diejenigen Arten und Lebensräume aufgeführt, die aufgrund ihrer europaweiten Gefährdung und Verbreitung besonders schutzwürdig sind und deren Erhalt das Schutz-gebietssystem dient.12 Die Richtlinie zählt also nicht die Ge-biete selbst auf, sondern die in diesen zu schützenden Arten und Lebensräume. Dabei wird noch einmal zwischen prioritä-ren und nicht prioritären Arten und Lebensraumtypen unter-schieden; bei einer Einstufung als „prioritär“ gelten für diese dann besonders strenge Schutzanforderungen.

Die Mitgliedstaaten haben nach bestimmten, in der FFH-Richtlinie näher dargelegten Kriterien Vorschläge für die Festlegung derartiger Habitat-Schutzgebiete zu unterbreiten, die sodann durch die Kommission – im Einvernehmen mit dem jeweiligen Mitgliedstaat – als Gebiete von gemein-schaftlicher Bedeutung ausgewählt werden (Art. 4 Abs. 1 bis 3 FFH-RL). Im nächsten Schritt hat der Mitgliedstaat das be-treffende Schutzgebiet nach nationalem Recht (vgl. § 20 Abs. 2, §§ 31 ff. BNatSchG)13 unter Schutz zu stellen. Wichtig ist aber, dass bereits vorher, nämlich mit Aufnahme eines Schutzgebiets in die europäische Liste durch die Kommission, die sogleich näher zu beleuchtenden Bestimmungen zur Ver-träglichkeitsprüfung gelten (Art. 4 Abs. 5 FFH-RL). Außerdem gilt bereits jetzt das Verschlechterungsverbot des Art. 6 Abs. 2 FFH-RL, der schon nach bisheriger EuGH-Rechtspre-chung eine allgemeine Schutzpflicht festlegt, um Verschlech-terungen und Störungen zu vermeiden, die sich im Hinblick auf die Ziele der Richtlinie erheblich auswirken könnten.14

5 Abzuwarten bleibt die derzeit laufende Überprüfung der FFH- und Vo-gelschutzrichtlinien durch den „Fitness Check“ der Kommission, vgl. http://ec.europa.eu/environment/nature/legislation/fitness_check/index_en.htm (abgerufen am 16.02.2016).

6 BVerwG, Urt. v. 09.07.2008 - 9 A 14.07 - BVerwGE 131, 274 Rn. 57.7 Vgl. statt vieler Jacob/Lau, NVwZ 2015, 241 m.w.N.8 Zu den Grundstrukturen des Naturschutzrechts: Glaser, JuS 2010,

209, 210 f.9 Glaser, JuS 2010, 209, 212.10 Einführend in das Planfeststellungsrecht: Leist/Tams, JuS 2007, 995, 996.11 Richtlinie 2009/147/EG des Europäischen Parlaments und des Rates

vom 30.11.2009 über die Erhaltung der wild lebenden Vogelarten (kodifizierte Fassung), ABl. (2010) L 20, S. 7.

12 Einen Überblick über die in Deutschland geschützten Arten und Le-bensraumtypen bietet der Internetauftritt des Bundesamts für Natur-schutz (BfN): http://www.bfn.de (abgerufen am 16.02.2016).

13 Aufgrund der teilweise bestehenden Abweichungskompetenz der Bundesländer (Art. 74 Abs. 1 Nr. 29 GG i.V.m. Art. 72 Abs. 3 Nr. 2 GG) ist ggf. die landesrechtliche Regelung mit in den Blick zu nehmen.

14 EuGH, Urt. v. 07.09.2004 - C-127/02 - „Waddenvereniging und Vo-gelsbeschermingvereniging“ Rn. 38.

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2. Die Verträglichkeitsprüfung

Kernstück des Habitatschutzes ist die FFH-Verträglichkeits-prüfung, die in Art. 6 Abs. 3 und 4 FFH-RL sowie § 34 BNatSchG15 geregelt ist und in der Rechtsanwendung für Be-hörden und Gerichte als formalisiertes Prüfungsverfahren große Herausforderungen mit sich bringt.16 Nach Art. 6 Abs. 3 Satz 1 FFH-RL erfordern Pläne oder Projekte, die nicht unmittelbar mit der Verwaltung des Gebiets in Verbindung stehen oder hierfür nicht notwendig sind, die ein solches Ge-biet des Netzes „Natura 2000“ jedoch einzeln oder in Zu-sammenwirkung mit anderen Plänen und Projekten erheb-lich beeinträchtigen könnten, eine Prüfung auf Verträglichkeit mit den für dieses Gebiet festgelegten Erhaltungszielen. Auf der ersten Stufe wird dabei i.d.R. eine Vorprüfung durchge-führt, die untersucht, ob erhebliche Beeinträchtigungen des Schutzgebiets nachweislich anhand objektiver Umstände auszuschließen sind. Lässt sich eine solche Gewissheit nicht herstellen, d.h., verbleibt die objektive Möglichkeit einer Ge-fährdung, findet dann auf zweiter Stufe die eigentliche FFH-Verträglichkeitsprüfung statt.

Gem. Art. 6 Abs. 3 Satz 2 FFH-RL kann das Vorhaben nur dann zugelassen werden, wenn unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Verträglichkeitsprüfung und vorbehaltlich einer eventuellen Abweichungsprüfung festgestellt wird, dass das Schutzgebiet als solches nicht beeinträchtigt wird, und nachdem ggf. die Öffentlichkeit angehört wurde. Zu prüfen sind mithin die Auswirkungen des Vorhabens auf den Erhaltungszustand der Gebietsbestandteile, wobei maßgebliches Beurteilungskriterium der günstige Erhal-tungszustand der geschützten Lebensräume und Arten ist.17 Ein Projekt ist dabei zulässig, wenn nach Abschluss der Verträglichkeitsprüfung aus wissenschaftlicher Sicht kein vernünftiger Zweifel verbleibt, dass erhebliche Beein-trächtigungen vermieden werden, wobei die FFH-Verträg-lichkeitsprüfung die „besten einschlägigen wissenschaftli-chen Erkenntnisse“ zu berücksichtigen hat.18

Kommt die Verträglichkeitsprüfung zu einem negativen Er-gebnis, bleibt eine Zulassung des Vorhabens nach Art. 6 Abs. 4 FFH-RL im Wege der Abweichungsentscheidung unter Ergreifen von Ausgleichsmaßnahmen möglich, wenn zwingende Gründe des überwiegenden öffentlichen Inter-esses einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art die Durchführung des Projekts erfordern und keine Al-ternativlösung vorhanden ist. Hierbei handelt es sich um einen besonderen bipolaren Abwägungsvorgang, der die für das Vorhaben streitenden Gemeinwohlbelange den gegenläufigen Belangen des Habitatschutzes gegenüber-stellt. Die Vorschrift verlangt ein durch Vernunft und Ver-antwortungsbewusstsein geleitetes staatliches Handeln, wobei allerdings strengere Anforderungen nach Art. 6

Abs. 4 Unterabs. 2 FFH-RL bei der Betroffenheit von sog. prioritären Lebensraumtypen oder Arten gelten können.19

III. Der besondere Artenschutz

Der besondere Artenschutz ist geregelt in Art. 12 bis 16 FFH-RL (bzw. Art. 5 bis 9 Vogelschutzrichtlinie); zentrale Vorschrift auf Bundesebene ist § 44 BNatSchG als (vorläu-figer) Endpunkt einer wechselvollen Gesetzgebungshisto-rie.20 Anders als der Gebietsschutz mit seinen Anforderun-gen aus Art. 6 Abs. 3 und 4 FFH-RL folgt der besondere Artenschutz gerade keinem formalisierten Prüfungsverfah-ren.21 Schutzgegenstand sind die in Anhang IV der FFH-Richtlinie aufgelisteten Tier- und Pflanzenarten. Streng ge-schützt werden etwa Wolf, Feldhamster und Wildkatze, aber auch Gelbbauchunke und Stör sowie nach der Vogel-schutzrichtlinie z.B. der Rotmilan. Für sie stellt Art. 12 FFH-RL mehrere unabhängig voneinander zu betrachtende Ver-botstatbestände auf. Untersagt sind danach u.a. die – jeweils absichtliche – Tötung einzelner Exemplare der Arten, deren Störung oder die Beschädigung ihrer Fortpflanzungs- und Ruhestätten. In den letzten Jahren haben sich die hierzu geltenden und kontrovers diskutierten22 Anforderungen des besonderen Artenschutzes in einer Form entwickelt, die Vorhabenträger und Zulassungsbehörden einerseits und Verwaltungsgerichte andererseits vor gewichtige Heraus-forderungen stellt. Die naturschutzfachliche Prüfung im Rahmen der artenschutzrechtlichen Verbotstatbestände ist dabei in besonderer Weise geprägt von Beurteilungsspiel-räumen und Einschätzungsprärogativen, die durch das BVerwG anerkannt werden sowohl für die ökologische Be-standsaufnahme als auch deren Bewertung.23 Gleiches gilt für die bei Bejahung eines Verbotstatbestands eröffnete Prüfung der artenschutzrechtlichen Ausnahmetatbestände (Art. 16 FFH-Richtlinie, § 45 BNatSchG).

15 Aufgrund der teilweise bestehenden Abweichungskompetenz der Bundesländer (Art. 74 Abs. 1 Nr. 29 GG i.V.m. Art. 72 Abs. 3 Nr. 2 GG) ist ggf. die landesrechtliche Regelung mit in den Blick zu nehmen.

16 Im Überblick mit zahlreichen Details: Storost, DVBl. 2009, 673.17 BVerwG, Urt. v. 06.11.2012 - 9 A 17/11 Rn. 35.18 EuGH, Urt. v. 07.09.2004 - C-127/02 - „Waddenvereniging und Vo-

gelsbeschermingvereniging“ Rn. 59, 61; BVerwG, Urt. v. 06.11.2012 - 9 A 17/11 Rn. 35.

19 BVerwG, Hinweisbeschl. v. 06.03.2014 - 9 C 6/12 Rn. 47.20 Dazu und allgemein zum Artenschutz in der Planfeststellung: Storost,

DVBl. 2010, 737.21 BVerwG, Urt. v. 09.07.2008 - 9 A 14/07 Rn. 57.22 Statt vieler Lau, NuR 2013, 685; Gellermann, UPR 2015, 417.23 BVerwG, Urt. v. 23.04.2014 - 9 A 25/12 Rn. 90; einschränkend aber

BVerwG, Urt. v. 21.11.2013 - 7 C 40/11 Rn. 17; vgl. dazu Jacob/Lau, NVwZ 2015, 241, 245.

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C. Der Rechtsstreit um die Dresdner Waldschlöss-chenbrücke

I. Zur Historie eines langen Streits

Die seit 2004 gerichtlich geführte Auseinandersetzung24 um die Errichtung der rund 630 m langen Waldschlösschenbrü-cke im Dresdner Elbtal hat nun immerhin ein formales Ende gefunden. Doch muss man nicht mit prophetischen Kräften begabt sein, um ein baldiges Wiederaufleben des Streits vor-herzusagen. Die mit dem angefochtenen Planfeststellungs-beschluss nebst Änderungen zugelassene Querung der Elbe im Stadtgebiet Dresdens erregte nicht zuletzt bundesweit medial Aufsehen, als die UNESCO im Zuge der mittlerweile als „Dresdner Brückenstreit“ bekannten Querelen der Kultur-landschaft Dresdner Elbtal den Welterbetitel aberkannte. Die eigentliche juristische Auseinandersetzung drehte sich je-doch bis heute um andere Fragen, die 2014 das BVerwG be-wogen, das Revisionsverfahren auszusetzen und den EuGH um Vorabentscheidung anzurufen. Zugleich mit dem Vorla-gebeschluss erging ein Hinweisbeschluss des BVerwG, der mehrere Bundesrechtsverstöße des berufungsinstanzlichen Urteils des OVG Bautzen sowie des angefochtenen Planfest-stellungsbeschlusses aufzeigte.25 Konkret standen bis zur Entscheidung des BVerwG im Mittelpunkt des Rechtsstreits die Auswirkungen des Brückenbaus und Straßenbetriebs auf das FFH-Gebiet „Elbtal zwischen Schöna und Mühlberg“ so-wie die artenschutzrelevante Beeinträchtigung mehrerer Tierarten. Besonders betroffen und somit zentraler Prüfungs-gegenstand waren bis dato bei den Lebensräumen die Wie-sen sowie die Fluss- bzw. Uferbereiche, die von der Brücken-trasse gequert und durchschnitten werden. Teilweise deckungsgleich bei Habitat- und Artenschutz hatten sich die Verwaltungsgerichte zudem u.a. mit folgenden Tieren zu be-schäftigen: Eremit (Käfer), Spanische Flagge und Dunkler Wiesenknopf-Ameisenbläuling (Schmetterlinge), Grüne Keil-jungfer (Libelle), Kleine Hufeisennase (Fledermaus) und nicht zuletzt Wachtelkönig (Vogel).

II. Die Vorlagefragen des BVerwG und die Antwort des EuGH

Das BVerwG hat dem Gerichtshof insgesamt vier Ausle-gungsfragen zu Art. 6 FFH-RL vorgelegt, deren Verständnis sich erst aus dem konkreten Verfahrensablauf erschließt. Denn die Vorhabengenehmigung für das Projekt erging in einem Zeitpunkt, in dem das betroffene FFH-Schutzgebiet noch nicht in die Schutzgebietsliste aufgenommen und da-mit nach dem oben Gesagten die Schutzregelung des Habi-tatschutzes für eine vorherige Prüfung gerade nicht anwend-bar war. Der 9. Senat des BVerwG wollte daher mit seiner ersten Frage wissen, ob eine Art. 6 Abs. 3 FFH-RL entspre-chende (nachträgliche) Verträglichkeitsprüfung dann jeden-

falls vor Ausführung des Projekts26 durchzuführen ist. In sei-ner Antwort folgert der Gerichtshof eine solche Verpflichtung nicht aus Art. 6 Abs. 3 FFH-RL selbst, da dieser nur die ex-ante-Prüfung im engeren Sinn regele (Rn. 33). Hingegen sei bei der Ausführung des Vorhabens Art. 6 Abs. 2 FFH-RL an-wendbar (Rn. 34), woraus die genannte allgemeine Schutz-pflicht folge. Es müssten also „geeignete Maßnahmen“ er-griffen werden, um eine Verschlechterung des Gebiets zu vermeiden (Rn. 37). Ob als solche Schutzmaßnahme nun ein-zig eine den Anforderungen von Art. 6 Abs. 3 FFH-RL entspre-chende Verträglichkeitsprüfung genüge, sei vom BVerwG nach seinem Ermessen zu entscheiden (Rn. 40, 45).

Die vom BVerwG erst an dritter Stelle formulierte Frage nach den Anforderungen an eine solche nachträgliche Ver-träglichkeitsprüfung und dem entscheidenden Beurtei-lungszeitpunkt hierfür zieht der EuGH vor und bekräftigt seine bisherige Rechtsprechung, dass Art. 6 Abs. 2 und 3 FFH-RL ein identisches Schutzniveau forderten (Rn. 52). Konsequent müsse die nachträgliche Überprüfung, sollte das BVerwG sie als einzig „geeignete Maßnahme“ nach Art. 6 Abs. 2 FFH-RL ansehen, der Qualität des Art. 6 Abs. 3 FFH-RL genügen (Rn. 54). Dieser Maßstab gelte auf jeden Fall, wenn eine Abweichungszulassung nach Art. 6 Abs. 4 FFH-RL notwendig werde (Rn. 56).

Entscheidender Zeitpunkt für diese Prüfung sei die Aufnah-me des FFH-Schutzgebiets in die europäische Liste (Art. 4 Abs. 5 FFH-RL), wobei aber – um den Schutzzweck der Richtlinie nicht zu verfehlen – auch „alle danach durch die teilweise oder vollständige Ausführung dieses Plans oder Projekts eingetretenen oder möglicherweise eintretenden Auswirkungen auf das Gebiet zu berücksichtigen“ seien (Rn. 62). Ausgehend von diesem Ergebnis konnte der EuGH die zweite Vorlagefrage aus Leipzig unbeantwortet lassen, die sich ebenfalls mit dem notwendigen Schutzniveau einer nachträglichen Überprüfung befasste (Rn. 63).

Mit seiner letzten Vorlagefrage wollte das BVerwG wissen, welche Anforderungen für die nachträgliche Überprüfung (inklusive Abweichung) im Rahmen eines sog. ergänzenden Verfahrens (§ 75 Abs. 1a VwVfG) gelten, das zum Zwecke der Heilung erkannter Rechtsfehler durchgeführt werden könne, und zwar zu einem Zeitpunkt, in dem das Vorhaben

24 Hauptsacheverfahren: VG Dresden, Urt. v. 30.10.2008 - 3 K 923/04; OVG Bautzen, Urt. v. 15.12.2011 - 5 A 195/09; Eilverfahren: VG Dres-den, Beschl. v. 07.07.2005 - 3 K 922/04 und VG Dresden, Beschl. v. 09.08.2007 - 3 K 712/07; OVG Bautzen, Beschl. v. 08.12.2005 - 5 BS 184/05; OVG Bautzen, Beschl. v. 12.11.2007 - 5 BS 336/07 und OVG Bautzen, Beschl. v. 27.10.2010 - 5 B 286/10.

25 BVerwG, Vorlage- und Hinweisbeschl. jeweils v. 06.03.2014 - 9 C 6.12.26 Die Bauarbeiten dauerten von 2007 bis 2013.

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aufgrund der – gerichtlich bestätigten – sofortigen Voll-ziehbarkeit des Planfeststellungsbeschlusses bereits voll-ständig fertiggestellt und in Betrieb genommen sei. Der EuGH lehnt in einem ersten Schritt eine Modifizierung der Prüfungsmaßstäbe nach Art. 6 Abs. 3 und 4 FFH-RL allein aufgrund der sofortigen Vollziehbarkeit der Zulassungsent-scheidung ab (Rn. 68). In einem zweiten Schritt eröffnet der Gerichtshof jedoch die analoge Anwendung von Art. 6 Abs. 4 FFH-RL (Rn. 71) und konstatiert, dass bei der dann anzustellenden Alternativenprüfung nicht nur die Nachteile des bestehenden Betriebs der Anlage, sondern auch deren Vorteile in den Blick zu nehmen seien (Rn. 74). Auch die ökologischen Folgen eines etwaigen Abrisses des Brücken-bauwerks seien mithin zu berücksichtigen und kritisch zu bewerten (Rn. 75). Und schließlich sei – anders übrigens noch die Generalanwältin27 – auch nicht kategorisch aus-geschlossen, die etwaigen Kosten des genehmigten Vorha-bens sowie eines alternativen Rückbaus zu berücksichtigen (Rn. 77).

