21: Vektoranalysis und die Integrals¨atze von Gauß, …lschwach/WS12/HM-III/...Vektoranalysis und...

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Vektoranalysis und die Integrals¨ atze von Gauß, Green und Stokes 21: Vektoranalysis und die Integrals¨ atze von Gauß, Green und Stokes Zur Integration reeller Funktionen wurden folgende Regeln behandelt (f , g :[a, b ] R seien stetig differenzierbar): Einsetzen der Intervall-Grenzen in die Stammfunktion: b a f (x ) dx = f (x ) b a = f (b ) f (a). Partielle Integration: b a f (x )g (x ) dx = f (x )g (x ) b a b a f (x )g (x ) dx . Substitutionsregel (mit h :[α, β ] [a, b ] stetig differenzierbar): β α f (h(t ))h (t ) dt = h(β ) h(α) f (x ) dx . Unser Ziel ist die Verallgemeinerung der ersten beiden Regeln auf Volumen- und Oberfl¨ achenintegrale. ohere Mathematik 498

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Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes

21: Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes

Zur Integration reeller Funktionen wurden folgende Regeln behandelt(f , g : [a, b] → R seien stetig differenzierbar):

Einsetzen der Intervall-Grenzen in die Stammfunktion:�

b

a

f �(x) dx = f (x)

����b

a

= f (b)− f (a).

Partielle Integration:�

b

a

f (x)g �(x) dx = f (x)g(x)

����b

a

−�

b

a

f �(x)g(x) dx .

Substitutionsregel (mit h : [α,β] → [a, b] stetig differenzierbar):� β

αf (h(t))h�(t) dt =

�h(β)

h(α)f (x) dx .

Unser Ziel ist die Verallgemeinerung der ersten beiden Regeln auf Volumen- undOberflachenintegrale.Hohere Mathematik 498

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Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Differentialoperatoren der Vektoranalysis

21.1 Differentialoperatoren der Vektoranalysis

Die Menge M ⊆ Rn sei offen.

(i) Fur ein differenzierbares Skalarfeld f : M → R ist

∇f = (grad f )T =

�∂f

∂x1,∂f

∂x2, . . . ,

∂f

∂xn

�T

.

Der Differentialoperator ∇ = ( ∂∂x1

, . . . , ∂∂xn

)T (hebraisch “Nabla”) bildet dasSkalarfeld f in das Vektorfeld ∇f : M → R

n ab.

(ii) Fur ein zweimal differenzierbares Skalarfeld f : M → R ist

∆f =∂2f

∂x21+

∂2f

∂x22+ · · ·+ ∂2f

∂x2n

.

Der Differentialoperator ∆ = ∂2

∂x21+ ∂2

∂x22+ · · ·+ ∂2

∂x2n

heißt Laplace-Operator.

Man schreibt∆ = ∇ ·∇

formal als Skalarprodukt des Differentialoperators ∇ mit sich selbst(Multiplikation ist hier die Hintereinanderausfuhrung).

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Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Differentialoperatoren der Vektoranalysis

(iii) Fur ein differenzierbares Vektorfeld �v = (v1, v2, . . . , vn)T : M → R

n ist

div �v =∂v1∂x1

+∂v2∂x2

+ · · ·+ ∂vn∂xn

die Divergenz von �v . Man schreibt

div �v = ∇ · �v

formal als das Skalarprodukt des Differentialoperators ∇ mit �v .Der Differentialoperator div bildet das Vektorfeld �v in ein Skalarfelddiv �v : M → R ab.

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Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Differentialoperatoren der Vektoranalysis

(iv) (Nur fur n = 3) Fur ein differenzierbares Vektorfeld�v = (v1, v2, v3)

T : M → R3 ist

rot �v =

∂v3∂x2

− ∂v2∂x3

∂v1∂x3

− ∂v3∂x1

∂v2∂x1

− ∂v1∂x2

die Rotation von �v . Man schreibt

rot �v = ∇× �v

formal als das Kreuzprodukt des Differentialoperators ∇ mit �v .Der Differentialoperator rot bildet das Vektorfeld �v in ein Vektorfeldrot �v : M → R

3 ab.

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Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Rechenregeln

21.2 Rechenregeln

Die Menge M ⊆ R3 sei offen.

(i) Fur ein zweimal stetig differenzierbares Skalarfeld f : M → R gilt

rot (∇f ) = ∇× (∇f ) = �0.

(ii) Fur ein zweimal stetig differenzierbares Vektorfeld �v : M → R3 gilt

div (rot �v) = ∇ · (∇× �v) = 0.

(iii) Fur differenzierbares f : M → R und �v : M → R3 gilt

div (f �v) = ∇f · �v + f div �v .

(iv) Fur differenzierbares f : M → R und �v : M → R3 gilt

rot (f �v) = (∇f )× �v + f rot �v .

Beweis: Nachrechnen, (i) und (ii) folgen mit dem Satz von Schwarz (17.25).

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Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes harmonisch, quellenfrei, wirbelfrei

21.3 harmonisch, quellenfrei, wirbelfrei

Die Menge M ⊆ Rn sei offen.

(i) Ein zweimal differenzierbares Skalarfeld f : M → R heißt harmonisch, wenn∆f = 0 in M gilt.

(ii) Ein differenzierbares Vektorfeld �v : M → Rn heißt quellenfrei, wenn div �v = 0

in M gilt. (engl. “divergence free”)

(iii) Ein differenzierbares Vektorfeld �v : M → R3 (mit M ⊆ R

3) heißt wirbelfrei,wenn rot �v = �0 in M gilt. (engl. “rotation free”)

Bemerkung: Aus den Rechenregeln folgt sofort

Jedes differenzierbare Rotationsfeld �w = rot �v ist quellenfrei.

Jedes differenzierbare Gradientenfeld �v = ∇f ist wirbelfrei.

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Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Potentialfunktion und Vektorpotential

21.4 Potentialfunktion und VektorpotentialDie Menge M ⊆ R

3 sei ein Gebiet.

In 20.9 wurde definiert: Eine skalare Funktion f : M → R heißt Potential desVektorfeldes �v : M → R

3, wenn ∇f = �v gilt.

Fur stetig differenzierbare Vektorfelder �v liefert Satz 20.12 die notwendigeBedingung

rot �v = �0.

Also konnen nur wirbelfreie Vektorfelder ein Potential besitzen (siehe auchWegunabhangigkeit des vektoriellen Kurvenintegrals in Satz 20.12).

Das Vektorfeld �w : M → R3 heißt Vektorpotential von �v , wenn rot �w = �v

gilt.

Die Rechenregel 21.2(ii) ergibt fur stetig differenzierbares �v die notwendigeBedingung

div �v = 0.

Also konnen nur quellenfreie Vektorfelder ein Vektorpotential besitzen.

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Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Potentialfunktion und Vektorpotential

Die Bedingung div �v = 0 ist unter den gleichen Bedingungen an das GebietM wie in 20.12 auch hinreichend fur die Existenz eines Vektorpotentials.Falls M ein Wurfel oder eine Kugel ist, konnen wir z.B. das folgendeVektorpotential �w : M → R

3 wahlen:

w1(x , y , z) =

�z

z0

v2(x , y , t) dt −�

y

y0

v3(x , t, z0)) dt,

w2(x , y , z) = −�

z

z0

v1(x , y , t) dt, w3(x , y , z) = 0.

Das Vektorpotential ist nach Regel 21.2(i) nur bis auf die Addition einesbeliebigen Gradientenfeldes eindeutig:

rot (�w +∇f ) = rot �w .

Man kann f so wahlen, dass �w +∇f quellenfrei ist (sog. Coulomb-Eichung):

div (�w +∇f ) = 0 ⇐⇒ ∆f = −div �w .

Zu einem speziellen Vektorpotential �w berechnet man f also als Losung derPoisson-Gleichung.

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Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Divergenz als lokale Quellstarke

21.5 Divergenz als lokale QuellstarkeIm Gebiet M ⊆ R

3 sei ein stetig differenzierbares Vektorfeld �v : M → R3 gegeben.

Um den Punkt �x0 = (x0, y0, z0) ∈ M bilden wir kleine Wurfel

Wh = [x0 − h, x0 + h]× [y0 − h, y0 + h]× [z0 − h, y0 + h], h > 0,

die ganz in M liegen. Der Normalenvektor der Oberflache ∂Wh zeige nach außen.Die lokale Quellstarke von �v im Punkt �x0 ist der Grenzwert

x , y

z (0, 0, 1)

(0, 0,−1)

Wh

Qhz0

z0 + h

z0 − h

(x0, y0, z0)

(x0, y0)

limh→0

1

vol3(Wh)

∂Wh

�v · d�o,

also der Fluss des Vektorfeldes�v durch die Oberflache bezo-gen auf das Volumen.

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Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Divergenz als lokale Quellstarke

Wir berechnen zuerst den Fluss durch die Flachen parallel zur (x , y)-Ebene. MitQh = [x0 − h, x0 + h]× [y0 − h, y0 + h] ist dieser

Qh

v1(x , y , z0 + h)v2(x , y , z0 + h)v3(x , y , z0 + h)

·

001

+

v1(x , y , z0 − h)v2(x , y , z0 − h)v3(x , y , z0 − h)

·

00−1

�d(x , y)

=

Qh

(v3(x , y , z0 + h)− v3(x , y , z0 − h)) d(x , y)

=

Qh

��z0+h

z0−h

∂v3∂z

(x , y , z) dz

�d(x , y) =

Wh

∂v3∂z

(x , y , z)d(x , y , z).

Addieren wir den Fluss durch die anderen Flachen des Wurfels, erhalten wir�

∂Wh

�v · d�o =

Wh

div �v(x , y , z) d(x , y , z). (∗)

Der Mittelwertsatz der Integralrechnung 19.6 ergibt die lokale Quellstarke

limh→0

1

vol3(Wh)

∂Wh

�v · d�o = limh→0

1

vol3(Wh)

Wh

div �v(�x) d�x = div �v(�x0).

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Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Definition: Normalgebiet

21.6 Definition: Normalgebiet

Die Menge M ⊂ Rn (mit n = 2 oder 3) sei ein beschranktes Gebiet (also offen

und zusammenhangend). M heißt Normalgebiet,

(a) wenn es uber jeder Koordinatenachse im R2 (bzw. Koordinaten-Ebene im R

3)in endlich viele schlichte Gebiete M1, . . . ,MN zerlegbar ist (siehe Definition19.14) und

(b) jedes dieser Gebiete Mj einen Rand hat, der aus endlich vielen regularenKurven (fur n = 2, siehe 19.14) bzw. orientierten Flachenstucken (fur n = 3,siehe 20.14) besteht.

Erinnerung: Ein Gebiet M ⊆ R2 heißt schlicht uber der x-Achse, falls es stetige

Funktionen φ1,φ2 : [a, b] → R gibt mitM = {(x , y) ∈ R

2 | a < x < b, φ1(x) < y < φ2(x)}.

Analog heißt M ⊆ R3 schlicht uber der x-

y -Ebene, wenn es ein Gebiet G ⊆ R2 und

stetige Funktionen φ1,φ2 : G → R gibt mitM = {(x , y , z) ∈ R

3 | (x , y) ∈ G ,φ1(x , y) < z < φ2(x , y)}.

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Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Integralsatz von Gauß

Die Identitat (∗) in 21.5 besagt, dass das Volumenintegral uber die lokaleQuellstarke eines Vektorfeldes �v gleich dem Fluss des Vektorfeldes durch den Randdes Gebietes ist. Genau dies ist der Integralsatz von Gauß.

21.7 Integralsatz von Gauß

(i) in der Ebene: M ⊆ R2 sei ein Normalgebiet (21.6), �n sei der außere

Normalenvektor der Lange 1 von ∂M.Dann gilt fur jedes stetig differenzierbare Vektorfeld �v : M → R

2

∂M�v · �n ds =

M

div�v d(x , y).

(ii) im Raum: M ⊆ R3 sei ein Normalgebiet (21.6), �n sei der außere

Normalenvektor der Lange 1 von ∂M.Dann gilt fur jedes stetig differenzierbare Vektorfeld �v : M → R

3

∂M�v · �n dS =

M

div�v d(x , y , z).

Das Oberflachenintegral lasst sich auch schreiben als Flussintegral�∂M �v · d�o

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Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Flacheninhalt und Volumen

Anwendung:

21.8 Flacheninhalt und Volumen

Ein ebenes Normalgebiet M ⊆ R2 hat den Flacheninhalt

vol2(M) =1

2

∂M(x , y)�· �n ds,

wobei �n der außere Normalenvektor der Lange 1 von ∂M ist.

Ein raumliches Normalgebiet M ⊆ R3 hat den Flacheninhalt

vol3(M) =1

3

∂M(x , y , z)�· �n dS ,

wobei �n der außere Normalenvektor der Lange 1 von ∂M ist.

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Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Satz von Green

Fur ebene Normalgebiete lasst sich der Satz von Gaußmit dem vektoriellen Kurvenintegral 20.5 umschreiben.Bei der Parameterdarstellung �c : [a, b] → R

2 von ∂Mmuss man darauf achten, dass das Gebiet M beimDurchlaufen des Randes links liegt.

Dann erhalt man einen außeren Norma-lenvektor von ∂M durch Drehung desTangentenvektorss �n(t) = (n1(t), n2(t))um 90◦ im mathematisch negativen Sinn,also�

∂M

�v ·�t ds =

∂M

�v1

v2

�·�

t1

t2

�ds

=

∂M

�v1

v2

�·�

−n2

n1

�ds =

∂M

�v2

−v1

�·�n ds

�n =

�t2

−t1

�t =

�t1

t2

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Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Satz von Green

Mit dem Satz von Gauß erhalt man hieraus den Satz von Green

21.9 Satz von Green�

∂M(P dx + Q dy) =

� �

M

(Qx − Py ) d(x , y)

Fur

�PQ

�= 1

2

�−yx

�ergibt sich die Gauß’sche Flachenformel oder

Sektorformel

vol2(M) =1

2

∂M(x dy − y dx).

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Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Satz von Green

Anwendung des Gaußschen Satzes auf �v = g ∇h, also

div �v21.2(iii)= ∇g ·∇h + g div (∇h)

21.2(ii)= ∇g ·∇h + g ∆h

ergibt �

M

(∇g ·∇h + g ∆h) d�x =

∂Mg ∇h · �n dS .

Vertauschen von g und h ergibt�

M

(∇g ·∇h + h∆g) d�x =

∂Mh∇g · �n dS .

Subtraktion beider Identitaten fuhrt zu�

M

(g ∆h − h∆g) d�x =

∂M(g ∇h − h∇g) · �n dS .

Beachte: Die Skalarprodukte ∇g · �n und ∇h · �n sind die Richtungsableitungen vong (bzw. h) in Richtung des außeren Normalenvektors von ∂M (siehe 17.11)

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Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Greensche Integralformel

Wir haben damit folgenden Satz hergeleitet:

21.10 Greensche Integralformel

M ⊂ R2 (bzw. R3) sei ein Normalgebiet, g , h : M → R seien zweimal stetig

differenzierbar. Ist �n der außere Normalenvektor der Lange 1 von ∂M, so gilt im R2

M

(h ∆g − g ∆h) d(x , y) =

∂M

�h∂g

∂�n− g

∂h

∂�n

�ds

bzw. im R3

M

(h ∆g − g ∆h) d(x , y , z) =

∂M

�h∂g

∂�n− g

∂h

∂�n

�dS .

Wichtiger Spezialfall: h ≡ 1 ergibt in der Greenschen Formel�

M

∆g d(x , y) =

∂M

∂g

∂�nds

bzw. �

M

∆g d(x , y , z) =

∂M

∂g

∂�ndS .

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Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Vorbereitung zum Integralsatz von Stokes

G

�f F

Bildet man das Gebiet G in den R3 ab, erhalt man mit der Kettenregel aus dem

Satz von Green des Satz von Stokes.Andererseits ist der Satz von Green bzw. der ebene Satz von Gauß ein Spezialfalldes Satzes von Stokes.

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Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Vorbereitung zum Integralsatz von Stokes

21.11 Vorbereitung zum Integralsatz von StokesFur einen Normalbereich M ⊂ R

3 und jedes zweimal stetig differenzierbareVektorfeld �v : M → R

3 gilt nach dem Gaußschen Satz�

∂Mrot �v · �n dS =

M

div (rot �v) d�x21.2(ii)= 0.

Das Oberflachenintegral der “Zirkulationsstarke” rot �v · �n des Vektorfeldes �v inRichtung des Normalenvektors von ∂M ist also Null. Dies liegt i.w. daran, dass dieOberflache geschlossen ist, also keine Randkurven besitzt.

Fur Flachenstucke mit Randkurven lasst sich das Oberflachenintegral derZirkulationsstarke in ein vektorielles Kurvenintegral uberfuhren;

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Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Integralsatz von Stokes

Spezifikation des Flachenstucks F :G ⊂ R

2 sei ein Normalgebiet (ohne “Locher”), �f : G → R3 sei zweimal stetig

differenzierbar, �f |G sei injektiv und es gelte

�fu × �fv �= �0 in G .

Dann ist F = �f (G) ⊂ R3 ein orientiertes Flachenstuck (siehe 20.14) und

�n =1

|�fu × �fv |�fu × �fv

Spezifikation der Randkurven:∂G werde so durchlaufen, dass die geschlossene Bildkurve �f (∂G) auf F mit dem

Normalenfeld �n die Bewegungsrichtung einer Rechtsschraube hat. (Achtung: �f ist evtl.

nicht injektiv auf ∂G , Zwei Kurven konnen zusammenfallen, eine Kurve kann zu einem

Punkt zusammenschmelzen, siehe nachfolgendes Bsp. )

21.12 Integralsatz von Stokes

Das Gebiet U ⊆ R3 enthalte F . Mit den obigen Spezifikationen gilt fur jedes stetig

differenzierbare Vektorfeld �v : U → R3

F

rot �v · �n dS =

�f (∂G)�v · d�x .

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Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Integralsatz von Stokes

Der Fluss des Vektorfeldes rot �v durch die Flache F stimmt also mit der“Zirkulation” von �v langs dem “Rand von F” (genauer �f (∂G )) uberein.

Zum Vorzeichen: Beim Oberflachenintegral im Satz von Stokes bestimmt dasNormalenfeld von F das Vorzeichen.Beim vektoriellen Kurvenintegral bestimmt die Durchlauf-Richtung dasVorzeichen.Diese beiden Orientierungen passen zusammen, wenn die Durchlauf-Richtungder Kurve sich zum Normalenfeld wie die Rechtsdrehung einer Schraubeverhalt.

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Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Zusammenfassung der Integralsatze

Zusammenfassung der Integralsatze

Exemplarisch wird alles im R3 betrachtet.

Das Nachfolgende lasst sich in jeder Dimension interpretieren, es gibt eineeinheitliche Theorie der Differentialformen und der Integration auf

Mannigfaltigkeiten.

Wir betrachten Funktionen und Vektorfelder und die ”passenden” Definitionbereiche:

fd−→ �v = grad f

d−→ �w = rot �vd−→ g = div �w

(A) (B) (C)

2 Punkte∂←− Kurve

∂←− Flache∂←− Volumen

(A) Hauptsatz

d ist die Gradientenabbildung f −→ f�, und ∂ ordnet jeder Kurve ihren orientierten

Rand Endpunkt-Anfangspunkt zu.

Das Integral von f� uber eine Kurve ist das ”Integral” der Stammfunktion uber den

Rand, was man hier als vorzeichenbehaftete Auswertung interpretiert.

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Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Zusammenfassung der Integralsatze

(B) Der Satz von Stokesd ist die Rotation, und ∂ ordnet jeder Flache ihre passend orientierteRandkurve zu. Das Integral der Rotation eines Vektorfelds uber eine Flacheist das Integral des Vektorfelds uber die Randkurve.

(C) Der Satz von Gaußd ist die Divergenz, und ∂ ordnet jedem beschrankten Volumen dieorientierte Randflache zu. Das Integral der Divergenz eines Vektorfelds uberein Volumen ist des Integral des Feldes uber die Oberflache (als Flußintegral).

All diese Falle lassen sich zusammenfassen.

Allgemeiner Satz von Stokes

Ist M eine orientierbare berandete Mannigfaltigkeit (das ist der Oberbegriff fur dievon uns betrachteten Kurven Flachen und Volumina), so gilt

∂Mv =

M

dv .

Die Bedeutung der Symbole erschließt sich jeweils aus den oben aufgefuhrtenZusammenhangen.

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Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Zusammenfassung der Integralsatze

Außerdem gilt stets d ◦ d = 0 und ∂ ◦ ∂ = ∅:rot grad f = �0 und div rot �v = 0

Der Rand einer geschlossenen Kurve hat keine Randpunkte, und dieRandflache eines Volumens hat keine Randkurve.

Auf sternformigen Gebieten gilt umgekehrt: dw = 0 =⇒ es gibt v mit w = dv .Das sind die Integrabilitatsbedingungen: Ist rot �v = �0, so hat �v ein Potential, istdiv �w = 0, so gibt es ein Vektorpotential.

Umgekehrt lasst sich das benutzen, um Mengen zu klassifizieren: hat das GebietG ⊂ R

3 ein punktformiges ”Loch”, so gibt es ein Vektorfeld mit Divergenz Null,

das kein Vektorpotential besitzt, z.B.1

(x2 + y2 + z2)3/2(x , y , z)�.

In diesem Fall gibt es dann auch eine geschlossene (=ohne Randkurve) Flache, diekein Volumen berandet, namlich Oberflache der Einheitkugel - der Nullpunkt fehltdem Volumen ja.

Hohere Mathematik 521

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Vektoranalysis und die Integralsatze von Gauß, Green und Stokes Zusammenfassung der Integralsatze

Fehlt dem Gebiet G eine Achse (z.B. R3 \ {(x , y , z) | z = 0}), so gibt es einVektorfeld mit Rotation Null, das kein Potential besitzt, z.B.� y

x2 + y2,

−x

x2 + y2, 0��.

Dann gibt es auch eine geschlossene Kurve, die nicht Randkurve einer Flache ist,z.B. {(x , y , z) | x2 + y2 = 1, z = 0}. Die fehlende z-Achse verhindert, dass man inden Kreis eine Flache einspannen kann.

Diese Phanomene werden mit der de Rham-Kohomologie genauer untersucht - einwunderschones Stuck Mathematik, das wir hier nicht behandeln konnen.

Hohere Mathematik 522

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Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Motivation

Kap. 22: Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung

22.1 Motivation Viele Prozesse der Natur werden durch Differentialgleichungenoder Systeme von Differentialgleichungen beschrieben. Hierbei werdenBeziehungen zwischen der Funktion y : [a, b] → R (z.B. zeitabhangige Große y(t)mit t ∈ [a, b]) und ihrer Ableitungen y �(t), y ��(t), . . . dargestellt, die man nach yauflosen muss.

y � = αy mit α ∈ R,exponentieller Wachstums- bzw. Zerfallprozess, allgemeine Losung isty : R → R mit y(t) = Ceαt mit beliebiger Konstante C ∈ R. Meist wird dieKonstante durch die Angabe eines Anfangswerts y(t0) = y0 bestimmt.

y � = αy(R − y) mit α > 0,logistischer Wachstumsprozess, Losungen sind y : R → R mit

y(t) =R

1 + Ce−αRtmit beliebiger Konstante C > 0. Zu dem Anfangswert

0 < y(0) = y0 < R ermittelt man C = R

y0− 1 > 0.

Beachte: Es gibt andere Losungen mit C ≤ 0.

Hohere Mathematik 523

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Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Motivation

Ein System von Differentialgleichungen kann die Dynamik und dieWechselwirkung mehrerer Prozesse modellieren, wie z.B. dasRauber-Beute-Modell von Lotka und Volterra: die Population der Beutetierey1 hat die exponentielle Wachstumsrate a, die jedoch durch die Anwesenheitder Raubtierpopulation y2 (gewichtet mit der Beuterate b) vermindert wird.Die Differenz aus Reproduktions- und Sterberate der Raubtierpopulation y2schwankt in Abhangigkeit der Große der Population der Beutetiere:

y �1 = y1(a− by2)y �2 = y2(cy1 − d)

Die interessante Feststellung, dass die Losungen y1 und y2 periodisch sind,bezeichnet man als 1. Volterra-Regel. Man beachte noch, dass die konstantenLosungen y1(t) = d/c und y2(t) = a/b fur alle t ∈ R einenGleichgewichtszustand (sog. Fixpunkt, stationare Losung) beschreiben.

Hohere Mathematik 524

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Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Richtungsfeld

22.2 RichtungsfeldDie Differentialgleichung

y � = f (x , y) (∗)

lasst sich veranschaulichen im Richtungs-feld: wenn der Punkt (x , y) ∈ R

2 zumGraphen einer Losung y = y(x) gehort,so wird durch (*) die Steigung y �(x) =f (x , y) in diesem Punkt angegeben. Wirzeichnen also ein kurzes Geradenstuckmit dieser Steigung und bekommen einenEindruck uber den weiteren Verlauf desGraphen der Losung:

Zur Differentialgleichung y � = −yerhalten wir z.B. die folgendenLosungen:

Hohere Mathematik 525

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Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Richtungsfeld

Zur Differentialgleichung y � =�|y | erhalten wir Losungen, die sich

verzweigen konnen:

Losungen sind z.B.

y1 =1

4(x − c)2 (x > c)

y2 = 0 (a < x < b)

y3 = −1

4(x − d)2 (x < d)

und Funktionen, die sichdaraus zusammensetzenlassen.

Hohere Mathematik 526

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Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Definition: Losung einer Differentialgleichung

22.3 Definition: Losung einer Differentialgleichung

Gleichungen der Gestalt

y � = f (x , y) oder F (x , y , y �) = 0 (∗)

heißen (explizite bzw. implizite) Differentialgleichungen 1. Ordnung.