III. Das Urteil des BVerwG und Ausblick

Wie sich mit den Schlussanträgen der Generalanwältin Sharpston schon angedeutet hatte, brachte zwar der Rich-terspruch aus Luxemburg keine Revolution im europäi-schen Naturschutzrecht mit sich. Es blieb jedoch spannend, wie sich der zuständige Senat des BVerwG positionieren würde, denn in seinem Feld lag jetzt der Ball. Angesichts des gerichtlichen Hinweisbeschlusses vom März 2014 war die Ausgangslage für die Beteiligten einigermaßen klar: Schon in diesem Hinweisbeschluss hatte das BVerwG zwar keine Verfahrensfehler, aber immerhin mehrere Verstöße gegen Präklusionsvorschriften28 attestiert. Im Nachgang zu dem Anfang 2016 ergangenen Urteil des EuGH erklärte das BVerwG jetzt den Planfeststellungsbeschluss in der Gestalt mehrerer Änderungsbescheide für rechtswidrig. Es zeichnet in seiner aktuellen Entscheidung vom 15.07.2016 die Vor-gaben des Gerichtshofs nach, unter deren Vorbehalt noch die früheren Hinweise zur habitatschutzrechtlichen Verträg-lichkeits- und Abweichungsprüfung gestanden hatten. Der Senat stellt fest, dass aus dem Verschlechterungsverbot des Art. 6 Abs. 2 FFH-RL hier in der Tat die Pflicht zur Durchfüh-rung einer nachträglichen Verträglichkeitsprüfung des Brü-ckenbaus folge. Für diese Prüfung seien die Anforderungen des Art. 6 Abs. 3 FFH-RL mit den oben näher dargelegten Maßstäben (siehe B.II.2) zu erfüllen. Wie das BVerwG be-reits in seinem Hinweisbeschluss angedeutet hatte, genüg-ten die bisherigen naturschutzfachlichen Untersuchungen diesen Maßgaben nicht. Zugleich moniert das BVerwG das Fehlen einer hirneichenden artenschutzrechtlichen Prüfung. Mit weiteren Einwendungen konnte sich der klagende Na-turschutzverein hingegen nicht durchsetzen. Schon im Hin-

weisbeschluss hatte der Senat zu erkennen gegeben, dass er – jedenfalls im Ergebnis (§ 144 Abs. 4 VwGO) – die Be-wertungen des Oberverwaltungsgerichts in weiten Teilen nicht zu beanstanden hatte. Auch galten immer noch die bereits vom Oberverwaltungsgericht angeordneten Schutz-maßnahmen bspw. zugunsten der Fledermäuse, sodass hier aktuell kein Streit drohte.

Angesichts der nunmehr revisionsinstanzlich festgestellten Mängel des Planfeststellungsbeschlusses wird die Zulas-sungsbehörde ein ergänzendes Verfahren zur Mängelbehe-bung durchzuführen haben, um den höchstgerichtlich auf-gestellten Anforderungen zu genügen. Die Behörde dürfte hierbei vor der besonderen Herausforderung stehen, bei der bereits im Betrieb befindlichen Brücke sämtliche Vor-gaben aus Luxemburg und Leipzig zu berücksichtigen. Doch dürfte gleichwohl der baldige Abriss des Bauwerks nicht zu erwarten sein. Schon die Ausführungen des EuGH zur Abweichungsprüfung nach Art. 6 Abs. 4 FFH-RL im Rah-men der vierten Vorlagefrage zeigten einen gewissen Spiel-raum auf, der einen Rückbau der Dresdner Waldschlöss-chenbrücke als wenig wahrscheinlich erscheinen lässt. Abzuwarten bleibt hingegen, ob der Streit sodann in eine neue Runde gehen und die Waldschlösschenbrücke wieder-um den „Marsch durch die Instanzen“ antreten wird.

27 Vgl. Rn. 70 der Schlussanträge vom 24.09.2015.28 Dazu zwischenzeitlich EuGH, Urt. v. 15.10.2015 - C-137/14 - mit An-

merkung Jacob, jM 2016, 166.

Steuerrecht

Fehlerhafte Rechnungen und Gutglaubens-schutzBFH, EuGH-Vorlagen v. 06.04.2016 - V R 25/15, XI R 20/14

RiBFH Dr. Gerhard Michel

A. Problemstellung

I. Die für Lieferungen und sonstige Leistungen an sein Unternehmen von einem anderen Unternehmer gesetzlich geschuldete Umsatzsteuer kann der Unternehmer als Vor-steuer abziehen. Um das Recht auf Vorsteuerabzug aus-üben zu können, ist der Besitz einer nach den Vorgaben der §§ 14, 14a UStG ausgestellten Rechnung erforderlich (§ 15 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 UStG). Welche Pflichtangaben die Rech-nung enthalten muss, ergibt sich aus § 14 Abs. 4 UStG.

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Dazu gehört insbesondere „die vollständige Anschrift des leistenden Unternehmers“. Dies ist nach ständiger Recht-sprechung des BFH die Anschrift, an der die wirtschaftliche Tätigkeit des Leistenden entfaltet wird. Die Angabe eines „Briefkastensitzes“ mit nur postalischer Erreichbarkeit – wie es der BFH noch im Urteil vom 19.04.20071 ausreichen ließ – genügt nach jüngsten Verschärfung durch das BFH-Urteil vom 22.07.20152 nicht mehr.

II. Fraglich und zwischen den beiden Umsatzsteuersena-ten streitig (geworden) ist, ob diese Verschärfung der Rechnungsanforderungen mit dem EuGH-Urteil vom 22.10.20153 zum Vorsteuerabzug bei Lieferung durch einen nicht existenten Wirtschaftsteilnehmer im Einklang steht. Darum geht es in der ersten Frage beider Vorlage-beschlüsse. Sollte die genannte Verschärfung mit Unions-recht vereinbar sein, stellen beide Senate die weitere Vor-lagefrage, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Verfahren (Steuerfestsetzungs- oder Billigkeits-verfahren) der gute Glaube des Leistungsempfängers an die Richtigkeit der Anschrift des leistenden Unternehmers geschützt wird.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidungen

I. Beschluss des V. Senats (V R 25/15)

Im Fall des V. Senats betrieb der Kläger einen Kfz-Handel, für den er von 2009–2011 (Streitjahre) zahlreiche Kfz von Z er-warb. Z hatte sein Unternehmen bereits 2006 in die E-Straße in R (Inland) verlegt. Er stellte dem Kläger Rechnungen mit offenem Umsatzsteuerausweis aus und gab dabei die E-Stra-ße in R als Anschrift an. Dort hatte er von der Firma U Räum-lichkeiten („Büro“) angemietet. Ein Autohaus unterhielt er dort nicht, da er die Kfz ausschließlich im Onlinehandel ver-trieb. Die an den Kläger verkauften Fahrzeuge wurden ihm oder seinen Mitarbeitern zum Teil in R in der E-Straße, zum Teil aber auch an öffentlichen Plätzen (Bahnhofsvorplätzen) übergeben. In dem angemieteten „Büro“ kam lediglich Post an, da sich ein Firmenschild mit dem Aufdruck „Z“ außen am Gebäude befand. Nach einer Umsatzsteuer-Sonderprüfung versagte das Finanzamt den Vorsteuerabzug aus den Ein-gangsrechnungen des Z, weil die in den Rechnungen ausge-wiesene Anschrift des leistenden Unternehmers tatsächlich nicht bestanden habe. Die Geschäftsadresse habe nur als Briefkastenadresse (Scheinadresse) gedient, an der Z ledig-lich die Post abgeholt habe. Es sei dort nichts vorhanden ge-wesen, was auf ein Unternehmen hindeute.

II. Beschluss des XI. Senats (XI R 20/14)

Auch das Verfahren des XI. Senates betrifft einen Kfz-Händ-ler. Dieser erwarb von D insgesamt 122 Kraftfahrzeuge und

machte hieraus den Vorsteuerabzug geltend. Im Anschluss an zwei Umsatzsteuer-Sonderprüfungen versagte das Fi-nanzamt den Vorsteuerabzug, weil es sich bei D um eine „Scheinfirma“ handele, die unter der Rechnungsanschrift keinen Sitz gehabt habe. Im finanzgerichtlichen Verfahren stellte das Finanzgericht fest, dass sich unter der von D in ihren Rechnungen angegebenen Anschrift ihr statuarischer Sitz befunden habe. Es handele sich um einen „Briefkasten-sitz“, unter dem D postalisch erreichbar gewesen sei. Dort habe sich u.a. ein Buchhaltungsbüro befunden, das die Post für D entgegengenommen und für sie Buchhaltungsarbei-ten erledigt habe, ohne dass dort irgendwelche geschäftli-chen Aktivitäten feststellbar waren.

III. Divergierende Auffassungen der Senate zu den Vorlagefragen

1. Vollständige Anschrift des leistenden Unterneh-mers

a. Der V. Senat verteidigt unter Hinweis auf die bisherige Rechtsprechung beider Umsatzsteuersenate die bisherige Auffassung.4 Die Vorsteuer ist demnach nur dann abzieh-bar, wenn der in der Rechnung angegebene Sitz des leisten-den Unternehmers bei Ausführung der Leistung und bei Rechnungstellung tatsächlich bestanden hat und dort auch wirtschaftliche Aktivitäten stattfanden. Die Angabe eines „Briefkastensitzes“ mit nur postalischer Erreichbarkeit ge-nügt somit nicht für eine zutreffende „Anschrift“. Diese Rechtsprechung stehe im Einklang mit Unionsrecht. Das zum Sitz einer wirtschaftlichen Tätigkeit i.S.v. Art. 1 Nr. 1 der RL 86/560/EWG ergangene EuGH-Urteil Planzer Luxem-bourg vom 28.06.20085 lasse sich auf den Begriff der „voll-ständigen Anschrift“ i.S.d. Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL über-tragen. Danach begründe eine fiktive Ansiedlung in der Form, wie sie für eine „Briefkastenfirma“ oder für eine „Strohfirma“ charakteristisch ist, keinen derartigen Sitz. Ein bloßer „Briefkastensitz“ bilde die wirtschaftliche Reali-tät im Regelfall nicht ab, sondern verschleiere sie. Darüber hinaus sei die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und Missbräuchen ein Ziel, das von der MwStSystRL anerkannt und gefördert werde. Der EuGH habe dies zwar zu der Frage entschieden, ob im konkreten Fall der Vorsteuerabzug wegen eines missbräuchlichen Ver-haltens aberkannt werden kann. Diese Zielsetzung könne aber auch bei Zweifeln über die Auslegung einzelner Merk-

1 BFH, Urt. v. 19.04.2007 - V R 48/04.2 BFH, Urt. v. 22.07.2015 - V R 23/14 Rn. 25.3 EuGH, Urt. v. 22.10.2015 - C-277/14 - „PPUH Stehcemp“.4 Vgl. A.I.5 EuGH, Urt. v. 28.06.2008 - C-73/06 - „Planzer Luxembourg“.

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male der Vorsteuerabzugsberechtigung berücksichtigt wer-den.

b. Der XI. Senat hingegen äußert deutliche Zweifel, ob die bisherige Auslegung des Merkmals „vollständige An-schrift“ der Auffassung des EuGH im Urteil PPUH Stehcemp entspricht. Hierzu verweist er darauf, dass in den Rechnun-gen, die dem Ausgangsverfahren zum EuGH-Urteil Steh-cemp vorlagen, lediglich die Anschrift des Gesellschaftssit-zes von „Finnet“ ausgewiesen war. Das dortige Gebäude sei jedoch derart heruntergekommen, dass es keinerlei wirtschaftliche Tätigkeit gestatte. Da der EuGH eine Versa-gung des Vorsteuerabzugs nur im Hinblick auf eine Bös-gläubigkeit des Leistungsempfängers für möglich gehalten habe, sei der Schluss möglich, dass der EuGH die von „Fin-net“ ausgestellten Rechnungen als ordnungsgemäß anse-he, obwohl an der angegebenen Anschrift keine wirtschaft-liche Tätigkeit stattgefunden habe. Das Erfordernis einer wirtschaftlichen Tätigkeit des Leistenden unter der angege-benen Rechnungsadresse könne daher keine Vorausset-zung für den Vorsteuerabzug sein. Abgesehen davon weist der XI. Senat darauf hin, dass es in Anbetracht der techni-schen Fortentwicklung (Handy, Laptop) den klassischen Unternehmer mit Büro und Personal, dessen Firma einen Sitz mit wirtschaftlicher Aktivität hatte, vielfach nicht mehr gebe. Das gelte insbesondere für Onlinehändler, die ihre Geschäfte vom Wohn- oder Arbeitszimmer aus oder unter-wegs erledigten.

2. Vertrauensschutz

Die dritte Vorlagefrage des V. Senats und die zweite Vor-lagefrage des XI. Senats betreffen die materiellen Voraus-setzungen des Vorsteuerabzugs aus Vertrauensschutz-gründen sowie die verfahrensrechtliche Frage, ob ein Gutglaubensschutz bereits bei der Steuerfestsetzung zu berücksichtigen ist oder erst in einem gesonderten Billig-keitsverfahren.

a. Der V. Senat des BFH bestätigt seine bisherige Rechtspre-chung, wonach der Vertrauens- bzw. Gutglaubensschutz im Rahmen eines gesonderten Billigkeitsverfahrens zu gewäh-ren ist. Unter Hinweis auf den Grundsatz der Verfahrens-autonomie der Mitgliedstaaten liege darin auch keinen Widerspruch zum Unionsrecht.

In materieller Hinsicht erfordere der Vorsteuerabzug im Bil-ligkeitsverfahren, dass der Unternehmer nicht nur gutgläu-big gewesen sei, sondern darüber hinaus alles Zumutbare getan habe, um die Richtigkeit der Rechnungsangaben zu überprüfen. Zweifel an dieser Rechtsprechung bestünden aber aufgrund der Ausführungen des EuGH im Urteil PPUH Stehcemp. Aus diesem könne sich ergeben, dass der Vor-steuerabzug aus Vertrauensschutzgesichtspunkten bereits

dann zu gewähren sei, wenn der Unternehmer weder wuss-te noch wissen konnte, dass der betreffende Umsatz in eine vom Lieferer begangene Steuerhinterziehung einbezogen war oder dass in der Lieferkette bei einem anderen Umsatz Mehrwertsteuer hinterzogen wurde.

b. Nach den Ausführungen des XI. Senats ist fraglich, ob die Verweisung des Steuerpflichtigen auf das Billigkeitsverfah-ren dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz ent-spricht, weil das zweistufige Verfahren die Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts übermäßig erschweren könne. Ein Vorsteuerabzug aus Vertrauensschutzgründen bestehe be-reits dann, wenn der Unternehmer weder wusste noch hät-te wissen können, dass der Leistende (im Streitfall: D) unter der angegebenen Rechnungsanschrift nur einen „Briefkas-tensitz“ unterhalten habe.

C. Kontext der Entscheidungen

Die zeitgleich ergangenen Beschlüsse zeigen einmal mehr, dass der EuGH erneut – anstelle des Großen Senats – als Schiedsrichter über die divergierenden Ansichten des V. und des XI. Senates angerufen wird.

Hinsichtlich der Vorlagefragen ist von grundlegender Be-deutung, dass der EuGH6 zwischen formellen und materiel-len Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs unterscheidet. Die materiellen Voraussetzungen ergeben sich aus Art. 168 Buchst. a) der MwStSystRL, die formelle Voraussetzung des Vorsteuerabzugs ist, dass der Steuerpflichtige eine Rech-nung besitzt, die Angaben nach Art. 226 der MwStSystRL enthält. Diese Unterscheidung könnte für den Vorsteuerab-zug eine ähnliche große Bedeutung haben wie für die Steuerfreiheit von innergemeinschaftlichen und Ausfuhr-Lieferungen. Hierzu hatte der EuGH im Urteil vom 27.09.20077 entschieden, dass die Steuerbefreiung ge-währt wird, wenn die materiellen Anforderungen an eine innergemeinschaftliche Lieferung unbestreitbar vorliegen, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen An-forderungen nicht genügt hat.8 Die Übertragung dieser Rechtsprechung auf den Vorsteuerabzug bewirkt, dass die-ser gewährt wird, wenn die materiellen Anforderungen er-füllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten for-mellen Anforderungen nicht genügt hat.9 Etwas anderes gilt allerdings dann, wenn feststeht, dass der Leistungs-empfänger wusste oder hätte wissen müssen, dass die Lie-

6 Vgl. EuGH, Urt. v. 01.03.2012 - C-280/10 - „Polski Travertyn“; EuGH, Urt. v. 11.12.2014 - C-590/13 - „Idexx“ sowie EuGH, Urt. v. 22.10.2015 - C-277/14 - „PPUH Stehcemp“.

7 EuGH, Urt. v. 27.09.2007 - C-146/05 - „Collée“.8 EuGH, Urt. v. 27.09.2007 - C-146/05 - „Collée“ Leitsatz 1.9 Vgl. EuGH, Urt. v. 01.03.2012 - C-280/10 Rn. 43 - „Polski Travertyn“.

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ferung im Zusammenhang mit einer Mehrwertsteuerhinter-ziehung steht.10

D. Auswirkungen für die Praxis

Die Liste der Pflichtangaben für eine ordnungsgemäße Rechnung in § 14 Abs. 4 UStG (Art. 226 MwStSystRL) ist derart lang und detailliert, dass fehlerhafte Rechnun-gen in der Praxis häufig vorkommen. Dies führt aber nicht automatisch zum Verlust des Rechts auf Vorsteuer-abzug.