Eine Losung der Differentialgleichung ist eine auf einem Intervall I ⊆ R definiertedifferenzierbare Funktion y : I → R, die die Gleichung (*) fur jedes x ∈ I erfullt.

Beispiele:

y� = 2xy − x

2y3 ist eine explizite Dgl. 1. Ordnung.

y(y � + 1)2 − y2

x2= 0 ist eine implizite Dgl. 1. Ordnung.

Hohere Mathematik 527

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Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Definition: Anfangswertproblem (AWP)

Eine Dgl. hat im allgemeinen unendlich viele Losungen (siehe Integration).

22.4 Definition: Anfangswertproblem (AWP)

Ein Anfangswertproblem besteht aus einer Differentialgleichung 1. Ordnung(explizit oder implizit) sowie einer Anfangsbedingung y(x0) = y0 an einer festenStelle x0.

Eine Losung y : I → R der Dgl. ist auch Losung des AWP, wenn x0 ∈ I undy(x0) = y0 gilt.

Ziel:

Berechnung der allgemeinen Form der Losungen einer Dgl.

Ergebnisse zu Existenz, maximalem Definitionsbereich und Eindeutigkeit derLosungen eines AWP

Hohere Mathematik 528

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Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Definition und Satz: Lineare Dgl. 1. Ordnung

Der wichtigste Typ von Differentialgleichungen 1. Ordnung

22.5 Definition und Satz: Lineare Dgl. 1. Ordnung

(i) Die explizite Dgl. 1. Ordnung

y � = p(x)y + q(x)

mit stetigen Funktionen p, q : I → R auf dem offenen Intervall I =]a, b[ heißtlineare Differentialgleichung 1. Ordnung.

(ii) Die Abbildung y �→ y � − p(x)y ist eine lineare Abbildung von C 1(I ) nachC (I ). Der Kern besteht aus den Losungen der homogenen Gleichungy � = p(x)y .

(iii) Der Kern hat die Dimension 1 und besteht aus den Vielfachen von

yh := e�p(t) dt .

Hohere Mathematik 529

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Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Definition und Satz: Lineare Dgl. 1. Ordnung

(iv) Eine partikulare Losung yp der inhomogenen Gleichung y � = p(x)y + q(x)erhalt man durch Variation der Konstanten:

yp(x) = yh(x)

�q(x)

yh(x)dx

(v) Die allgemeine Losung der inhomogenen Gleichung ist dann

y(x) = Cyh(x) + yp(x), C ∈ R

(vi) Fur x0 ∈ I ist die eindeutige Losung zum Anfangswert y(x0) = y0 gegebendurch

y : I → R, y(x) = eP(x)

�y0 +

�x

x0

q(t)e−P(t) dt

�,

wobei P(x) =

�x

x0

p(t) dt die Stammfunktion von p mit P(x0) = 0 ist.

Hohere Mathematik 530

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Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Bemerkungen

22.6 Bemerkungen:

(a) Naturlich kann man das Anfangswertproblem statt wie in (vi) auch so losen,dass man in (v) die passende Konstante bestimmt.

(b) Bemerkenswert ist, dass die Losung der linearen Dgl. 1. Ordnung imgesamten Intervall I , auf dem die Funktionen p, q stetig sind, existiert. Diesist fur nicht-lineare Dgl. nicht der Fall!

Die beiden wichtigsten linearen Differentialgleichungen

(a) y � = αy (mit α ∈ R) hat die allgemeine Losung y(x) = Ceαx auf I = R.Zum Anfangswert y(x0) = y0 lautet die eindeutige Losung y(x) = y0eα(x−x0).

(b) y � =αy

x(mit α ∈ R \ {0}) hat die allgemeine Losung y(x) = Cxα auf

I = (0,∞) bzw. y(x) = C |x |α auf I = (−∞, 0).Zum Anfangswert y(x0) = y0 mit x0 �= 0 lautet die eindeutige Losung

y(x) = y0�

x

x0

�αauf demjenigen der beiden Intervalle (0,∞) oder (−∞, 0),

das x0 enthalt.

Hohere Mathematik 531

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Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Bernoulli-Dgl.

Durch Substitution lassen sich manche Differentialgleichungen in bekannte Typenuberfuhren.

22.7 Bernoulli-Dgl.

Die explizite Differentialgleichung 1. Ordnung

y � = p(x)y + q(x)yα mit α �= 0, 1

heißt Bernoulli’sche-Differentialgleichung. Durch Substitution u = y1−α (unter derBedingung y �= 0, u �= 0) erhalt man die lineare Dgl.

u� = (1− α)p(x)u + (1− α)q(x).

Weiterhin ist fur α > 0 immer y ≡ 0 eine Losung.

Hohere Mathematik 532

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Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Existenzsatz von Peano

Allgemeine explizite Differentialgleichungen 1. Ordnung haben die Form

y � = f (x , y)

22.8 Existenzsatz von Peano

Die Funktion f : M → R sei stetig im Gebiet M ⊆ R2.

Dann existiert zu jedem Punkt (x0, y0) ∈ M ein Intervall I = (x0 − δ, x0 + δ) sowieeine differenzierbare Funktion y : I → R, die das AWP

y � = f (x , y), y(x0) = y0

auf I lost.

Hohere Mathematik 533

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Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Existenz- und Eindeutigkeitssatz von Picard und Lindelof

22.9 Existenz- und Eindeutigkeitssatz von Picard und Lindelof

Die Funktion f : M → R sei stetig im Gebiet M ⊆ R2 und ihre partielle Ableitung

∂f∂y existiere und sei ebenfalls stetig.

Dann existiert zu jedem Punkt (x0, y0) ∈ M ein Intervall I = (x0 − δ, x0 + δ) sowieeine differenzierbare Funktion y : I → R, die das AWP

y � = f (x , y), y(x0) = y0

auf I lost. Weiterhin gilt: Jede weitere Losung z = z(x) desselben AWP stimmtauf I mit y uberein.

Bemerkung: Die lokale Eindeutigkeit besagt, dass sich Losungen zu verschiedenenAnfangswerten in M nicht schneiden oder verzweigen konnen!

Hohere Mathematik 534

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Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Bemerkung

22.10 Bemerkung Die rechte Seite f : M → R mit M ⊆ R2 sei stetig und stetig

partiell nach y differenzierbar. Aus dem Existenz- und Eindeutigkeitssatz 22.9ergibt sich eine eindeutig bestimmte Losung des AWP

y � = f (x , y), y(x0) = y0,

mit einem “maximalen Definitionsbereich” I = (a, b) um den Punkt x0: DasIntervall I ist so gross, dass der Graph der Losung y : I → R an den Rand desDefinitionsbereichs M stoßt. (Dies kann auch ein uneigentlicher Grenzwert ±∞sein.)Man sagt daher:Die Losungen des AWP gehen “von Rand zu Rand”.

Hohere Mathematik 535

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Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Bemerkung

Diskussion weiterer “Typen” von gewohnlichen Differentialgleichungen:

Dgl. mit getrennten Variablen (oder separierte Dgl.)

Dgl. vom homogenen Typ

exakte Dgl.

Hohere Mathematik 536

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Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Dgl. mit getrennten Variablen

22.11 Dgl. mit getrennten Variablen

Seien f : I → R und g : J → R stetig. Die gewohliche Dgl. 1. Ordnung

y � = f (x)g(y)

heißt Dgl. mit getrennten Variablen.

Sind f und g stetig differenzierbar und sind x0 ∈ I , y0 ∈ J gegeben, so erhalt mandie eindeutige Losung des AWP

als konstante Funktion y(x) = y0 fur alle x ∈ I , falls g(y0) = 0 ist;

durch Auflosen der Gleichung

�y

y0

g(η)=

�x

x0

f (ξ) dξ

nach y , falls g(y0) �= 0 ist. Hierbei ist ein maximaler DefinitionsbereichI1 = (x0 − δ1, x0 + δ2) von y zu bestimmen.

In der Praxis lost oft man

�dy

g(y)=

�f (x) dx + C nach y auf.

Hohere Mathematik 537

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Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Dgl. vom homogenen Typ

22.12 Dgl. vom homogenen Typ

Die gewohnliche Dgl. 1. Ordnung

y � = f�yx

mit stetigem f : J → R heißt Dgl. vom homogenen Typ.

Die Substitution u =y

xfuhrt auf die Dgl. mit getrennten Variablen

u� =f (u)− u

x

und wird z.B. wie in 22.11 gelost.

Beweis:du

dx=

xy� − y

x2=

y� − y

x

x=

f (u)− u

x.

Hohere Mathematik 538

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Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Dgl. vom Typ y� = f (ax + by + c)

22.13 Dgl. vom Typ y � = f (ax + by + c)Zu stetigem f : J → R und Zahlen a, b, c ∈ R, b �= 0 betrachten wir diegewohnliche Dgl.

y � = f (ax + by + c).

Substitution u = ax + by + c ergibt

u� = a+ by � = a+ bf (u),

weiter mit getrennten Variablen.

Hohere Mathematik 539

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Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Exakte Dgl.

22.14 Exakte Dgl.

Die gewohnliche Dgl. 1. Ordnung

f1(x , y) + f2(x , y)y� = 0

mit einem stetigen Vektorfeld �f =

�f1f2

�: M → R

2 heißt exakte Dgl., wenn �f

lokal ein Gradientenfeld ist (siehe 20.9).Ist F ein Potential von �f und ist (x0, y0) mit f2(x0, y0) �= 0 gegeben, so ist ineinem Intervall (x0 − δ, x0 + δ) die Losung des AWP

f1(x , y) + f2(x , y)y� = 0, y(x0) = y0,

eindeutig durch Auflosen von F (x , y(x)) = F (x0, y0) bestimmt (siehe Satz 18.17).

Beweis: Satz uber implizite Funktionen 18.17 anwenden.

Hohere Mathematik 540

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Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Bemerkungen

22.15 Bemerkungen

(a) In den meisten Fallen ist �f =

�f1f2

�stetig differenzierbar. �f ist lokal ein

Gradientenfeld genau dann, wenn die Integrabilitatsbedingung∂f1∂y

=∂f2∂x

gilt.

(b) Haufig wird ein Gradientenfeld �f = (f1, f2) erst durch Multiplikation dergegebenen Dgl. erzeugt: Wir nennen die Funktion m(x , y) einenintegrierenden Faktor oder Eulerschen Multiplikator der Dgl., wenn

m(x , y)f1(x , y) +m(x , y)f2(x , y)y� = 0

eine exakte Dgl. ist. Dann muss also

my f1 +mf1,y = mx f2 +mf2,x

gelten.

Hohere Mathematik 541

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Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Bemerkungen

Spezialfall: m = m(x), d.h. m hangt nur von x und nicht von y ab. So einFaktor existiert genau dann, wenn

f1,y − f2,xf2

:= g(x)

nicht von y abhangt Dann erfullt m die lineare homogene Dgl. mx = g(x)m,also kann man

m = eG(x) mit G (x) =

�g(x) dx wahlen.

Analog erhalt man einen nur von y abhangenden integrierenden Faktor eH(y),wenn

f2,x − f1,yf1

=: h(y)

nur von y abhangt und H Stammfunktion von h ist.Beachte: Durch Multiplikation mit m konnen zusatzliche Losungen entstehen

(m(x , y) = 0) oder Losungen verlorengehen (1

m(x , y)= 0).

Eine Probe der Ergebnisse in der ursprunglichen Dgl. ist notwendig!

Hohere Mathematik 542

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Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Alternative Formulierung

22.16 Alternative Formulierung

Eine in x und y symmetrische Schreibweise ist

f1(x , y) dx + f2(x , y) dy = 0.

Sie ist zu f1(x , y) + f2(x , y)y � = 0 oder f1(x , y)dx

dy+ f2(x , y) = 0 aquivalent.

Dies wird gelegentlich als Differentialgleichung fur Kurvenscharen bezeichnet.

Ist y eine Losung von f1 + f2y � = 0, dann wird durch x �→ (x , y(x)) eine Kurvedefiniert. Umgekehrt bezeichnet man jede Kurve t �→ (x(t), y(t)) als Losung, wenn

f1(x(t), y(t))dx(t)

dt+ f2(x(t), y(t))

dy(t)

dt= 0

identisch erfullt ist. Damit erhalt man (unter Einschrankungen) die Kurve(x , y(x)), aber nicht die Durchlaufgeschwindigkeit.

Hohere Mathematik 543

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Gewohnliche Differentialgleichungen 1. Ordnung Orthogonale Trajektorien

22.17 Orthogonale Trajektorien

Eine Kurvenschaar in einem Gebiet G ist eine Menge von Kurven, so dass jederPunkt von G auf genau einer Kurve liegt.Ist U eine Kurvenschaar in G , so nennt man die Kurvenschaar V orthogonaleTrajektorien zu U, wenn jede Kurve in U jede Kurve in V senkrecht schenidet(falls es einen Schnittpunkt gibt).Besteht U aus den Losungen der Dgl. y � = f (x , y), so erfullen die Kurven in V die

Dgl. y � =−1

f (x , y).

Beispiel Die Hyperbelschaaren x2 − y2 = C und xy = D.

Hohere Mathematik 544

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Systeme von Differentialgeichungen

23: Systeme von Differentialgleichungen

Im letzten Abschnitt wurde als Beispiel ein System von Differentialgleichungenvorgestellt:

y �1 = y1(a− by2)y �2 = y2(cy1 − d).

Es beschreibt das Lotka-Volterra-Modell der Wechselwirkung zweierWachstumsprozesse von Populationen y1 (Beutetiere) und y2 (Raubtiere). DiesesSystem ist nichtlinear, weil Produkte der gesuchten Funktionen y1y2 auftreten.

Wir behandeln in diesem Kapitel:

Allgemeine Aussagen zur Existenz und Eindeutigkeit der Losung

Losung von linearen Dgl.-SystemenFundamentalsystem des homogenen SystemsVariation der Konstanten zur Losung des inhomogenen SystemsKonstante Koeffizienten

Hohere Mathematik 545

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Systeme von Differentialgeichungen Differentialgleichungssystem

23.1 Differentialgleichungssystem

Ein System gewohnlicher Differentialgleichungen 1. Ordnung ist gegeben durch

y �1 = f1(x , y1, y2, . . . , yn)

y �2 = f2(x , y1, y2, . . . , yn)

...

y �n

= fn(x , y1, y2, . . . , yn)

In Vektorschreibweise lautet dies

Y � = F (x ,Y ).

Hierbei ist F = (f1, . . . , fn)T : I ×M → Rn (mit I ⊆ R und M ⊆ R

n) dasgegebene Vektorfeld der rechten Seite und Y = (y1, . . . , yn)T das gesuchtedifferenzierbare Vektorfeld.Eine Losung des Dgl.-Systems ist ein differenzierbares VektorfeldY = (y1, . . . , yn)T : J → R

n auf einem Intervall J ⊆ I , das

Y �(x) = F (x ,Y (x)) fur alle x ∈ J erfullt.

Hohere Mathematik 546

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Systeme von Differentialgeichungen Differentialgleichungssystem

Anfangswertproblem (AWP): Zum Dgl.-System Y � = F (x ,Y ) mitF : I ×M → R

n wird als Anfangsbedingung

Y �(x0) = Y0

mit einem x0 ∈ I und einem Vektor Y0 ∈ M vorgegeben.

Beachte: Wir haben nur eine “Variable” x ∈ I ; der VektorY �(x) = (y �

1(x), y�2(x), . . . , y

�n(x))T besteht aus den ublichen Ableitungen der

Komponenten-Funktionen y1, . . . , yn nach x .

Fur Dgl.-Systeme 1. Ordnung bleiben die Satze zur Existenz ( 22.8) und Eindeutigkeit (22.9)

erhalten:

Hohere Mathematik 547

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Systeme von Differentialgeichungen Existenzsatz von Peano

23.2 Existenzsatz von Peano

Die Funktion F : I ×M → Rn sei stetig im Gebiet I ×M ⊆ R

n+1.

Dann existiert zu jedem Punkt (x0,Y0) ∈ I ×M ein Intervall J = (x0 − δ, x0 + δ)sowie ein differenzierbares Vektorfeld Y : J → R

n, das das AWP

Y � = F (x ,Y ), Y (x0) = Y0

auf J lost.

23.3 Existenz- und Eindeutigkeitssatz von Picard und Lindelof

Zusatzlich seien die partiellen Ableitungen ∂F∂yk

, 1 ≤ k ≤ n, in I ×M definiert undstetig.

Dann existiert zu jedem Punkt (x0,Y0) ∈ I ×M ein Intervall J = (x0 − δ, x0 + δ)sowie ein differenzierbares Vektorfeld Y : J → R

n, das das AWP

Y � = F (x ,Y ), Y (x0) = Y0

auf J lost. Weiterhin gilt: Jede weitere Losung Z = Z (x) desselben AWP stimmtauf J mit Y uberein.

Hohere Mathematik 548

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Systeme von Differentialgeichungen Losungen gehen von Rand zu Rand

Wie in Bemerkung 22.10 gilt auch hier:

23.4 Losungen gehen von Rand zu Rand

Die Losungen des AWP

Y � = F (x ,Y ), Y (x0) = Y0,

gehen von Rand zu Rand des Definitionsbereichs von F .

23.5 Autonome Systeme

Ein Dgl-Systen heißt autonom, wenn es die Form

Y � = F (Y )

hat, d.h. wenn die rechte Seite nicht von x abhangt.

Fur autonome Systeme gilt: Ist Y (x) eine Losung mit dem Definitionsbereich(a, b), dann ist fur c ∈ R die Funktion Y (x − c) eine Losung auf (a+ c , b + c).

Hohere Mathematik 549

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Systeme von Differentialgeichungen Orbit

23.6 Orbit

Ist Y � = F (Y ) ein autonomes System und U eine Losung mit DefinitionsintervallI , so heißt die Menge {U(x) | x ∈ I} Orbit oder Bahnkurve oder Trajektorie derLosung.Der Definitionsbereich von F heißt Phasenraum.

Beispiel: Das System

�y1y2

��=

�y12y2

�hat die allgemeine Losung

y1(x) = C1ex , y2(x) = C2e2x .Die Orbits sind

der Ursprung

{(y1, 0) | y1 > 0}{(y1, 0) | y1 < 0}{(0, y2) | y2 > 0}{(0, y2) | y2 < 0}{(y1,Cy2

1 ) | y1 > 0} (“halbeParabeln”) mit C ∈ R

{(y1,Cy21 ) | y1 < 0} (“halbe

Parabeln”) mit C ∈ R

Hohere Mathematik 550

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Systeme von Differentialgeichungen Erstes Integral

23.7 Erstes Integral

Sei Y � = F (Y ) eine (autonomes) Dgl.-System mit Definitonsbereich M := R× I ,I Gebiet in R

n. Eine Funktion G : M −→ R heißt Erstes Integral des Systems,wenn gilt: Ist U(x) eine Losung von Y � = F (Y ), so ist G (U(x)) konstant.

Das bedeutet, dass die Orbits in den Hohenlinien von G verlaufen.

Berechnung eines ersten Integrals eines zweidimensionalen Systems

Ist G (y1, y2) eine Losung der exakten Dgl.

f2(y1, y2)dy1dx

− f1(y1, y2)dy2dx

= 0,

so ist G ein erstes Integral des Systems

�y1y2

��=

�f1(y1, y2)f2(y1, y2)

Hohere Mathematik 551

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Systeme von Differentialgeichungen Erstes Integral

Beispiel: Das Dgl.-System 23.1 von Lotka und Volterra lautet inVektorschreibweise

Y � = F (x ,Y )

mit Y = (y1, y2)T und der rechten Seite

F (x ,Y ) =

�y1(a− by2)y2(cy1 − d)

�.

F ist in R× R2 definiert (also I = R und M = R

2 in 23.2 und 23.3) und stetig.Die partiellen Ableitungen nach y1, y2 existieren offensichtlich und sind stetig.

Also existiert die Losung Y =

�y1y2

�zu jedem Anfangswert (x0,Y0) ∈ R× R

2,

und sie ist eindeutig.

Falls die Losungs-Komponenten y1, y2 : J → R beide beschrankt sind, so folgtsogar J = R, d.h. die Losungen gehen “von Rand zu Rand” desDefinitionsbereichs von F .

Hohere Mathematik 552

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Systeme von Differentialgeichungen Erstes Integral

Die Orbits der Volterra-Lotka-Dgl. fur a = b = c = d = 1.

0

0.5

1

1.5

2

2.5

y_2

0.5 1 1.5 2 2.5y_1

Hohere Mathematik 553

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Systeme von Differentialgeichungen Lineares System 1. Ordnung

Der restliche Abschnitt behandelt lineare Systeme von Dgl’n.

23.8 Lineares System 1. Ordnung

Das Dgl.-System 1. Ordnung

y �1 = a11(x)y1 + a12(x)y2 + · · ·+ a1n(x)yn + g1(x)

y �2 = a21(x)y1 + a22(x)y2 + · · ·+ a2n(x)yn + g2(x)

...

y �n

= an1(x)y1 + an2(x)y2 + · · ·+ ann(x)yn + gn(x)

mit stetigen Funktionen aj,k : I → R und gj : I → R heißt linear.

In Vektorschreibweise lautet dies

Y � = A(x) Y + G ,

wobei A die n × n-Matrix der Funktionen aj,k ist und G = (g1, . . . , gn)T gesetztwird.

Im Fall g1 = g2 = · · · ≡ 0 heißt das System homogen, ansonsten inhomogen.

Hohere Mathematik 554

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Systeme von Differentialgeichungen Satz: Losungsstruktur

Die Losungsmenge hat wieder eine lineare Struktur.

23.9 Satz: Losungsstruktur

Die Funktionen aj,k und die rechten Seiten gj seien auf I = (a, b) definiert undstetig. Dann gilt:

(i) Die Losungen Y = (y1, . . . , yn)T des homogenen Dgl.-Systems Y � = A(x) Ysind auf I definiert. Sie bilden einen n-dimensionalen Teilraum desVektorraums der differenzierbaren Vektorfelder auf I .

Eine Basis Φ1 = (φ1,1, . . . ,φn,1)T , . . ., Φn = (φ1,n, . . . ,φn,n)T diesesTeilraums heißt Fundamentalsystem oder Hauptsystem von Losungen.

(ii) Ist Ψ = (ψ1, . . . ,ψn)T eine spezielle (=partikulare) Losung des inhomogenenDgl.-Systems Y � = A(x) Y + G (x), so sind alle Losungen dieses Systemsdurch

Y (x) = Ψ(x) + c1Φ1(x) + · · ·+ cnΦn(x)

mit beliebigen Koeffizienten c1, . . . , cn ∈ R gegeben.

Hohere Mathematik 555

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Systeme von Differentialgeichungen Satz: Losungsstruktur

(iii) Zu x0 ∈ I seien die Anfangswerte Y (x0) = Y0 gegeben. Dann hat das AWP

Y � = A(x) Y + G (x), Y (x0) = Y0

eine eindeutig bestimmte Losung Y : I → Rn.

Hohere Mathematik 556

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Systeme von Differentialgeichungen Definition: Fundamentalmatrix, Wronski-Determinante

Ein Fundamentalsystem dient

zur Losung des AWP analog zu 22.5

Losung des inhomogenen Dgl.-systems durch Variation der Konstanten,analog zu 22.5

23.10 Definition: Fundamentalmatrix, Wronski-Determinante

Gegeben sei das homogene lineare Dgl.-system Y � = A(x)Y mit stetigenFunktionen aj,k : I → R in der Koeffizientenmatrix A.Zum Fundamentalsystem Φ1, . . . ,Φn : I → R

n bilden wir die Fundamentalmatrix

Φ(x) = (Φ1(x),Φ2(x), . . . ,Φn(x)).

Ihre Determinante W(x) = detΦ(x) heißt Wronski-Determinante.

Y ist Losung von Y � = AY ⇐⇒ Y (x) = Φ(x)C fur einen Vektor C ∈ Rn.

Φ erfullt die Matrix-Dgl. Φ� = A(x)Φ.

Sei C eine invertierbare (konstante) n × n-Matrix. Dann ist mit Φ auch ΦCeine Fundamentalmatrix.

Auf diese Weise erhalt man alle Fundamentalsysteme

Hohere Mathematik 557

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Systeme von Differentialgeichungen Satz von Liouville

23.11 Satz von Liouville

Die Wronski-Determinante erfullt die lineare homogene Dgl. 1. Ordnung

W �(x) = trA(x)W(x),

wobeitrA(x) = Spur(A(x)) = a11(x) + a22(x) + · · ·+ ann(x)

die Spur (engl. “trace”) von A(x) bezeichnet.

Insbesondere gilt:

Ist Φ(x) Fundamentalmatrix des homogenen linearen Dgl.-systems aufI = (a, b) (also Φ1, . . . ,Φn linear unabhangige Losungen), so gilt W(x) �= 0fur alle x ∈ I . Deshalb ist Φ(x) fur alle x ∈ I invertierbar.

Sind Φ1, . . . ,Φn Losungen, so dass Φ(x0) regular ist, so ist Φ regular furjedes ∈ I .

Hohere Mathematik 558

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Systeme von Differentialgeichungen Variation der Konstanten

Derselbe Bezug zur Dgl. n-ter Ordnung findet sich in der allgemeinen Form der “Variation der

Konstanten”, siehe 22.5

Ziel: Berechnen einer Losung des inhomogenen Dgl.-systems

Y � = A(x) Y + G (x).

23.12 Variation der Konstanten

Das Fundamentalsystem Φ1, . . . ,Φn : I → Rn des zugehorigen homogenen

linearen Dgl.-systems sei gegeben. Das Vektorfeld

Ys(x) = c1(x)Φ1(x) + · · ·+ cn(x)Φn(x) = Φ(x)C (x)

mit differenzierbaren Funktionen c1, . . . , cn : I → R ist eine spezielle Losung desinhomogenen linearen Dgl.-systems, wenn die Ableitungen c �1, . . . , c

�nfur jedes

x ∈ I das lineare Gleichungssystem

Φ(x)C �(x) = G (x) ⇐⇒ C �(x) = Φ−1(x)G (x)

erfullen.