I. Ohne Auswirkung auf den Vorsteuerabzug sind:

1. für den Leistungsempfänger nicht erkennbare Fehler, wie die USt-Identifikationsnummer, Steuernummer oder Rechnungsnummer (vgl. Abschnitt 15.2. Abs. 3 Satz 3 UStAE);

2. Fehler, die unter die Erleichterungsvorschrift des § 31 Abs. 2 – 4 UStDV fallen, wie z.B. der ungenaue Zeitpunkt der Lieferung/sonstigen Leistung.

II. Ist beides nicht der Fall, kommt eine Rechnungsberichti-gung nach § 31 Abs. 5 UStDV in Betracht. Ob und ggf. in welchen Fällen eine derartige Berichtigung auch Rückwir-kung entfaltet, wird derzeit im Verfahren C-518/14 (Sena-tex GmbH) vom EuGH geprüft.

III. Scheitert auch eine Rechnungsberichtigung, könnte der Vorsteuerabzug aus Vertrauensschutzgründen zu gewäh-ren sein. Es ist zu hoffen, dass die insoweit bestehende Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Voraussetzungen und des Verfahrens durch die nunmehr anstehende Entschei-dung des EuGH beseitigt wird.

Strafrecht

10 EuGH, Urt. v. 22.10.2015 - C-277/14 - „PPUH Stehcemp“ Leitsatz.

A. Einleitung

Die Justiz befindet sich im Umbruch. Mit Einführung des ERV-Gesetzes,1 des EGovG2 und nicht zuletzt mit Vorlage des neuen StPO-E3 soll das digitale Zeitalter im Bereich der Justiz eingeleitet werden. Im Vordergrund steht dabei u.a. die umfassende digitale Erreichbarkeit der professionellen Justizteilnehmer.4

Neben diversen Vorteilen, wie Beschleunigung der Kommu-nikation oder Unterstützung bei der Umsetzung der Barrie-refreiheit,5 ergeben sich aus dieser geplanten umfassenden Vernetzung allerdings auch vielfältige neue Gefährdungs-lagen und damit neue Bedrohungspotenziale. Die rasante Entwicklung der Informationstechnik fördert sowohl An-zahl als auch Vielfalt der digitalen Angriffsmöglichkeiten. Ein Ende dieser Entwicklung ist noch nicht in Sicht.

Bereits jetzt gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Angriffs-methoden auf IT-Systeme. Täglich nutzen Angreifer die Ano-nymität des Internets, um bspw. Systeme mit Viren oder Tro-janern zu infizieren und unbemerkt Daten abzufangen bzw. zu manipulieren. Zu einer ernst zu nehmenden Bedrohung haben sich insbesondere auch Cyber-Angriffe durch sog.

Ransomware entwickelt.6 Dabei handelt es sich um Schad-software, die Daten verschlüsselt oder die Nutzung von Com-putern bzw. mobilen Geräten verhindert.7 Für die Wieder-erlangung der Herrschaft über das infizierte Gerät wird regelmäßig die Zahlung eines Lösegeldes – zumeist in Form anonymer Zahlungsmittel wie Bitcoins8 – verlangt. Das Bun-desamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) stellte

1 Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Ge-richten vom 10.10.2013.

2 Gesetz zur Förderung der elektronischen Verwaltung vom 25.07.2013.3 Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in

Strafsachen und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechts-verkehrs vom 06.05.2016.

4 Normalbürger können nicht zur Teilnahme am ERV verpflichtet wer-den – vgl. Krüger/Vogelgesang in: Tagungsband des 18. Internationa-len Rechtsinformatik Symposions (IRIS), 2015, S. 263 ff.

5 Krüger/Sorge, NJW 2015, 2764 ff.6 Nutzung von Ransomware war auch Thema des 3. Kommunalen IT-

Sicherheitskongresses in Berlin vom 09.-10.05.2016 – vgl. Stokias, ZD-Aktuell 2016, 05146.

7 Young/Yung in: Proceedings 1996 IEEE Symposium on Security and Privacy, S. 133 f.

8 Rückert, MMR 2016, 295.

Ransomware als moderne Piraterie – Erpressung in Zeiten digitaler Kriminalität

Wiss. Mit. Stephanie Vogelgesang und Wiss. Mit. Frederik Möllers, M.Sc.

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unlängst fest, dass Ransomware für Cyberkriminelle ein seit Jahren etabliertes Geschäftsmodell ist.9 Betroffen sind neben Privatpersonen auch Unternehmen, Krankenhäuser, Stadt-verwaltungen oder andere Institutionen. Auch für den Justiz-bereich können die Folgen eines solchen Angriffs verheerend sein. So könnte etwa ein gesperrter Zugriff zu Gerichtsakten den Verlauf eines Verfahrens massiv beeinflussen.

Infektionen mit Ransomware sind – auch bei öffentlichen Be-hörden – längst in der Realität angekommen. So musste bspw. das Einwohnermeldeamt der Stadt Dettelbach vorüber-gehend geschlossen werden, da eine Erpressungs-Software am 08.02.2016 die Arbeitsabläufe der Stadtverwaltung zum Erliegen brachte.10 Mitte April 2016 wurden beim Verfas-sungsschutz von Sachsen-Anhalt u.a. mehrere Arbeitsplatz-Computer mit einer Erpressungs-Software verschlüsselt.11

Die nachfolgenden Ausführungen konzentrieren sich auf Angriffe unter Zuhilfenahme von Ransomware. Dabei wer-den zunächst die technischen Grundlagen dieser Schad-software erläutert, ihre Funktionsweise näher dargestellt und verschiedene Erpressungsmethoden aufgezeigt. Die im Anschluss folgende strafrechtliche Analyse konzentriert sich dabei auf eine typische Form von Ransomware-Angrif-fen. Abschließend werden Schutzmöglichkeiten skizziert, um diesen Angriffen vorzubeugen.

B. Technische Grundlagen

I. Zur Historie

Die Idee der digitalen Erpressung ist nicht neu. Bereits im Jahr 1989 wurde mit dem AIDS-Trojaner12 eine Software in Umlauf gebracht, die den Opfern nach einiger Zeit den Zu-griff auf ihren PC verweigerte und die eine Entsperrung nur nach Zahlung einer Lizenzgebühr in Aussicht stellte. Um eine Entfernung zu erschweren, verschlüsselte der AIDS-Trojaner die Namen der Dateien auf der Festplatte und ver-steckte sie in einer unsichtbaren Ordnerstruktur.13

1996 beschrieben Young und Yung14 bereits einige grund-legende Vorgehensweisen für die Entwicklung und den „Betrieb“ einer Erpressungs-Software. Auch heutige Imple-mentierungen bauen auf diesen Grundsätzen auf.

II. Zur technischen Funktionsweise

Ransomware lässt sich grob in zwei Kategorien unterteilen.

Auf der einen Seite steht einfache Scareware15 (auch als Lockscreen Ransomware bezeichnet), die keine oder nur einfach reversible Modifikationen an den Daten des Nut-zers vornimmt und sich rückstandslos entfernen lässt. Bei dem oben genannten AIDS-Trojaner handelte es sich bspw. um eine solche Scareware, auch wenn es einige Zeit dauer-

te, bis ein Verfahren zur Umkehrung der Veränderungen öffentlich verfügbar war. Unter die Kategorie Scareware fällt auch der BKA-Trojaner.16 Dieser erweckt den Eindruck, es seien belastende Informationen im Zusammenhang mit Kinderpornografie auf dem Rechner des Nutzers gefunden worden. Die meisten Implementierungen von Scareware weisen schon gar keine Funktionalität auf, um das Pro-gramm bei Zahlung des Lösegeldes wieder zu entfernen. Stattdessen verlassen sich die Autoren auf die Furcht der Nutzer und eine schnelle Verbreitung. Es sollen möglichst hohe Gewinne erzielt werden, bevor bekannt wird, dass eine Zahlung des Lösegeldes sinnlos ist.

Dem gegenüber stehen die Krypto-Trojaner, die sehr viel komplexere Verfahren verwenden, um den Zugriff auf die Daten des Nutzers zu unterbinden. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf die Betrachtung dieser Art der Ran-somware. Die verschiedenen Implementierungen der letz-ten Jahre, wie etwa CryptoLocker, Locky oder CTB-Locker, folgen größtenteils der Idee von Young und Yung.17 Über einen der üblichen Malware-Kanäle, wie bspw. Spam-E-Mails, wird die Software verteilt. Daraufhin verankert sie sich im System, um Neustarts des Rechners zu überstehen, und nimmt ihre Arbeit auf. Zunächst wird von einem sog. Command & Control Server der öffentliche Schlüssel eines asymmetrischen Schlüsselpaars angefordert. Bei einem Command & Control Server handelt es sich um ein öffent-lich erreichbares System, über das die Autoren ihre Mal-ware steuern können. Um dem Zugriff durch Strafverfol-gungsbehörden zu entgehen, werden die Server häufig gewechselt oder in Rechenzentren platziert, die eine Zu-sammenarbeit mit den Behörden erschweren oder verwei-gern. Ein asymmetrisches Schlüsselpaar besteht aus einem öffentlichen und einem privaten Schlüssel. Der öffentliche Schlüssel kann verwendet werden, um Daten zu verschlüs-

9 Dazu und zum Folgenden BSI, Lagedossier Ransomware, Stand: Mai 2016, 8.

10 Spiegel, 03.03.2016, http://www.spiegel.de/netzwelt/web/ransomwa-re-teslacrypt-stadtverwaltung-dettelbach-zahlt-loesegeld-a-1080528.html (zuletzt abgerufen am 28.07.2016).

11 Mitteldeutsche Zeitung, Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt – Ge-heimdienst gehackt, 29.04.2016, http://www.mz-web.de/mittel-deutschland/verfassungsschutz-sachsen-anhalt-geheimdienst-ge-hackt-23979024 (zuletzt abgerufen am 28.07.2016).

12 Slade, Robert Slade’s Guide to Computer Viruses, 2. Aufl. 1996, S. 53, 54.13 Solomon/Nielson/Meldrum, AIDS Technical Info, ftp://coast.cs.pur-

due.edu/pub/doc/general/aids.tech.info (zuletzt abgerufen am 28.07.2016).

14 Young/Yung in: Proceedings 1996 IEEE Symposium on Security and Privacy, S. 133 f.

15 Giles, New Scientist 2753/2010, 38 ff.16 Ziercke in: Festschrift für Kempf, 2016, S. 229 ff.17 Young/Yung in: Proceedings 1996 IEEE Symposium on Security and

Privacy, S. 133 f.

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seln. Diese lassen sich dann nur mithilfe des privaten Schlüssels entschlüsseln. Die bekannteste Umsetzung solch eines Verfahrens ist das RSA-System.18 Nachdem die Ran-somware den öffentlichen Schlüssel erhalten hat, beginnt sie, persönliche Dateien des Opfers – üblicherweise über die Dateiendung – zu suchen. Ziele sind zumeist Dokumen-te von Office-Produkten (.doc, .docx, .odt) sowie Bilder (.jpg) und Musik (.mp3, .m4a). Eine Abweichung dazu stellt z.B. das Programm TeslaCrypt dar, welches gezielt Speicher-daten von Computerspielen befällt. In aller Regel sind je-doch Systemdateien ausgenommen, um die Grundfunktion des Computers nicht zu stören und den Nutzer nicht durch auffälliges Verhalten des Rechners zu alarmieren. Es wer-den lediglich die für das Opfer mutmaßlich wichtigsten Dateien unter Verwendung des öffentlichen Schlüssels ver-schlüsselt.

III. Einzelne Erpressungsmethoden

Signifikante Unterschiede zwischen verschiedenen Imple-mentierungen von Krypto-Trojanern gibt es in der Erpres-sungsmethode.

In der einfachsten Form, welche bspw. die Autoren von Lo-cky verwenden, wird der Nutzer lediglich aufgefordert, das Lösegeld zu bezahlen. Nach der Zahlung erhält er den not-wendigen privaten Schlüssel, um seine Daten wiederherzu-stellen. Es sind weder ein Zeitlimit noch weitere Drohungen in der Nachricht enthalten.

Viele Implementierungen – darunter CTB-Locker19 und CryptoWall20 – weisen eine „fortgeschrittene“ Lösegeld-forderung auf. Der Nutzer hat nur begrenzt Zeit, die initiale Lösegeldforderung zu erfüllen. In einigen Fällen nutzen die Autoren der Ransomware dieses Zeitlimit lediglich, um den Benutzer zusätzlich unter Druck zu setzen. Der Ablauf des Countdowns hat keine Auswirkungen auf die Möglichkei-ten der Entschlüsselung oder das Lösegeld. In anderen Fäl-len wiederum (so bei CryptoWall) erhöht sich die Lösegeld-forderung nach Ablauf der Zeit jedoch. Der Nutzer soll dadurch zu einer schnellen Zahlung bewegt werden.

Eine neue Dimension der Bedrohung stellt der Krypto-Trojaner JIGSAW21 dar. Diese besonders destruktive Ransomware be-ginnt bereits nach einer Stunde mit der unwiderruflichen Lö-schung von Dateien. Dabei werden jede Stunde mehr Dateien gelöscht. Die Anzahl der Dateien, die auf einen Schlag ge-löscht werden, steigt dabei exponentiell an. Startet der Be-nutzer seinen PC neu oder beendet das Programm, werden beim nächsten Start 1.000 Dateien auf einmal gelöscht.

Seltene Varianten von Krypto-Trojanern werden mit einem zusätzlichen Modul ausgeliefert, welches Informationen auf dem Rechner abgreift und an den Angreifer sendet.22 Diese werden im vorliegenden Rahmen allerdings nicht erörtert.

C. Zur strafrechtlichen Beurteilung

Zu den typischen Strukturmerkmalen eines Ransomware-An-griffs gehört es, dass fremde Daten verschlüsselt werden und das Opfer zur Zahlung eines Lösegelds aufgefordert wird. Dieser Grundfall soll im Folgenden unter strafrechtlichen Ge-sichtspunkten gewürdigt werden. Die Ausführungen konzen-trieren sich dabei auf die Straftatbestände des Strafgesetz-buches (StGB). Das englischstämmige Wort „Ransom“ bedeutet übersetzt Lösegeld. Ransomware weist damit in-haltlich auf den klassischen Straftatbestand des § 253 StGB hin, der im Folgenden zunächst im Vordergrund steht.

Ransomware-Angriffe wären jedoch ohne einen Bezug zur modernen Technik, insbesondere zum Internet, nicht mög-lich. Computer und Computernetzwerke können dabei nicht nur Tatmittel, sondern auch Ziel eines Angriffs sein. Unter diesem Aspekt rüstete der Gesetzgeber bereits in den 80er Jahren das StGB digital auf,23 indem er Tatbestände wie § 202a StGB (Ausspähen von Daten), § 303a StGB (Datenver-änderung) oder § 303b StGB (Computersabotage) einführte. Damit legte er den Grundstein für das sog. Computerstraf-recht.24 Dabei zeigt die nähere Analyse, dass die Sanktionie-rung technischer Angriffe durch strafrechtliche Normen, die z.B. dem Bestimmtheitsgrundsatz unterliegen, mit spezifi-schen Schwierigkeiten verbunden ist. Diese methodischen und inhaltlichen Besonderheiten sollen hier im Zusammen-hang mit § 303b bzw. § 202a StGB herausgearbeitet werden.

I. Klassische Straftatbestände

1. Erpressung, § 253 StGB

Mit den typischen Ransomware-Angriffen wird ein klares Ziel verfolgt: Der Täter verschlüsselt die Daten des Opfers. Eine Zu-griffsmöglichkeit – so die Mitteilung an das Opfer – wird erst

18 Rivest/Shamir/Adleman, Commun. ACM 1978, 120 ff.19 Noble, Support Perspective: CTB-Locker and Other Forms of Crypto

Malware … and Upatre, 20.01.2015, http://www.symantec.com/connect/blogs/support-perspective-ctb-locker-and-other-forms-cryp-to-malwareand-upatre (zuletzt abgerufen am 28.07.2016).

20 Wyke/Ajjan, The Current State of Ransomware, 09.12.2015, https://www.sophos.com/en-us/medialibrary/PDFs/technical%20papers/sophos-current-state-of-ransomware.pdf?la=en, S. 3 ff. (zuletzt ab-gerufen am 28.07.2016).

21 Sumalapao, New Crypto-Ransomware JIGSAW Plays Nasty Games, 19.04.2016, http://blog.trendmicro.com/trendlabs-security-intelligen-ce/jigsaw-ransomware-plays-games-victims/ (zuletzt abgerufen am 28.07.2016).

22 Oliver/Chen, Why Ransomware Works: Arrival Tactics, 27.06.2016, http://blog.trendmicro.com/trendlabs-security-intelligence/ransom-ware-arrival-methods/ (zuletzt abgerufen am 28.07.2016).

23 Möllers/Vogelgesang, DuD 2016, 500.24 Zur Entwicklung Haug, Grundwissen Internetrecht, 3. Aufl. 2016,

S. 136 f.

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dann wiederhergestellt, wenn das geforderte Lösegeld gezahlt wird. Geschieht dies, liegt eine vollendete Erpressung i.S.d. § 253 StGB vor.25 Die mitverwirklichte Nötigung, § 240 StGB, tritt auf Konkurrenzebene hinter § 253 StGB zurück.26

Wird der Forderung nicht nachgekommen, liegt zumindest eine versuchte Erpressung i.S.d. § 253 Abs. 1, Abs. 3 StGB vor.

In Betracht kommt oftmals auch eine Strafschärfung nach § 253 Abs. 4 Satz 2 StGB. Ein besonders schwerer Fall liegt i.d.R. vor, wenn der Angreifer gewerbsmäßig handelt, wenn er sich also mit den von ihm verübten Erpressungen eine laufen-de Einnahmequelle von einigem Gewicht verschaffen wollte.27

Nicht erfüllt sind typischerweise bei Ransomware-Angriffen die Voraussetzungen des § 255 StGB. Es liegt keine Gewalt unmittelbar gegen eine Person vor. Gewalt gegen Sachen reicht für § 255 StGB nicht aus. Daher kann offenbleiben, ob eine Sachqualität bei Daten überhaupt bejaht werden kann.28

2. Betrug, § 263 StGB

Mit berücksichtigt werden soll auch die Variante, dass der Tä-ter von vornherein nicht beabsichtigt, trotz Zahlung des ge-forderten Lösegeldes die verschlüsselten Daten des Opfers wiederherzustellen. Darin liegt eine Betrugshandlung i.S.d. § 263 Abs. 1 StGB. Gegeben sind die zentralen Betrugsmerkmale Täuschung über Tatsachen, Irrtum, Vermögensverfügung und Schaden. In der bewusst falschen Mitteilung an das Opfer, bei Zahlung würde der alte Zustand wiederhergestellt werden, liegt eine Täuschung gegenüber einer natürlichen Person.

In § 263 Abs. 3 StGB sind auch besonders schwere Fälle ver-typt. In Betracht kommen bei Ransomware-Angriffen insbe-sondere Nr. 1 (gewerbsmäßig), Nr. 2 (Vermögensverlust gro-ßen Ausmaßes), Nr. 3 (wirtschaftliche Not beim Opfer).

In dieser Variante scheidet daneben § 263a StGB schon aus Konkurrenzgründen aus.29 § 263a StGB kommt ledig-lich ein Auffangcharakter zu und ist gegenüber § 263 StGB subsidiär.30

II. Computerstrafrecht

1. Computersabotage, § 303b StGB

§ 303b Abs. 1 StGB enthält drei Tatvarianten.

a. Zu den Voraussetzungen des § 303b Abs. 1 Nr. 1 StGB

§ 303b Abs. 1 Nr. 1 StGB stellt zu § 303a StGB eine Qualifika-tion dar.31 § 303b Abs. 1 Nr. 1 StGB setzt voraus, dass der Angreifer eine Datenverarbeitung, die für einen anderen von wesentlicher Bedeutung ist, dadurch erheblich stört, dass er eine Tat nach § 303a Abs. 1 begeht. Daher müssen zunächst die Voraussetzungen des § 303a StGB vorliegen.

Nach § 303a StGB wird bestraft, wer rechtswidrig Daten (§ 202a Abs. 2 StGB) löscht, unterdrückt, unbrauchbar macht oder verändert. § 303a StGB stellt das Pendant zur Sachbe-schädigung gem. § 303 StGB dar und wird dementsprechend auch als „virtuelle32 oder elektronische33 Sachbeschädi-gung“ bezeichnet. Im Gegensatz zu § 303 StGB setzt § 303a StGB seinem Wortlaut nach allerdings nicht die Fremdheit der Daten voraus. Dies würde bei eigenen Daten jedoch zu unvertretbaren Ergebnissen führen.34 Aus diesem Grund wird der Tatbestand aus Bestimmtheitsgesichtspunkten da-hin gehend eingeschränkt, dass nur fremde Daten von § 303a StGB erfasst werden.35

In Betracht kommt zunächst die Tatbestandsvariante „Ver-ändern von fremden Daten“. Dies umfasst jede inhaltliche Umgestaltung gespeicherter Daten, aber auch den Aus-tausch von Klartext und Code.36 Mit der Verschlüsselung der Daten liegt jedenfalls eine Veränderung vor, da der Klar-text durch die verschlüsselten Daten ausgetauscht wird. Da an den Daten auch ein unmittelbares Recht einer anderen Person auf Verarbeitung, Löschung oder Nutzung besteht, sind sie für den Angreifer fremd.37

Damit kann die Frage offenbleiben, ob in der Modifikation der Systemkonfiguration – als Folge der Verankerung der Malware – ebenfalls ein Verändern von Daten liegt.

In Betracht kommt weiter die Tatbestandsalternative „Unterdrücken von fremden Daten“. Ein Unterdrücken liegt vor, wenn Daten dem Zugriff des Verfügungs- oder Nut-zungsberechtigten und damit seiner Verwendung auf Dau-er oder auch nur vorübergehend entzogen werden.38 Da der Berechtigte die Daten ohne den passenden Schlüssel nicht wieder entschlüsseln kann, wird ihm auch der Zugriff zumindest vorübergehend entzogen. Deswegen kann er die Daten auch nicht mehr verwenden.

Im Ergebnis erfüllen Angriffe unter Zuhilfenahme von Ran-somware den objektiven Tatbestand des § 303a StGB in den beiden Alternativen „Verändern von Daten“ und

25 Fischer, StGB, 63. Aufl. 2016, § 253 Rn. 9.26 Fischer, StGB, 63. Aufl. 2016, § 253 Rn. 25.27 LG Düsseldorf, Urt. v. 22.03.2011 - 3 KLs 1/11.28 Vogelgesang, jM 2016, 2 ff.; Ellenberger in: Palandt, BGB, 75. Aufl.

2016, § 90 Rn. 2.29 Fischer, StGB, 63. Aufl. 2016, § 263a Rn. 38 ff.30 Schmidt in: BeckOK StGB, 31. Edition 2016, § 263a Rn. 4.31 BT-Drs. 10/5058, S. 36.32 Malek/Popp, Strafsachen im Internet, 2. Aufl. 2015, S. 52.33 Bär, DRiZ 2015, 433.34 Fischer, StGB, 63. Aufl. 2016, § 303a Rn. 4 m.w.N.35 Fischer, StGB, 63. Aufl. 2016, § 303a Rn. 4a, 4b, 5; dazu auch Möllers/

Vogelgesang, DuD 2016, 501.36 Fischer, StGB, 63. Aufl. 2016, § 303a Rn. 12.37 Fischer, StGB, 63. Aufl. 2016, § 303a Rn. 4a.38 Wieck-Noodt in: MünchKomm StGB, 2. Aufl. 2014, § 303a Rn. 13.

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„Unterdrücken von Daten“. Das Vorliegen von zwei Tatbe-standsvarianten überrascht im Ergebnis nicht. Der Gesetz-geber hat bei der Konzeption des § 303a StGB Überschnei-dungen bei den Tatbestandsalternativen bewusst in Kauf genommen.39 Damit wollte er Strafbarkeitslücken verhin-dern und jede denkbare Beeinträchtigung des Bestandes der geschützten Daten erfassen.

Daneben müssen die allgemeinen Voraussetzungen des § 303b Abs. 1 StGB vorliegen, also eine Datenverarbeitung, die für einen anderen von wesentlicher Bedeutung ist.

Der Begriff Datenverarbeitung ist dabei weit auszulegen und umfasst nicht nur den einzelnen Datenverarbeitungsvor-gang, sondern auch den weiteren Umgang mit Daten und deren Verwertung.40 Computer sind von ihrem Grundkon-zept zur Dateneingabe und anschließender Bearbeitung der Daten ausgerichtet. Aufgrund dessen ist hier das Merkmal Datenverarbeitung i.S.d. § 303b Abs. 1 StGB zu bejahen.41

Die Datenverarbeitung muss zusätzlich für einen anderen von wesentlicher Bedeutung sein. Damit sollen Bagatellfälle aus dem Bereich von § 303b Abs. 1 StGB ausgeschlossen sein.42 Die Bejahung eines Bagatellfalls kann an sich erst nach genauer Prüfung der Umstände des jeweiligen Einzel-falls erfolgen. Hier geht es um eine typisierende Betrach-tungsweise. Durch Ransomware-Angriffe soll ein akutes und erhebliches Bedrohungspotenzial vermittelt werden, damit das Opfer den Forderungen auch nachkommt. Der Angreifer wird daher i.d.R. auf solche Datenverarbeitungen abzielen, die der Bewältigung von zentralen Aufgaben dienen. Diese erfüllen typischerweise das Tatbestandsmerkmal „von we-sentlicher Bedeutung“.43 Insbesondere wird die Wesentlich-keit nicht schon dadurch beseitigt, dass die Funktion der Ein-richtung auf andere Weise sichergestellt werden kann.44

Die Tat muss zudem eine erhebliche Störung der Datenver-arbeitung zur Folge haben. Eine Störung ist gegeben, wenn der reibungslose Ablauf der Datenverarbeitung nicht nur un-erheblich beeinträchtigt ist.45 Es genügt, wenn die Datenver-arbeitung in ihrer Funktionsfähigkeit verletzt wird.46 Bei An-griffen unter Zuhilfenahme von Ransomware werden vorhandene Daten verschlüsselt und der Zugriff auf diese verhindert. Eine Störung i.S.d. § 303b StGB liegt damit vor.

Um nicht jede geringfügige Einwirkung zu sanktionieren, muss die Störung der Datenverarbeitung als solche noch er-heblich sein.47 Diese Erheblichkeitsgrenze wird nicht erreicht, wenn die Schadsoftware – bspw. bei Verfügbarkeit des ent-sprechenden Schlüssels zum Entschlüsseln der Daten – ohne großen Aufwand an Zeit, Mühe und Kosten beseitigt werden kann.48 Davon ist bei professionell geführten Ransomware-Angriffen jedoch gerade nicht auszugehen.

b. Zu den Voraussetzungen des § 303b Abs. 1 Nr. 2 StGB

Voraussetzung für § 303b Abs. 1 Nr. 2 StGB ist, dass der An-greifer Daten (§ 202a Abs. 2) in der Absicht, einem anderen Nachteil zuzufügen, eingibt oder übermittelt. Da der Angrei-fer die Schadsoftware grds. auf einem Computer vorhält und diese dann über einen geeigneten Kanal (bspw. Spam-E-Mails) an das Opfer sendet, liegt eine Übermittlung von Daten vor. Gegeben ist auch die Absicht, einem anderen einen Nachteil zuzufügen. Nachteil ist dabei jede Beeinträch-tigung berechtigter Interessen, ein Vermögensschaden wird nicht vorausgesetzt.49 Bereits die Verschlüsselung der Daten durch den Täter erfüllt diese Voraussetzungen. Dies gilt umso mehr für die Forderung eines Lösegeldes.

c. Zu den Voraussetzungen des § 303b Abs. 1 Nr. 3 StGB

Angriffe unter Zuhilfenahme von Ransomware fallen da-gegen zumeist nicht unter § 303b Abs. 1 Nr. 3 StGB. Diese Alternative setzt voraus, dass der Angreifer eine Datenver-arbeitungsanlage oder einen Datenträger zerstört, beschä-digt, unbrauchbar macht, beseitigt oder verändert. Es könn-te das Merkmal der Veränderung naheliegen. Nach h.M. ist der Tatbestand allerdings nur erfüllt, wenn der Einsatz von Sabotageprogrammen direkte Auswirkungen auf die Hard-ware hat, z.B. durch Zerstörung einer Festplatte.50 Dies ist bei derartigen Angriffen i.d.R. nicht der Fall.

2. Ausspähen von Daten, § 202a StGB

Nach § 202a Abs. 1 StGB macht sich strafbar, wer sich oder einem anderen unbefugt Zugang zu Daten, die nicht für ihn bestimmt und gegen unberechtigten Zugang besonders ge-sichert sind, unter Überwindung einer Zugangssicherung verschafft. In diesem Zusammenhang ist bei Ransomware-Angriffen eine Besonderheit zu beachten: Der Täter will nicht Kenntnis vom Inhalt der Daten des Opfers erlangen,

39 Dazu und zum Folgenden Fischer, StGB, 63. Aufl. 2016, § 303a Rn. 8.40 BT-Drs. 10/5058, S. 35.41 Zu den zahlreichen Abgrenzungsproblemen im Einzelnen Fischer,

StGB, 63. Aufl. 2016, § 303b Rn. 4 ff.42 Zu dieser Filterfunktion BT-Drs. 16/3656, S. 13.43 Heger in: Lackner/Kühl, StGB, 28. Aufl. 2014, § 303b Rn. 2.44 Fischer, StGB, 63. Aufl. 2016, § 303b Rn. 8.45 Fischer, StGB, 63. Aufl. 2016, § 303b Rn. 9.46 Wieck-Noodt in: MünchKomm StGB, 2. Aufl. 2014, § 303b Rn. 19.47 Hilgendorf/Valerius, Computer- und Internetstrafrecht, 2. Aufl. 2012,

S. 180.48 Stree/Hecker in: Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl. 2014, § 303b Rn. 9.49 Fischer, StGB, 63. Aufl. 2016, § 303b Rn. 12a.50 Weidemann in: BeckOK StGB, 31. Edition 2016, § 303a Rn. 13; Fischer,

StGB, 63. Aufl. 2016, § 303b Rn. 13.

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sondern diese verschlüsseln. Typischerweise fehlt ihm auch die technische Möglichkeit einer Kenntnisnahme. Fraglich ist daher, ob diese Möglichkeit Voraussetzung für eine Strafbarkeit nach § 202a StGB ist. Dies ist im Ergebnis zu verneinen.51 Für diese Auffassung spricht insbesondere, dass durch die Neufassung des § 202a StGB („sich Zugang verschaffen“) die Strafbarkeit gegenüber dem früheren Zu-stand vorverlagert werden sollte.52

Berücksichtigt werden muss aber, dass weiterhin das Tat-bestandsmerkmal „Überwindung einer Zugangssicherung“ vorliegen muss. Dies ist bei Ransomware-Angriffen übli-cherweise nicht der Fall: I.d.R. gelangt die Ransomware in Form eines trojanischen Pferdes auf den Rechner, also in Form einer augenscheinlich harmlosen oder gar nützlichen Datei, die vom Opfer freiwillig ausgeführt wird.

Anders gestaltet sich z.B. der Fall, wenn der Autor der Ransom-ware Mechanismen integriert, um bestehende Schutzmaßnah-men wie Anti-Viren-Programme zu umgehen. Diese stellen tatbestandlich eine besondere Zugangssicherung dar53 und eröffnen die Möglichkeit einer Bestrafung nach § 202a StGB.

D. Zu möglichen Schutzmaßnahmen

Ransomware-Angriffe werden grds. durch das Strafrecht erfasst. Die Angreifer nutzen die Anonymität des Internets, agieren typischerweise im Verborgenen und verstecken sich z.B. hinter Anonymisierungsdiensten. Eine Strafverfolgung der Täter erweist sich daher oft als schwierig. Auch deshalb kommt dem Konzept „Prävention durch Schutzmaßnah-men“ eine besondere Bedeutung zu.

I. Achtsamkeit im Umgang mit dem Computer

Schutz vor Malware jeglicher Art, insbesondere Ransomwa-re, kann durch die Beachtung grundlegender Regeln im Umgang mit Computern und Internetanwendungen er-reicht werden. Da Ransomware in aller Regel durch eine unbewusste Aktion des Nutzers auf das System gelangt, ist die Verhinderung gerade dieser Aktionen die effektivste Maßnahme zur Unterbindung einer Infektion. Öffnet der Nutzer also bspw. nicht den Anhang einer dubiosen E-Mail, so wird die Malware gar nicht erst gestartet und kann sich somit auch nicht auf dem System verankern.

II. Anti-Viren-Programm und aktuelle Software

Essenziell für einen umfassenden Schutz ist außerdem aktu-elle Software, darunter auch ein aktuelles Anti-Viren-Pro-gramm. Wird eine neue Ransomware publik, untersuchen die Hersteller von Anti-Viren-Software diese und stellen eine Sammlung von digitalen „Fingerabdrücken“ zusammen, welche die Dateien identifizieren, in denen das Programm

versteckt ist. Diese können dann in das Anti-Viren-Programm integriert werden. Erkennt der Rechner nun eine entspre-chende Datei, kann die schädliche Aktivität sofort verhindert werden. Andere Infektionskanäle über Sicherheitslücken (bspw. Drive-By-Downloads) können durch Aktualisierungen der entsprechenden Software unterbunden werden.

Einen hundertprozentigen Schutz können auch Anti-Viren-Programme nicht bieten. Insbesondere vor neuen, noch un-bekannten Varianten von Ransomware schützen sie nur selten. Zwar verwenden die meisten Hersteller Heuristiken, um auch neue Malware anhand ihres auffälligen Verhaltens zu erkennen. Diese finden jedoch nicht jeden Schädling.

In jedem Fall ist es wichtig, das jeweilige Anti-Viren-Pro-gramm auf dem neuesten Stand zu halten und Aktualisie-rungen möglichst zeitnah einzuspielen. Für die Zeit vom Erscheinen einer neuen Ransomware und dem Moment, in dem die entsprechenden „Fingerabdrücke“ im Anti-Viren-Programm vorliegen, ist das System weiterhin verwundbar.

III. Regelmäßige Datensicherungen

Den zuverlässigsten Schutz vor Angriffen dieser Art bieten re-gelmäßige Datensicherungen. Da der Benutzer diese selbst veranlassen und kontrollieren kann, ist er nicht von der Arbeitsgeschwindigkeit der Anti-Viren-Hersteller abhängig. Hat ein Nutzer eine aktuelle Sicherung und wird Opfer eines Ransomware-Angriffs, kann er die Daten einfach selbst wie-derherstellen. Probleme können entstehen, wenn die Daten-sicherungen veraltet sind. Unter Umständen geht so die Arbeit mehrerer Tage oder gar Wochen verloren. Des Weiteren sollte darauf geachtet werden, dass zwischen dem Speicher-medium und dem PC keine permanente Verbindung besteht. Die überwiegende Mehrheit der Ransomware-Implementie-rungen verschlüsselt nicht nur Daten auf der Festplatte des Rechners selbst, sondern auch auf mobilen Datenträgern, welche zur Zeit der Infektion mit dem System verbunden sind. Darüber hinaus werden auch Netzlaufwerke befallen, zu denen der Rechner während des Befalls eine Verbindung hält.

IV. Brechen der Verschlüsselung

Nicht jede Ransomware ist das Werk eines professionellen Autors oder einer Gruppe fachkundiger Programmierer. In einigen Fällen gelang es Malware-Spezialisten, Fehler in der Implementierung eines Krypto-Trojaners zu entdecken. Dies eröffnet die Möglichkeit, die Verschlüsselung der Soft-

51 Gercke in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 3. Aufl. 2015, § 202a Rn. 6.

52 DT-Drs. 16/3656, S. 9.53 Herrmann, Das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit

und Integrität informationstechnischer Systeme: Entstehung und Per-spektiven, 2010, S. 206 f.