Hohere Mathematik 559

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Systeme von Differentialgeichungen Die Matrixexponentialfunktion

Dgl.-Systeme mit konstante Koeffizienten

23.13 Die Matrixexponentialfunktion

Sei A eine (konstante) n × n-Matrix. Mit A0 := E definieren wir

exp(xA) :=∞�

k=0

xk

k!Ak .

Dann gilt:

(i) Die Reihe konvergiert auf R gegen eine differenzierbare matrixwertigeFunktion (→ HM 3).

(ii) Es istd

dxexp(xA) = A exp(xA).

(iii) Fur x = 0 ist exp(0A) = E , also invertierbar.

(iv) exp(xA) ist Fundamentalmatrix zu Y � = AY .

Hohere Mathematik 560

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Systeme von Differentialgeichungen Berechnung von exp(xA), A diagonalisierbar

Erinnerung: Ist A diagonalisierbar, so ist A = SJS−1. Dabei ist J eineDiagonalmatrix, die die Eigenwerte von A enthalt, und in den Spalten von Sstehen die entsprechenden Eigenvektoren.

23.14 Berechnung von exp(xA), A diagonalisierbar

(i) A0 = E = SJ0S−1, A2 = SJS−1SJS−1 = SJ2S−1, Ak = SJkS−1.

exp(xA) =∞�

k=0

xk

k!Ak = S

� ∞�

k=0

xk

k!Jk

�S−1 = S exp(xJ)S−1.

(ii) Ist J = diag (λ1, . . . ,λn), so ist Jk = diag (λk

1 , . . . ,λk

n)

(iii) Daher ist exp(xJ) = diag (exp(λ1x), . . . , exp(λnx))

(iv) Mit S exp(xJ)S−1 ist auch S exp(xJ) Fundamentalmatrix.

Dies bedeutet in der Praxis:

Hohere Mathematik 561

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Systeme von Differentialgeichungen Losungen homogener Systeme 1. Ordnung

23.15 Losungen homogener Systeme 1. Ordnung

Gegeben sei das homogene Dgl.-System 1. Ordnung Y � = A Y .Wir erhalten zunachst ein (komplexes) Fundamentalsystem von VektorfeldernΦ1, . . . ,Φn : R → C

n wie folgt:

(i) Ist λ0 ∈ R (oder C) ein einfacher Eigenwert von A und �v �= �0 ein zugehorigerEigenvektor (also Losung von (A− λ0En)�v = �0), so ist

Φ1(x) = eλ0x�v

eine Losung des homogenen Dgl.-systems.

(ii) Ist λ0 ∈ R (oder C) ein mehrfacher Eigenwert von A, so gibt es zwei Falle

Fall 1: Die algebraische Vielfachheit m von λ ist gleich der geometrischen Vielfachheit�m.Dann bestimmen wir eine Basis �v1, . . . ,�vm von Eigenvektoren zum Eigenwert λund erhalten durch

Φ1(x) = eλx�v1, . . . , Φm(x) = e

λx�vm

m linear unabhangige Losungen des Dgl.-systems.

Hohere Mathematik 562

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Systeme von Differentialgeichungen Losungen homogener Systeme 1. Ordnung

Fall 2. Die algebraische Vielfachheit m von λ ist großer als die geometrischeVielfachheit �m.Im ersten Schritt bestimmen wir eine Basis �v1, . . . ,�v�m von Eigenvektoren zumEigenwert λ, also �m linear unabhangige Losungen von (A− λEn)�v = �0.Im zweiten Schritt bestimmen wir weitere Vektoren �v�m+1, . . . ,�v�m+r mit(A− λ0En)2�v = �0, so dass alle Vektoren �v1, . . . ,�v�m+r linear unabhangig sind.Dann fahren wir mit (A− λ0En)3�v = �0 etc. fort, bis wir insgesamt m linearunabhangige Vektoren �v1, . . . ,�vm gefunden haben.Die allgemeine Form

Φ�(x) = eλx

��v� + x(A− λEn)�v� + · · ·+ x

m−1

(m − 1)!(A− λEn)

m−1�v�

�(∗)

mit 1 ≤ � ≤ m ergibt m linear unabh. Losungen des Dgl.-Systems.

Beachte: Wenn �v� ein Eigenvektor von A zum Eigenwert λ ist, so ist in der Summe nur dererste Summand von Null verschieden. Wenn �v� im 2. Schritt gefunden wurde, sind nur dieersten beiden Summanden von Null verschieden, etc.

Hohere Mathematik 563

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Systeme von Differentialgeichungen Losungen homogener Systeme 1. Ordnung

Alternative in Fall 2:

Bilde Potenzen von A− λEn, bis der Rang von (A− λEn)p gleich n −m ist;d.h. der Kern von (A− λEn)p ist m-dimensional.

Wahle eine Basis �v1, . . . ,�vm des Kerns von (A− λEn)p.

Wende die Formel (∗) auf jeden dieser Vektoren an.

Bemerkung: Es gibt ein r mitker(A− λEn) ⊂

�=ker(A− λEn)2 ⊂

�=· · · ker(A− λEn)r = ker(A− λEn)r+1 =

ker(A− λEn)r+s

Dabei ist stets r ≤ m.

Hohere Mathematik 564

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Systeme von Differentialgeichungen Konstruktion reeller Losungen bei komplexen Eigenwerten

23.16 Konstruktion reeller Losungen bei komplexen Eigenwerten

Im Dgl.-System Y � = A Y sei A eine konstante und reelle Matrix.

Dann ist das charakteristische Polynom reell, und die nichtreellen Nullstellen sindpaarweise komplex konjugiert.Zu dem Paar λ = a+ ib, λ = a− ib (mit b �= 0) gehoren komplexe Eigenvektoren

�v = �r + i�s, �w = �r − i�s

(ebenfalls nicht reell, also �s �= �0).

Die beiden komplexen Losungen des Dgl.-systems

Φ1(x) = eλx�v = eax(cos bx + i sin bx)(�r + i�s),

Φ2(x) = eλx �w = eax(cos bx − i sin bx)(�r − i�s),

ersetzen wir durch die linear unabhangigen reellen Losungen

Ψ1(x) = ReΦ1(x) =12Φ1(x) +

12Φ2(x) = eax((cos bx)�r − (sin bx)�s),

Ψ2(x) = ImΦ1(x) =12iΦ1(x)− 1

2iΦ2(x) = eax((cos bx)�s + (sin bx)�r).

Hohere Mathematik 565

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Systeme von Differentialgeichungen Inhomogenitaten mit Exponentialfunktion

23.17 Inhomogenitaten mit Exponentialfunktion

Ist im inhomogenen System Y � = AY + eµxG , (A und G konstant) die Zahl µkein Eigenwert der Matrix A, so gibt es eine partikulare Losung der Form

Yp(x) = eµxZ

mit einem konstanten Vektor Z .

Hohere Mathematik 566

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Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Einleitung: elektrischer Schwingkreis

24: Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung

24.1 Einleitung: elektrischer SchwingkreisIm elektrischen Reihen-Schwingkreis mit Kondensator (Kapazitat C ), Spule(Induktivitat L) und ohmschem Widerstand (R) erfullt die Ladungsmenge Q desKondensators die Differentialgleichung 2. Ordnung

1

CQ + RQ � + LQ �� = 0. (∗)

Anfangswerte sind Q(0) = Q0 und Q �(0) = − Q0RC

.

Herleitung: Ladung Q und Stromstarke I erfullen I = Q�. Die Kirchhoff’sche Maschenregel

besagt, dass die Gesamt-Spannung in der Reihenschaltung Null ist. Waren nur der Kondensatorund der ohmsche Widerstand vorhanden, so musste gelten UC + UR = 1

CQ + RQ

� = 0. Zum

Anfangswert Q(0) = Q0 lautet die Losung Q(t) = Q0e− t

RC .Bei Hinzunahme der Spule in die Reihenschaltung erhalten wir die Spannungsbilanz

Uges = UC + UR + UL =1

CQ + RQ

� + LQ�� = 0.

Hinweis: Bei zeitanhangigen Problemen nimmt man oft �t � statt �x � als Variable.

Hohere Mathematik 567

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Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Definition und Satz: Lineare Dgl. n-ter Ordnung

Wir betrachten im ganzen Kapitel lineare Dgl’n n-ter Ordnung.

24.2 Definition und Satz: Lineare Dgl. n-ter Ordnung

Die lineare inhomogene Dgl. n-ter Ordnung lautet

y (n) + bn−1(x)y(n−1) + · · ·+ b1(x)y

� + b0(x)y = g(x), (∗i )

mit stetigen Funktionen b0, . . . , bn−1, g : I → R. Die zugehorige homogene lineareDgl. ist

y (n) + bn−1(x)y(n−1) + · · ·+ b1(x)y

� + b0(x)y = 0. (∗h)

Als Losung bezeichnen wir alle Funktionen y = y(x), die n-mal stetigdifferenzierbar sind und die entsprechende Gleichung erfullen.

Sehr viele Eigenschaften der Losungen lassen sich aus dem Abschnitt uberSysteme ubernehmen. Dazu wird die Dgl. n-ter Ordnung in ein System von nDifferentialgleichungen erster Ordnung umgeschrieben.

Hohere Mathematik 568

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Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Lineare Unabhangigkeit von Funktionen

24.3 Lineare Unabhangigkeit von Funktionen

Funktionen ϕ1, . . . ,ϕn : I → R sind linear unabhangig, wenn aus der Identitat

c1ϕ1(x) + · · ·+ cnϕn(x) = 0 fur alle x ∈ I

folgt, dass c1 = · · · = cn = 0 gilt; d.h. wenn nur die triviale Linearkombination diekonstante Nullfunktion liefert.Anders ausgedruckt: Fur jeden Vektor von Koeffizienten (c1, . . . , cn) �= �0 folgt,dass es mindestens ein x ∈ I gibt, fur das

c1ϕ1(x) + · · ·+ cnϕn(x) �= 0

gilt.

Hohere Mathematik 569

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Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Umschreiben einer Dgl. in ein System

24.4 Umschreiben einer Dgl. in ein System

Gegeben sei die inhomogene lineare Dgl. n-ter Ordnung

y (n) + bn−1(x)y(n−1) + · · ·+ b1(x)y

� + b0(x)y = g(x). (∗i )

Wir setzen

y1 = y , y2 = y �, . . . , yn−1 = y (n−2), yn = y (n−1).

Dann ist die gegebene Dgl. n-ter Ordnung aquivalent zu dem System 1. Ordnung

y �1 = y2

y �2 = y3

...

y �n−1 = yn

y �n

= −b0(x)y1 − b1(x)y2 − · · ·− bn−1(x)yn + g(x).

(∗∗)

Beachte: Die Losungen von (∗) sind stets die ersten Komponenten derLosungsvektoren von (∗∗).Hohere Mathematik 570

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Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Umschreiben einer Dgl. in ein System

Die Matrix-Form des Dgl.-Systems (∗∗) lautet

Y� =

0 1 0 · · · 0

.... . .

. . .. . .

...

0 · · · 0. . . 0

0 · · · · · · 0 1

−b0(x) −b1(x) · · · −bn−2(x) −bn−1(x)

Y +

0

...

0

0

g(x)

.

Ist

Φ1 =

φ1

φ�1...

φ(n−1)1

, Φ2 =

φ2

φ�2...

φ(n−1)2

, · · · , Φn =

φn

φ�n

...

φ(n−1)n

ein Fundamentalsystem des Dgl.-Systems, so sind

φ1, . . . ,φn : I → R

linear unabhangige Losungen der homogenen Dgl. n-ter Ordnung,

Hohere Mathematik 571

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Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Beispiel Fortsetzung

24.5 Beispiel Fortsetzung

Q �� +R

LQ � +

1

LCQ = 0

wird mit y1 := Q und y2 := Q � zu

y �1 = y2 und y �

2 = Q �� = −R

LQ � − 1

LCQ = −R

Ly2 −

1

LCy1.

Die Matrixform ist mit Y = (y1, y2)�

Y � =

0 1

− 1

LC−R

L

Y

Das charakteristische Polynom ist λ2 +R

Lλ+

1

LCmit den Nullstellen

λ1,2 = − R

2L±

�� R

2L

�2−

� 1√LC

�2

Hohere Mathematik 572

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Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Fundamentalsystem

24.6 Fundamentalsystem

(i) Die Losungen der homogenen Dgl. (∗h) sind auf I definiert. Sie bilden einenVektorraum der Dimension n.Linear unabhangige Losungen φ1, . . . ,φn : I → R bilden eine Basis diesesVektorraums und heißen Fundamentalsystem der Dgl. (∗h).

(ii) Die entsprechende Fundamentalmatrix der Losungen von (∗∗)Φ(x) = (Φ1(x), . . . ,Φn(x)) heißt Wronskimatrix.

(iii) Die Determinate der Wronskimatrix heißt Wronskideterminante W(x).

(iv) Es gilt das Superpositionsprinzip:Ist ys eine (spezielle) Losung der inhomogenen Dgl. (∗i ), so erhalt man alle

Losungen der inhomogenen Dgl. als

y(x) = ys(x) + c1φ1(x) + · · ·+ cnφn(x)

mit beliebigen reellen Konstanten c1, . . . , cn, wobei die Funktionen φ1, . . . ,φn

ein Fundamentalsystem der homogenen Dgl. (∗h) sind.

”Fundamentalmatrix”, ”-system” und ”Wronskimatrix” beziehen sich immer aufdie homogene Dgl!

Hohere Mathematik 573

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Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Fundamentalsystem

Bemerkung: Die Linearitat der Differentialgleichung bedeutet folgendes: Durch

L(y) = y (n) + bn−1(x)y(n−1) + . . .+ b1(x)y

� + b0(x)y

ist eine Abbildung auf dem Vektorraum der n-mal stetig differenzierbarenFunktionen C n(I ) gegeben. Diese Abbildung erfullt die Linearitat

L(αy1 + βy2) = αL(y1) + βL(y2).

Man nennt L deshalb einen linearen Differentialoperator.

Die Funktionen φ1, . . . ,φn eines Fundamentalsystems bilden eine Basis des Kernsvon L, also des Vektorraums der Losungen von L(y) = 0.

Hohere Mathematik 574

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Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Beispiel Fortsetzung

24.7 Beispiel Fortsetzung

(i) Fur 0 ≤ R < 2�

L/C ist mit δ = R

2L und ω =�

1LC

− R2

4L2

φ1(t) = e−δt cos(ωt), φ2(t) = e−δt sin(ωt)

ein Fundamentalsystem von Losungen. Speziell ergibt sich im Fall R = 0 mit

ω0 =�

1LC

φ1(t) = cos(ω0t), φ2(t) = sin(ω0t)

(ii) Im Fall R = 2�

L/C hat die Dgl. das Fundamentalsystem

φ1(t) = e−δt , φ2(t) = te−δt .

(iii) Fur R > 2�

L/C ist mit γ1,2 =R

2L ±�

R2

4L2 − 1LC

φ1(t) = e−γ1t , φ2(t) = e−γ2t

ein Fundamentalsystem.

Hohere Mathematik 575

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Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Bemerkung

24.8 Bemerkung:Wie man sieht, ist es sinnvoll, auch komplexwertige Losungen y : I → C der Dgl.zu zuzulassen.Am Beispiel oben der Ladungsmenge Q(t) = Ce−δt±iωt erfolgt der Ubergang insReelle mit Hilfe der Eulerschen Formeln

1

2

�e−δt+iωt + e−δt−iωt

�= e−δt cos(ωt),

1

2i

�e−δt+iωt − e−δt−iωt

�= e−δt sin(ωt).

Die Rechnung wird durch die Verwendung komplexer Losungen deutlich einfacher.

Hohere Mathematik 576

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Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Losung inhomogener Dgl.

Inhomogene Dgl. kann man wie in 23.12 durch Variation der Konstanten losen.

24.9 Losung inhomogener Dgl.

Sei φ1, . . . ,φn ein Fundamentalsystem von

y (n) + bn−1(x)y(n−1) + · · ·+ b1(x)y

� + b0(x)y = g(x).

Eine spezielle Losung von erhalt man durch

ys(x) = Φ(x)C (x) = c1(x)φ1(x) + · · ·+ cn(x)φn(x),

wobei der Vektor C �(x) = (c �1(x), . . . , c�n(x))�Losung des Gleichungssystems

Φ(x)C �(x) = c �1(x)Φ1(x) + · · ·+ c �n(x)Φn(x) = (0, . . . , 0, g(x))�

ist.

Spezialfall n = 2: Ist φ1, φ2 Fundamentalsystem der Dgl. so ergibtys(x) = c1(x)φ1(x) + c2(x)φ2(x) eine partikulare Losung.

Dabei ist c �1(x) = −g(x)φ2(x)

W(x)und c �2(x) =

g(x)φ1(x)

W(x).

Hohere Mathematik 577

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Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Anfangswertproblem (AWP)

Eindeutigkeit der Losung wird durch Vorgabe von Anfangswerten erzielt.

24.10 Anfangswertproblem (AWP)

Die Funktionen b0, . . . , bn−1, g : I → R seien stetig.Ist x0 ∈ I und sind a0, . . . , an−1 ∈ R gegeben, so hat das AWP

y (n) + bn−1(x)y (n−1) + . . .+ b1(x)y � + b0(x)y = g(x), (∗i )

y(x0) = a0y �(x0) = a1...

y (n−1)(x0) = an−1

eine eindeutige Losung y : I → R.

Hohere Mathematik 578

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Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Losung des Anfangswertproblems

24.11 Losung des AnfangswertproblemsEs sei φ1, . . . ,φn ein Fundamentalsystem der linearen Dgl.

y (n) + bn−1(x)y(n−1) + · · ·+ b1(x)y

� + b0(x)y = g(x),

ys eine Losung der inhomogenen Dgl.Die Koeffizienten c1, . . . , cn der Losung

y(x) = c1φ1(x) + · · ·+ cnφn(x) + ys(x)

zu den Anfangswerten

y(x0) = a0, y �(x0) = a1, . . . , y (n−1)(x0) = an−1,

bestimmt man aus dem linearen Gleichungssystem

φ1(x0) φ2(x0) · · · φn(x0)φ�1(x0) φ�

2(x0) · · · φ�n(x0)

......

...

φ(n−1)1 (x0) φ(n−1)

2 (x0) · · · φ(n−1)n (x0)

c1c2...cn

=

a0 − ys(x0)a1 − y �

s(x0)

...

an−1 − y (n−1)s (x0)

.

Hohere Mathematik 579

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Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Beispiel Fortsetzung

24.12 Beispiel Fortsetzung

Die allgemeine Losung ist Q(t) = e−δt(C1 cosωt + C2 sinωt).

Q �(t) = e−δt�C1(−δ cosωt − ω sinωt) + C2(−δ sinωt + ω cosωt)

Dabei nennt man δ Dampfungsfaktor und ω =�

ω20 − δ2 < ω0

Resonanzfrequenz.

Vergleich Q(0) = C1!= Q0 und Q �(0) = −δC1 + ωC2

!= − Q0

RC= −Q0ω

20

2δ ) gibt:Die Ladungsmenge des Kondensators ist also

Q(t) = Q0 e−δt

�cosωt +

1

ω

�δ − ω2

0

�sinωt

�.

Der ungedampfte Fall R = 0 fuhrt zur Resonanzfrequenz ω0.

Im Fall R = 2�

L/C ist δ = ω0. Zur Losung e−δt der Dgl. tritt noch eineweitere Losung te−δt hinzu. Die Ladungsmenge des Kondensators (beiQ(0) = Q0 und Q �(0) = − Q0

RC= −Q0δ

2 ) ist dann

Q(t) = Q0

�1 +

δ

2t

�e−δt .

Hohere Mathematik 580

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Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Beispiel Fortsetzung

Fur großen Widerstand R > 2�

L/C ist δ > ω0. Mit γ1,2 = δ ±�

δ2 − ω20 ist

die Ladungsmenge (bei Q(0) = Q0 und Q �(0) = − Q0RC

= −Q0γ1γ2

γ1+γ2)

Q(t) =Q0

γ21 − γ2

2

�γ21e

−γ2t − γ22e

−γ1t�.

Ein großer Widerstand unterdruckt also die Oszillation, es findet eineinmaliges Entladen des Kondensators statt.

Hohere Mathematik 581

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Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Definition und Satz: Wronski-Determinante

Die Matrix des Gleichungssystems im AWP ist die Wronskimatrix.

24.13 Definition und Satz: Wronski-Determinante

Es sei φ1, . . . ,φn ein Fundamentalsystem der homogenen linearen Dgl. (∗h).Die Determinante der Fundamentalmatrix Φ

W(x) = det

φ1(x) φ2(x) · · · φn(x)φ�1(x) φ�

2(x) · · · φ�n(x)

......

...

φ(n−1)1 (x) φ(n−1)

2 (x) · · · φ(n−1)n (x)

heißt die Wronski-Determinante des Fundamentalsystems φ1, . . . ,φn.

Direkt aus der Umschreibung auf ein System (24.4) folgt: DieWronski-Determinante ist auf I differenzierbar und erfullt die homogene lineareDgl. 1. Ordnung

W �(x) = −bn−1(x)W(x), x ∈ I .

Daher ist W(x) = Ce−Bn−1(x) mit einer Stammfunktion Bn−1 von bn−1 und einerKonstanten C �= 0.

Hohere Mathematik 582

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Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Folgerung

24.14 Folgerung

Die Funktionen φ1, . . . ,φn : I → R seien Losungen der homogenen linearen Dgl.(∗h). Dann sind aquivalent:

(i) φ1, . . . ,φn ist ein Fundamentalsystem der Dgl., d.h. die Funktionen sindlinear unabhangig.

(ii) Die Wronski-Determinante W(x) ist ungleich Null fur alle x ∈ I .

(iii) Die Wronski-Determinante W(x) in (ii) ist ungleich Null fur mindestens einx ∈ I .

Hohere Mathematik 583

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Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Reduktion der Ordnung (d’Alembert)

Schon fur lineare Dgl. 2. Ordnung gibt es kein allgemeines Losungsverfahren. Hatman aber eine Losung, so kann man die Ordnung einer linearen Dgl. n- terOrdnung um eins reduzieren:

24.15 Reduktion der Ordnung (d’Alembert)

Ist y0 eine nichttriviale Losung der Dgl.

y (n) + bn−1(x)y(n−1) + · · ·+ b1(x)y

� + b0(x)y = 0,

so erfullt d(x) := c �(x) im Ansatz y(x) = y0(x)c(x) eine lineare Dgl. (n − 1)sterOrdnung.

Hohere Mathematik 584

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Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Lineare Dgl. mit konstanten Koeffizienten

Wichtige Teilklasse von linearen Dgl.:

24.16 Lineare Dgl. mit konstanten Koeffizienten

Zur homogenen linearen Dgl. n-ter Ordnung

y (n) + bn−1y(n−1) + . . .+ b1y

� + b0y = 0

mit konstanten Koeffizienten b0, . . . , bn−1 ∈ R definieren wir das charakteristischePolynom

p(λ) = λn + bn−1λn−1 + . . .+ b1λ+ b0, λ ∈ C.

Die reellen und komplexen Nullstellen von p liefern dann das folgendeFundamentalsystem von Losungen der Dgl.:

(r1) Ist λ0 eine einfache reelle Nullstelle von p, so ist φ(x) = eλ0x Losung der Dgl.

(rk) Ist λ0 eine k-fache reelle Nullstelle von p (mit k ≥ 2), so sind

φ1(x) = eλ0x , φ2(x) = xeλ0x , . . . , φk(x) = xk−1eλ0x

linear unabhangige Losungen der Dgl.

Hohere Mathematik 585

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Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Lineare Dgl. mit konstanten Koeffizienten

(c1) Sind λ = δ + iω (mit ω �= 0) und die komplex konjugierte Zahl λ = δ − iωeinfache komplexe Nullstellen von p, so sind

φ1(x) = eδx sin(ωx), φ2(x) = eδx cos(ωx)

linear unabhangige Losungen der Dgl.

(ck) Sind λ = δ + iω und λ = δ − iω (mit ω �= 0) jeweils k-fache komplexeNullstellen von p, so sind

φ2�+1(x) = x�eδx sin(ωx), φ2�+2(x) = x�eδx cos(ωx)

mit 0 ≤ � ≤ k − 1 linear unabhangige Losungen der Dgl.

Die Gesamtheit der n hierdurch bestimmten Losungen der Dgl. ist linearunabhangig.

Hohere Mathematik 586

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Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Beweisidee

24.17 Beweisidee

Das charakteristische Polynom ist mit dem charakteristischen Polynom deszugehorigen Systems (ev. bis auf das Vorzeichen) identisch.

Stets ist die geometrische Vielfachheit eins. Es gibt immer einen Eigenvektor,dessen erste Komponente ungleich Null ist.

Bei mehrfachen Eigenwerten (mit algebraischer Vielfachheit k) muss man Fall2 von 23.15 bis zur (k − 1)sten Potenz gehen. Da es ein F.S. geben muss,kann keiner der iterierten Vektoren in der ersten Komponente Null sein.In diesem Fall kommen also in der ersten Komponente Funktionen mitLinearkombinationen von eλx , xeλx bis xk−1eλx vor.Eine Basis des aufgespannten Raums sind genau die angegebenen Funktionen.

Da bei einer reellen Matrix mit jedem komplexen EW die konjugiert komplexeZahl EW gleicher Vielfachheit (und konjugiertem EV) ist, folgt (c) durchAufteilen in Real- und Imaginarteil wie in 23.16.