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ware ohne Kenntnis des privaten Schlüssels umzukehren. So hat bspw. die Firma Kaspersky eine Webseite54 einge-richtet, auf der sie Programme zur Entschlüsselung befalle-ner Systeme kostenlos bereitstellt.

Um ein solches Entschlüsselungsprogramm zu erstellen, ist eine genaue Analyse der Ransomware erforderlich. Dies geschieht über das sog. Reverse Engineering, bei dem die Funktionsweise des Programms durch verschie-dene Analysemethoden rekonstruiert wird,55 sowie durch die genaue Betrachtung der Netzwerkaktivität eines infi-zierten Systems.56

E. Fazit

Bei Ransomware handelt es sich um Erpressungs-Software. Der Zugriff des Opfers auf seine Computerdaten wird ver-hindert. Für die Wiedererlangung der Herrschaft über die

Daten wird regelmäßig die Zahlung eines Lösegeldes ver-langt. Ransomware-Angriffe stellen eine aktuelle und nicht zu unterschätzende Bedrohung dar. Aufgrund der geplanten umfassenden digitalen Vernetzung wird sich auch die Justiz mit dieser Problematik auseinandersetzen müssen. Der Über-blick hat gezeigt, dass Ransomware-Angriffe durch das Straf-recht erfasst werden – und zwar sowohl durch klassische Tatbestände wie § 253 StGB als auch durch Normen des sog. Computerstrafrechts. Schwierig gestaltet sich dagegen die tatsächliche Verfolgung der Täter, die sich typischerweise hinter Anonymisierungsdiensten verstecken. Werden jedoch einige präventive Schutzmaßnahmen beachtet, lässt sich eine Erpressungssituation weitgehend verhindern.

54 Kaspersky Lab, Ransomware Decryptor, https://noransom.kaspersky.com (zuletzt abgerufen am 28.07.2016).

55 Kharraz et al. in: Proceedings DIMVA 2015, S. 3 ff.56 Rossow et al. in: Proceedings BADGERS 2011, S. 78 ff.

Bislang besteht keine bundesrechtliche Rechtsgrundlage für die Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs (ERV) und der elektronischen Akte (eAkte) in Strafsachen. Die Bundesregierung hat den dritten Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der eAkte in Strafsachen und zur weiteren Förderung des ERV am 04.05.20161 vorgelegt. Inhaltlich er-geben sich maßgebliche Veränderungen zu den beiden frü-heren Referentenentwürfen aus den Jahren 20122 und 2014.3 Insbesondere werden in dem aktuellen Entwurf im Gegensatz zu den früheren Gesetzgebungsvorhaben alle Strafverfolgungsbehörden, mithin alle Polizeibehörden des Bundes und der Länder, in den Anwendungsbereich der ver-pflichtenden eAktenführung einbezogen.

Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 04.05.2016 soll auch im Strafverfahren die gesetzliche Grundlage für die eAktenführung und den ERV mit Ermittlungsbehörden und Strafgerichten geschaffen werden. Durch das Gesetz zur För-derung des ERV (FördERV) vom 10.10.20134 wurden bereits für alle anderen Verfahrensordnungen der ordentlichen Ge-richtsbarkeit und der Fachgerichtsbarkeit die Gesetzesgrund-lage und insbesondere der verbindliche zeitliche Fahrplan für die Einführung des ERV geschaffen. Indes hat der Gesetzgeber damals noch keine verpflichtende Einführung der eAktenfüh-

Gesetzentwurf zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs –

Digitalisierung der Strafjustiz

RiOLG Eric Werner

rung normiert. Neben der Harmonisierung der Vorschriften über die Einführung des ERV will der Bundesgesetzgeber mit dem vorliegenden Regierungsentwurf sogleich den Zeitplan für die verpflichtende Einführung der eAktenführung bis spä-testens zum Jahr 2026 festlegen. Die verpflichtende Einfüh-rung der eAktenführung in den übrigen Verfahrensordnungen soll hingegen einem gesonderten Gesetzgebungsverfahren vorbehalten bleiben.5 Der Bundesrat hat aber auf Empfehlung des federführenden Rechtsausschusses6 in seiner Stellungnah-me vom 17.06.2016 darum gebeten, im weiteren Gesetzge-bungsverfahren die verbindliche eAktenführung in allen ge-richtlichen Verfahrensordnungen ab dem 01.01.2026 vorzusehen, da eine Beschränkung auf Straf- und Bußgeldsa-chen inkonsequent erscheine.7

1 BT-Drs. 236/16.2 Referentenentwurf Gesetz zur Einführung der eStrafakte vom

18.11.2012.3 Referentenentwurf Gesetz zur Einführung der eStrafakte vom

23.09.2014.4 Vgl. BGBl. I 2013, 3786, Nr. 62 vom 10.10.2013.5 BT-Drs. 236/16: Gesetzentwurf zur Einführung der eAkte in Strafsa-

chen und zur weiteren Förderung des ERV vom 04.05.2016, B., Abs. 1.6 BR-Drs. 236/16, Erläuterungen zu TOP 29, S. 29 f.7 BR-Drs. 236/16, Stellungnahme vom 17.06.2016.

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Ferner werden mit dem Regierungsentwurf mehrere Anpas-sungen im Zivilprozessrecht vorgenommen. Hierdurch wird die bundesgesetzliche Rechtsgrundlage für die künftige elektronische Akteneinsicht auch in Zivilverfahren über ein bundesweites Akteneinsichtsportal geschaffen. Daneben werden die Nutzungspflichten insbesondere für Rechtsan-wälte und Inkassodienstleister im gerichtlichen Mahnver-fahren erweitert.

A. Die Einführung des ERV – von der Option zur Pflicht

Die Einführung des ERV in Strafsachen soll sich weitgehend an den bereits bestehenden Vorschriften des Gesetzes zur Förderung des ERV vom 10.10.2013 orientieren. § 32a Abs. 1 StPO-E sieht vor, dass ab dem 01.01.2018 elektroni-sche Dokumente bei Strafverfolgungsbehörden und Gerich-ten eingereicht werden können. Der Zeitpunkt für die Ein-führung des ERV kann von den Ländern durch Rechtsverordnung auf den 01.01.2019 oder auf den 01.01.2020 hinausgeschoben werden (sog. Opt-Out-Mög-lichkeit).8 Dies entspricht der Regelung für die übrigen Ver-fahrensordnungen ab 01.01.2018.9 Entsprechend kann die Opt-Out-Möglichkeit bzw. die Eröffnung des ERV nicht auf bestimmte Gerichtsbarkeiten oder Verfahrensarten be-schränkt werden.10 Vielmehr muss jedes Bundesland ggf. durch Nutzung der Verordnungsermächtigung entscheiden, ob der ERV nach den individuellen Gegebenheiten ganz oder gar nicht zum 01.01.2018 eröffnet werden soll.

Das elektronisch an die Justiz übermittelte Dokument muss gem. § 32a Abs. 2 StPO-E11 für die Bearbeitung durch das Gericht geeignet sein. Diese Eignung wird künftig durch eine Rechtsverordnung der Bundesregierung mit Zustim-mung des Bundesrates gem. § 32a Abs. 2 Satz 2 StPO-E konkretisiert werden.

Zudem muss nach § 32a Abs. 3 StPO-E das elektronische Dokument für einen rechtswirksamen Zugang bei Gericht von dem Einreichenden qualifiziert elektronisch signiert werden12 oder mit einer einfachen Signatur13 versehen sein und zusätzlich über einen sog. sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden. Dies entspricht den Anforderungen für eine wirksame Übermittlung elektronischer Dokumente ab 01.01.2018 nach den anderen Verfahrensordnungen gem. § 130a Abs. 3 und 4 ZPO n.F.

Die insoweit technisch und organisatorisch naheliegende Möglichkeit der Einführung von nicht auf Einzelpersonen bezogenen „Organisationssignaturen“ wurde schon bis-lang im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zum För-dERV vom 10.10.2013 mit dem Hinweis auf den im EU-Par-lament beratenen Entwurf einer Verordnung über die

elektronische Identifizierung und Vertrauensdienste für elektronische Transaktionen COM 2012, 238/2 abgelehnt.14

Als sichere Übermittlungswege hat der Gesetzgeber in dem Katalog nach § 32a Abs. 3 Ziffer 1. bis 4. StPO-E, entspre-chend § 130a Abs. 4 ZPO,15 die Nutzung eines DE-Mail-Kontos (Ziffer 1.), des besonderen elektronischen Anwalts-postfachs (Ziffer 2.), eines besonderen elektronischen Behördenpostfachs (Ziffer 3.) und – dem Gebot der Techno-logieoffenheit entsprechend – eine Ermächtigungsnorm zum Erlass einer Bundesrechtsverordnung für künftige bun-deseinheitliche Übermittlungswege (Ziffer 4.) festgelegt. Dabei ist im letzten Fall der sonstigen, durch Bundesrechts-verordnung noch festzulegenden sicheren Übermittlungs-wege eine Subdelegationsmöglichkeit auf die Länder aus-drücklich nicht vorgesehen.16

Nach Art. 21 Abs. 4 (Inkrafttreten) des Gesetzes soll die Verpflichtung von Verteidigern und Rechtsanwälten gem. § 32d Satz 1 StPO-E, künftig Anträge und Erklärungen als elektronisches Dokument zu übermitteln, ab 01.01.2022 in Kraft treten. Damit sollte nach der gesetzlichen Intention17 eigentlich ein Gleichlauf der elektronischen Einreichungs-pflichten mit § 130d ZPO sowie den übrigen Verfahrens-ordnungen (§ 14b FamG, § 46g VwGO, § 65d ArbGG und § 52d FGO) i.V.m. Art. 26 Abs. 7 des FördERV vom 10.10.2013 geschaffen werden. Entgegen den bestehenden Vorschrif-ten der anderen Verfahrensordnungen soll es aber in Straf-verfahren nicht zu einer vollständigen Verpflichtung der sog. professionellen Einreicher, den ERV nutzen zu müssen, spätestens ab 01.01.2022 kommen, sondern nur zu einer auf bestimmte Verfahrenshandlungen beschränkten Ein-reichungsverpflichtung. Ausweislich § 32d Satz 2 StPO-E müssen von den professionellen Einreichern auch nach den Übergangsfristen bis zum Jahr 2022 nur die Berufung und ihre Begründung, die Revision, ihre Begründung und die Gegenerklärung sowie die Privatklage und die An-schlusserklärung bei der Nebenklage zwingend als elekt-ronisches Dokument eingereicht werden. Nach der gesetz-

8 § 13 Änderung des Einführungsgesetzes zur StPO, vgl. BT-Drs. 236/16, Art. 13, S. 19.

9 Vgl. auch Fn. 4; Art. 24 Verordnungsermächtigung der Länder.10 Demgegenüber sieht § 32 Abs. 1 Satz 3 eine Beschränkung der eAkten-

führung auf bestimmte Gerichtsbarkeiten oder Verfahrensarten vor.11 Vgl. entsprechend § 55a Abs. 2 VwGO n.F., § 14 Abs. 2 Satz 2 FamFG

i.V.m. § 130a Abs. 2 ZPO n.F.12 Bei einer qeS i.S.v. § 2 Nr. 3 SigG wäre auch die Übermittlung per

E-Mail ohne sicheren Übermittlungsweg zulässig.13 Vgl. auch § 2 Nr. 1 SigG.14 BT-Drs. 17/12634, S. 53.15 I.d.F. FördERV vom 10.10.2013; BGBl. I 2013, 3786-3798, Nr. 62.16 BT-Drs. 236/16, S. 54.17 BT-Drs. 236/16, zu § 32d, S. 54.

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lichen Begründung18 wird die Verpflichtung zur elektronischen Einreichung aufgrund der Besonderheiten des Strafverfahrens einerseits auf Strafverfolgungsbehör-den und Strafverteidiger und andererseits auf die Verfah-renserklärungen zu Rechtsmitteln beschränkt. Dieser blo-ße Verweis auf „Besonderheiten des Strafverfahrens“ überzeugt nicht. Eine solche bloße „punktuelle Nutzungs-pflicht“ für Rechtsanwälte, die sich auf die Einlegung und Begründung von Rechtsmitteln gegen Strafurteile be-schränkt, ist mit dem Gesetzentwurf verfolgten grundle-genden Ziel der nachhaltigen Förderung des ERV kaum in Einklang zu bringen. Eine so eng beschränkte Nutzungs-pflicht ist auch unter Berücksichtigung der Praxis nicht nachvollziehbar. Bspw. bietet sich die elektronische Einrei-chungspflicht für die Anträge im vereinfachten Jugendver-fahren nach §§ 76 ff. JGG geradezu an. Um den Gerichten einen übermäßigen Scanaufwand zu ersparen, wäre es vorzuziehen, den Kreis der Verpflichteten, entsprechend dem FördERV, auf alle „professionellen Einreicher“ zu er-weitern und die nicht aufgelisteten Verfahrenserklärungen nicht von vornherein auszuschließen. Den Besonderheiten des Strafverfahrens könnte dadurch Rechnung getragen werden, dass mit einer Ausnahmeregelung eine Einrei-chung auch auf anderem Wege zugelassen wird, wenn aufgrund der Besonderheit der Verfahrenssituation (z.B. im Termin, Haftprüfungstermin) die erforderlichen techni-schen Einrichtungen nicht zur Verfügung stehen. Ein sol-ches praxisnahes Regel-Ausnahme-Prinzip verfolgt der aktuelle Gesetzesentwurf aber nicht.

Die Bürgerinnen und Bürger (unverteidigte Beschuldigte, Zeugen u.a.) haben weiterhin die Wahl, ob sie ihre Schrei-ben künftig elektronisch, schriftlich per Post oder per Tele-fax an die Justiz senden.

Zusammenfassend ergibt sich folgende gesetzliche Einfüh-rungsplanung:

• Die bundesweite, flächendeckende Eröffnung des ERV auf Basis neuer und einheitlicher Regelungen zum 01.01.2018. Diese Eröffnung des ERV kann von einzel-nen Ländern per Landesrechtsverordnung um ein oder zwei Jahre hinausgeschoben werden.

• Die stufenweise Einführung des obligatorischen ERV für Rechtsanwälte, Behörden und diverse andere profes-sionelle Einreicher nach den Zeitplänen der Länder ab 01.01.2020.

• Die bundesweit flächendeckende Einführung des obliga-torischen ERV für die vorgenannten professionellen Ein-reicher zum 01.01.2022.

• Inhaltlich eine bloße punktuelle Nutzungspflicht für Rechtsanwälte, die sich auf die Einlegung und Begrün-dung von Rechtsmitteln gegen Strafurteile beschränkt.

B. Einführung einer bundesweiten eAktenführungs-pflicht in Strafsachen

Bereits ab dem 01.01.2018 soll gem. § 32 Abs. 1 Satz 1 StPO-E dem Bund und den Ländern mittels Rechtsverordnung die Füh-rung eAkten in Strafsachen ermöglicht werden (sog. Opt-In-Möglichkeit).19 Acht Jahre später, ab dem 01.01.2026, soll dann in allen Straf- und Bußgeldverfahren die Pflicht bestehen, neue Akten nur noch elektronisch zu führen (verbindliche, flä-chendeckende Einführung).20 Dabei kann die Einführung je-weils durch Rechtsverordnung auf einzelne Gerichte und Staatsanwaltschaften oder auch nur auf bestimmte Verfah-rensarten oder gar bestimmte Arten von Delikten21 gem. § 32 Abs. 1 Satz 3 StPO-E beschränkt werden. Im Gegensatz hierzu kann die Eröffnung des ERV nur ganz oder gar nicht von jedem Land per Rechtsverordnung gesteuert werden.22

Die eAktenführung soll das gesamte Strafverfahren, vom Ermittlungsverfahren bis zum Vollstreckungsverfahren, so-wie die Aufbewahrung der weggelegten Akten erfassen. Eine Parallelität von Papierform und elektronischer Form der Akten soll aber nicht zulässig sein. Ebenso wenig soll es eine nur teilweise („hybride“) Führung der Akten in elekt-ronischer Form geben können.23 Ein Nachscannen des Ak-tenbestandes ist nicht erforderlich, da Altakten zum Stich-tag noch nicht abgeschlossener Strafverfahren nicht in die elektronische Form überführt werden müssen.24

Für das Strafverfahren soll damit ab 01.01.2018 eine frü-hestmögliche Opt-In-Möglichkeit den Ländern genügend Flexibilität bieten, um bspw. Pilotierungsverfahren zur eAk-tenführung zu initiieren und auf diese Weise eine sinnvolle Erprobungsphase einzuleiten.

Nach der gesetzlichen Begründung zu § 32 Abs. 2 und 3 StPO-E soll die technisch-organisatorische Ausgestaltung der Einzelheiten der Aktenführung im Wesentlichen bewusst in der Organisationshoheit der Länder verbleiben.25 Damit wird zugleich die Verantwortlichkeit für die Lösung von durchaus zu erwartenden Problemen bei der technischen Umsetzung des Vorhabens in den Verantwortungsbereich der Länder de-legiert. Es erscheint aus datenschutzrechtlicher Sicht zweifel-haft, ob der Gesetzgeber nicht die wesentlichen Vorkehrun-

18 BT-Drs. 236/16, S. 54.19 Vgl. § 32 Abs. 1 Satz 2 StPO-E: der Zeitpunkt wird durch RVO des

Bundes oder Länder festgelegt.20 Art. 2 weitere Änderungen der StPO zum 01.07.2025 und 01.01.2026.21 § 32 Abs. 1 Satz 2 (z.B. Wirtschaftsstrafsachen, UJs-Verfahren, Baga-

tellsachen).22 Vgl. auch unter A. und Fn. 10.23 BT-Drs. 236/16, zu § 32, S. 44; dies ist z.B. nach § 1 EAPatV in anderen

Verfahrensordnungen zulässig.24 BT-Drs. 236/16, zu § 32, S. 45.25 BT-Drs. 236/16, B., Abs. 2, S. 1.

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gen selbst regeln muss und nicht den Verordnungsgebern einzelner Länder überlassen darf.26 Andererseits zeigen sich die besonderen föderalen Rechte der Länder im Bereich der Errichtung und des Betriebes der für ihre Aufgabenerfüllung benötigten informationstechnischen Systeme verfassungs-rechtlich gerade auch in Art. 91c GG.

In jedem Fall müssen die Rahmenbedingungen für den Aus-tausch der Akten zwischen Gerichten und Strafverfolgungs-behörden aller Länder und des Bundes, die durch entspre-chende Rechtsverordnungen des Bundes noch zu regeln sein werden, dabei die technische Kompatibilität gewährleisten.

Aus dem aktuellen Regierungsentwurf ergibt sich zusam-menfassend folgender Zeitplan für die eAktenführung der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte:

• Eine Möglichkeit zur eAktenführung ab 01.01.2018 ist auf Basis von Landesrechtsverordnungen vorgesehen.

• Die verpflichtende eAktenführung für Gerichte und Staats-anwaltschaften und insbesondere auch für alle anderen Strafverfolgungsbehörden (Bundes- und Landespolizeibe-hörden) ist zum 01.01.2026 abschließend geregelt.

C. Schnittstellen mit den Strafverfolgungsbehörden

Bei den Staatsanwaltschaften sind im Vergleich zu anderen Bereichen der Justiz die Kontakte auch über die Ländergren-zen hinweg zu verschiedenen Bundesbehörden (Bundespoli-zei, Zoll, Bundesamt für Justiz u.a.) besonders ausgeprägt. Die Kritik aus der Praxis an den letzten Referentenentwürfen hinsichtlich der mangelnden gesetzlichen Einbindung der Polizei als Ermittlungsbehörde der Staatsanwaltschaft im re-pressiven Bereich wurde in dem aktuellen Regierungsent-wurf aufgegriffen. Die Idee der eAkte würde konterkariert und kaum noch praktisch umsetzbar sein, wenn die Polizei, als Hauptlieferant der Aktendokumente, die ihre Dokumente ohnehin bereits heute elektronisch27 erstellt, diese nach wie vor ausdrucken würde, damit sie dann von dem Personal der Staatsanwaltschaft wieder eingescannt würden. Zur Vermei-dung von Medienbrüchen und einer sachgerechten Umset-zung in der Praxis wurden daher die Strafverfolgungsbehör-den, mithin die Polizeibehörden des Bundes und der Länder, der Zoll und die Steuerfahndung in den Anwendungsbereich der eAktenführung nach § 32 Abs. 1 StPO-E eingebunden. Grds. sind im Bereich der repressiven und strafprozessualen Tätigkeiten von Polizeibehörden erstellte Akten nach zutref-fendem Verständnis ohnehin als Strafakten im Sinne der Strafprozessordnung zu bewerten.28

Indes ist § 32b Abs. 3 StPO-E (Erstellung und Übermittlung von eDokumenten) als Sollvorschrift ausgestaltet und be-gründet keine bundesgesetzliche Verpflichtung für die Strafverfolgungsbehörden, Dokumente nur noch elektro-nisch zu erstellen und zu übermitteln. Es erscheint auch im

Hinblick auf das gesetzgeberische Ziel der nachhaltigen Förderung der Digitalisierung aller Strafverfolgungsbehör-den inkonsequent, zwar eine bundesgesetzliche Pflicht zu einer behördenintern elektronischen Aktenführung spätes-tens Ende des Jahres 2025 anzuordnen, aber eine Pflicht zur gegenseitigen elektronischen Übersendung der sodann ohnehin zwingend elektronisch geführten Dokumente nicht vorzusehen, sondern mit § 32 Abs. 3 StPO-E lediglich eine Sollvorschrift zu normieren.

Sicherlich ist nicht zu verkennen, dass die organisatorische Umsetzung einer solchen elektronischen Übermittlungs-pflicht in Bundesländern, wie bspw. Baden-Württemberg, mit sehr vielen kleinen Dienststellen in ländlichen Bezirken, zu-nächst für die Polizeidienststellen beim ersten Kontakt mit erheblichem personellen und finanziellem Aufwand, gerade auch bezüglich der Hardwareausstattung (Scanstationen und Signaturkomponenten u.a.), verbunden wäre. Um den Mehrwert der elektronischen Aktenführung umfassend aus-zuschöpfen, ist es aber geboten, dass die polizeilichen Vor-gänge elektronisch in strukturierter Form übermittelt wer-den, um die Stammdaten eines Verfahrens (wie z.B. Beschuldigtendaten, Tatvorwurf u.a.) ohne erneute manuelle Eingabe in die jeweiligen eAktensysteme und die Fachan-wendungen der Staatsanwaltschaften und Gerichte über-nehmen zu können. Zudem besteht bereits ohnehin zukünf-tig eine elektronische Übermittlungspflicht der (Polizei-)Behörden im Bereich der Zuständigkeit nach dem FamFG nach Ablauf der Übergangsfristen in den Jahren 2020 bzw. bis spätestens 2022. Mit Ausnahme vorübergehender techni-scher Unmöglichkeit müssen nach § 14b FamFG Anträge und Erklärungen durch eine Behörde oder durch eine juristische Person des öffentlichen Rechts, einschließlich der von ihr zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammen-schlüsse, zwingend als elektronisches Dokument der Justiz übermittelt werden. Diese Vorschrift wurde durch Art. 2 Nr. 4 des Gesetzes zur Förderung des ERV mit den Gerichten in das FamFG eingefügt und tritt gem. Art. 26 Abs. 7 am 01.01.2022 in Kraft. Demnach müssen Polizeibehörden in Verfahren nach dem FamFG, also bspw. in Unterbringungssachen (§§ 312 ff. FamFG), in Freiheitsentziehungssachen (§§ 415 ff. FamFG), spätestens ab 01.01.2022 der Justiz elektronisch Dokumente übermitteln. Entsprechend besteht auch eine Nutzungs-

26 BVerfG, Entscheidung v. 13.12.1961 - 1 BvR 1137/59, 1 BvR 278/60; BVerfG, Urt. v. 03.03.2009 - 2 BvC 3/07, 2 BvC 4/07 .

27 Die Landespolizei in Baden-Württemberg erstellt ihre Dokumente be-reits heute im Wesentlichen mit der Fachanwendung/dem Vorgangs-bearbeitungssystem ComVor.

28 So auch die gesetzliche Begründung in BT-Drs. 236/16, § 32b Abs. 3, S. 53; anderes aber noch der 2. Referentenentwurf vom 23.09.2014.

29 § 55d VwGO eingefügt durch Art. 5 Nr. 4 des FördERV mit Wirkung zum 01.01.2022.

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pflicht für alle Behörden bei der Übermittlung von Anträgen und Erklärungen nach § 55d VwGO.29

D. Behandlung von Ausgangsdokumenten

Da sich im Zeitalter der Digitalisierung die Bedeutung des Mediums Papier stetig verringern wird, aber mit dem Papiereingang noch längere Zeit, insbesondere durch Bür-ger, aufseiten der Justiz umgegangen werden muss, sind die Vorschriften über die Aufbewahrung der Ausgangsdo-kumente in § 32e StPO-E neu geregelt.

Diese Vorschrift statuiert in § 32e Abs. 1 Satz 1 StPO-E zu-nächst eine Übertragungspflicht in die elektronische Doku-mentenform der jeweiligen eAktenführung. Diese Um-wandlungspflicht ist für eine effektive Aktenbearbeitung mittels der gerade in Großverfahren hilfreichen Strukturie-rungswerkzeuge und zur Schonung von Ressourcen unver-zichtbar. § 32e Abs. 2 bis 4 StPO-E sollen die bei den Um-wandlungsverfahren einzuhaltenden technischen und organisatorischen Anforderungen festlegen.

§ 32e Abs. 3 StPO-E statuiert eine Pflicht zur Erstellung eines Übertragungsvermerks (sog. Transfervermerk) des nach Abs. 1 erfolgten technischen Vorgangs und soll zu-gleich den notwendigen Inhalt bestimmen. Zielrichtung ist dabei, retrospektiv prüfen zu können, ob das elektronische Ausgangsdokument verändert wurde (Integrität), und wer als Dokumentenersteller zu identifizieren ist (Authentizi-tät). Da der Informationsgehalt des Absatzes 2 nach der gesetzlichen Begründung30 aber auf die bloße Bezeichnung des „angewandten Verfahrens“ beschränkt sein soll, könn-ten sich hier in der praktischen Umsetzung Auslegungsfra-gen ergeben. Die Formulierung von § 32e Abs. 3 Satz 1 StPO-E weicht insoweit von der entsprechenden Regelung im FördERV vom 10.10.2013, nämlich von § 298a ZPO, er-heblich ab. Die Vorschrift des § 298a ZPO, i.d.F. gültig ab 01.01.2018, verzichtet nachvollziehbar gänzlich auf einen solchen Übertragungsvermerk. Aktuell sind die Vorgaben nach der TR-RESISCAN als Maßstab der Authentizitäts- und Integritätsprüfung anzusehen. Die Vorgaben nach der TR-RESISCAN sind aber „kein Verfahren“ im technischen Sinn. Im Jahr 2013 hat das Bundesamt für Sicherheit in der Infor-mationstechnik (BSI) die Technische Richtlinie zum erset-zenden Scannen – BSI TR-03138 RESISCAN – veröffentlicht. Diese zielt auf eine Steigerung der Rechtssicherheit im Bereich des ersetzenden Scannens. Die TR-RESISCAN hat zum Ziel, die Lücke zwischen abstrakten und uneinheitli-chen rechtlichen Anforderungen sowie der zuverlässigen technischen Realisierung des Scannens zu schließen. Die TR-RESISCAN führt entlang eines strukturierten Scanpro-zesses die sicherheitsrelevanten technischen und organisa-torischen Maßnahmen, die beim ersetzenden Scannen zu

berücksichtigen sind, zusammen. Neben einer Zertifizie-rung kommen je nach Anwendungsfall auch Eigenerklärun-gen von Scandienstleistern oder auch Anwendern in Be-tracht.31 Die TR-RESISCAN ist mithin kein Verfahren, sondern definiert „Maßnahmen“, die einen möglichst weit an das zu ersetzende Original angenäherten Beweiswert des Scanproduktes ermöglichen sollen. Eine dieser Maß-nahmen ist die Erstellung des – nunmehr nach § 32e Abs. 3 StPO-E erforderlichen – Transfervermerks. Dieser Übertra-gungsvermerk soll im Fall einer von Prozessbeteiligten spä-ter infrage gestellten Diskrepanz von Original und Scanpro-dukt den Ablauf des Medienbruchs und der wesentlichen technischen Prozessschritte, entlang des Scanprozesses, bis zur beweiswertsichernden Aufbewahrung nachvollziehbar machen, um ggf. Schlussfolgerungen zum Beweiswert des elektronischen Abbildes zu ziehen. Schließlich wird die TR-RESISCAN für die Erfüllung des „Stands der Technik“, im Rahmen der eAkte, im Gesetz zur Förderung der elektro-nischen Verwaltung (EGovG)32 und nach dem FördERV vom 10.10.2013 für die Beweiskraft gescannter elektronischer Dokumente in § 371b ZPO referenziert.

Der erste veröffentlichte Referentenentwurf vom 18.11.2012 sah ein „echtes“ sog. ersetzendes Scannen von Ausgangsdokumenten überhaupt noch nicht vor, sondern die zwingende Aufbewahrung der Ausgangsdokumente bis zum Abschluss des Verfahrens. Der Kritik der Bundesländer folgend, wurde in dem aktuellen Entwurf in § 32e Abs. 4 StPO-E geregelt, dass Ausgangsdokumente (Papiereingän-ge), die nicht Beweismittel sind, nach Ablauf von sechs Mo-naten vernichtet werden können, jedoch nicht vernichtet werden müssen. Diese Aufbewahrungsfrist nach Satz 1 gilt gemäß ihrem Zweck nur während des Verfahrens.33 Die Sätze 2 und 3 hingegen sehen Höchstaufbewahrungsfris-ten, insbesondere nach dem Verfahrensabschluss und der Verjährung vor. Im Zivilverfahren gilt insoweit entspre-chend ab 01.01.2018 eine generelle Sechsmonatsfrist ab der Übertragung der Ausgangsdokumente in die elektroni-sche Form der eAktenführung.34

Eine Aufbewahrungsfrist für eingescannte Ausgangsdoku-mente von grds. nur sechs Monaten ist grds. sinnvoll. Da-nach obliegt es den Ländern, für die jeweiligen Verfahren organisatorische Regelungen zur Aktenführung vorzuse-hen, die bestimmen, ob die Ausgangsdokumente jeweils

30 BT-Drs. 236/16, zu § 32e Abs. 3, S. 58.31 Vgl. Homepage BSI unter https://www.bsi.bund.de/DE/Publikationen/

Technische Richtlinien/tr03138/.32 § 7 Gesetz zur Förderung der elektronischen Verwaltung (E-Goverm-

ment-Gesetz – EGovG).33 BT-Drs. 236/16, zu § 32e Abs. 4, S. 59.34 § 298a Abs. 1 ZPO i.d.F. ab 01.01.2018.

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nach Ablauf der Sechsmonatsfrist vernichtet bzw. dem Be-rechtigten zurückgegeben werden sollen oder ob sie bis zum Ende der Höchstfrist aufbewahrt werden sollen. Dabei können etwa für Kapitalverbrechen andere Regelungen vorgesehen werden als für geringfügige Delikte.

§ 32e Abs. 4 StPO-E betrifft nicht Beweismittel, die als sol-che im Original – getrennt von der Akte – amtlich zu ver-wahren sind. Hieraus folgt, dass die jeweilige Strafverfol-gungsbehörde bzw. das Gericht die nach § 32e Abs. 1 Satz 1 StPO-E übertragenen Dokumente grds. daraufhin zu prü-fen hat, ob die jeweiligen Ausgangsdokumente als Beweis-mittel infrage kommen und ggf. deren Aufbewahrung als Beweismittel veranlassen muss. Die Anforderungen an die Qualität der Eingangssachbearbeitung werden dadurch in der Praxis erheblich wachsen müssen. Damit werden künf-tig bei den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten um-fassende Veränderungen der Arbeitsabläufe verbunden sein. Auch bei sämtlichen Behörden, die als Ermittlungsper-sonen der Staatsanwaltschaft tätig werden, fallen Aus-gangsdokumente in Papierform weiter an. Im Hinblick auf diese Schnittstellen mit den einzelnen Beteiligten während des Verfahrens bis zur Vernichtung muss der Ort der Auf-bewahrung des nicht unerheblichen Papierbestandes, ins-besondere mit den Polizeibehörden als Hauptlieferant, or-ganisatorisch noch geregelt werden. Hierzu verhält sich der Gesetzesentwurf nicht, sondern delegiert dies ebenfalls in die Hoheit der Verordnungsgeber der einzelnen Bundeslän-der. Für die Eingangssachbearbeitung und die Behandlung der Ausgangsdokumente, insbesondere bei der Beurtei-lung, ob es sich um Beweismittel handelt oder nicht, sollten für Polizei und Justiz möglichst einheitliche organisatori-sche Handlungsanweisungen erstellt werden, um im weite-ren Verfahrensablauf möglichst keine divergierenden Ein-schätzungen zur Qualifizierung des Ausgangsdokumentes, gerade im Vernichtungsfall nach § 32e Abs. 4 StPO-E, zu erleiden.

E. Akteneinsichtsrecht für Beschuldigte

Der Gesetzentwurf sieht mit der Änderung von § 147 Abs. 4 StPO-E erstmals mit der eAktenführung ein umfassen-des Akteneinsichtsrecht des nicht durch einen Verteidiger vertretenen Beschuldigten vor. Ein solches unmittelbares elektronisches Akteneinsichtsrecht kann im Zeitalter der Digitalisierung mit der Befürchtung einer Verbreitung be-sonders schutzbedürftiger Inhalte im Internet durchaus kritisch betrachtet werden. Indes begründet der Bundes-gesetzgeber dieses künftig weitreichende Akteneinsichts-recht des Beschuldigten mit dem Verweis auf die Recht-sprechung des EGMR zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens.35

F. Bundesweites Akteneinsichtsportal

Das bisher in § 147 Abs. 4 StPO geregelte Recht der Verteidi-ger, die Mitnahme der Papierakte zur Einsicht beantragen zu können, soll durch die allgemeine Regelung in § 32f StPO weitgehend ersetzt werden. Das Führen einer eAkte erfor-dert und ermöglicht neue Formen der Akteneinsicht. Die Neuregelung in § 32f Abs. 1 Satz 1 StPO-E (i.V.m. § 299 Abs. 3 ZPO-E) schafft die gesetzliche Grundlage für die Gewäh-rung von Akteneinsicht über ein bundeseinheitliches Akten-einsichtsportal in Form des Bereitstellens des Akteninhalts zum Abruf, mithin für ein automatisiertes Abrufverfahren.