Eine alternative Beweismethode geht die Laplacetransformation (→ HM 3) zuruck.

Hohere Mathematik 587

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Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Beweisidee

Bemerkung: Die Losungeny(x) = c1φ1(x) + · · ·+ cnφn(x)

der homogenen linearen Dgl. n-ter Ordnung mit konstanten Koeffizienten sind auf ganz R

definiert. Haufig interessiert man sich fur das Langzeitverhalten limx→∞ y(x) bei gegebenenAnfangswerten y(x0) = a0, . . . , y (n−1)(x0) = an−1.

Ist der Realteil aller Nullstellen des charakteristischen Polynoms negativ, so giltlimx→∞ φk (x) = 0 fur alle 1 ≤ k ≤ n, also auch limx→∞ y(x) = 0 fur beliebigeAnfangswerte.

Ist der Realteil aller Nullstellen negativ oder Null, so konnen mehrere Falle auftreten, z.B.

y(x) = c1 + c2 cos 2x + c3 sin 2x (zu einfachen Nullstellen 0, 2i ,−2i) hat einenGrenzwert c1 nur dann, wenn c2 = c3 = 0 gilt. Ansonsten oszilliert die Losung

zwischen c1 ±�

c22 + c23 .

y(x) = c1 cos x + c2x cos x + c3 sin x + c4x sin x (zu doppelten Nullstellen i ,−i) istnur dann beschrankt, wenn c2 = c4 = 0 gilt, ansonsten tritt eine Oszillation mit linearwachsender Amplitude ein.

Fur reelles λ > 0 treten Losungen mit exponentiell wachsendem Betrag auf und furkomplexes λ = δ + iω mit Realteil δ > 0 treten oszillierende Losungen mit exponentiellwachsender Amplitude auf.

Hohere Mathematik 588

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Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Spezielle Losungen fur inhomogene Dgl.

24.18 Spezielle Losungen fur inhomogene Dgl.Wir betrachten einige Beispiele von rechten Seiten g(x) in

y (n) + bn−1y(n−1) + · · ·+ b1y

� + b0y = g(x).

Das charakteristische Polynom der homogenen linearen Dgl. ist

p(λ) = λn + bn−1λn−1 + · · ·+ b1λ+ b0.

Die spezielle Losung ys : R → R wird durch das Einsetzen des “Ansatzes” in dieDgl. und Koeffizienten-Vergleich berechnet.

(a) g ist ein Polynom vom Grad M ≥ 0.

→ Ansatz ys(x) = A0 + A1x + · · ·+ AMxM , falls p(0) �= 0,

→ Ansatz ys(x) = xk(A0 + A1x + · · ·+ AMx

M) mit k ≥ 1,wenn p(0) = 0 und k die exakte Ordnung der Nullstelle λ0 = 0 ist.

(b) g(x) = Q(x)eαx mit einem Polynom Q vom Grad M ≥ 0.

→ Ansatz ys(x) = (A0 + A1x + · · ·+ AMxM)eαx , falls p(α) �= 0 ,

→ Ansatz ys(x) = xk(A0 + A1x + · · ·+ AMx

M)eαx mit k ≥ 1,wenn p(α) = 0 und k die exakte Ordnung dieser Nullstelle ist.

Hohere Mathematik 589

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Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Spezielle Losungen fur inhomogene Dgl.

(c) g(x) = Q(x)eαx sin(ωx) oder g(x) = Q(x)eαx cos(ωx) mit einem PolynomQ vom Grad M ≥ 0.

→ Ansatz ys(x) = (A0 + A1x + · · ·+ AMxM)eαx sin(ωx)+

(B0 + B1x + · · ·+ BMxM)eαx cos(ωx) (BEIDE!),

wenn p(α± iω) �= 0 gilt,

→ Ansatz ys(x) = xk(A0 + A1x + · · ·+ AMx

M)eαx sin(ωx)+xk(B0 + B1x + · · ·+ BMx

M)eαx cos(ωx)mit k ≥ 1, wenn p(α± iω) = 0 und k die exakte Ordnung dieser komplexenNullstelle ist.

(e) Linearkombinationen dieser speziellen rechten Seiten werden durchSuperposition behandelt (siehe 24.6(iv)).

(f) Die allgemeine Losung der Dgl. erhalt man wie in 24.6.

Hohere Mathematik 590

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Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Potenzreihenansatz

Wir behandeln im Folgenden lineare Dgl. 2. Ordnung, deren Losungen yI → R

eine Darstellung als Potenzreihe besitzen:

24.19 Potenzreihenansatz

In der homogenen linearen Dgl. 2. Ordnung

y �� + p(x)y � + q(x)y = 0

sollen die Funktionen p, q im Intervall I = (x0 − r , x0 + r) die Darstellung durchPotenzreihen besitzen, also

p(x) =∞�

k=0

pk(x − x0)k , q(x) =

∞�

k=0

qk(x − x0)k .

Dann ist jede Losung y : I → R unendlich oft differenzierbar und besitzt die in Ikonvergente Potenzreihe

y(x) =∞�

k=0

ak(x − x0)k . (∗)

Hohere Mathematik 591

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Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Potenzreihenansatz

Bemerkung: Fundamentallosungen φ1,φ2 erhalt man, indem man die Koeffizienten(a0, a1) = (1, 0) fur φ1 bzw. (a0, a1) = (0, 1) fur φ2 in (*) vorgibt und dann dieKoeffizienten a2, a3, . . . durch Einsetzen in die Dgl. und Koeffizientenvergleichbestimmt.Hilfreich: mit a−1 = a−2 := 0 ist

y =∞�

n=0

anxn y � =

∞�

n=0

(n + 1)an+1xn y �� =

∞�

n=0

(n + 1)(n + 2)an+2xn

xy =∞�

n=0

an−1xn xy � =

∞�

n=0

nanxn xy �� =

∞�

n=0

n(n + 1)an+1xn

x2y =∞�

n=0

an−2xn x2y � =

∞�

n=0

(n − 1)an−1xn x2y �� =

∞�

n=0

n(n − 1)anxn

Hohere Mathematik 592

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Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Schwach singulare Dgl. 2. Ordnung

24.20 Schwach singulare Dgl. 2. Ordnung

In der homogenen linearen Dgl. 2. Ordnung

y �� +p(x)

x − x0y � +

q(x)

(x − x0)2y = 0,

sollen die Funktionen p, q im Intervall I = (x0 − r , x0 + r) die Darstellung durchPotenzreihen besitzen, also

p(x) =∞�

k=0

pk(x − x0)k , q(x) =

∞�

k=0

qk(x − x0)k .

x0 heißt dann schwach singulare Stelle der Dgl.

Hohere Mathematik 593

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Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Schwach singulare Dgl. 2. Ordnung

Der Ansatz

y(x) = (x − x0)ρ

∞�

k=0

ak(x − x0)k , (x > x0, ρ, ak ∈ C, a0 �= 0)

mit in (x0 − r , x0 + r) konvergenter Potenzreihe f (x) =�∞

k=0 ak(x − x0)k liefertmindestens eine nicht-triviale Losung der Dgl. Der Exponent ρ erfullt dabei dieIndexgleichung

ρ(ρ− 1) + p(x0)ρ+ q(x0) = 0.

Hohere Mathematik 594

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Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Schwach singulare Dgl. 2. Ordnung

Bemerkung: Falls zwei Losungen ρ1 �= ρ2 der Indexgleichung existieren, so liefertder Ansatz zwei Losungen φ1,φ2.

(a) Falls ρ1 − ρ2 �∈ Z gilt, so sind φ1,φ2 linear unabhangig, also einFundamentalsystem der Dgl.

(b) Falls ρ1 − ρ2 ∈ Z gilt, muss die lineare Unabhangigkeit gepruft werden (eskann sich bei den Darstellungen von φ1, φ2 um reine Verschiebungen desSummations-Index der Potenzreihe handeln!)

Falls die Indexgleichung eine doppelte Nullstelle hat, macht man den zusatzlichenAnsatz

y2(x) = (x − x0)ρ ln(x − x0)

∞�

k=0

bk(x − x0)k .

Dies entspricht dem Auffinden einer zweiten Losung durch das d’AlembertscheReduktionsverfahren.

Praktische Vorgehensweise: Man findet ρ1, ρ2 aus der Indexgleichung, macht denobigen Ansatz und findet die Koeffizienten der Potenzreihe durch Einsetzen in dieDgl.

Hohere Mathematik 595

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Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Schwach singulare Dgl. 2. Ordnung

Wichtige Potenzreihen (mit a−1 := a−2 := 0)

y =∞�

n=0

anxn+ρ y � =

∞�

n=0

(n + ρ+ 1)an+1xn+ρ + ρa0x

ρ−1

xy =∞�

n=0

an−1xn+ρ xy � =

∞�

n=0

(n + ρ)anxn+ρ

x2y =∞�

n=0

an−2xn+ρ x2y � =

∞�

n=0

(n + ρ− 1)an−1xn+ρ

xy �� =∞�

n=0

(n + ρ+ 1)(n + ρ)an+1xn+ρ + ρ(ρ− 1)a0x

ρ−1

x2y �� =∞�

n=0

(n + ρ)(n + ρ− 1)anxn+ρ

Hohere Mathematik 596

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Gewohnliche Differentialgleichungen hoherer Ordnung Euler-Dgl.

24.21 Euler-Dgl.: Fur die schwach singulare Dgl. mit konstanten Koeffizienten

y �� +a

xy � +

b

x2y = 0

seien ρ1, ρ2 die Losungen der Indexgleichung

ρ(ρ− 1) + aρ+ b = 0.

Dann ist ein Fundamentalsystem gegeben durch

φ1(x) = xρ1 , φ2(x) = xρ2 , falls ρ1 �= ρ2, (diese sind auch im Fallρ2 − ρ1 ∈ Z lin. unabh.)

φ1(x) = xρ1 , φ2(x) = xρ1 ln x , falls ρ1 = ρ2.

Hohere Mathematik 597

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Normierte Vektorraume

25: Normierte Vektorraume

Fur eine systematische Behandlung von Grenzwert-Prozessen fur Funktionenfolgenbenotigen wir die allgemeine Definition der normierten Vektorraume und einenpassenden Abstandsbegriff.

Hierauf aufbauend behandeln wir im Weiteren

die Fourier-Reihen

die Fourier- und Laplace-Transformation

den Banachschen Fixpunktsatz und seine Anwendungen

Ein Teil der hier zusammengestellten Begriffe und Satze wurde bereits im Kapiteluber allgemeine Vektorraume definiert und bewiesen.Daher enthalt dieser Abschnitt zum Teil Wiederholungen.Wieder werden Vektoren ohne Pfeil geschrieben.

Hohere Mathematik 598

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Normierte Vektorraume Wiederholung: Norm, normierter Raum

Wir wollen

weitere Normen auf dem Rn und C

n

Normen auf vielen weiteren Vektorraumen, z.B. dem Vektorraum der stetigenFunktionen C [a, b],

kennenlernen.

25.1 Wiederholung: Norm, normierter Raum

Es sei V ein reeller oder komplexer Vektorraum. Eine Norm auf V ist eineAbbildung � · � : V → R mit folgenden Eigenschaften:

(i) Definitheit: �v� ≥ 0 fur alle v ∈ V , und (�v� = 0 ⇐⇒ v = 0),

(ii) pos. Homogenitat: �αv� = |α| �v� fur alle α ∈ R bzw. C und v ∈ V ,

(iii) Dreiecksungleichung: �v + w� ≤ �v�+ �w� fur alle v ,w ∈ V .

Ein Vektorraum V mit einer Norm � · � heißt ein normierter Raum.

Hohere Mathematik 599

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Normierte Vektorraume Wiederholung: Norm, normierter Raum

Bemerkungen: Die Norm liefert einen Abstands-Begriff:

�v� ist der Abstand des Vektors v vom Nullpunkt 0 ∈ V .

�v − w� ist der Abstand der beiden Vektoren v und w

Genau wie es in 1.22(f) fur den Betrag gemacht wurde, beweist man die zweiteDreiecksungleichung: In jedem normierten Raum gilt die Ungleichung

�v − w� ≥ | �v� − �w� |.

Hohere Mathematik 600

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Normierte Vektorraume Beispiele von Normen auf dem Rn und Cn

25.2 Beispiele von Normen auf dem Rn und C

n

Euklidische Norm: �x� = �x�2 :=�|x1|2 + · · ·+ |xn|2

Maximumsnorm: �x�∞ := max{|x1|, . . . , |xn|}

Betragssummennorm: �x�1 := |x1|+ · · ·+ |xn|

Allgemein: fur 1 ≤ p < ∞ die sog. p-Norm

�x�p := (|x1|p + . . .+ |xn|p)1/p .

Hohere Mathematik 601

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Normierte Vektorraume Satz: Holder- und Minkowski-Ungleichung

Zum Beweis der Dreiecksungleichung fur die p-Normen benotigt man dieHolder-Ungleichung.

25.3 Satz: Holder- und Minkowski-Ungleichung

Wir definieren

zu 1 < p < ∞ den konjugierten Index q = p

p−1 (also ist 1 < q < ∞ und1p+ 1

q= 1),

zu p = 1 den konjugierten Index q = ∞ und zu p = ∞ den konjugiertenIndex q = 1.

Dann gilt fur beliebige Vektoren x , y ∈ Rn die Ungleichung

�����

n�

k=1

xkyk

����� ≤ �x�p �y�q.

Daraus folgt die Dreiecksungleichung, die hier Minkowski-Ungleichung heißt:

�x + y�p ≤ �x�p + �y�p

Hohere Mathematik 602

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Normierte Vektorraume Weitere Beispiele von Normen

25.4 Weitere Beispiele von NormenDer Vektorraum aller stetigen Funktionen auf dem abgeschlossenen undbeschrankten Intervall I = [a, b] wurde mit C [a, b] bezeichnet . Wir definierenverschiedene Normen auf diesem Vektorraum:

Maximumsnorm: �f �∞ := max{|f (x)| | x ∈ [a, b]}.

fur 1 ≤ p < ∞ die Lp-Norm:

�f �p :=

��b

a

|f (x)|p dx

�1/p

.

Hohere Mathematik 603

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Normierte Vektorraume Satz: Holder- und Minkowski-Ungleichung auf C [a, b]

Mit den Rechenregeln und dem 2. Integral-Mittelwertsatz folgt�����

�b

a

f (x)g(x) dx

����� ≤�

b

a

|f (x)| |g(x)| dx = |f (ξ)|�

b

a

|g(x)| dx ≤ �f �∞ �g�1.

Dies ist eine Version der Holder-Ungleichung fur Integrale. Allgemein:

25.5 Satz: Holder- und Minkowski-Ungleichung auf C [a, b]

Zu 1 ≤ p ≤ ∞ sei q der konjugierte Index wie in 25.3. Dann gilt fur stetigeFunktionen f , g ∈ C [a, b]

�����

�b

a

f (x)g(x) dx

����� ≤ �f �p �g�q.

Weiter gilt �f + g�p ≤ �f �p + �g�p

Hohere Mathematik 604

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Normierte Vektorraume Konvergenz von Folgen und Reihen

Nach den Uberlegungen zur Geometrie normierter Raume kommen wir noch zurTopologie dieser Raume: Die Norm beinhaltet den Abstandsbegriff und ermoglichtdie Einfuhrung der Begriffe der Analysis wie im R

n:

25.6 Konvergenz von Folgen und Reihen

Eine Folge (vk)k∈N von Elementen vk des normierten Raumes V heißt konvergentgegen v ∈ V , wenn gilt

limk→∞

�v − vk� = 0.

Eine Reihe∞�

k=1

vk mit Summanden vk ∈ V heißt konvergent gegen w ∈ V , wenn

gilt

limN→∞

�����w −N�

k=1

vk

����� = 0.

Eine Teilmenge W eines normierten Raumes V heißt dicht, wenn es zu jedem

ε > 0 und jedem v ∈ V ein w ∈ W gibt mit �v − w� < ε.

Hohere Mathematik 605

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Normierte Vektorraume Aquivalente Normen

Bemerkung: 25.7 Aquivalente Normen

(a) Alle Normen auf dem Rn sind aquivalent: Die Konvergenz limk→∞ vk = v

bzgl. einer Norm (z.B. der Maximums-Norm) zieht sofort die Konvergenzbezuglich aller anderen Normen nach sich:

limk→∞

�v − vk�p = 0 fur alle 1 ≤ p ≤ ∞.

Dies folgt aus den Ungleichungen

�x�∞ ≤ �x�p ≤ n1/p�x�∞.

Hohere Mathematik 606

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Normierte Vektorraume Aquivalente Normen

(b) Die Lp-Normen auf C [a, b] sind nicht aquivalent.

Die Maximumsnorm (p = ∞) fuhrt auf den Konvergenzbegriff dergleichmaßigen Konvergenz:

limk→∞

fk = f ⇐⇒ limk→∞

�maxx∈[a,b]

|fk(x)− f (x)|�

= 0.

Die L2-Norm auf C [a, b] fuhrt auf die Konvergenz im quadratischen Mittel:

limk→∞

fk = f ⇐⇒ limk→∞

��b

a

|fk(x)− f (x)|2 dx�

= 0.

Es gibt keine Norm auf C [a, b], die die punktweise Konvergenz induziert.

Hohere Mathematik 607

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Normierte Vektorraume Cauchy-Folge, vollstandig, Banachraum

Wie beim Ubergang von den rationalen Zahlen zu den reellen Zahlen gibt es auchbei normierten Raumen den Begriff der Vollstandigkeit:

25.8 Cauchy-Folge, vollstandig, Banachraum

Eine Folge (vk)k∈N von Elementen vk des normierten Raumes V heißtCauchy-Folge, wenn gilt

limk,�→∞

�vk − v�� = 0.

Ein normierter Raum V heißt vollstandiger Raum oder Banachraum, wennjede Cauchy-Folge einen Grenzwert v ∈ V besitzt.

Ein Skalarproduktraum (siehe 25.10) V heißt vollstandiger Raum oderHilbertraum, wenn jede Cauchy-Folge einen Grenzwert v ∈ V besitzt.

Hohere Mathematik 608

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Normierte Vektorraume Beispiele

25.9 Beispiele

(a) Rn ist mit jeder p-Norm ein Banachraum, und mit der Euklidischen Norm (p = 2)

sogar ein Hilbertraum.

(b) C [a, b] ist mit der Maximumsnorm ein Banachraum.

(c) C [a, b] versehen mit der L2-Norm ist nicht

vollstandig. Ein Beispiel einer Cauchy-Folgein C [−1, 1] ohne einen Grenzwert in C [−1, 1]ist

fk(x) =

−1 x ≤ − 1k

kx − 1k≤ x ≤ 1

k

1 x ≥ 1k

, k = 1, 2, . . .

Man erkennt, dass �fn− fm�22 ≤ 2max{ 1n, 1m}

ist. Eine stetige Grenzfunktion musste furx > 0 den Wert 1 und fur x < 0 den Wert−1 haben.

1n

fnfm

y

x

1

−1

Hohere Mathematik 609

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Normierte Vektorraume Skalarprodukt und Norm

Eine besonders wichtige Rolle spielen Skalarproduktraume.

25.10 Skalarprodukt und Norm

Wie in 6.4 definieren wir: Ein Skalarprodukt auf einem Vektorraum V ist eineAbbildung (v ,w) −→< v ,w > von V × V in die reellen oder komplexenZahlen, die definit, symmetrisch, linear in der ersten und antilinear in derzweiten Komponente ist.

Wie in 6.7 bewiesen wurde, induziert das Skalarprodukt eine Norm durch

�v� =√< v , v >

Jeder Skalarprodukt-Raum ist also auch ein normierter Raum. DieUmkehrung gilt i.a. nicht.

Es gilt die Cauchy-Schwarz Ungleichung

|�v ,w�| ≤��v , v� �w ,w� = �v� �w�

Hohere Mathematik 610

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Normierte Vektorraume Parallelogramm-Identitat und Winkel

25.11 Parallelogramm-Identitat und Winkel

(i) In einem Skalarproduktraum V gilt die Identitat

�v + w�2 + �v − w�2 = 2(�v�2 + �w�2). (∗)

(ii) Umgekehrt: Falls in einem normierten Raum V die Parallelogramm-Identitat (∗)gilt, so ist durch

�v ,w� := 14

��v + w�2 − �v − w�2

bzw. im komplexen Fall

�v ,w� := 14

��v + w�2 − �v − w�2 + i�v − iw�2 − i�v + iw�2

ein Skalarprodukt definiert, das diese Norm induziert.

(iii) In reellen Raumen ist durch

cos(α) =�v ,w�

�v� �w�

der Winkel α = ∠(v ,w) im Intervall 0 ≤ α ≤ π festgelegt.

Hohere Mathematik 611

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Normierte Vektorraume Beispiel: die 2-Norm auf C([a, b])

25.12 Beispiel: die 2-Norm auf C ([a, b]) Der Vektorraum C [a, b] mit demSkalarprodukt

�f , g� =�

b

a

f (x)g(x) dx , f , g ∈ C [a, b]

ist ein Skalarproduktraum . Die induzierte Norm ist die L2-Norm in 21.6

�f �2 =��f , f � =

��b

a

|f (x)|2 dx�1/2

.

Die Cauchy-Schwarz Ungleichung heißt hier

�����

�b

a

f (x)g(x) dx

����� ≤��

b

a

|f (x)|2 dx�1/2 ��

b

a

|g(x)|2 dx�1/2

.

Dies ist ein Spezialfall (mit p = q = 2) der Holder-Ungleichung.

Hohere Mathematik 612

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Normierte Vektorraume Orthonormal-System

Wieder gilt: v ,w ∈ V heißen orthogonal, wenn �v ,w� = 0 gilt.Ein normierter Raum heißt separabel, wenn es eine abzahlbare dichte Menge gibt.Wir betrachten hier nur separable Hilbertraume.

25.13 Orthonormal-System

Die Vektoren v1, v2, . . . im Skalarproduktraum V bilden einOrthonormal-System (ONS), wenn gilt

�vj , vk� =�0 fur j �= k

1 fur j = k

Das ONS heißt vollstandig, wenn aus < w , vj >= 0 fur alle j schon w = 0folgt.

Zur Konstruktion von ONS kann (auch fur unendlich viele Vektoren) dasGram-Schmidt-Verfahren (siehe 6.19) verwendet werden.

Hohere Mathematik 613

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Normierte Vektorraume Satz des Pythagoras und Besselsche Ungleichung

25.14 Satz des Pythagoras und Besselsche Ungleichung

Falls die Vektoren v1, v2, . . . , vN im Skalarproduktraum V einOrthonormal-System bilden, so gilt der Satz des Pythagoras

�����

N�

k=1

ckvk

�����

2

=N�

k=1

|ck |2 (ck ∈ R beliebig)

und die Besselsche Ungleichung

N�

k=1

|�w , vk�|2 ≤ �w�2 (w ∈ V beliebig).

Hohere Mathematik 614

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Normierte Vektorraume Orthonormalbasen und Parseval-Identitat

Orthonormalsysteme in Hilbertraumen haben fast dieselben Eigenschaften wie inendlichdimensionalen Raume:

25.15 Orthonormalbasen und Parseval-Identitat

Sei v1, v2, . . . ein vollstandiges ONS in einem Hilbertraum V . dann gilt:

v1, v2, . . . ist eine Orthonormalbasis (ONB): es gilt fur jeden Vektor w ∈ V :

w =∞�

k=1

< w , vk > vk

Es gilt die Parsevalsche Identitat

∞�

k=1

|�w , vk�|2 = �w�2

Hohere Mathematik 615

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Normierte Vektorraume Orthogonalprojektion

Orthonormalsysteme dienen zur Projektion auf den Teilraum

Z = span(v1, . . . , vN).

25.16 Orthogonalprojektion

Die Vektoren v1, v2, . . . , vN seien ein Orthonormalsystem in V . Mit Z sei der obigeTeilraum bezeichnet.Zu beliebigem w ∈ V ist der Vektor

P(w) :=N�

k=1

�w , vk� vk

die Orthogonal-Projektion von w auf den Teilraum Z , d.h.

�w − P(w), z� = 0 fur alle z ∈ Z .

Hohere Mathematik 616

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Normierte Vektorraume Orthogonalprojektion

(Forts.)

Weiterhin gelten die Identitaten

�w�2 = �w − P(w)�2 + �P(w)�2, (i)

und�w − z�2 = �w − P(w)�2 + �P(w)− z�2 fur alle z ∈ Z , (ii)

also ist die Orthogonal-Projektion P(w) ∈ Z der eindeutig bestimmte Vektor imTeilraum Z mit minimalem Abstand vom Vektor w .

Bemerkung: Man sieht an der expliziten Form in diesem Satz, dass dieOrthogonalprojektion ein linearer Operator ist, dass also

P(αw1 + βw2) = αP(w1) + βP(w2)

gilt.

Hohere Mathematik 617

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Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Einleitung

26: Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung

Die Fourier-Entwicklung ist eines der wichtigsten mathematischen Werkzeuge infast allen technischen Bereichen. Sie wurde vom franzosischen Mathematiker undPhysiker Jean Baptiste Joseph Fourier (geb. 21. Marz 1768 bei Auxerre; gest. 16.Mai 1830 in Paris) eingefuhrt. Auf ihn geht die Theorie der Warmeleitung zuruck.

26.1 Einleitung Fourier stellte fest, dass man durch die “unendliche” Linearkombinationen derFunktionen

1, sin x , cos x , sin 2x , cos 2x , . . . ,

also durch die nach ihm benannten Fourier-Reihen

a0

2+

∞�

k=1

(ak cos kt + bk sin kt)

(fast) jede periodische Funktion mit der Periodenlange T = 2π “erhalt”. Durch Wahl derKoeffizienten ak und bk gelang es ihm, einige Differentialgleichungen fur periodische Funktionenzu losen.Fourier gab damit einen wesentlichen Impuls fur die Untersuchung der Konvergenz von Reihen.Die heute klar formulierten Begriffe wie “punktweise Konvergenz” bzw. “gleichmaßigeKonvergenz” von Funktionenreihen waren zu seiner Zeit noch unbekannt; durch die fehlendePrazisierung erschienen unendliche Reihen noch als “mysterios”.