Diese Neuregelung enthält weder Vorgaben zur konkreten Ausgestaltung noch besteht eine Verordnungsermächti-gung. Die Frage, wie diese eAkteneinsicht gestaltet werden soll, stellt sich für alle Länder und den Bund gleichermaßen. Zur Vermeidung unterschiedlicher Lösungen haben sich der Bund und die Länder entschlossen, gemeinsam ein bundes-weites Akteneinsichtsportal einzurichten.36 Das Konzept zur Realisierung wurde im Auftrag der Bund-Länder-Kom-mission für Informationstechnik in der Justiz (BLK), unter Federführung der Justizverwaltung des Ministeriums der Justiz und für Europa Baden-Württemberg entwickelt37 und auf dem 24. EDV-Gerichtstag am 24.09.2015 in Saarbrü-cken vorgestellt.38

Die Neuregelung in § 32f Abs. 1 Satz 1 StPO-E bedingt aber kein eigenes Akteneinsichtsrecht, sondern regelt nur die grundsätzliche Form der Einsichtnahme bei eAktenfüh-rung.39 Nach dem gemeinsamen Realisierungskonzept40 soll das bundesweite Akteneinsichtsportal, wenn die Ak-teneinsicht vom Entscheidungsträger – wie bislang – ge-nehmigt ist, eine Lösung für die elektronische Übertragung von Dateien zur tatsächlichen Erfüllung der Akteneinsicht bieten. Gegenüber den Einsichtnehmenden soll für den Übertragungsvorgang allein das Portal in Erscheinung tre-ten, welches über das Justizportal des Bundes und der Län-der erreichbar sein wird,41 sodass ein einheitlicher Aus-gangskanal für alle Beteiligten geschaffen wird. Das Portal soll die Akteneinsicht dabei für alle Arten von Nutzern ver-

35 EGMR, Urt. v. 17.02.1997 - 10/1996/629/812; vgl. BT-Drs. 236/16, zu § 147, S. 65.

36 BLK, Beschl. v. 19.11.2014 zu TOP 16.37 BLK, Beschl. v. 19.11.2014 Fn. 34.38 Präsentation: https://www.edvgt.de/veranstaltungen/deutscher-edv-

gerichtstag/edvgt2015/arbeitskreise/blk-das-gemeinsame-aktenein-sichtsportal-von-bund-und-laendern/.

39 BT-Drs. 236/16, zu § 32f, S. 61.40 Präsentation: https://www.edvgt.de/veranstaltungen/deutscher-edv-

gerichtstag/edvgt2015/arbeitskreise/blk-das-gemeinsame-aktenein-sichtsportal-von-bund-und-laendern/.

41 Unter www.justiz.de.

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mitteln. Neben Rechtsanwälten und Behörden, einschließ-lich der Gerichte, sowie professionellen Einsichtnehmen-den, wie Banken oder Versicherungen, soll auch dem Bürger auf diesem Weg Akteneinsicht gewährt werden können, sofern die Verfahrensordnungen dies zulassen. Darüber hinaus soll das Akteneinsichtsportal verwendet werden, um Sachverständigen und Übersetzern den Akten-inhalt zugänglich zu machen oder Akten zwischen den Ländern bzw. zwischen den Ländern und dem Bund, im Rahmen von Abgaben und Vorlagen, auszutauschen. Die Akteneinsicht soll nach dem aktuellen Gesetzentwurf auch in Zivil- und Arbeitsgerichtsverfahren über das bundeswei-te elektronische Akteneinsichtsportal – kostenfrei – er-möglicht werden.

G. Datenhaltung der Justiz – Datenverarbeitung im Auftrag

Die berechtigte Forderung der Praxis im Hinblick auf die Ein-führung des ERV und insbesondere der eAkte an die Justiz-verwaltungen ist, für eine möglichst ständig verfügbare und performante sowie sichere Datenhaltung Sorge zu tragen. Da dies bislang keine Kernkompetenz und Aufgabe der Justiz war, muss sie sich professioneller Dritter bedienen können oder aufwendig eigene Zusatzkompetenz aufbauen.42

In den früheren Referentenentwürfen43 war die Möglichkeit der Datenverarbeitung durch nicht öffentliche Stellen prak-tisch ausgeschlossen. Ein vollständiger Ausschluss der Be-auftragung Privater würde einen effizienten und wirtschaft-lichen IT-Betrieb im Kontext der eStrafakte aber nahezu unmöglich machen. Insoweit ist zu vergegenwärtigen, dass viele Landesjustizverwaltungen und wohl auch der Bund Teilleistungen des IT-Betriebs durch Private erbringen las-sen. Dies gilt insbesondere für den Betrieb dezentraler Inf-rastrukturkomponenten. Der aktuelle Gesetzentwurf sieht daher nachvollziehbar in § 497 StPO-E eine Datenverarbei-tung durch nicht öffentliche Stellen grds. vor. Die besondere Sensibilität der in Strafverfahrensakten enthaltenen Daten und die Anforderungen an die ständige Verfügbarkeit der Akten im rechtsstaatlichen Verfahren machen es darüber hinaus nach der gesetzlichen Begründung erforderlich, die Datenverarbeitung, im Zusammenhang mit der dauerhaf-ten rechtsverbindlichen Speicherung der elektronischen Strafakte, an zusätzliche Voraussetzungen zu knüpfen. § 497 Abs. 1 StPO-E verlangt deshalb, dass bei einer Beauf-tragung Privater in diesem besonders sensiblen Bereich eine öffentliche Stelle den Zutritt und Zugang zu den Datenverarbeitungseinrichtungen tatsächlich und aus-schließlich kontrolliert. In Abgrenzung zur dauerhaften, rechtsverbindlichen Speicherung können aber auch in Strafsachen in den Datenverarbeitungsanlagen (auch nur

zeitweise) nicht rechtsverbindliche Arbeitskopien vorgehal-ten werden, die etwa auf einem Replikationsserver oder im lokalen Speichermedium eines Arbeitsplatzcomputers ge-halten werden. Nicht-öffentliche Stellen können in diesem, außerhalb des dauerhaften, rechtsverbindlichen Speicherns der eAkte liegenden, Bereich der Datenverarbeitung beauf-tragt werden. Insbesondere, wenn es den Betrieb und die Wartung dezentraler Systeme und sonstiger technisch und organisatorisch notwendiger Hilfstätigkeiten betrifft.

Die im Bundesdatenschutzgesetz und in den Landesdaten-schutzgesetzen grds. vorgesehene Begründung von Unter-auftragsverhältnissen soll nach § 497 Abs. 3 Satz 1 StPO-E zusätzlich dadurch eingeschränkt werden, dass die Zustim-mung des Auftraggebers für jedes Unterauftragsverhältnis konkret vorliegen muss. Darüber hinaus sind durch § 497 Abs. 4 Satz 1 StPO-E Pfändungsmaßnahmen Dritter auszu-schließen, wie bspw. im Fall der Insolvenz des Auftragneh-mers. Um in diesen Fällen Pfändungs- und insbesondere strafrechtlich erforderliche Beschlagnahmemaßnahmen (z.B. im Fall kinderpornografischer Dateien) nicht gänzlich auszuschließen, soll, zur Vermeidung von Missbrauchsfäl-len, der zuständigen öffentlichen Stelle durch die Regelung in § 497 Abs. 4 Satz 2 StPO-E die Möglichkeit der Zustim-mung eingeräumt werden.

H. Ausblick

Mit dem aktuellen Gesetzentwurf können alle Länder, ins-besondere die bereits mit einer Pilotierung der eAkte und dem ERV in anderen Verfahrensarten begonnen haben,44 zuversichtlich sein, dass noch vor Ende der Legislaturperio-de eine Rechtsgrundlage auch für den wichtigen Strafbe-reich geschaffen wird, die sich hinsichtlich der Einführung an den zeitlichen Vorgaben des Gesetzes zur Förderung des ERV orientieren wird. Die eAktenführung bedingt künf-tig bei den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten er-hebliche Veränderungen der Arbeitsabläufe. Diese not-wendige Veränderung bringt aber für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufgrund der Mobilität des Arbeitsplatzes die große Chance der weitaus besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie der Inklusion mit sich.

42 Zu diesem Spannungsverhältnis vgl. Radke, jM 2016, 8, Datenhaltung und Datenadministration der Justiz und richterliche Unabhängigkeit.

43 Vgl. Referentenentwürfe Gesetz zur Einführung der eStrafakte vom 18.11.2012 und vom 23.09.2014 jeweils zu §§ 496 ff.

44 Das Land Baden-Württemberg hat als erstes Bundesland die Pilo-tierung der vollelektronischen Akte in gerichtlichen Streitsachen am ArbG Stuttgart und am LG Mannheim bereits begonnen; vgl. Pressemitteilung des Ministeriums der Justiz und für Europa vom 13.06.2016 unter ejustice-bw.de.

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NACHRICHTEN

Rainer Schlegel wird neuer Präsident des BSG

Der bisherige Vizepräsident des BSG, Prof. Dr. Rainer Schle-gel, wird mit Wirkung zum 01.10.2016 neuer Gerichtspräsi-dent. Er übernimmt den Posten von Peter Masuch, der das 65. Lebensjahr vollendet hat und in den Ruhestand geht.

Die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Andrea Nahles, überreichte dem 58 Jahre alten Rainer Schlegel am 31.08.2016 in Kassel im Rahmen der feierlichen Amtsüber-gabe die Ernennungsurkunde, die der Bundespräsident zu-vor auf Vorschlag des Bundeskabinetts ausgefertigt hatte.

Rainer Schlegel studierte Rechtswissenschaften in Tübin-gen. Nach Tätigkeit in der Sozialgerichtsbarkeit Baden-Württemberg und Abordnungen an das BSG und BVerfG wurde er 1997 zum Richter am BSG und 2010 zum Vorsit-zenden Richter am BSG ernannt. Im April 2010 wechselte er in das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und war dort als Leiter der Abteilung „Arbeitsrecht und Arbeits-schutz“ u.a. zuständig für Arbeitsrecht, Arbeitsschutz, unternehmensbezogene Aktivitäten einer zukunftsgerech-ten Arbeitswelt sowie Fragestellungen der gesellschaftli-chen Verantwortung von Unternehmen. Seine Beurlau-bung als Richter endete im Dezember 2013. Im Juli 2014 wurde er zum Vizepräsidenten des BSG ernannt. Zurzeit ist Herr Schlegel Vorsitzender des 9., 10. und 13. Senats des BSG, die unter anderem für das Soziale Entschädigungs- und Schwerbehindertenrecht, die Alterssicherung für Landwirte und die gesetzliche Rentenversicherung zustän-dig sind. Er ist seit 2005 Honorarprofessor an der Justus-Liebig-Universität Gießen und seit 2009 Vorsitzender des Vorstands des Deutschen Sozialrechtsverbandes sowie (Mit-)Herausgeber der juris PraxisKommentare zu den So-zialgesetzbüchern.

Erweiterte Medienöffentlichkeit in Gerichtsverfahren

Das Bundeskabinett hat am 31.08.2016 den von Heiko Maas, Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz, vorgelegten Entwurf für ein „Gesetz zur Erweiterung der Medienöffentlichkeit in Gerichtsverfahren und zur Verbes-serung von Kommunikationshilfen für Menschen mit Sprach- und Hörbehinderungen“ beschlossen.

Der Entwurf sieht vor, das seit 1964 bestehende, in § 169 Abs. 3 GVG geregelte Verbot von Ton- und Fernseh-Rund-funkaufnahmen zum Zwecke der öffentlichen Vorführung oder Veröffentlichung zu lockern. Das gewandelte Medien-verständnis und der Umgang mit modernen Kommunika-tionsformen ließen ein generelles Verbot nicht mehr zeit-gemäß erscheinen, so der Entwurf. Künftig können von

Verkündungen der Entscheidungen der Bundesgerichte in besonderen Fällen Ton-, Fernseh-, Rundfunk- und Filmauf-nahmen gemacht werden. Die Neuregelung ist ausdrück-lich als Ermessensregelung ausgestaltet, die Entscheidung liegt also beim jeweiligen Gericht.

Zugelassen werden können:

• die Übertragung der mündlichen Verhandlung und der Urteilsverkündung in einen Arbeitsraum für Medienver-treter;

• eine audio-visuelle Dokumentation von Gerichtsverfah-ren von herausragender zeitgeschichtlicher Bedeutung sowie

• die Übertragung von Verkündungen von Entscheidungen der Obersten Gerichtshöfe des Bundes in den Medien.

Die Regelung soll neben der ordentlichen Gerichtsbarkeit auch für die Arbeits-, die Verwaltungs-, die Finanz- und die Sozialgerichtsbarkeit sowie in angepasster Form für das BVerfG gelten.

Außerdem enthält der Gesetzentwurf Verbesserungen für Menschen mit Hör- und Sprachbehinderungen. So sind Er-weiterungen hinsichtlich der Beteiligung von Gebärdendol-metschern für hör- und sprachbehinderte Personen vorge-sehen.

Text- statt Schriftform im AGB-Recht

Durch das „Gesetz zur Verbesserung der zivilrechtlichen Durchsetzung von verbraucherschützenden Vorschriften des Datenschutzrechts“ gilt ab dem 01.10.2016 ein geän-dertes Formerfordernis im AGB-Recht. Nach § 309 Nr. 13 BGB ist es dann unwirksam, an vertragliche Erklärungen strengere Anforderungen als die Textform (bislang: Schrift-form) zu stellen.

Der Gesetzgeber begründet diese Neuregelung u.a. damit, dass die Formanforderungen, die in AGB möglich sind, ver-ständlicher werden sollen. Der Umstand, dass die verein-barte Schriftform bereits vor dem Inkrafttreten der Ände-rung durch Textform gewahrt werden kann, da es sich nicht um eine gesetzliche, sondern nur um eine zwischen den Parteien vereinbarte Schriftform handelt (§ 127 BGB), sei den meisten Verbrauchern nicht bewusst.

Ausschlussklauseln mit den üblichen Schriftformerfordernis-sen werden demnach ab dem 01.10.2016 einer AGB-Kontrol-le nicht mehr standhalten und zukünftig unwirksam sein.

Obwohl die Neuregelung grds. nur auf solche Verträge an-zuwenden ist, die nach dem 30.09.2016 geschlossen wer-den, kann auch bei Altverträgen, die ab dem 01.10.2016 nachträglich geändert werden, Anpassungsbedarf entste-hen.

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BÜCHERSCHAU

Ullmann, juris PraxisKommentar UWG

Herausgegeben von Prof. Dr. Eike Ullmann juris, 4. Aufl. 2016, 1.226 Seiten, gebunden, 149,00 € inkl. 12 Monate Online-Zugang; ISBN 978-3-86330-144-6

RiOLG Prof. Dr. Stefan Singer

Der juris PK zum UWG hat seit seinem Erscheinen eine be-sondere Stellung inne: Denn der Kommentar von Ullmann, der sich zum Ziel gesetzt hat, eine an der Rechtsprechung orien-tierte Darstellung des Wettbewerbsrechts zu geben, wird nicht nur gedruckt und gebunden herausgegeben, sondern er ist auch mit stetig aktualisierten Hinweisen online abrufbar. Diese Besonderheit ist auch bei der das 2. UWGÄndG v. 02.12.2015 berücksichtigenden 4. Aufl. erhalten geblieben. Dank des kleineren Schriftbildes und der Straffung der Wie-dergabe von Richtlinien ist das Werk darüber hinaus kompak-ter und handlicher geworden. Neu im Autorenteam ist RA Diekmann, der die umfangreiche Kommentierung des § 5 übernommen hat. RA Link kommentiert weiterhin die Fall-gruppe des Rechtsbruchs (§ 3a, früher § 4 Nr. 11). Der Heraus-geber und frühere Vorsitzende des für Wettbewerbsrecht zu-ständigen I. ZS des BGH, Ullmann, kommentiert das Verbot des Nachahmens von Waren oder Dienstleistungen nach § 4 Nr. 3 (früher § 4 Nr. 9). Er spricht sich dabei für ein erschöpfen-des Verständnis der Norm zum Schutz des unternehmerischen Leistungsschutzes aus. Bei Koch, RiBGH im I. ZS, steht der As-pekt des Schutzes der privaten oder beruflichen Sphäre der Marktteilnehmer vor unzumutbaren Beeinträchtigungen im Mittelpunkt (§ 7). Der VRiLG Seichter widmet sich neben sei-ner Kommentierung der §§ 4a und 5a vor allem prozessrecht-lichen Problemen im Rahmen der Kommentierung des § 8. Der Praktiker findet wichtige Hinweise zu Fragen der Fassung des Unterlassungsantrages (§ 8 Rn. 60 ff.) und des Streit-gegenstands (§ 8 Rn. 78 ff.). Bei RiKG Hess und seiner Kom-mentierung zu § 12 bleibt keine Frage zum Wettbewerbspro-zessrecht unbeantwortet. Der Praktiker wird seine Darstellung der Rechtsprechung der OLGe zur dringlichkeitsschädlichen Zeitspanne zwischen Kenntnis des Verstoßes und Einreichen des Verfügungsantrages zu Rate ziehen (§ 12 Rn. 131). Die vergleichende Werbung (§ 6) wird von RA Müller-Bidinger kommentiert. Die Kommentierung der einleitenden Vorschrif-ten (§§ 1, 2), der Verjährung (§ 11) und der Strafvorschriften (§§ 16, 17) liegt in den Händen von RA Ernst. Mit den Fragen der Einigungsstellen befasst sich RA‘in Bär in § 15.

Mit seiner klaren Gliederung und seiner an der Rechtspre-chung orientierten Darstellung leistet auch die 4. Aufl. des Kommentars einen hervorragenden Beitrag dazu, sich die dog-matisch anspruchsvolle Materie des Wettbewerbsrechts zu er-schließen. Wer eine praxisnahe und aktuelle Kommentierung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb sucht, hat mit dem vorliegenden Kommentar das richtige Werk gefunden.

Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz

Herausgegeben von Karsten Schmidt u. Wilhelm Uhlenbruck Dr. Otto Schmidt Verlag, 5. Aufl. 2016, 1.309 Seiten, gebunden, 149,00 €, ISBN 978-3-504-32210-6

Michael Martinek

Die GmbH und das GmbH-Recht sind eine feine Sache – so-lange das Unternehmen „rund läuft“ und erfolgreich ist. Es läuft aber nicht immer alles rund. Es kann zur Krise kommen, die man, wenn man sie schon nicht vermeiden konnte, jeden-falls zu bewältigen versuchen muss. Hierbei hilft seit seiner Erstauflage von 1997 als Ratgeber das hier besprochene Werk, an dessen neuer, 5. Aufl. neben den beiden Heraus-gebern knapp ein Dutzend weitere Autoren aus Wissenschaft, anwaltlicher und richterlicher Praxis mitgewirkt haben. Ein Blick auf die Überschriften der zwölf Teile des Werks lässt die vielfältigen und zahlreichen Einzelthemen paradieren, die sich mit Titel und Untertitel des Buchs verbinden: Krisenvermei-dung, -früherkennung und -bewältigung; Außergerichtliche Unternehmenssanierung; Liquidation; Sanierung und Zer-schlagung als alternative Ziele des Insolvenzverfahrens; Das Insolvenzeröffnungsverfahren; Abweisung mangels Masse; Die Gesellschaft im eröffneten Insolvenzverfahren; Das Insol-venzplanverfahren; Eigenverwaltung und Schutzschirmver-fahren; Restschuldbefreiung für Geschäftsführer, Gesellschaf-ter und andere Mithaftende der GmbH; Haftungs- und Strafbarkeitsrisiken bei Verfahrensverschleppung und Insol-venzverursachung; Grenzüberschreitende GmbH-Insolvenzen.