Hohere Mathematik 618

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Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Der Vektorraum L2([0, T ])

Eigentlich reicht hier eine Untersuchung reellwertiger Funktionen. Durch dieBenutzung komplexwertiger Funktionen werden allerding die Beweise sehrvereinfacht.

Der “richtige” Skalarproduktraum fur die Fourier-Analyse:

26.2 Der Vektorraum L2([0,T ])

Eine Funktion f : [0,T ] → C heißt quadrat-integrierbar, wenn das Integral

�T

0|f (t)|2 dt

existiert.

Eine Teilmenge M ⊂ R heißt Nullmenge, wenn es zu jedem ε > 0 IntervalleI1, I2, u.s.w. gibt, so dass gilt

(a) M ⊂∞�

k=1

Ik und dabei ist (b)∞�

k=1

|Ik | < ε

Hohere Mathematik 619

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Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Der Vektorraum L2([0, T ])

26.2 Der Vektorraum L2([0,T ])(Fortsetzung)

Zwei quadrat-integrierbare Funktionen f und g werden als gleich angesehen(d.h. miteinander “identifiziert”), wenn

�T

0|f (t)− g(t)|2 dt = 0

gilt. (D.h. die Funktion f steht als Reprasentant einer ganzenAquivalenzklasse von Funktionen.)Dies ist genau dann der Fall, wenn sich die Funktionen nur auf einerNullmenge voneinander unterscheiden. Schreibweise:

f = g f. u. (in englischsprachigen Texten a.e.)

Mit L2([0,T ]) bezeichnen wir den Vektorraum aller quadrat-integrierbarenFunktionen f : [0,T ] → R (unter Berucksichtigung der Identifikation“gleicher” Funktionen).

Hohere Mathematik 620

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Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Der Vektorraum L2([0, T ])

26.2 Der Vektorraum L2([0,T ])(Fortsetzung)

Das Skalarprodukt auf L2([0,T ]) ist

�f , g� =�

T

0f (t)g(t) dt,

und die zugehorige Norm ist die L2-Norm

�f �2 :=��

T

0|f (t)|2 dt

�1/2

.

Hohere Mathematik 621

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Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Periodische Funktionen und Fortsetzung

26.3 Periodische Funktionen und Fortsetzung

(a) Eine Funktion f : R → C ist periodisch mit der Periode T , wenn stetsf (t) = f (t + T ) gilt.

(b) Induktiv folgt dann f (t) = f (t + kT ) fur jedes k ∈ Z.

(c) Ist f uber das Intervall [0,T ] integrierbar, so ist fur jedes t0 ∈ R:�T

0

f (t) dt =

�t0+T

t0

f (t) dt.

(d) Die (Standard-)Periodisierung einer Funktion f : [0,T ] → C ist gegeben durch dieFunktion f : R → C mit

f (t) = f (t − kT ) fur t ∈ [kT , (k + 1)T ) und k ∈ Z.

(e) Die ungerade periodische Fortsetzung einer Funktion f : [0,T/2] → C erhalt man,indem man f auf das Intervall (−T/2, 0) durch die Festlegung

f (t) = −f (−t), t ∈ (−T/2, 0),

fortsetzt und anschließend wie in (d) periodisiert.

Hohere Mathematik 622

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Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Periodische Funktionen und Fortsetzung

26.3 Periodische Funktionen und Fortsetzung(Fortsetzung)

(f) Die gerade periodische Fortsetzung einer Funktion f : [0,T/2] → C erhaltman, indem man f auf das Intervall (−T/2, 0) durch die Festlegung

f (t) = f (−t), t ∈ (−T/2, 0),

fortsetzt und anschließend wie in (d) periodisiert.

Bemerkung:

(a) Bei der ungeraden Fortsetzung muss man ggf. f (0) := 0 setzen.

(b) Selbst wenn f : [0,T ] → R stetig ist, kann die periodische Fortsetzung in (a) an denStellen kT mit k ∈ Z unstetig sein. (Ebenso fur die Falle (e) und (f) und die Stellen kT

sowie (k + 1/2)T .)

Hohere Mathematik 623

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Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung ONS in L2([0, T ])

Wir geben 3 verschiedene Orthonormalsysteme zur Periodenlange T > 0 an.

26.4 ONS in L2([0,T ])

Zur Periodenlange T > 0 definieren wir die Grundfrequenz ω = 2πT.

(a) Fur L2([0,T ]) definieren wir das ONS

φ0(t) =

�1

T, φ2k−1(t) =

�2

Tsin (kωt)

φ2k(t) =

�2

Tcos (kωt) , k = 1, 2, 3, . . . .

(b) Fur L2([0,T/2]) definieren wir das ONS

φk (t) =

�4

Tsin (kωt) , k = 1, 2, 3, . . .

(bezogen auf die ungerade periodische Fortsetzung) und als Alternative

φ0(t) =

�2

T, φk (t) =

�4

Tcos (kωt) , k = 1, 2, 3, . . .

(bezogen auf die gerade periodische Fortsetzung).

Hohere Mathematik 624

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Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung ONS in L2([0, T ])

26.4 ONS in L2([0,T ])(Fortsetzung)

(c) Das in (a) angegebene System φ0,φ1, . . . ist ein ONS bzgl. des Skalarprodukts

�f , g� =�

T

0f (t)g(t) dt

(d) Beide in (b) angegebenen Systeme sind ONS bzgl. des Skalarprodukts

�f , g� =�

T/2

0f (t)g(t) dt

(e) Schrankt man sich auf reelle Koeffizienten ein, ist jedes der angegebenenSysteme ein ONS auf dem entsprechenden Teilraum der reellwertigenFunktionen.

Hohere Mathematik 625

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Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Definition der Fourier-Analyse

Die allgemeine Aussage zur Orthogonalprojektion in Satz 25.16 liefert dieGrundlage der Fourier-Analyse.Die Konstanten in den Funktionen werden dabei in die Koeffizienten gezogen.

26.5 Definition der Fourier-Analyse

Wir wahlen das ONS in 26.4(a) auf L2([0,T ]). Zur Funktion f ∈ L2([0,T ]) undder Grundfrequenz ω = 2π

Tdefinieren wir die Fourier-Koeffizienten

a0 =2√T�f ,φ0� =

2

T

�T

0f (t) dt,

ak =

�2

T�f ,φ2k� =

2

T

�T

0f (t) cos(kωt) dt,

bk =

�2

T�f ,φ2k−1� =

2

T

�T

0f (t) sin(kωt) dt,

k = 1, 2, 3, . . .

Hohere Mathematik 626

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Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Definition der Fourier-Analyse

26.5 Definition der Fourier-Analyse (Fortsetzung)

Die Orthogonalprojektion

SN [f ](t) =2N�

k=0

�f ,φk�φk =a02

+N�

k=1

(ak cos(kωt) + bk sin(kωt))

=N�

k=−N

ckeiωkt

heißt die Fourier-Partialsumme von f , und die Reihe

∞�

k=0

�f ,φk�φk =a02

+∞�

k=1

(ak cos(kωt) + bk sin(kωt))

=∞�

k=−∞cke

iωkt

heißt die Fourierreihe von f .

Hohere Mathematik 627

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Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Komplexe Fourierreihe

26.6 Komplexe Fourierreihe

Die komplexen Fourierkoeffizienten von f : [0,T ] → R sind fur k ∈ Z definiertdurch

ck(f ) =1

T

�T

0f (t)e−ikωt dt.

Die komplexe Fourierreihe von f lautet

f ∼∞�

k=−∞ck(f )e

ikωt .

Zu den Koeffizienten ak und bk in 26.5 bestehen die Beziehungen

a0 = 2c0, ak = ck + c−k , bk = i(ck − c−k), k ∈ N,

und umgekehrt

c0 =a02, ck =

1

2(ak − ibk), c−k =

1

2(ak + ibk), k ∈ N.

Hohere Mathematik 628

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Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Komplexe Fourierreihe

Falls f reellwertig ist, so gilt

c−k = ck fur alle k ∈ N.

Daraus ergeben sich die reellen Fourierkoeffizienten

ak = 2Re ck , bk = −2Im ck , k ∈ N.

Hohere Mathematik 629

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Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Hauptsatz der Fourier-Analyse

26.7 Hauptsatz der Fourier-Analyse

Es sei f ∈ L2([0,T ]). Dann gilt die Konvergenz im quadratischen Mittel

limN→∞

�f − SN [f ]�22 = limN→∞

�T

0|f (t)− SN [f ](t)|2 dt = 0

sowie die Parseval-Identitat

�f �22 =T

4a20 +

T

2

∞�

k=1

(a2k+ b2

k) = T

∞�

k=−∞|ck |2.

Hohere Mathematik 630

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Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Hauptsatz der Fourier-Analyse

BILDER von S0, S1, S10, S20, S50, S100 fur f (t) = t auf [0, 1], gezeichnet wird die periodischeFortsetzung auf das Intervall [0, 3].

0 0.5 1 1.5 2 2.5 3−0.5

0

0.5

1

1.5

Fourier−Partialsumme S0

0 0.5 1 1.5 2 2.5 3−0.5

0

0.5

1

1.5

Fourier−Partialsumme S1

0 0.5 1 1.5 2 2.5 3−0.5

0

0.5

1

1.5

Fourier−Partialsumme S10

0 0.5 1 1.5 2 2.5 3−0.5

0

0.5

1

1.5

Fourier−Partialsumme S20

0 0.5 1 1.5 2 2.5 3−0.5

0

0.5

1

1.5

Fourier−Partialsumme S50

0 0.5 1 1.5 2 2.5 3−0.5

0

0.5

1

1.5

Fourier−Partialsumme S100

Hier liegt tatsachlich die Approximation im quadratischen Mittel vor! Weiter erkenntman das Gibb’sche Phanomen (Uberschwingen um 9% der Spunghohe oben und unten)

Hohere Mathematik 631

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Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Hauptsatz der Fourier-Analyse

BILDER von S0, S1, S10, S20, S50, S100 fur g(t) = 1− |t| auf [−1, 1], gezeichnet wird dieperiodische Fortsetzung auf das Intervall [−1, 3].

−1 0 1 2 3−0.2

0

0.2

0.4

0.6

0.8

1

1.2

Fourier−Partialsumme S0

−1 0 1 2 3−0.2

0

0.2

0.4

0.6

0.8

1

1.2

Fourier−Partialsumme S1

−1 0 1 2 3−0.2

0

0.2

0.4

0.6

0.8

1

1.2

Fourier−Partialsumme S10

−1 0 1 2 3−0.2

0

0.2

0.4

0.6

0.8

1

Fourier−Partialsumme S20

−1 0 1 2 3−0.2

0

0.2

0.4

0.6

0.8

1

Fourier−Partialsumme S50

−1 0 1 2 3−0.2

0

0.2

0.4

0.6

0.8

1

Fourier−Partialsumme S100

Hier liegt sogar die gleichmaßige Konvergenz der Fourierreihe gegen g vor.

Hohere Mathematik 632

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Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Hauptsatz der Fourier-Analyse

1. Beweisteil des Hauptsatzes 26.7:Die Funktion SN [f ] ist die Orthogonal-Projektion von f auf den Teilraum, der von denFunktionen φj in 26.4(a), j = 0, 1, 2, . . . , aufgespannt wird. Denn:

a02 = �f ,φ0� φ0,

ak cos(kωt) = �f ,φ2k � φ2k ,bk sin(kωt) = �f ,φ2k−1� φ2k−1, k = 1, 2, . . . .

Mit der Besselschen Ungleichung 25.14 folgt

�f �22 ≥ �SN [f ]�22 =T

4a20 +

T

2

N�

k=1

(a2k+ b

2k).

Die Identitat im Satz uber Orthogonalprojektionen 25.16(i) ergibt

�f − SN [f ]�22 = �f �22 − �SN [f ]�22 = �f �22 −�T

4a20 +

T

2

N�

k=1

(a2k+ b

2k)

�.

Dies zeigt, dass die Konvergenz limN→∞ �f − SN [f ]�22 = 0 aquivalent ist zur Parseval-Identitatin 26.7.

Hohere Mathematik 633

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Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Vollstandigkeit des Orthonormal-Systems 26.4(a)

2. Beweisteil des Hauptsatzes 26.7:Es bleibt die Frage zu beantworten, ob es eine quadrat-integrierbare Funktion f gibt, die einenpositiven Abstand zu dem Teilraum besitzt, der von den Funktionen φj in 26.4(a),j = 0, 1, 2, . . . , aufgespannt wird. Das folgende Resultat verneint diese Frage.

26.8 Vollstandigkeit des Orthonormal-Systems 26.4(a)

Die Funktion f : [0,T ] → R sei quadrat-integrierbar und es gelte

�f ,φj � = 0

fur alle trigonometrischen Funktionen φj in 26.4(a). Dann gilt f ≡ 0.

Bemerkung; Fur quadrat-integrierbare Funktionen gilt

f = limN→∞

SN [f ]

im Sinne der Konvergenz in der L2-Norm (“im quadratischen Mittel”). Man schreibt oft

f (t) =a0

2+

∞�

k=1

�ak cos

2kπt

T+ bk sin

2kπt

T

�,

obwohl diese Identitat nicht immer fur alle t ∈ R erfullt ist.

Hohere Mathematik 634

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Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Erganzung: gerade und ungerade periodische Fortsetzung

26.9 Erganzung: gerade und ungerade periodische FortsetzungBisher wurde die periodische Fortsetzung einer Funktion f : [0,T ] → R betrachtet. InAnwendungen bevorzugt man manchmal die geraden und ungeraden periodischen Fortsetzungenin 26.3. Die Grundfrequenz ist wieder ω = 2π

T.

Die Funktion f : [0,T/2] → R sei quadrat-integrierbar. Dann besitzt die ungeradeperiodische Fortsetzung die Fourierreihe (auch Sinus-Reihe genannt)

f (t) =∞�

k=1

bk sin(kωt)

mit den Fourier-Koeffizienten

bk =4

T

�T/2

0f (t) sin(kωt) dt.

Die Funktion f : [0,T/2] → R sei quadrat-integrierbar. Dann besitzt die gerade periodischeFortsetzung die Fourierreihe (auch Cosinus-Reihe genannt)

f (t) =a0

2+

∞�

k=1

ak cos(kωt)

mit den Fourier-Koeffizienten

ak =4

T

�T/2

0f (t) cos(kωt) dt.

Hohere Mathematik 635

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Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Punktweise Konvergenz der Fourierreihe

Wie steht es um punktweise und gleichmaßige Konvergenz der Fourierreihe?

26.10 Punktweise Konvergenz der Fourierreihe

Die Funktion f : [0,T ] → R sei stuckweise stetig differenzierbar, d.h. es gibt eineUnterteilung 0 = t0 < t1 < · · · < tr = T des Intervalls [0,T ], so dass f auf jedemTeilintervall [tk , tk+1] stetig und stetig differenzierbar ist (mit einseitigenGrenzwerten der Funktion und der Ableitung am Rand).

Dann konvergiert die Fourier-Reihe von f an jeder Stelle t ∈ [0,T ], der Grenzwertist der Mittelwert des links- und rechtsseitigen Grenzwerts von f an dieser Stelle,d.h.

limN→∞

SN [f ](t) =1

2

�lim

h→0+f (t + h) + lim

h→0+f (t − h)

�.

Bei t = 0 oder T ist hierbei der Grenzwert der periodischen Fortsetzung von f zubilden.

Hohere Mathematik 636

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Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Punktweise Konvergenz der Fourierreihe

Wichtiger Spezialfall: Wenn f stuckweise stetig differenzierbar ist und dieperiodische Fortsetzung von f an der Stelle t stetig ist, dann gilt

limN→∞

SN [f ](t) = f (t).

Die Stetigkeit von f reicht nicht aus, damit die Fourierreihe konvergiert: Es gibtstetige Funktionen, deren Fourierreihe an vielen Stellen gar nicht konvergiert(sogar an uberabzahlbar vielen Stellen!).

Die Zusatzvoraussetzung, dass f stuckweise stetig differenzierbar ist, ist wesentlichfur die Konvergenz der Fourierreihe.

Hohere Mathematik 637

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Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Rechenregeln fur Fourierreihen

26.11 Rechenregeln fur Fourierreihen

Fourierreihen konnen gliedweise differenziert und integriert werden: Sei T > 0 diePeriodenlange und ω = 2π

Tdie Grundfrequenz. Dann gilt fur f : [0,T ] → R mit der

Fourierreihe

f ∼ a0

2+

∞�

k=1

(ak cos(kωt) + bk sin(kωt)) :

(i) falls a0 = 0 gilt, sind durch

F (t) = C +∞�

k=1

�ak

kωsin(kωt)− bk

kωcos(kωt)

mit C ∈ R alle Stammfunktionen von f gegeben.

(ii) falls die periodische Fortsetzung von f stetig ist und f stuckweise stetigdifferenzierbar ist, so besitzt die stuckweise gebildete Ableitung f

� die Fourierreihe

f� ∼

∞�

k=1

(−kωak sin(kωt) + kωbk cos(kωt)) .

Entsprechendes gilt fur die komplexe Form.

Hohere Mathematik 638

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Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Abnahme-Geschwindigkeit der Fourier-Koeffizienten

Die Geschwindigkeit der Konvergenz der Fourierreihe hangt davon ab, wie schnellder Betrag der Fourier-Koeffizienten abnimmt. Es besteht ein direkterZusammenhang zu der “Glattheit” der Funktion selbst.

26.12 Abnahme-Geschwindigkeit der Fourier-Koeffizienten

Es sei r ∈ N0. Die periodische Fortsetzung von f : [0,T ] → C sei r -mal stetigdifferenzierbar.

(i) Falls die r -te Ableitung noch stuckweise stetig differenzierbar ist, erfullen dieFourier-Koeffizienten von f

limk→∞

k r+1ak = 0, limk→∞

k r+1bk = 0.

(ii) Falls die r -te Ableitung sogar zweimal stuckweise stetig differenzierbar ist,erfullen die Fourier-Koeffizienten von f

|ak | ≤C

k r+2, |bk | ≤

C

k r+2

Bemerkung: Anhand vom Beispiel zu f (t) = 1− |t| (mit r = 0) erkennt man, dassdie Abnahme-Geschwindigkeit in (ii) nicht verbessert werden kann.Hohere Mathematik 639

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Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Fourier-Analyse in den Anwendungen: lineare zeitinvariante Filter

26.13 Fourier-Analyse in den Anwendungen: lineare zeitinvariante Filter

Wir betrachten analoge periodische Signale der festen Periodenlange T > 0.Sendet man ein Signal f : R → R durch einen Ubertragungs-Kanal, so entstehenTransformationen des Signals. Ein einfaches Modell fur das empfangene Signal hwird durch lineare zeitinvariante Filter ausgedruckt:

h(t) = (f ∗ g)(t) =�

T

0f (s)g(t − s) ds.

Hierbei stellt die Funktion g : R → R (ebenfalls periodisch mit der gleichenPeriodenlange T ) die Wirkung des Kanals auf ein beliebiges Eingangssignal f dar(g ist die “Impuls-Antwort” des Kanals). In der Mathematik spricht man von der“Faltung” der Funktion f mit der Funktion g .

Aufschluss uber die Wirkung des Kanals ergeben die Fourierkoeffizienten von g .

Hohere Mathematik 640

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Periodische Funktionen, Fourier-Entwicklung Faltungssatz

26.14 Faltungssatz

f , g : R → C seien periodische Funktionen der Periodenlange T . Beide seienquadrat-integrierbar uber [0,T ]. Dann ist die Faltung

h = f ∗ g , h(t) =

�T

0f (s)g(t − s) ds, t ∈ R,

ebenfalls periodisch zur Periodenlange T .h ist stetig, und seine Fourierkoeffizienten sind

ck(f ∗ g) = T · ck(f ) · ck(g).

Fur die reellen Fourierkoeffizienten bedeutet das

a0(h) =T

2a0(f )a0(g)

ak(h) =T

2(ak(f )ak(g)− bk(f )bk(g))

bk(h) =T

2(ak(f )bk(g) + bk(f )ak(g)) .

Hohere Mathematik 641

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Rand- und Eigenwertprobleme gewohnlicher Differentialgleichungen Definition: Lineares Randwertproblem 2. Ordnung

27: Rand- und Eigenwertprobleme gewohnlicher Differentialgleichungen

27.1 Definition: Lineares Randwertproblem 2. Ordnung

Ein lineares Randwertproblem (RWP) 2. Ordnung besteht aus einer linearenDifferentialgleichung 2. Ordnung

y�� + p(x)y � + q(x)y = g(x), x ∈ [a, b],

mit stetigen Funktionen p, q, g : [a, b] → R sowie den Randbedingungen

Ra(y) = αy(a) + βy �(a) = A, Rb(y) = γy(b) + δy �(b) = B,

mit reellen Koeffizienten α,β, γ, δ und vorgegebenen reellen Randwerten A,B. (Hierbeiist (α,β) �= (0, 0) und (γ, δ) �= (0, 0) vorausgesetzt.)Das RWP heißt homogen, wenn sowohl die Dgl. als auch die Randbedingungen homogensind, d.h. wenn g ≡ 0 und A = B = 0 gilt.

Bemerkung: Typische Form einfacher Randbedingungen:

nur Funktionswerte am Rand: y(a) = A, y(b) = B, oder

nur Ableitungswerte am Rand: y �(a) = A, y�(b) = B

Die Definition enthalt eine allgemeinere Form, in der Funktions- und Ableitungswerte gemischtauftreten.Hohere Mathematik 642

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Rand- und Eigenwertprobleme gewohnlicher Differentialgleichungen Eindeutigkeit der Losung

27.2 Eindeutigkeit der Losung

Das inhomogene RWP 27.1 ist genau dann eindeutig losbar, wenn das zugehorigehomogene RWP nur die Losung y ≡ 0 besitzt.

Dieser Fall liegt genau dann vor, wenn fur ein Fundamentalsystem ϕ1, ϕ2 derhomogenen Dgl.

y �� + p(x)y � + q(x)y = 0, x ∈ [a, b],

gilt

D := det

�Ra(ϕ1) Ra(ϕ2)Rb(ϕ1) Rb(ϕ2)

��= 0.

Die Losung wird in drei Schritten bestimmt:

1. Bestimme ein Fundamentalsystem ϕ1, ϕ2 der homogenen Dgl. (Kap. uber gew. Dgl.).

2. Bestimme eine spezielle (=partikulare) Losung yS der inhomogenen Dgl.

3. Bestimme die Konstanten c1 und c2 in

y(x) = yS (x) + c1ϕ1(x) + c2ϕ2(x)

durch Losen des linearen Gleichungssystems

Ra(y) = A, Rb(y) = B.

Hierbei tritt genau die obige Matrix auf.Hohere Mathematik 643

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Rand- und Eigenwertprobleme gewohnlicher Differentialgleichungen Losungsstruktur von RWP

Wir betrachten nun homogene RWP’e.

27.3 Losungsstruktur von RWP

Die Menge aller Losungen des homogenen linearen RWP zweiter Ordnung ist einUntervektorraum von C 2([a, b]). Es konnen die folgenden beiden Falle auftreten:

(i) y ≡ 0 ist die einzige Losung; dies ist der in 27.2 dargestellte Fall.

(ii) Die Menge der Losungen hat die Dimension 1, d.h. die Losungen haben dieForm y(x) = cϕ(x) mit c ∈ R und einer von Null verschiedenen Losung ϕdes homogenen RWP.

Hohere Mathematik 644

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Rand- und Eigenwertprobleme gewohnlicher Differentialgleichungen Definition: Rand-Eigenwertproblem

Homogene RWP’e mit eindimensionalen Losungsmengen sind von besondererBedeutung.

27.4 Definition: Rand-Eigenwertproblem

Ein homogenes Randwertproblem zur Dgl. 2. Ordnung

y �� + p(x)y � + q(x)y = µy , x ∈ [a, b], (mit µ ∈ C)

mit homogenen Randbedingungen

Ra(y) = αy(a) + βy �(a) = 0, Rb(y) = γy(b) + δy �(b) = 0

heißt Rand-Eigenwertproblem zum DifferentialoperatorL(y) = y �� + p(x)y � + q(x)y .

Wenn fur die Zahl µ eine Losung ϕ �≡ 0 des homogenen RWP existiert,so heißt µ Eigenwert und ϕ Eigenfunktion dieses Rand-Eigenwertproblems.

Bemerkung: Satz 27.3 besagt, dass alle Eigenwerte einfach sind.

Hohere Mathematik 645

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Rand- und Eigenwertprobleme gewohnlicher Differentialgleichungen Wichtige Beispiele

27.5 Wichtige Beispiele

Wir betrachten das Randeigenwertproblem

c2y�� − µy = 0, x ∈ [0, L], (mit µ ∈ C)

mit den Randbedingungen y(0) = 0 und y(L) = 0 sind die Eigenwerte undEigenfunktionen

µk = −�kπcL

�2

und ϕk(x) = sin

�kπL

x

�, k = 1, 2, 3, . . . .

mit den Randbedingungen y�(0) = 0 und y

�(L) = 0 sind die Eigenwerte undEigenfunktionen

µk = −�kπcL

�2

und ϕk(x) = cos

�kπL

x

�, k = 0, 1, 2, . . . .

Hohere Mathematik 646

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Rand- und Eigenwertprobleme gewohnlicher Differentialgleichungen Eigenschaften der Eigenwerte und -funktionen

Die Behandlung gemischter Randbedingungen Ra(y) = αy(a) + βy �(a) (und Rb(y)

entsprechend) erfolgt erst im 4. Semester. Die folgenden Aussagen gelten jedoch auch hierfur.

27.6 Eigenschaften der Eigenwerte und -funktionen

Wir betrachten das Rand-Eigenwertproblem

c2y�� = µy , x ∈ [a, b], (mit µ ∈ C)

mit den homogenen Randbedingungen

Ra(y) = αy(a) + βy �(a) = 0, Rb(y) = γy(b) + δy �(b) = 0,

und (α,β) �= (0, 0) sowie (γ, δ) �= (0, 0). Dann gilt:

(i) Es gibt abzahlbar viele Eigenwerte. Alle Eigenwerte sind reell.

(ii) Die Eigenfunktionen zu verschiedenen Eigenwerten sind orthogonal: Sind y1 und y2

Eigenfunktionen zu verschiedenen Eigenwerten µ1 �= µ2, so gilt

�b

a

y1(x)y2(x) dx = 0.

(iii) Die Eigenfunktionen bilden ein vollstandiges Orthogonalsystem im Raum L2([a, b]).

Hohere Mathematik 647

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Rand- und Eigenwertprobleme gewohnlicher Differentialgleichungen Definition: Sturm-Liouville Rand-Eigenwertproblem

Als Verallgemeinerung von c2y �� − µy = 0 tritt in Anwendungen das regulareSturm-Liouville Rand-Eigenwertproblem auf.

27.7 Definition: Sturm-Liouville Rand-Eigenwertproblem

Auf dem Intervall [a, b] seien eine stetig differenzierbare Funktion p und stetigeFunktionen q,σ gegeben. Weiterhin gelte p(x) > 0 und σ(x) > 0 fur allex ∈ [a, b]. Das Rand-Eigenwertproblem

−(p(x)y �)� + q(x)y − µσ(x)y = 0 (mit µ ∈ C)

und homogenen Randbedingungen

Ra(y) = αy(a) + βy �(a) = 0, Rb(y) = γy(b) + δy �(b) = 0

heißt regulares Sturm-Liouville Rand-Eigenwertproblem.

Hohere Mathematik 648

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Rand- und Eigenwertprobleme gewohnlicher Differentialgleichungen Eigenschaften von Sturm-Liouville Rand-Eigenwertproblemen

27.8 Eigenschaften von Sturm-Liouville Rand-Eigenwertproblemen

Das regulare Sturm-Liouville Rand-Eigenwertproblem besitzt unendlich viele reelleEigenwerte

µ1 < µ2 < µ3 < · · · , limk→∞

µk = ∞,

mit reellen Eigenfunktionen ϕk , k = 1, 2, 3, . . ., die paarweise orthogonal sindbezuglich des Skalarprodukts

�f , g� =�

b

a

f (x)g(x) σ(x) dx .

Hohere Mathematik 649

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Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Grundbegriffe

28: Funktionentheorie

In den folgenden Kapiteln betrachten wir Funktionen f : M → C mit M ⊆ C. Wirnennen solche Funktionen komplexe Funktionen.

28.1 Grundbegriffe

Die komplexe Zahl z = x + iy ∈ C wird durch ihren Realteil x ∈ R und ihrenImaginarteil y ∈ R definiert.

Manchmal betrachten wir Teilmengen von C auch als Teilmengen von R2:

z = x + iy ∈ C ←→ (x , y) ∈ R2.

Alternativ wird die Darstellung in Polarkoordinaten verwendet:

z = x + iy = |z |(cosφ+ i sinφ) = |z |e iφ (fur z �= 0), mit

|z | =�

x2 + y 2, φ = arg(z) =

arccos x√x2+y2

, falls y ≥ 0,

2π − arccos x√x2+y2

, falls y < 0,

den Betrag und das Argument von z bezeichnen.

(arg (z) ∈ [0, 2π) ist der Winkel, den der Vektor vom Nullpunkt zum Punkt (x , y)mit der positiven x-Achse bildet.)

Hohere Mathematik 650

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Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Grundbegriffe

Zu z = x + iy (mit x , y ∈ R) ist

z = x − iy = |z |(cosφ− i sinφ) = |z |e−iφ

die komplex konjugierte Zahl. Es gilt |z | =√zz .

Die offene Kreisscheibe mit Mittelpunkt z0 und Radius R > 0 ist

KR(z0) = {z ∈ C | |z − z0| < R}.

Eine Menge M ⊆ C ist offen, wenn zu jedem Punkt z ∈ M eine offeneKreisscheibe um z existiert, die Teilmenge von M ist.

Eine offene Menge M ⊆ C ist zusammenhangend, wenn sie NICHT dieVereinigung von zwei nichtleeren und disjunkten offenen Teilmengen ist. Eineoffene und zusammenhangende Menge nennen wir Gebiet.(Gebiete ubernehmen die Rolle der Intervalle in R.)

Hohere Mathematik 651

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Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Kurven, einfach zusammenhangende Mengen

28.2 Kurven, einfach zusammenhangende Mengen

Eine Kurve in C ist eine stetige Abbildung �c : [a, b] → C (wie in Def. 20.1).Die Kurve �c heißt

geschlossen, wenn �c(a) = �c(b) gilt,doppelpunktfrei, wenn �c(t1) �= �c(t2) fur alle a < t1 < t2 < b gilt, also dieInjektivitat auf dem offenen Intervall (a, b) vorliegt,regular, wenn �c stetig differenzierbar ist und

d

dt�c(t) = �c(t) �= �0 fur alle t ∈ [a, b] gilt,

stuckweise regular, wenn �c die Aneinanderreihung endlich vieler regularerKurven ist (siehe 20.1).

Das Innere einer geschlossenen doppelpunktfreien und stuckweise regularenKurve ist das beschrankte Gebiet M, dessen Rand die Kurve ist.

Ein Gebiet M ⊆ C heißt einfach zusammenhangend, wenn das Innere jedergeschlossenen doppelpunktfreien und stuckweise regularen Kurve eineTeilmenge von M ist.

Anschaulich: M hat keine Locher.

Hohere Mathematik 652

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Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Grenzwerte in C

28.3 Grenzwerte in C

Wir bilden Grenzwerte wie im R2: Eine Folge (zn)n→∞ konvergiert gegen

c = a+ ib ∈ C genau dann, wenn limn→∞ |zn − c | = 0 gilt. Dies ist genau dannder Fall, wenn

limn→∞

Re zn = a und limn→∞

Im zn = b

gilt.

28.4 Real- und Imaginarteil komplexer Funktionen

Die Funktion f : M → C (mit M ⊆ C) kann mit ihrem Real- und Imaginarteilgeschrieben werden:

f (z) = f (x + iy) = u(x , y) + iv(x , y),

wobei u : M → R der Realteil und v : M → R der Imaginarteil von f ist.Beachte: Wir schreiben das Argument von u und v als Koordinaten-Paar (x , y) ∈ R

2 anstattx + iy .Eigenschaften von f lassen sich durch Eigenschaften von u und v ausdrucken.

Hohere Mathematik 653

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Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Definition und Satz: Stetigkeit

28.5 Definition und Satz: Stetigkeit

(i) Eine komplexe Funktion f : M → C heißt stetig im Punkt z0 ∈ M, wenn

limz→z0

f (z) = f (z0)

gilt. Wir sagen f ist stetig, wenn f in jedem z0 ∈ M stetig ist.

(ii) f : M → C ist genau dann stetig (im Punkt z0), wenn ihr Realteil und ihrImaginarteil (im Punkt z0) stetig sind.

Beispiele:

(a) f : C → C, f (z) = z2 ist stetig. Jedes Polynom mit reellen oder komplexen Koeffizienten

ist stetig.

(b) g : C \ {0} → C mit g(z) = 1zist stetig. Jede rationale Funktion

h : C \ {z1, . . . , zr} → C, h(z) =P(z)

Q(z),

mit Polynomen P und Q ist stetig. Hierbei bezeichnen z1, . . . , zr ∈ C samtliche Nullstellendes Polynoms Q.

(c) h : C → C mit h(z) = ez ist stetig.

Hohere Mathematik 654

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Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Darstellung komplexer Funktionen

28.6 Darstellung komplexer Funktionen

Zeichne die Graphen von u = Re f und v = Im f getrennt.

Haufige Alternative: zeichne zu mehreren Kurven �c1, . . . ,�cm imDefinitionsbereich M die Bildkurven f ◦ �c1, . . . , f ◦ �cm.

–3

–2

–1

0

1

2

3

–3 –2 –1 1 2 3

–3

–2

–1

0

1

2

3

–3 –2 –1 1 2 3

z f (z) = z2

Hohere Mathematik 655

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Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Darstellung komplexer Funktionen

–3

–2

–1

0

1

2

3

–3 –2 –1 1 2 3

–3

–2

–1

0

1

2

3

–3 –2 –1 1 2 3

z f (z) = z2

Hohere Mathematik 656

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Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Darstellung komplexer Funktionen

–3

–2

–1

0

1

2

3

–3 –2 –1 1 2 3

–3

–2

–1

0

1

2

3

–3 –2 –1 1 2 3

z f (z) =1

z

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Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Darstellung komplexer Funktionen

–3

–2

–1

0

1

2

3

–3 –2 –1 1 2 3

–3

–2

–1

0

1

2

3

–3 –2 –1 1 2 3

z f (z) = ez

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Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Darstellung komplexer Funktionen

Bilder in “Polarkoordinaten”, also den Geraden durch den Nullpunkt und Kreisenum den Nullpunkt:

–3

–2

–1

0

1

2

3

–3 –2 –1 1 2 3

–3

–2

–1

0

1

2

3

–3 –2 –1 1 2 3

z f (z) = z2

Hohere Mathematik 659

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Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Darstellung komplexer Funktionen

–3

–2

–1

0

1

2

3

–3 –2 –1 1 2 3

–3

–2

–1

0

1

2

3

–3 –2 –1 1 2 3

z f (z) =1

z

Hohere Mathematik 660

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Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Darstellung komplexer Funktionen

–3

–2

–1

0

1

2

3

–3 –2 –1 1 2 3

–3

–2

–1

0

1

2

3

–3 –2 –1 1 2 3

z f (z) = ez

Hohere Mathematik 661

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Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Darstellung komplexer Funktionen

Bei Betrachtung der Beispiele stellt man fest:

Schneiden sich die Kurven �c1 und �c2 des Definitionsbereichs rechtwinklig im Punktz0, so schneiden sich die Bildkurven f ◦ �c1 und f ◦ �c2 im Punkt f (z0) ebenfallsrechtwinklig.

Diese Eigenschaft gilt sogar fur andere Schnittwinkel α �= π/2. Wir werden spaterhierzu die Definition der konformen Abbildung angeben.

Frage: Woran erkennt man diese geometrische Eigenschaft?

Hohere Mathematik 662

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Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Winkel sich schneidender Kurven

28.7 Untersuchung der Winkel sich schneidender Kurven f ◦ �c1 und f ◦ �c2Der Punkt z0 ∈ C sei der gemeinsame Ausgangspunkt von zwei Strecken im Gebiet M

�c1(s) = z0 + sv1, �c2(t) = z0 + tv2 mit s, t ∈ [0,R),

wobei v1, v2 ∈ C mit |v1| = |v2| = 1 die Richtung der Strecken angeben. Der “orientierteWinkel” α zwischen �c1 und �c2 ist

α = ∠(�c1,�c2) = arg(v2)− arg(v1) = arg

�v2

v1

�= arg

�tv2

sv1

�,

wobei im letzten Term s, t ∈ (0,R) beliebig gewahlt werden konnen.

Jetzt wird eine stetige komplexe Funktion f : M → C angewandt. Die Bildkurven sind

(f ◦ �c1)(s) = f (z0 + sv1), (f ◦ �c2)(t) = f (z0 + tv2) mit s, t ∈ [0,R).

Diese Kurven schneiden sich in f (z0) mit dem Winkel

β = ∠(f ◦ �c1, f ◦ �c2) = lims,t→0

arg

�f (z0 + tv2)− f (z0)

f (z0 + sv1)− f (z0)

�,

also dem Grenzwert des orientierten Winkels der Strecken von f (z0) nach f (z0 + sv1) bzw.f (z0 + tv2) (falls der Grenzwert existiert).

Hohere Mathematik 663

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Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Winkel sich schneidender Kurven

Beide Winkel sind genau dann gleich, wenn

0 = β − α = lims,t→0

arg

��f (z0 + tv2)− f (z0)

f (z0 + sv1)− f (z0)

���tv2

sv1

��

= limt→0

arg

�f (z0 + tv2)− f (z0)

tv2

�− lim

s→0arg

�f (z0 + sv1)− f (z0)

sv1

�.

gilt. Hier stehen zwei komplexe Differenzenquotienten. Falls beide denselben Grenzwert

0 �= c = limt→0

f (z0 + tv2)− f (z0)

tv2= lim

s→0

f (z0 + sv1)− f (z0)

sv1

haben, ergibt sich tatsachlich die Eigenschaft α = β, d.h. Strecken in M und ihreBildkurven schneiden sich mit gleichem orientierten Winkel!

Dies veranlasst uns, eine neue Form der Differenzierbarkeit fur komplexe Funktioneneinzufuhren. Obwohl die Definition gleich aussieht wie fur reelle Funktionen, haben wirsoeben eine starke geometrische Eigenschaft beschrieben, die aus der neuenDifferenzierbarkeit folgt.

Hohere Mathematik 664

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Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Definition: Komplexe Differenzierbarkeit

28.8 Definition: Komplexe Differenzierbarkeit

M ⊆ C sei ein Gebiet und f : M → C sowie z0 ∈ M seien gegeben.f heißt komplex differenzierbar in z0, wenn der Grenzwert

limz→z0

f (z)− f (z0)

z − z0=: f �(z0)

existiert. Die komplexe Zahl f �(z0) heißt die Ableitung von f in z0.

Falls f in jedem Punkt von M komplex differenzierbar ist, so heißt f holomorph inM.

Bemerkung: Die Holomorphie (=komplexe Differenzierbarkeit im Gebiet M) ist eine sehr starkeEigenschaft: Im nachsten Abschnitt zeigen wir, dass hieraus die Eigenschaft folgt, dass f umjeden Punkt z0 in eine Potenzreihe entwickelt werden kann. Hieraus folgt dann:

Falls f : M → C holomorph ist, so ist f unendlich oft komplex differenzierbar!

Noch einmal:

Obwohl die Definition so aussieht wie im Reellen, liegt eine viel starkere Eigenschaft dadurch vor,

dass der Grenzwert des komplexen Differenzenquotienten existiert.

Hohere Mathematik 665

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Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Rechenregeln fur die komplexe Ableitung

Wir benotigen keine neuen Rechenregeln!

28.9 Rechenregeln fur die komplexe Ableitung

Fur die komplexe Ableitung gelten die gleichen Rechenregeln wie im Reellen: dieSumme, die Differenz, das Produkt, der Quotient und die Verkettung von komplexdifferenzierbaren Funktionen ist wieder komplex differenzierbar, und die Ableitungwird mit den Regeln fur Summen, Differenzen bzw. mit der Produkt-, Quotienten-und Kettenregel berechnet.

Hohere Mathematik 666

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Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Definition: Konforme Abbildung

Wir kommen auf die geometrische Betrachtung zuruck:

28.10 Definition: Konforme Abbildung

Der orientierte Winkel α = ∠(�c1,�c2) zwischen zwei regularen Kurven�c1,�c2 : [0, 1] → C mit gleichem Anfangspunkt z0 wird definiert als

α = arg �c2(0)− arg �c1(0).

Eine komplexe Funktion f : M → C auf einem Gebiet M heißt konform, wenndie folgenden Eigenschaften erfullt sind:(a) Fur jede regulare Kurve �c : [a, b] → M ist auch die Bildkurve f ◦ �c regular.(b) Schneiden sich zwei regulare Kurven �c1 und �c2 im Punkt z0 ∈ M mit dem

orientierten Winkel α, so schneiden sich die Bildkurven f ◦ �c1 und f ◦ �c2 imPunkt f (z0) ebenfalls mit dem orientierten Winkel α, d.h. f ist winkeltreu.

Hohere Mathematik 667

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Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Holomorphe und konforme Funktionen

28.11 Holomorphe und konforme Funktionen:

Jede holomorphe Funktion f : M → C, die zusatzlich f �(z) �= 0 fur alle z ∈ Merfullt, ist konform.

Der Beweis wurde im Wesentlichen schon oben erbracht.

Man betrachte die Bilder zu f (z) = z2 nochmals.f ist in M = C \ {0} konform, denn f ist holomorph in M und f

�(z) �= 0 furalle z ∈ M.

Die Kurven in C, die durch den Nullpunkt z0 = 0 laufen, haben keine regularenBildkurven. Also ist f nicht in ganz C konform.

Hohere Mathematik 668

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Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Riemannscher Abbildungssatz

In diesem Zusammenhang sei der folgende Hauptsatz der Funktionentheorieerwahnt.

28.12 Riemannscher Abbildungssatz

M ⊂ C sei ein einfach zusammenhangendes Gebiet, und es sei M �= C. Dannexistiert eine bijektive konforme holomorphe Abbildung von M auf dieEinheitskreisscheibe

D := {z ∈ C | |z | < 1}.

Hohere Mathematik 669

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Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Riemannscher Abbildungssatz

Beispiel Die obere Halbebene

M = H+ = {z ∈ C | Im z > 0}

ist ein einfach zusammenhangendes Gebiet. Die Funktion f (z) = z−i

z+ibildet H+

bijektiv, holomorph und konform auf den Einheitskreis D ab.

M

f g

H+

D

Hohere Mathematik 670

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Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Cauchy-Riemannsche Differentialgleichungen

28.13 Cauchy-Riemannsche Differentialgleichungen

Auf dem Gebiet M ⊆ C sei die komplexe Funktion f : M → C,

f (z) = f (x + iy) = u(x , y) + iv(x , y)

mit u = Re f und v = Im f definiert. Dann sind aquivalent:

(i) f ist holomorph in M.

(ii) u und v sind in M stetig partiell differenzierbar, und die partiellen Ableitungenerfullen die Cauchy-Riemann-Differentialgleichungen.

ux(x0, y0) = a, vx(x0, y0) = b,uy (x0, y0) = −b, vy (x0, y0) = a,

in Kurzformux = vy , uy = −vx .

In diesem Fall ist die komplexe Ableitung

f�(z) = f

�(x + iy) = ux(x , y) + ivx(x , y) = vy (x , y)− iuy (x , y).

Hohere Mathematik 671

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Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Erganzung zur komplexen Differenzierbarkeit in einem Punkt

Erganzung

Betrachtet man eine in z0 = x0 + iy0 komplex differenzierbare Funktion f mit f �(z0) �= 0

als f (x , y) =

�u(x , y)v(x , y)

�, so hat die Ableitungsmatrix die Form

�ux uy

vx vy

�=

�a b

−b a

�, ist also das Vielfache einer orthogonalen Matrix. Daraus folgt

noch einmal die Winkeltreue.

28.14 Erganzung zur komplexen Differenzierbarkeit in einem Punkt

Die komplexe Funktion f : M → C mit Realteil u : M → R und Imaginarteil v : M → R

ist genau dann im Punkt z0 = x0 + iy0 ∈ M komplex differenzierbar, wenn u und v imPunkt (x0, y0) total differenzierbar sind und dort die Cauchy-Riemann Dgl. gelten.

28.15 Folgerung:

M ⊆ C sei ein Gebiet und die komplexe Funktion f : M → C sei holomorph in M.

(i) Falls f �(z) = 0 fur alle z ∈ M gilt, so ist f konstant.

(ii) Falls |f | eine konstante Funktion ist, so ist auch f konstant.

Hohere Mathematik 672

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Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Zusammenhang holomorpher Funktionen und harmonischer Funktionen

Eine viel weitreichendere Folgerung der CR-Dgl’en:

28.16 Zusammenhang holomorpher Funktionen und harmonischer Funktionen

Sowohl der Realteil als auch der Imaginarteil einer holomorphen Funktionf : M → C sind harmonisch, d.h. fur f = u + iv gilt

∆u = uxx + uyy = 0, ∆v = vxx + vyy = 0 in M.

Hohere Mathematik 673

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Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Definition: konjugiert harmonische Funktionen

Ziel: Konstruktion einer holomorphen Funktion f (z) = f (x + iy), wenn z.B. nurder Realteil u(x , y) vorgegeben ist.

28.17 Definition: konjugiert harmonische Funktionen

M sei ein Gebiet im R2 (oder in C). Zwei harmonische Funktionen u, v : M → R

heißen zueinander konjugiert harmonisch, wenn sie die CR-Dgl’en erfullen.

In diesem Fall ist die komplexe Funktion f : M → C mit

f (z) = f (x + iy) = u(x , y) + iv(x , y)

holomorph in M.

Hohere Mathematik 674

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Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Satz: Konstruktion einer konjugiert harmonischen Funktion

28.18 Satz: Konstruktion einer konjugiert harmonischen Funktion

M ⊆ R2 sei ein einfach-zusammenhangendes Gebiet und u : M → R sei

harmonisch. Weiter sei z0 = x0 + iy0 ∈ M.

Dann gibt es zu jedem Anfangswert A ∈ R genau eine harmonische Funktionv : M → R mit v(x0, y0) = A und so, dass u und v zueinander konjugiertharmonisch sind.

Fur jede stuckweise regulare Kurve �c : [0, b] → M mit dem Anfangspunkt�c(0) = (x0, y0) gilt

v(�c(b)) = A+

C

(−uy dx + ux dy).

Bemerkung:

Man beachte, dass das vektorielle Kurvenintegral in diesem Satz wegunabhangig ist. Dieserkennt man daran, dass das Vektorfeld (−uy , ux ) die Integrabilitatsbedingung erfullt:

(−uy )y = (ux )x , denn u ist harmonisch.

Der Satz besagt: Zu einer harmonischen Funktion u auf einemeinfach-zusammenhangenden Gebiet M ⊆ C lasst sich immer eine harmonische Funktion v

konstruieren, so dass f = u + iv holomorph auf M ist.

Hohere Mathematik 675

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Komplexe Funktionen: Die komplexe Differenzierbarkeit Folgerung

Eine einfache Folgerung aus Satz 28.18:

28.19 Folgerung

M,N ⊆ C seien einfach-zusammenhangende Gebiete. Falls f : M → N holomorphist und r : N → R harmonisch ist, so ist auch h = r ◦ f harmonisch.

Mit Hilfe dieser Tatsache und des Riemannschen Abbildungssatzes kann man kannman das Dirichlet-Problem der Potentialgleichung auf das Standardgebiet”Einheitskreis” transportieren, dort losen und die Losung auf das ursprunglicheGebiet zuruckubersetzen.

Hohere Mathematik 676

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Holomorphe Funktionen: Beispiele Polynome, rationale Funktionen

29: Beispiele holomorpher Funktionen

Viele der “elementaren” Funktionen aus der Analysis lassen sich auf C erweitern.29.1 Polynome, rationale Funktionen

Jedes Polynom

P : C → C, P(z) = a0 + a1z + · · · anzn,

mit Koeffizienten a0, . . . , an ∈ C ist holomorph in ganz C.

Jede rationale Funktion

R : C \ NQ → C, R(z) =P(z)

Q(z),

wobei P und Q Polynome sind und die Menge NQ := {z1, . . . , zm} ⊂ C dieMenge aller Nullstellen von Q ist, ist holomorph in ganz C \ N.

Hohere Mathematik 677

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Holomorphe Funktionen: Beispiele Polynome, rationale Funktionen

Bemerkung:

Bis auf einen konstanten Vorfaktor, sind Polynome bereits durch ihre Nullstellen (und derenVielfachheit) festgelegt:

P(z) = an

n�

k=1

(z − zk ),

falls P ein Polynom vom Grad n mit dem Hochstkoeffizienten an �= 0 ist.

Rationale Funktionen R = P

Qtreten als sog. “Filter” in der Signalverarbeitung auf. Zur

Darstellung zeichnet man haufig ein Diagramm, das nur die Nullstellen NR und diePolstellen NQ enthalt.

Hohere Mathematik 678

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Holomorphe Funktionen: Beispiele Exponentialfunktion

29.2 Exponentialfunktion Die Exponentialfunktion

f : C → C, f (z) = ez =∞�

k=0

zk

k!

ist holomorph in ganz C, und es gilt

f �(z) = ez , z ∈ C.

Die angegebene Potenzreihe konvergiert fur jedes z ∈ C. Sie konvergiert sogargleichmaßig auf beschrankten Teilmengen M ⊂ C.

Real- und Imaginarteil von ez (mit z = x + iy) erhalt man aus

ez = e

x+iy = exeiy = e

x cos y + iex sin y .

Insbesondere gilt|ez | = e

x fur z = x + iy .

Die Exponentialfunktion auf C ist nicht injektiv. Vielmehr ist sie 2π-periodisch iny -Richtung:

ez+2πi = e

z fur alle z ∈ C.

Um die Umkehrfunktion ln z zu definieren, muss man die Exponentialfunktion auf einenStreifen parallel zur x-Achse einschranken, z.B.

S = R× (−π,π) ⊂ C.

Hohere Mathematik 679

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Holomorphe Funktionen: Beispiele Hyperbelfunktionen

29.3 Hyperbelfunktionen Die Hyperbel-Funktionen

cosh : C → C, cosh(z) =1

2(ez + e−z) =

∞�

k=0

z2k

(2k)!,

sinh : C → C, sinh(z) =1

2(ez − e−z) =

∞�

k=0

z2k+1

(2k + 1)!,

sind holomorph in ganz C, ihre Potenzreihen konvergieren fur jedes z ∈ C. Es gilt

(cosh z)� = sinh z , (sinh z)� = cosh z .