Die tiefgreifende Neubearbeitung dieses Standardwerks mit Handbuchcharakter tat not, denn inzwischen haben nicht nur das ESUG und die neue EuInsVO umfassende Änderun-gen gebracht, sondern sind auch Rechtsprechung und Litera-tur zum deutschen und europäischen Insolvenzrecht sowie zu den einschlägigen Fragen des Gesellschafts-, Arbeits- und Kreditsicherungsrechts erheblich angewachsen. Auch muss-ten die Erfahrungen aus den großen Verfahren der vergange-nen Jahre ausgewertet und eingearbeitet werden (Suhrkamp, Pfleiderer, Loewe, Küppersbusch). Gegenüber den Voraufla-gen finden Aspekte der strategischen Optimierung des Ent-scheidungsverhaltens, der unternehmenspraktischen Hand-lungsempfehlungen, der zielgerichteten Vermeidung von Haftungsrisiken und andere Compliance-Gesichtspunkte ver-stärkt Berücksichtigung. Es bedarf angesichts des hochkarä-tigen Herausgeber- und Autorenteams keiner besonderen Betonung, dass das Werk ein Höchstmaß an Verlässlichkeit und Vollständigkeit bietet. Es bezieht übrigens auch die GmbH & Co KG umfassend mit ein. Die verlagsseitige An-preisung übertreibt keineswegs: Das große Handbuch für Strategie und Beratung zur Vermeidung, Früherkennung und Bewältigung von GmbH-Krisen.

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DIE AUTOREN

IMPRESSUM

Herausgeber: Vors. Richter am BSG Prof. Dr. Thomas Voelzke, KasselVors. Richterin am BFH Prof.Dr. Monika Jachmann-Michel, München Vizepräsident des LG Holger Radke, Mannheim Prof. Dr. Stephan Weth, Universität des Saarlandes, SaarbrückenRechtsanwalt Prof. Dr. Christian Winterhoff, Hamburg

Expertengremium: Vors. Richter am BGH a.D. Wolfgang Ball, LembergRechtsanwalt Prof. Dr. Guido Britz, HomburgVizepräsident des LAG a.D. Dr. Heinz-Jürgen Kalb, Köln Richter am BVerwG Prof. Dr. Harald Dörig, LeipzigProf. Dr. Dr. Dr. h.c. mult. Michael Martinek, Universität des Saarlandes, Saar-brücken Weiterer aufsichtsführender Richter am AG a. D. Dr. Wolfram Viefhues, Oberhausen

Redaktion: Rechtsanwalt Daniel Schumacher

Medieninhaber und Verlag: juris GmbH, Juristisches Informationssystem für die Bundesrepublik Deutschland, Gutenbergstraße 23, 66117 Saarbrücken, Tel.: 0681 5866-0, Fax: 0681 5866-239, E-Mail: [email protected]äftsführer: Samuel van Oostrom, Johannes Weichert, Aufsichtsratsvorsit-zender: Ministerialdirigent Dr. Matthias Korte

Manuskripte: Der Verlag haftet nicht für Manuskripte, die unverlangt einge-sendet werden. Mit Annahme der Veröffentlichung erwirbt der Verlag das aus -schließliche Verlagsrecht, insbesondere auch das Recht zur Herstellung elektro -nischer Versionen sowie das Recht zu deren Vervielfältigung online oder off-line ohne zusätzliche Vergütung.

Urheber-und Verlagsrechte: Alle veröffentlichten Beiträge sind urheberrecht -lich geschützt. Das gilt auch für die Leitsätze der Gerichtsentscheidungen, so-weit sie vom Autor bearbeitet wurden. Der Rechtsschutz gilt auch gegenüber Datenbanken und ähnlichen Einrichtungen. Eine Reproduktion oder Über-tragung in maschinenlesbare Sprache ist – außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes – nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet.

Erscheinungsweise: 11 Ausgaben jährlich, davon ein Doppelheft (August/ September), sowie als Beilage zum Anwaltsblatt

Bezugspreis: Im Jahresabonnement 180,- € zuzüglich Versandkosten incl.Online-Zugang unter juris.de Das Jahresabonnement verlängert sich um ein Jahr, wenn es nicht sechs Wo-chen vor Jahresende gekündigt wird.

Bestellungen: Über jede Buchhandlung und beim Verlag

Satz: Datagroup Int., Timisoara

Druck: L.N. Schaffrath GmbH &Co.KG Druck Medien, Marktweg 42-50, 47608 Geldern

ISSN: 2197-5345

Professor an der Universität zu Köln, Direktor des Instituts für Verfahrensrecht

Hanns Prütting war nach seiner Promotion und Habilitation von 1982 bis 1986 Professor (C4) in Saarbrücken. Er ist seit 1986 Professor an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln und leitet dort die Institute für Verfahrens-

recht, für Anwaltsrecht sowie für Internationales Insolvenzrecht. Er ist Mitglied der Akademien der Wissenschaft zu Erfurt und Düsseldorf. Er ist Professeur Invité à l’Université Paris 1 (Panthéon Sorbonne) sowie Honorary Fellow der Doshisha Universität Kyoto und Dr. h.c. der Universität Athen.

Prof. Dr. Dr. h.c. Hanns Prütting

Richter am Verwaltungsgericht

Seit 2010 ist Herr Jacob als Richter beim Ver-waltungsgericht Köln tätig. Dort befasste er sich zunächst im Schwerpunkt mit Bauplanungs- und Bauordnungsrecht, seit 2015 v.a. mit subven-tionsrechtlichen Streitigkeiten. Von 2013 bis 2015 war er an das Bundesverwaltungsgericht abgeordnet und dort für den insbesondere für

das fernstraßenrechtliche Planungsrecht sowie das Abgabenrecht zuständi-gen 9. Senat tätig. Seine Publikationen erstrecken sich u.a. auf Grundfragen der Rechtsphilosophie, das Verwaltungsprozess-, allgemeines Ordnungs-, Bauplanungs-, Naturschutz- und Europarecht.

Dr. Thomas Jacob

Richter am Oberlandesgericht

Studium der Rechtswissenschaften in Tübingen und Referendariat in Karlsruhe. 2000 bis 2001 Rechtsanwalt in Karlsruhe. 2001 Eintritt in den höheren Dienst der Justiz des Landes Baden-Würt-temberg. Nach Tätigkeiten als Staatsanwalt, Rich-ter am Amtsgericht und Landgericht sowie zuletzt

am Oberlandesgericht Karlsruhe ist er seit 2014 abgeordnet an das Ministerium der Justiz und für Europa Baden-Württemberg. Herr Werner kommentiert in mehreren Werken zur StPO. Ferner ist Herr Werner seit 2006 Vorsitzender der Ethikkommission der Bezirksärztekammer Nordbaden.

Eric Werner

Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität des Saarlandes

Studium der Informatik an der Universität Pader-born, dabei von 2009 bis 2012 studentischer Mit-arbeiter im Rechnerbetrieb Mathematik. Wissen-schaftlicher Mitarbeiter am s-lab – Software Quality Lab an der Universität Paderborn zwischen

2012 und 2016. Daneben seit 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dokto-rand bei der juris-Stiftungsprofessur für Rechtsinformatik und dem Center for IT-Security, Privacy and Accountability (CISPA) an der Universität des Saarlan-des. Die Forschungsschwerpunkte von Herrn Möllers sind Technischer Daten-schutz und eJustice. Außerdem ist er Autor zahlreicher Veröffentlichungen.

Frederik Möllers, M.Sc.

Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lehrbeauftragte an der Universität des Saarlandes

Studium der Rechtswissenschaften und Referen-dariat in Saarbrücken mit Stationen bei der Staats-kanzlei des Saarlandes und dem Bundesverfas-sungsgericht. Von November 2012 bis März 2014

wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Rechts-theorie und Rechtsinformatik an der Universität des Saarlandes (Institut für Rechtsinformatik). Seit April 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der juris-Stiftungsprofessur für Rechtsinformatik, Universität des Saarlandes, und seit 2013 Lehrbeauftragte an der Universität des Saarlandes. Frau Vogelgesang ist darüber hinaus Autorin zahlreicher Publikationen in juristischen Fachzeitschriften.

Stephanie Vogelgesang

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JM 10 OKTOBER

2016

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JM 10 OKTOBER

2016

NEUES VON juris

Aktuell und informativ: Die jM kommt bei Ihnen gut an

Zwei Jahre nachdem juris - Die Monatszeitschrift „ jM“ mit dem Anspruch gestartet ist, für mehr Durchblick bei aktuel-len Rechtsthemen zu sorgen, war es nun an der Zeit Sie als Leser in einer Umfrage nach Ihrer detaillierten Meinung zu fragen. Dabei ging es nicht nur darum herauszufinden, wel-che Themen und Formen der Berichterstattung besonders gut ankommen und wo es aus Ihrer Sicht noch Verbesse-rungspotenzial gibt. Aus Redaktionssicht besonders inter-essant waren die ganz gezielten Themenanregungen, die sicher auch in den nächsten Heften Beachtung finden wer-den.

Die Umfrage hat gezeigt, dass die jM den Nerv der Zeit trifft. Trotz einer immer größer werdenden Informationsflut steigt das Gefühl nicht mehr richtig informiert zu sein. Das Ziel der jM, dem Leser auch jenseits des eigenen Fachge-biets einen Blick über den Tellerrand auf andere Rechtsge-biete zu ermöglichen, wurde goutiert. So wurden die Bei-träge mit über 70 v.H. Zustimmung als auf einen fachlich fundiertem aber verständlichem Niveau beurteilt. Beson-ders gut kommen die klare Gliederung der Zeitschrift und die übersichtliche Strukturierung der Beiträge an. Auch die Beitragslänge findet eine große Zustimmung. Beim Verhält-nis zwischen Aufsätzen und Anmerkungen wird eine Zwei-teilung der Leserschaft deutlich: während rund 50 v.H. das Verhältnis als genau richtig einstufen, wünschte sich die andere Hälfte eine etwas andere Gewichtung.

Wenig überraschend ist die Aussage, welcher Beitragstyp am liebsten gelesen wird. Hier liefern sich die Urteilsan-merkungen und die Aufsätze mit konkreten Handlungs-empfehlungen für den Praktiker ein Kopf-an-Kopf-Ren-nen. Erfreulich ist aber auch das Abschneiden der Aufsätze zu neueren oder „exotischen“ Rechtsthemen wie z.B. Cybercrime. Ein Viertel der Leser hat diesen Bereich als seinen Favoriten gewählt. Damit bestätigt sich auch die positive Resonanz, die die Redaktion bisher außerhalb der Umfrage zur Zeitschrift erhalten hat. Besonders erfreuli-ches Feedback gibt es auch zur Karikatur auf der Titel-seite. Die gestalterische Interpretation des Topthemas auf

humoristische Art und Weise wird als ein besonderes Al-leinstellungsmerkmal gegenüber den übrigen juristischen Fachzeitschriften wahrgenommen.

Bei der Frage nach der Umsetzung als Zeitschrift werden der jM ebenfalls sehr positive Eigenschaften zugeschrie-ben. Neben der bereits erwähnten guten Lesbarkeit durch die Struktur der Beiträge wird besonders die Aktualität ho-noriert. Bemerkenswert erfreulich sind aber auch die weite-ren Werte. So wird die jM von Ihnen als informativ, interes-sant und analytisch bezeichnet.

Etwas überraschender ist hingegen die Aussage, dass viele Leser nicht wissen, dass ihnen die jM auch online zur Ver-fügung steht. So erhalten die Bezieher von juris Spectrum, juris DAV, juris Starter, juris Professionell oder juris Kommu-ne im Rahmen ihres Vertrages automatisch kostenfrei den Zugang zum Inhalt der Zeitschrift (inkl. Archiv). Aber auch bei denjenigen Lesern, die sich über den Vorteil der Einbin-dung in ein elektronisches Medium durchaus bewusst sind, kommt die gedruckte Ausgabe gut an. Es ist bei einer Zeit-schrift eben doch immer noch ganz schön, „etwas zum Blättern in der Hand zu haben“.

Wer übrigens seinen gedruckten Ausgaben der jM einen besonderen Rahmen geben möchte, kann für die Jahrgänge 2014 und 2015 eine schön gestaltete Einbanddecke – mit allen 22 Karikaturen der genannten Jahrgänge – erwerben. Über unseren jurisAllianz-Partner Verlagsgruppe Hüthig Jehle Rehm können die Einbanddecken zum Preis von 15 € inkl. USt bestellt werden (Ausl.Nr.: HR193320).

Wir möchten uns an dieser Stelle herzlich bei allen Lesern für ihre Teilnahme an unserer Umfrage bedanken. Wie an-gekündigt, haben wir unter allen Teilnehmern einen at-traktiven Preis verlost. Über einen Amazon Kindle eRea-der, bestückt mit fünf Sammlungen aus dem juris Lex Angebot, kann sich Herr Dr. Ludwig Thönnissen aus Erke-lenz freuen.

Die Umfrage hat gezeigt, dass das Konzept die Leser über-zeugt. Aber natürlich freuen sich die jM-Redaktion und die Herausgeber über weitere Anregungen und Verbesserungs-vorschläge. Sie erreichen die Redaktion ganz einfach unter [email protected].

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Die Monatszeitschrift

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Die Monatszeitschrift

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NEUES VON juris

ERSTAUFLAGE juris PraxisKommentar

Straßenverkehrsrecht online

StVG | StVO | Zivilrecht | Ordnungswidrigkeiten- und Straf-recht | StVZO | FeV | FZV

Herausgeber: Hans-Peter Freymann, Präsident des LG Saar-brücken, und Wolfgang Wellner, Richter am BGH, VI. Zivil-senat, Karlsruhe

Der neue juris PraxisKommentar Straßenverkehrsrecht ver-schafft professionelle Kenntnisse und

Rechtssicherheit für die Beratung und die richterliche Ent-scheidung. Die 30 Autoren sind überwiegend als Richter in den Kammern und Senaten tätig, die sich mit den speziel-len verkehrsrechtlichen Fragestellungen befassen, und prä-gen so die Rechtsprechung maßgeblich mit. Mit ihrer lang-jährigen Erfahrung kommentieren sie neben dem StVG und der StVO auch die zivilrechtlichen Grundlagen des Straßen-verkehrsrechts sowie die relevanten Regelungen des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts umfassend und praxis-nah. Mehr unter: www.juris.de/stvr

Inhalt:

Straßenverkehrsgesetz - StVG Straßenverkehrsordnung - StVO Haftung und Schadenersatz nach BGB und anderen

Vorschriften

Versicherungsrecht - PflVG / VVG / AKB / SGB X (Aus-züge) StGB / StPO / OWiG (Auszüge) Bußgeldkatalog - BKatV Fahrerlaubnis- und Zulassungsrecht – FeV/ FZV / StVZO

(in Vorbereitung)

Besuchen Sie uns in Halle 4.2 an Stand F 69!

juris präsentiert sich auf der Frankfurter Buchmesse, um den regen Austausch mit interessierten Besuchern, Part-nern, Autoren und Verlagen zu fördern. Dieses Jahr gibt es eine Fülle an Neuheiten wie z.B. die Erstauflage des juris PraxisKommentars Straßenverkehrsrecht, die Neuauflagen der juris PraxisKommentare Vergaberecht, UWG und BGB, der neue juris PraxisReport Vergaberecht, die aktuellen PartnerModule der jurisAllianz und die innovative Geset-zessammlung juris Lex. Vorbeischauen lohnt sich!

juris Webinare

Infos und Link zur kostenlosen Anmeldung unter: www.juris.de/webinare

Basis I Einführung in die juris Recherche

05.10.2016, 14:00 – 15:00 Uhr

26.10.2016, 11:00 – 12:00 Uhr

Basis II Personalisierungsfunktionen

12.10.2016, 14:00 – 15:00 Uhr

Fortgeschrittenen-Webinare

13.10.2016, 14:00 – 15:00 Uhr

Normen-Webinar

20.10.2016, 14:00 – 15:00 Uhr

www.juris.de/stvr

Ständige Online-Aktualisierung!NEU: Der Richterkommentar!

juris PraxisKommentarFreymann | Wellner

Die Autorinnen und Autoren dieses neuen juris PraxisKommentars prägen die verkehrsrechtliche Rechtsprechung maßgeblich mit. Um-fassend und praxisnah kommentieren sie das StVG, die StVO, die zivilrechtlichen Grundlagen und das relevante Straf- und Ordnungs-widrigkeitenrecht. Durch die ständige Online-Aktualisierung und die umfassende Verlinkung mit der juris Datenbank arbeiten Sie rechts-sicher und sparen wertvolle Zeit.

StraßenverkehrsrechtStVG | StVO | Zivilrecht | Ordnungswidrigkeiten- und Strafrecht |StVZO | FeV | FZV

www.juris.de/vergaberecht

Ständige Online-Aktualisierung!Neuauflage zur Reform 2016!

juris PraxisKommentarHeiermann | Summa | Zeiss

Mit der Neuauflage nutzen Sie einen der ersten Kommentare zur Ver-gaberechtsreform 2016. Berücksichtigt sind die zum 18.04.16 in Kraft getretenen umfangreichen strukturellen Änderungen des GWB, der VgV und der SektVO durch das VergRModG und die VergRModVO. Außerdem enthalten: Erläuterungen der neuen KonzVgV. Die umfas-sende Verlinkung mit der juris Datenbank garantiert Rechtssicherheit und Zeitersparnis.

VergaberechtGWB | VgV | SektVO | KonzVgV | VSVgV | VOB/A | VOL/A

5. Auflage 2016