Real- und Imaginarteil der Funktionen lassen sich leicht berechnen:

cosh(x + iy) = 12 (e

x (cos y + i sin y) + e−x (cos y − i sin y)) = cosh x cos y + i sinh x sin y ,

sinh(x + iy) = 12 (e

x (cos y + i sin y)− e−x (cos y − i sin y)) = sinh x cos y + i cosh x sin y .

Hieran erkennt mancosh

�z + i

π

2

�= i sinh z

und| cosh z| ≤ cosh x , | sinh z| ≤ cosh x fur z = x + iy .

Beide Hyperbelfunktionen sind 2π-periodisch in y -Richtung:

cosh(z + 2πi) = cosh z, sinh(z + 2πi) = sinh z fur alle z ∈ C.

Hohere Mathematik 680

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Holomorphe Funktionen: Beispiele Cosinus- und Sinusfunktion

29.4 Cosinus- und Sinusfunktion Die komplexe Cosinus- und Sinusfunktion

cos : C → C, cos(z) =1

2(e iz + e−iz) =

∞�

k=0

(−1)kz2k

(2k)!,

sin : C → C, sin(z) =1

2i(e iz − e−iz) =

∞�

k=0

(−1)kz2k+1

(2k + 1)!,

sind holomorph in ganz C, ihre Potenzreihen konvergieren fur jedes z ∈ C. Es gilt

(cos z)� = − sin z , (sin z)� = cos z .

Hohere Mathematik 681

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Holomorphe Funktionen: Beispiele Cosinus- und Sinusfunktion

Real- und Imaginarteil der Funktionen lassen sich ebenso berechnen:

cos(x + iy) = 12 (e

−y (cos x + i sin x) + ey (cos x − i sin x)) = cos x cosh y − i sin x sinh y ,

sin(x + iy) = 12i (e

−y (cos x + i sin x)− ey (cos x − i sin x)) = sin x cosh y + i cos x sinh y .

Hieran erkennt man, dass die aus dem Reellen bekannte Beziehung

cos�z +

π

2

�= − sin z

auch im Komplexen gultig ist. Weiterhin gilt

| cos z| ≤ cosh y , | sin z| ≤ cosh y fur z = x + iy .

Insbesondere sind cos z und sin z im Komplexen NICHT beschrankt.

Der komplexe Cosinus und Sinus ist 2π-periodisch in x-Richtung:

cos(z + 2π) = cos z, sin(z + 2π) = sin z fur alle z ∈ C.

Hohere Mathematik 682

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Holomorphe Funktionen: Beispiele Wurzelfunktion

29.5 Wurzelfunktion

Wir betrachten zunachst die Funktion f : C → C mit f (z) = z2.Fur 0 ≤ α ≤ π betrachten wir die Halbebene

Hα = {z ∈ C | z �= 0, α < arg z < α+ π}.

Die Einschrankung

f |Hα : Hα → {w ∈ C | w �= 0, argw �= 2α}

ist bijektiv. Die Bildmenge ist ganz C ohne einen Strahl Γβ ausgehend vomNullpunkt in Richtung arg z = β mit β = 2α; diesen Strahl nennt man einenVerzweigungsschnitt.

Zu jedem Schnitt Γβ kann die Umkehrfunktion gebildet werden:

g1 : C \ Γβ → Hα, g1(z) =√z .

g1 ist holomorph und definiert einen Zweig der komplexen Wurzelfunktionzum Schnitt Γβ : Mit Polarkoordinaten fur z = |z |e iφ undφ = arg z ∈ (β,β + 2π) gilt

g1(z) =√z =

�|z |e iφ/2 ∈ Hα, α = β/2.

Hohere Mathematik 683

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Holomorphe Funktionen: Beispiele Wurzelfunktion

Ein zweiter Zweig der Wurzelfunktion zum Schnitt Γβ ist die holomorpheFunktion

g2(z) =√z =

�|z |e i(φ/2+π) ∈ Hα+π.

Fur jeden Schnitt Γβ gibt es zwei Zweige g1 und g2 der Wurzelfunktion. Furalle z ∈ C \ Γβ gilt (wie im Reellen)

g �1(z) =

1

2g1(z), g �

2(z) =1

2g2(z).

Hierbei darf man nicht von dem Zweig g1 auf den anderen Zweig g2“springen”.

Hohere Mathematik 684

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Holomorphe Funktionen: Beispiele Wurzelfunktion

Skizzen: Links ist der Definitionsbereich C \ Γπ, in der Mitte steht der Zweigg1 : C \ Γπ → Hπ/2 und rechts der Zweig g2 : C \ Γπ → H−π/2 der Wurzelfunktion.

Γπ

Hohere Mathematik 685

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Holomorphe Funktionen: Beispiele Bemerkung

29.6 Bemerkung Ebenso lassen sich zum Schnitt Γβ jeweils n Zweige der n-tenWurzelfunktion bestimmen: mit z = |z |e iφ und φ = arg z ∈ (β,β + 2π) ist

gk : C \ Γβ → {w ∈ C | w �= 0, (β + 2kπ)/n < argw < (β + 2(k + 1)π)/n},

gk(z) = n√z = n

�|z |e i(φ+2kπ)/n,

der k-te Zweig von n√z , 0 ≤ k ≤ n − 1. Die Bildmenge ist jeweils ein Kegel mit

Spitze in 0 und Offnungswinkel 2π/n.Die Funktionen gk sind holomorph und es gilt (wie im Reellen)

g �k(z) =

1

n(gk(z))n−1.

Hierbei darf man nicht auf einen anderen Zweig der n-ten Wurzel “springen”.

Hohere Mathematik 686

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Holomorphe Funktionen: Beispiele Logarithmusfunktion

29.7 Logarithmusfunktion

Wir betrachten zunachst die Funktion f : C → C mit f (z) = ez .Fur c ∈ R definieren wir den Streifen

Sc = {z ∈ C | c < Im z < c + 2π},

also eine “Periode” der komplexen Exponentialfunktion. Die Einschrankung

f |Sc: Sc → {w ∈ C | w �= 0, argw �= c}

ist bijektiv. Die Bildmenge besitzt den Verzweigungsschnitt Γc , siehe 29.5.

Insbesondere wahlen wir den Schnitt Γπ. Die Umkehrfunktion wird mit”log z” bezeichnet:

log : C \ {z ∈ C | z = x + 0i , x ≤ 0} −→ C.

log ist holomorph und definiert einen “Zweig” der komplexenLogarithmusfunktion zum Schnitt Γπ: Mit Polarkoordinaten fur z = |z |e iφund φ = arg z ∈ (−π,π) gilt

log0(z) := log z = ln |z |+ iφ.

Hohere Mathematik 687

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Holomorphe Funktionen: Beispiele Logarithmusfunktion

Weitere Zweige der Logarithmusfunktion zum gleichen Schnitt Γπ sind

logk(z) = ln |z |+ i(φ+ 2kπ), k ∈ Z.

Es gilt (wie im Reellen)

log�k(z) =

1

z, z ∈ C \ Γπ.

Bemerkung: Mit dem gleichen Verzweigungsschnitt bei arg z = π fur allebeteiligten Funktionen und bei passender Wahl der Zweige gelten die Formeln

√z = e(log z)/2, n

√z = e(log z)/n.

Es ist stets exp(log z) = z und log exp(z) = z + 2kπi mit k ∈ Z.

Hohere Mathematik 688

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Holomorphe Funktionen: Beispiele Allgemeine Potenz

In Verallgemeinerung der fur reelle positive Basen gultigen Formel ab = eb ln a

definiert man

29.8 Allgemeine Potenz

Seien z ,w ∈ C mit z �= 0.Dann ist zw = exp(w log z) = exp(w(ln |z |+ i arg z + 2kπi)) mit k ∈ Z.

Fur w ∈ Z hat die allgemeine Potenz nur einen Wert.

Die Schreibweise ist mit√z = z1/2 kompatibel.

Hohere Mathematik 689

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Holomorphe Funktionen: Beispiele Definition: Mobius-Transformation

Wir behandeln nun spezielle rationale Funktionen, deren Zahler und Nennerjeweils ein Polynom vom Grad 0 oder 1 ist.

29.9 Definition: Mobius-Transformation

Eine rationale Funktion

f (z) =az + b

cz + dmit a, b, c , d ∈ C, ad − bc �= 0,

heißt Mobius-Transformation.

Hohere Mathematik 690

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Holomorphe Funktionen: Beispiele Eigenschaften der Mobiustransformation

29.10 Eigenschaften der Mobiustransformation

Die Mobius-Transformation f (x) = az+b

cz+d(mit ad − bc �= 0) ist holomorph und

konform im Definitionsbereich Mf , wobei

Mf = C \ {−d/c}, falls c �= 0 gilt,

Mf = C, falls c = 0 (und d �= 0) ist.

Die Ableitung ist

f �(z) =ad − bc

(cz + d)2�= 0 fur alle z ∈ Mf .

Der Bildbereich ist

Nf = C \ {a/c}, falls c �= 0 gilt,

Nf = C, falls c = 0 (und d �= 0) ist.

Hohere Mathematik 691

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Holomorphe Funktionen: Beispiele Eigenschaften der Mobiustransformation

Es gilt weiterhin:

(i) Die bijektive Funktion f : Mf → Nf besitzt die Umkehrfunktion

g = f −1 : Nf → Mf , g(z) =dz − b

−cz + a,

ist also selbst wieder eine Mobius-Transformation.

(ii) Die Komposition f ◦ g von Mobius-Transformationen f (z) = az+b

cz+dund

g(z) = ez+f

gz+hlautet

f ◦ g : Mg → Nf , f ◦ g(z) = (ae + bg)z + (af + bh)

(ce + dg)z + (cf + dh),

ist also wieder eine Mobius-Transformation.

Hohere Mathematik 692

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Holomorphe Funktionen: Beispiele Eigenschaften der Mobiustransformation

Merkregeln: Die Parameter a, b, c, d der Mobius-Transformation schreibt man in Form einer2× 2-Matrix:

f (z) =az + b

cz + d∼ Af :=

�a b

c d

�.

Die Bedingung ad − bc �= 0 bedeutet detAf �= 0.

Die Umkehrfunktion f−1 passt zur Matrix

�d −b

−c a

�= (detAf ) A

−1f

.

Die Komposition f ◦ g passt zum Matrixprodukt�ae + bg af + bh

ce + dg cf + dh

�=

�a b

c d

��e f

g h

�= Af Ag .

Daran erkennt man auch, dass f ◦ g die Zusatzbedingung erfullt:

det

�ae + bg af + bh

ce + dg cf + dh

�= detAf detAg �= 0.

Hohere Mathematik 693

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Holomorphe Funktionen: Beispiele Satz: Geometrische Eigenschaft der Mobius-Transformation

29.11 Satz: Geometrische Eigenschaft der Mobius-Transformation

Fur eine beliebige Mobius-Transformation f (z) = az+b

cz+d(mit ad − bc �= 0) gilt:

Falls c = 0 ist: Die Bildmenge einer beliebigen Geraden in C ist eine Gerade,und die Bildmenge einer beliebigen Kreislinie in C ist eine Kreislinie.

Falls c �= 0 ist:Die Bildmenge einer beliebigen Geraden durch den Punkt −d/c ist eineGerade durch den Punkt a/c.

Die Bildmenge jeder anderen Geraden in C ist eine Kreislinie durch den Punkta/c.

Die Bildmenge einer beliebigen Kreislinie durch den Punkt −d/c ist eineGerade.

Die Bildmenge jeder anderen Kreislinie in C ist eine Kreislinie.

Kurz gesagt: Jede Mobius-Transformation bildet Geraden und Kreise in Geradenund Kreise ab.

Hohere Mathematik 694

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Holomorphe Funktionen: Beispiele Riemannsche Zahlenkugel

29.12 Riemannsche Zahlenkugel

Wir definieren C = C ∪ {∞}.Die Riemannsche Zahlenkugel S ist eine Kugel mit Radius 1, deren Sudpol im Ursprungder komplexen Ebene liegt.Die stereographische Projektion ordnet bijektiv jeder Zahl z ∈ C einen Punkt w auf S zu.Der Nordpol N wird auf den “Punkt“ ∞ aubgebildet.

Damit definiert man: eineFolge komplexer Zahlen zn

konvergiert gegen ∞,genau wenn dieentsprechende Folge wn

bezuglich des gewohnlichenAbstandsbegriffs gegen N

konvergiert.

N

S

z

w

Re z

Im z

C

Hohere Mathematik 695

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Holomorphe Funktionen: Beispiele Riemannsche Zahlenkugel

Jede Mobiustransformation lasst sich als bijektive Abbildung S → S auffassen, dieKreise auf S in Kreise abbildet.Es gelten die Entsprechungen:

• Gerade in C ⇐⇒ Kreis auf S durch N

• Kreis in C ⇐⇒ Kreis auf S nicht durch N

Hohere Mathematik 696

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Holomorphe Funktionen: Beispiele Hilfssatz: Geraden und Kreise in C

29.13 Hilfssatz: Geraden und Kreise in C

Die Gerade px + qy = c (mit p, q, c ∈ R, (p, q) �= (0, 0)) in der GaußschenZahlenebene wird beschrieben durch

αz + α z = β (α = p − qi ∈ C, α �= 0, β = 2c ∈ R).

Der Kreis |z − z0|2 = r2 (mit r > 0) wird beschrieben durch

z z+αz+α z = β (α = z0 ∈ C, β = r2− |z0|2 ∈ R, αα+β = r2 > 0).

Hohere Mathematik 697

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Holomorphe Funktionen: Beispiele 6-Punkte-Formel

Als Methode zur Konstruktion von Mobius-Transformationen wird dasDoppelverhaltnis verwendet.

29.14 6-Punkte-Formel Bestimme eine Mobius-Transformation, die die 3 Punktez1, z2, z3 auf die 3 Bildpunkte w1,w2,w3 abbildet.

Beachte: Je drei Punkte bestimmen einen Kreis oder eine Gerade.

Losung: Stelle das Doppelverhaltnis auf (auch 6-Punkte-Formel genannt):

(w − w1)(w2 − w3)

(w − w3)(w2 − w1)� �� �=g(w)

=(z − z1)(z2 − z3)

(z − z3)(z2 − z1)� �� �=h(z)

Auflosen nach w ergibt eine Mobius-Transformation

w = f (z) =az + b

cz + dmit ad − bc �= 0.

Dass tatsachlich wk = f (zk) fur k = 1, 2, 3 erfullt ist, sieht man folgendermaßen:

g(w) = h(z) = 0 ⇔ w = w1 und z = z1,

g(w) = h(z) = 1 ⇔ w = w2 und z = z2,

g(w) = h(z) = ∞ ⇔ w = w3 und z = z3.

Hohere Mathematik 698

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Holomorphe Funktionen: Beispiele Bemerkung

29.15 Bemerkung Die orientierte Kreislinie (oder Gerade) durch die Punktez1, z2, z3 teilt C in zwei disjunkte Mengen: eine Menge M1, die links von dieserLinie liegt, und eine Menge M2, die rechts von dieser Linie liegt.

Ebenso ergibt die orientierte Kreislinie (oder Gerade) durch die Bildpunktew1,w2,w3 eine Menge N1, die links von dieser Linie liegt, und eine Menge N2, dierechts von dieser Linie liegt.

Als konforme Abbildung muss die Mobius-Transformation diese Orientierungbeibehalten, d.h. die Bildmengen sind

f (M1) = N1, f (M2) = N2.

z1

z2

z3

f (z1)

f (z3)f (z2)

f

Hohere Mathematik 699

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Holomorphe Funktionen: Beispiele Bemerkung

29.16 Bemerkung Fur Geraden bietet sich die Wahl des “Punktes” zk = ∞ furein k an. Wird z.B. z1 = 0, z2 = 1, z3 = ∞ gewahlt (Gerade G = reelle Achse),so vereinfacht sich die rechte Seite im Doppelverhaltnis zu

z − z1z2 − z1

= z .

Genauer: Die Faktoren im Zahler und Nenner, die zk = ∞ enthalten, werdengegeneinander “gekurzt”, d.h. ihr Quotient wird durch 1 ersetzt.

Ebenso darf man auch mit der Wahl der Bildpunkte verfahren, falls sie auf einerGeraden liegen. Dadurch vereinfacht sich die linke Seite im Doppelverhaltnisentsprechend.

Hohere Mathematik 700

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Holomorphe Funktionen: Beispiele Bemerkung

Beispiel: Allpass-FilterDie speziellen Mobius-Transformationen der Form

hα(z) =z − α

1− αzmit α ∈ C, |α| < 1,

bilden jeweils bijektivdas Innereden Randdas Außere

des Einheitskreises auf sich ab. Denn:

die Werte

hα(1) =1− α

1− α, hα(i) =

i − α

1− iα, hα(−1) =

−1− α

1 + αliegen alle auf dem Rand des Einheitskreises (sie sind von der Form σ w

wmit σ ∈ {1,−1, i},

haben also den Betrag 1.)

Weil hα eine Mobius-Transformation ist, bildet sie die gesamte Einheits-Kreislinie bijektivauf einen Kreis oder eine Gerade ab. Wir haben durch die Angabe der 3 Bildpunkte gezeigt,dass das Bild wieder die Einheits-Kreislinie ist.

Um zu entscheiden, ob das Innere des Einheitskreises auf sich abgebildet wird, braucht mannur einen Wert zu testen, z.B. hα(0) = −α. Wegen |α| < 1 liegt hα(0) im Innern desEinheitskreises, also wird das gesamte Innere des Einheitskreises bijektiv auf sich abgebildet.Dann folgt auch, dass das Außere bijektiv auf sich abgebildet wird.

Beachte: |α| > 1 wurde eine Umkehrung des Inneren nach außen bewirken.

Diese speziellen Mobius-Transformationen heißen Allpass-Filter, da

|S(z)hα(z)| = |S(z)| fur alle z der Form z = eit

gilt, die Amplitude eines gegebenen Signals S(z) also erhalten bleibt.Hohere Mathematik 701

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Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Motivation

30: Holomorphe Funktionen und die Cauchy’schen Integralsatze

In diesem Kapitel werden die wichtigsten Eigenschaften holomorpher Funktionenentwickelt. Grundlage ist ein Integralsatz, den wir in 3 Versionen angeben werden.

30.1 Motivation Wir versuchen, das Konzept der Stammfunktion mit Hilfe vonkomplexen Kurvenintegralen zu entwickeln.

Die Funktion f : C → C, f (z) = z ist holomorph in ganz C. Die Funktionen

F (z) =z2

2+ A mit einer Konstanten A ∈ C

sind ihre komplexen Stammfunktionen, denn F�(z) = f (z).

Wir versuchen nun, die Stammfunktionen F durch ein geeignetes Kurvenintegral zubestimmen. Zu gegebenem z ∈ C wahlen wir die Strecke von 0 nach z

�c : [0, 1] → C, �c(t) = tz .

Definieren wir das komplexe Kurvenintegral gema�

C

f (w) dw =

� 1

0

f (�c(t)) �c(t) dt =

� 1

0

tz z dt = z2� 1

0

t dt =z2

2,

so ergibt sich die Stammfunktion F mit F (0) = 0.Hohere Mathematik 702

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Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Bemerkung

Alle Stammfunktionen erhalt man also als

F (z) = A+

C

f (w) dw .

30.2 Bemerkung

Das gerade verwendete komplexe Kurvenintegral

C

f (z) dz =

� 1

0

f (�c(t)) �c(t) dt

ist tatsachlich etwas ganz neues. Hier wird das komplexe Produkt von f (�c(t)) ∈ C

mit dem “Tangentenvektor” �c(t) ∈ C gebildet. Dies unterscheidet sich wesentlichvom Skalarprodukt von Vektoren im R

2, das beim reellen vektoriellen Kurvenintegral20.5 auftritt. Den Zusammenhang zum vektoriellen Kurvenintegral erkennt man mit

f (z) = u(x , y) + iv(x , y), �c(t) = c1(t) + ic2(t).

Hohere Mathematik 703

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Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Bemerkung

Dann ist das komplexe Kurvenintegral gegeben durch

C

f (z) dz =

� 1

0

f (�c(t)) �c(t) dt

=

� 1

0

(u(�c(t)) + iv(�c(t)) (c1(t) + i c2(t)) dt

=

� 1

0

[u(�c(t))c1(t)− v(�c(t))c2(t) + i (u(�c(t))c2(t) + v(�c(t))c1(t))] dt

=

C

(u dx − v dy) + i

C

(u dy + v dx),

also durch je ein vektorielles Kurvenintegral fur den Real- und Imaginarteil.

Hohere Mathematik 704

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Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Definition: Komplexes Kurvenintegral

30.3 Definition: Komplexes Kurvenintegral

M ⊆ C sei ein Gebiet und�c : [a, b] → M.

sei eine stuckweise regulare Kurve in M. Fur eine stetige komplexe Funktionf : M → C definieren wir das komplexe Kurvenintegral

C

f (z) dz :=

�b

a

f (�c(t)) �c(t) dt.

Dieses lasst sich mit Hilfe von zwei vektoriellen Kurvenintegralen�

C

f (z) dz =

C

(u dx − v dy) + i

C

(v dx + u dy)

schreiben, wobei f = u + iv gesetzt wird.

Hohere Mathematik 705

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Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Grundlegende Eigenschaften des komplexen Kurvenintegrals

30.4 Grundlegende Eigenschaften des komplexen Kurvenintegrals

Die Funktionen f , g : M → C seien stetig und die Kurve �c : [a, b] → M sei stuckweiseregular.

(i) Linearitat:

C

(af (z) + bg(z)) dz = a

C

f (z) dz + b

C

g(z) dz fur alle a, b ∈ C.

(ii) Umkehrung der Kurve:

−C

f (z) dz = −�

C

f (z) dz (siehe hierzu Bemerkung 20.7).

(iii) Ist C aus stuckweise regularen Kurven C1, . . . ,Cn zusammengesetzt, so gilt�

C

f (z) dz =n�

k=1

Ck

f (z) dz .

(iv) Der Betrag des komplexen Kurvenintegrals lasst sich durch ein skalaresKurvenintegral abschatzen:

�����

C

f (z) dz

���� ≤�

C

|f | ds =

�b

a

|f (�c(t))| |�c(t)| dt.

Hohere Mathematik 706

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Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Wegunabhangigkeit des komplexen Kurvenintegrals

Folgerung aus (iv): Falls |f (z)| ≤ M entlang der Kurve C gilt, so ist

�����

C

f (z) dz

���� ≤ M�C ,

wobei �C =�b

a|�c(t)| dt die Bogenlange der Kurve C ist, siehe 20.3.

Wichtige Eigenschaft:

30.5 Wegunabhangigkeit des komplexen Kurvenintegrals

M ⊆ C sei einfach zusammenhangend und f : M → C sei holomorph. Sind C1 undC2 stuckweise regulare Kurven in M, die den gleichen Anfangspunkt und dengleichen Endpunkt besitzen, so gilt

C1

f (z) dz =

C2

f (z) dz .

Hohere Mathematik 707

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Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Definition und Satz zur komplexen Stammfunktion

30.6 Definition und Satz zur komplexen Stammfunktion

M ⊆ C sei ein Gebiet und f : M → C sei eine komplexe Funktion.

Die Funktion F : M → C heißt komplexe Stammfunktion von f : M → C, wenn F

holomorph ist und F� = f gilt.

(i) Eine stetige Funktion f : M → C besitzt genau dann eine komplexe StammfunktionF , wenn das komplexe Kurvenintegral uber f wegunabhangig ist. In diesem Fall gilt

C

f (z) dz = F (�c(b))− F (�c(a))

fur jede stuckweise regulare Kurve �c : [a, b] → M.

(ii) Wenn f : M → C holomorph ist und M einfach zusammenhangend ist, dann besitztf die folgende komplexe Stammfunktion F :

zu festem z0 ∈ M und beliebigem z ∈ M wahlen wir eine stuckweise regulare Kurve�c : [a, b] → M mit Anfangspunkt �c(a) = z0 und Endpunkt �c(b) = z und setzen

F (z) = A+

C

f (w) dw mit beliebigem A ∈ C.

Hohere Mathematik 708

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Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Beispiele

30.7 Beispiele von komplexen Stammfunktionen

(a) f : C → C, f (z) = zk mit k ∈ N0 hat als Stammfunktionen F (z) = A+ z

k+1

k+1 .

(b) f : C → C, f (z) = ecz mit c �= 0 hat als Stammfunktionen F (z) = A+ 1

cecz .

(c) f : C → C, f (z) = cos z hat die Stammfunktionen F (z) = A+ sin z,

g : C → C, g(z) = sin z hat die Stammfunktionen G(z) = A− cos z.

(d) f : C\{0} → C, f (z) = 1zhat keine Stammfunktion in M = C\{0}: die Kurvenintegrale zu

�c1 : [0,π] → M, �c1(t) = eit ,

�c2 : [0,π] → M, �c2(t) = e−it

ergeben unterschiedliche Werte, obwohl beide den Anfangspunkt 1 und den Endpunkt −1haben (obere bzw. untere Halfte des Einheitskreises):

C1

1

zdz =

� π

0

1

eitie

itdt =

� π

0i dt = iπ,

C2

1

zdz =

� π

0

1

e−it(−ie

−it) dt =

� π

0(−i) dt = −iπ.

Also ist das komplexe Kurvenintegral nicht wegunabhangig, also hat f keineStammfunktion (in C \ {0}).

Hohere Mathematik 709

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Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Beispiele

30.7 Beispiele(Forts.):

(e) Schrankt man 1/z auf eine geschlitzte Ebene ein, z.B.

g : C \ Γπ → C, g(z) =1

z,

so existiert die Stammfunktion! Denn C \ Γπ ist einfach zusammenhangend und g istholomorph. Stammfunktionen sind

G(z) = A+ log z, z ∈ C \ Γπ ,

wobei log z ein beliebiger Zweig der Logarithmus-Funktion zum Schnitt Γπ sein darf.(Verschiedene Zweige zum Schnitt Γπ unterscheiden sich nur durch eine Konstante.)

(f) Genau so lassen sich auch Stammfunktionen von

f : C \ Γπ → C, f (z) = za

mit a ∈ C \ N0, a �= −1, angeben. Damit f wohldefiniert ist, mussen wir beim Umschreiben

f (z) = ea log z

einen festen Zweig der Logarithmusfunktion zum Schnitt Γπ wahlen. Unter Verwendungdesselben Zweiges erhalten wir dann

F (z) = A+z

a+ 1ea log z = A+

1

a+ 1za+1.

Hohere Mathematik 710

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Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Cauchy’scher Integralsatz (1. Formulierung)

Eine wichtige Rolle spielen die komplexen Kurvenintegrale zu geschlossenenKurven.

30.8 Cauchy’scher Integralsatz (1. Formulierung)

M ⊆ C sei einfach zusammenhangend und f : M → C sei holomorph. Dann giltfur jede geschlossene stuckweise regulare Kurve �c : [a, b] → M

C

f (z) dz = 0.

M

G

C

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Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Cauchy’scher Integralsatz (2. Formulierung)

Eine andere Version des Cauchy’schen Integralsatzes beweist man mit dem Satzvon Green in der Ebene, siehe 21.9.

30.9 Cauchy’scher Integralsatz (2. Formulierung)

M ⊆ C sei ein Gebiet und f : M → C sei holomorph. G sei ein Normalgebiet mitG ⊂ M; also besteht der Rand Γ = ∂G aus endlich vielen geschlossenendoppelpunktfreien Kurven C1, . . . ,Cr .

Wird jede dieser Kurven so durchlaufen, dass G links liegt, so gilt�

Γf (z) dz =

C1

f (z) dz + · · ·+�

Cr

f (z) dz = 0.

M

G

C1

C2 C3C4

Hohere Mathematik 712

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Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Cauchy’scher Integralsatz (3. Formulierung)

Eine noch allgemeinere Version des Cauchy’schen Integralsatzes funktioniert ohneden Ubergang zu Teilgebieten G ⊂ M.

30.10 Cauchy’scher Integralsatz (3. Formulierung)

G ⊆ C sei ein Normalgebiet, f : G → C sei stetig in G und holomorph in G .Der Rand Γ = ∂G besteht aus endlich vielen geschlossenen doppelpunktfreienKurven C1, . . . ,Cr . Jede dieser Kurven werde so durchlaufen, dass G links liegt.Dann gilt �

Γf (z) dz =

C1

f (z) dz + · · ·+�

Cr

f (z) dz = 0.

Beweis: Man nahert sich mit Kurven D1, . . . ,Dr von “innen” dem Rand von G .Diese Kurven bilden den Rand eines Normalgebiets H ⊂ G , und hierauf ist 30.9anwendbar.Der Grenzubergang D → ∂G und die Stetigkeit von f im Abschluss G liefern dieBehauptung.

Hohere Mathematik 713

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Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Ein wichtiges Kurvenintegral

30.11 Ein wichtiges KurvenintegralDie Funktion f : M → C sei holomorph. Zu z0 ∈ M wahlen wir einen Kreis Kr (z0)vom Radius r um z0, der ganz in M liegt. Die Randkurve (in mathematischpositiver Orientierung) ist

�cr : [0, 2π] → M, �c(t) = zo + re it .

1. Feststellung

Das komplexe Kurvenintegral �

Cr

f (z)

z − z0dz

ist unabhangig vom Radius r , sofern Kr (z0) ⊂ M gilt.

Hohere Mathematik 714

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Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Integralformel von Cauchy (1. Version)

Welchen Wert nimmt dieses Integral an?

30.12 Integralformel von Cauchy (1. Version)

Die Funktion f : M → C sei holomorph.Fur z0 ∈ M sei r > 0 so gewahlt, dass Kr (z0) ⊂ M gilt. Dann gilt

1

2πi

Cr

f (z)

z − z0dz = f (z0),

mit der geschlossenen Kurve �cr : [0, 2π] → M, �cr (t) = z0 + re it , die den Kreisrand(genau einmal) gegen den Uhrzeigersinn durchlauft.

Hiermit ist die wichtigste Formel fur holomorphe Funktionen gezeigt.

Hohere Mathematik 715

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Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Integralformel von Cauchy (2. Version)

Die Verallgemeinerung wie in 30.10 bietet sich an:

30.13 Integralformel von Cauchy (2. Version)

G ⊆ C sei Normalgebiet, f : G → C sei stetig in G und holomorph in G .

Der Rand Γ = ∂G besteht aus endlich vielen geschlossenen doppelpunktfreienKurven C1, . . . ,Cr . Jede dieser Kurven werde so durchlaufen, dass G links liegt.

Dann gilt fur jedes z0 ∈ G

1

2πi

Γ

f (z)

z − z0dz = f (z0),

M

G

C1

C2 C3C4

z0

Hohere Mathematik 716

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Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Bemerkung

30.14 Bemerkung Die Integralformel erlaubt es, viele komplexe Kurvenintegrale“ohne Integration” auszurechnen: z.B. ist fur Γ = ∂K1(1) (gegen denUhrzeigersinn durchlaufen)

Γ

e2z

z − 1dz = i2πe2,

weil die Funktion f : C → C, f (z) = e2z holomorph ist.

Hohere Mathematik 717

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Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Folgerung

Aus der Integralformel 30.13 folgt diese Aussage mit weitreichendenKonsequenzen:

30.15 Folgerung

G ⊆ C sei Normalgebiet, f : G → C sei stetig in G und holomorph in G .

Dann ist f in ganz G allein durch die Funktionswerte auf dem Rand von Geindeutig bestimmt.

Hohere Mathematik 718

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Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Mittelwerteigenschaft holomorpher Funktionen

In der Herleitung der Cauchyformel wurde der Spezialfall G = Kr (z0) bereitsbehandelt:

30.16 Mittelwerteigenschaft holomorpher Funktionen

M ⊆ C sei ein Gebiet und f : M → C sei holomorph. Dann gilt fur jedes z0 ∈ Mund r > 0 mit Kr (z0) ⊂ M

f (z0) =1

� 2π

0f (z0 + re it) dt.

Damit haben wir ein Maximumprinzip fur holomorphe Funktionen!

30.17 Maximumprinzip holomorpher Funktionen

M ⊆ C sei ein Gebiet und f : M → C sei holomorph und nicht konstant. Dannbesitzt |f | in M kein lokales oder globales Maximum.

Insbesondere: Falls M beschrankt ist und f sogar stetig in M ist, so nimmt |f | seinMaximum auf dem Rand ∂M an.

Hohere Mathematik 719

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Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Eigenschaften harmonische Funktionen

Die letzten Aussagen lassen sich auch fur harmonische Funktionen treffen. Dazusetzen wir manchmal voraus, dass G einfach zusammenhangend ist, damit dieharmonische Funktion u : G → R als Realteil einer holomorphen Funktionf : G → C interpretiert werden darf (siehe 28.16).

30.18 Eigenschaften harmonische Funktionen

G ⊂ R2 sei ein Normalgebiet, einfach zusammenhangend und beschrankt, Dann

ist jede Funktion u : G → R, die stetig in G und harmonisch in G ist, allein durchdie Funktionswerte auf dem Rand von G eindeutig bestimmt.

Hohere Mathematik 720

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Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Mittelwerteigenschaft harmonischer Funktionen

30.19 Mittelwerteigenschaft harmonischer Funktionen

M ⊆ R2 sei ein Gebiet und u : M → R sei harmonisch.

Dann gilt fur jedes (x0, y0) ∈ M und r > 0 mit Kr (x0, y0) ⊂ M

u(x0, y0) =1

� 2π

0u(x0 + r cos t, y0 + r sin t) dt.

Man beachte, dass u reellwertig ist, wir also Maxima und Minima von ubehandeln konnen (ohne den Ubergang zu Betragen durchzufuhren).

30.20 Maximumprinzip harmonischer Funktionen

M ⊆ R2 sei ein Gebiet und u : M → R sei harmonisch und nicht konstant.

Dann nimmt u in M weder lokale noch globale Maxima oder Minima an.

Insbesondere: Falls M beschrankt ist und u sogar stetig in M ist, so nimmt u seinMaximum und sein Minimum auf dem Rand ∂M an.

Hohere Mathematik 721

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Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Poisson-Kern, Losung der Laplace-Gleichung

30.21 Poisson-Kern, Losung der Laplace-Gleichung

Die Funktion f : Kr (0) sei holomorph in Kr (0) und stetig in Kr (0).Dann sind der Realteil u und der Imaginarteil v fur alle(x , y) = (s cosφ, s sinφ) ∈ Kr ((0, 0)) mit 0 ≤ s < r und φ ∈ [0, 2π) gegebendurch

u(x , y) =1

� 2π

0u(r cos t, r sin t)

r2 − s2

r2 + s2 − 2rs cos(t − φ)dt,

v(x , y) =1

� 2π

0v(r cos t, r sin t)

r2 − s2

r2 + s2 − 2rs cos(t − φ)dt.

u und v lassen sich also durch Integration ihrer Randwerte mit Hilfe desPoisson-Kerns

p(x , y) = P(s,φ) =r2 − s2

r2 + s2 − 2rs cos(t − φ)

bestimmen.

Hohere Mathematik 722

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Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Poisson-Kern, Losung der Laplace-Gleichung

Wir haben damit eine explizite Form der Losung der Laplace-Gleichung

∆u(x , y) = 0 fur (x , y) ∈ Kr ((0, 0))

bei vorgegebenen (stetigen) Randwerten

u(r cos t, r sin t) = h(t) fur t ∈ [0, 2π).

Die schwierig aussehenden Integrale lassen sich mit dem im nachsten Abschnittenthaltenen Residuensatz berechnen.

Hohere Mathematik 723

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Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Die Cauchyschen Integralformeln

30.22 Die Cauchyschen Integralformeln

Die Funktion f : M → C sei holomorph.

Dann ist f beliebig oft komplex differenzierbar.

Fur z0 ∈ M sei r > 0 so gewahlt, dass Kr (z0) ⊂ M gilt. Dann gilt fur n ∈ N0

f (n)(z0) =n!

2πi

Cr

f (z)

(z − z0)n+1dz

mit der geschlossenen Kurve �cr : [0, 2π] → M, �cr (t) = z0 + re it , die den Kreisrand(genau einmal) gegen den Uhrzeigersinn durchlauft.

Bemerkung: Die Aussagen

f ist komplex differenzierbar im Gebiet M,

f ist holomorph im Gebiet M,

f ist beliebig oft komplex differenzierbar im Gebiet M

sind alle aquivalent.

Hohere Mathematik 724

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Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Cauchysche Integralformeln (2. Version)

Eine Variante der Integralformel fur die n-te Ableitung folgt wie in 30.13.

30.23 Cauchysche Integralformeln (2. Version)

G ⊆ C sei Normalgebiet, f : G → C sei stetig in G und holomorph in G .

Der Rand Γ = ∂G besteht aus endlich vielen geschlossenen doppelpunktfreienKurven C1, . . . ,Cr . Jede dieser Kurven werde so durchlaufen, dass G links liegt.

Dann gilt fur jedes z0 ∈ G

f (n)(z0) =n!

2πi

Γ

f (z)

(z − z0)n+1dz .

Hohere Mathematik 725

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Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Ganze Funktion, Satz von Liouville

Weitere Anwendungen der Integralformel von Cauchy:

30.24 Ganze Funktion, Satz von Liouville

Eine holomorphe Funktion f : C → C heißt ganze Funktion.

Falls die ganze Funktion f : C → C beschrankt ist (d.h. es gibt ein B > 0 mit|f (z)| ≤ B fur alle z ∈ C), so ist sie konstant.

Hohere Mathematik 726

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Holomorphe Funktionen: Cauchy’sche Integralsatze Beschrankte ganze Funktionen

Die Integralformel von Cauchy liefert tiefliegende mathematische Resultate.

Zwei weitere Beispiele dafur sollen noch angegeben werden.

30.25 Beschrankte ganze Funktionen

Es existiert keine bijektive, holomorphe und konforme Abbildung von C auf denEinheitskreis K1(0). (Vgl. hierzu den Riemannschen Abbildungssatz, C ist einfachzusammenhangend, aber ohne Randpunkt.)

30.26 Fundamentalsatz der Algebra

Jedes nichtkonstante Polynom P : C → C hat mindestens eine Nullstelle in C.

Hohere Mathematik 727

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Einleitung

31: Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen

31.1 Einleitung Wir wissen bereits, dass eine holomorphe Funktion f : M → C

unendlich oft komplex differenzierbar ist. Fur jedes z0 ∈ M konnen wir die(komplexe) Taylorreihe von f mit dem Entwicklungspunkt z0 bilden:

f ∼∞�

k=0

f (k)(z0)

k!(z − z0)

k .

Die Frage nach dem Konvergenzradius dieser Potenzreihe hat fur holomorpheFunktionen eine interessante Antwort.

Hohere Mathematik 728

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Erinnerung an Potenzreihen, siehe 12.3

31.2 Erinnerung an Potenzreihen, siehe 12.3

Die Potenzreihe∞�

k=0

ak(z − z0)k mit den Koeffizienten ak ∈ C besitzt den

Konvergenzradius

r =1

lim supk→∞

k

�|ak |

.

(i) Falls 0 < r < ∞ ist, so gilt:Die Reihe konvergiert fur jedes z ∈ C mit |z − z0| < r .

Die Reihe divergiert fur jedes z ∈ C mit |z − z0| > r .

Eine allgemeine Aussage zur Konvergenz fur z ∈ C mit |z − z0| = r lasst sichnicht treffen.

(ii) Falls r = ∞ ist (d.h. lim supk→∞

k

�|ak | = 0), so konvergiert die Potenzreihe

in ganz C.

(iii) Falls r = 0 ist, so konvergiert die Potenzreihe nur im Punkt z0.

Hohere Mathematik 729

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Erinnerung an Potenzreihen, siehe 12.3

Bemerkung: Eine zweite Berechnungsformel fur den Konvergenzradiusfunktioniert, wenn die Koeffizienten ak der Potenzreihe fur alle k ≥ k0 ungleichNull sind und wenn

limk→∞

|ak+1||ak |

= c

(incl. der Falle c = 0 und c = ∞) existiert. Dann gilt

r =1

c.

(incl. der Falle r = ∞ und r = 0), siehe 12.4.

Hohere Mathematik 730

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Potenzreihen sind holomorph

Falls die Potenzreihe∞�

k=0

ak(z − z0)k den Konvergenzradius r > 0 hat, so

konvergiert sie gleichmaßig und absolut in jedem abgeschlossenen Kreis Ks(z0) mit0 < s < r . Deswegen darf die Potenzreihe gliedweise differenziert und integriertwerden, siehe 15.4.

31.3 Potenzreihen sind holomorph

Eine Potenzreihe stellt in ihrem Konvergenzgebiet Kr (z0) eine holomorpheFunktion dar; d.h.

f : Kr (z0) → C, f (z) =∞�

k=0

ak(z − z0)k ,

ist holomorph.

Hohere Mathematik 731

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Satz: Konvergenzradius der Taylorreihe einer holomorphen Funktion

Umgekehrt: Sei nun f : M → C holomorph. Die Taylorreihe von f mit demEntwicklungspunkt z0 ist die Potenzreihe

∞�

k=0

f (k)(z0)

k!(z − z0)

k .

Ihr Konvergenzradius r lasst sich oft ohne die Rechnung in 31.2 bestimmen, alleindurch Betrachtung der Geometrie:

31.4 Satz: Konvergenzradius der Taylorreihe einer holomorphen Funktion

M ⊆ C sei ein Gebiet und f : M → C sei holomorph. Zu z0 ∈ M bestimmen wirdie Zahl

ρ := d(z0, ∂M) = sup{s > 0 | Ks(z0) ⊂ M},

also den Abstand von z0 zum Rand von M. Dann hat die Taylorreihe von f mitEntwicklungspunkt z0 den Konvergenzradius r ≥ ρ und es gilt

f (z) =∞�

k=0

f (k)(z0)

k!(z − z0)

k fur alle z ∈ Kρ(z0).

Hohere Mathematik 732

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Satz: Holomorphe Funktionen sind analytisch

Satz 31.4 ergibt eine neue Charakterisierung der holomorphen Funktionen:

31.5 Satz: Holomorphe Funktionen sind analytisch

M ⊆ C sei ein Gebiet.Eine Funktion f : M → C ist genau dann holomorph, wenn sie analytisch ist, d.h.wenn zu jedem z0 ∈ M eine Kreisscheibe Ks(z0) mit s > 0 existiert, so dass

f (z) =∞�

k=0

f (k)(z0)

k!(z − z0)

k

fur alle z ∈ Ks(z0) gilt.

Hohere Mathematik 733

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Identitatssatz fur holomorphe Funktionen

Den Identitatssatz fur Potenzreihen haben wir in 15.1 kennengelernt. Mit demletzten Satz (und ein paar geometrischen Uberlegungen, die hier nicht gezeigtwerden) folgt:

31.6 Identitatssatz fur holomorphe Funktionen

M1,M2 seien Gebiete in C und M1 ∩M2 sei nichtleer.

Falls zwei holomorphe Funktionen f1 : M1 → C und f2 : M2 → C an allen Stellen(zn)n∈N einer komplexen Zahlenfolge mit paarweise verschiedenen Folgengliedernubereinstimmen und falls diese Folge einen Haufungspunkt z0 ∈ M1 ∩M2 besitzt,so gilt

f1(z) = f2(z) fur alle z ∈ M1 ∩M2.

Hohere Mathematik 734

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Bemerkung

31.7 BemerkungMan interessiert sich meist fur den maximalen Definitionsbereich einer gegebenenholomorphen Funktion f : M → C, also fur eine holomorphe Funktion �f : �M → C

mit M ⊂ �M, die auf M mit f ubereinstimmt.Der Identitatssatz besagt, dass eine solche “Fortsetzung” von f eindeutig ist.

Es gilt sogar noch mehr:

I ⊆ R sei ein Intervall und f : I → R sei analytisch, d.h. die Taylorreihe mitbeliebigem Entwicklungspunkt x0 ∈ R hat einen positiven Konvergenzradius.

Dann existiert eine eindeutige Fortsetzung zu einer holomorphen Funktion�f : �M → C, wobei �M ein Gebiet in C ist, das das Intervall (a, b) enthalt.

Hohere Mathematik 735

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Motivation der Laurent-Reihen

31.8 Motivation der Laurent-ReihenDie komplexe Form der Fourier-Reihe einer 2π-periodischen Funktion f lautet

f ∼∞�

k=−∞cke

ikt , t ∈ R,

wobei ck = 12π

� 2π0 f (t)e−ikt

dt, k ∈ Z, die komplexen Fourierkoeffizienten von f sind.

Die einfache Substitution z = eit ergibt

∞�

k=−∞ckz

k mit z ∈ C, |z| = 1.

Insbesondere fur die Stabilitat von Filtern ist es wichtig zu wissen, ob diese Reihe auch in einerUmgebung des Einheitskreises konvergiert, ob also Radien 0 < ρ1 < 1 < ρ2 existieren, so dassdie Reihe

∞�

k=−∞ckz

k fur alle z ∈ C mit ρ1 < |z| < ρ2

konvergiert.

Damit wird das Konzept der Potenzreihen in zweierlei Hinsicht erweitert:

Die Reihe erstreckt sich auch uber negative Potenzen von (z − z0).

Die Konvergenzbereiche sind keine Kreise, sondern Kreisringe mit einem inneren Radius ρ1und einem außeren Radius ρ2.

Hohere Mathematik 736

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Definition: Laurent-Reihe

31.9 Definition: Laurent-Reihe

Eine Reihe der Form∞�

k=−∞ak(z − z0)

k

mit Koeffizienten ak ∈ C heißt Laurent-Reihe mit dem Entwicklungspunkt z0.

Bezeichnung: Man nennt den Teil

−1�

k=−∞ak(z − z0)

k

den Hauptteil der Laurentreihe. Den anderen Teil nennt man Potenzreihen-Anteiloder Nebenteil.

Hohere Mathematik 737

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Definition und Satz: Konvergenz einer Laurent-Reihe

31.10 Definition und Satz: Konvergenz einer Laurent-Reihe

Eine Laurentreihe∞�

k=−∞ak(z − z0)

k

heißt (absolut) konvergent in einem Punkt z ∈ C, wenn beide Reihen

−1�

k=−∞ak(z − z0)

k und∞�

k=0

ak(z − z0)k

(absolut) konvergieren.

Wir setzenρ1 := lim sup

k→∞

k

�|a−k |,

ρ2 :=1

lim supk→∞

k

�|ak |

,

wobei die Falle ρ1 = ∞ oder ρ2 = ∞ auftreten konnen.

Hohere Mathematik 738

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Definition und Satz: Konvergenz einer Laurent-Reihe

Falls ρ1 < ρ2 ist,

konvergiert die Laurentreihe absolut fur alle z im Kreisring

Kρ1<ρ2(z0) = {z ∈ C | ρ1 < |z − z0| < ρ2},

divergiert die Laurentreihe fur alle z ∈ C mit |z − z0| < ρ1 oder |z − z0| > ρ2.

Eine allgemeine Aussage fur z ∈ C mit |z − z0| = ρ1 oder ρ2 kann nichtgetroffen werden.

Falls ρ1 > ρ2 oder ρ1 = ∞ gilt, divergiert die Laurent-Reihe fur alle z ∈ C.

Falls ρ1 = ρ2 < ∞ gilt, kann hochstens Konvergenz in Punkten der Kreislinie|z − z0| = ρ1 vorliegen.

Hohere Mathematik 739

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Definition und Satz: Konvergenz einer Laurent-Reihe

Beweis: Der Hauptteil der Laurentreihe ist als Potenzreihe von 1/(z − z0) anzusehen. DiesePotenzreihe hat den Konvergenzradius 1/ρ1, also konvergiert die Reihe absolut fur alle z mit

1

|z − z0|<

1

ρ1⇔ |z − z0| > ρ1.

Sie divergiert fur alle z mit

1

|z − z0|>

1

ρ1⇔ |z − z0| < ρ1.

(Die Falle ρ1 = 0 und ρ1 = ∞ sind sinnvoll zu interpretieren.)

Der Potenzreihen-Anteil hat den Konvergenzradius ρ2. Also gilt absolute Konvergenz fur alle z

mit |z − z0| < ρ2 und Divergenz fur |z − z0| > ρ2.

Die absolute Konvergenz beider Teile liegt im Durchschnitt ρ1 < |z − z0| < ρ2 vor.

Hohere Mathematik 740

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Definition und Satz: Konvergenz einer Laurent-Reihe

Bemerkung: Die zweite Berechnungsformel in der Bemerkung zu 31.2 kann zurBerechnung von ρ1 und ρ2 verwendet werden.

Wenn die Koeffizienten ak des Potenzreihenanteils fur alle k ≥ k2 (mitk2 ≥ 0) ungleich Null sind und wenn der Grenzwert

limk→∞

|ak+1||ak |

= c2

(incl. der Falle c2 = 0 und c2 = ∞) existiert, so gilt ρ2 =1c2.

Wenn die Koeffizienten ak des Hauptteils fur alle k ≤ k1 (mit k1 < 0)ungleich Null sind und wenn

limk→∞

|a−(k+1)||a−k |

= c1

(incl. der Falle c1 = 0 und c1 = ∞) existiert, so gilt ρ1 = c1.

Hohere Mathematik 741

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Satz: Laurentreihen sind holomorph

Einige Aussagen gelten ahnlich wie bei Potenzreihen.

Falls die Laurentreihe∞�

k=−∞ak(z − z0)

k im Kreisring Kρ1<ρ2(z0) konvergiert, so

konvergiert sie gleichmaßig und absolut in jedem abgeschlossenen KreisringKs1<s2(z0) mit ρ1 < s1 < s2 < ρ2. Deswegen darf auch die Laurentreihe gliedweisedifferenziert und integriert werden.Dabei andern sich die Radien ρ1 und ρ2 nicht, siehe 15.4

31.11 Satz: Laurentreihen sind holomorph

Eine Laurentreihe mit Radien 0 ≤ ρ1 < ρ2 ≤ ∞ stellt in ihrem KonvergenzgebietKρ1<ρ2(z0) eine holomorphe Funktion dar; d.h.

f : Kρ1<ρ2(z0) → C, f (z) =∞�

k=−∞ak(z − z0)

k ,

ist holomorph.

Hohere Mathematik 742

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Satz: Laurentreihen sind holomorph

Frage: Konnen wir auch umgekehrt zu einer holomorphen Funktion f : M → C

eine Laurentreihe bestimmen, deren Grenzwert die Funktion f ist?

z0ρ1

ρ2

s2

s1

M

zG

Hohere Mathematik 743

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Satz: Laurentreihe einer holomorphen Funktion

Insgesamt erhalten wir das folgende Resultat:

31.12 Satz: Laurentreihe einer holomorphen Funktion

M ⊆ C sei ein Gebiet und f : M → C sei holomorph. Zu z0 ∈ C gebe es Radienρ1 ≥ 0 (minimal) und ρ2 > ρ1 (maximal), so dass

Kρ1<ρ2(z0) ⊂ M

gilt. Weiter sei s > 0 mit ρ1 < s < ρ2 ausgewahlt.

Setzen wir

ak =1

2πi

Cs

f (w)

(w − z0)k+1dw , k ∈ Z,

so gilt

f (z) =∞�

k=−∞ak(z − z0)

k fur alle z ∈ Kρ1<ρ2(z0).

Insbesondere konvergiert die angegebene Laurentreihe von f im KreisringKρ1<ρ2(z0).

Hohere Mathematik 744

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Satz: Laurentreihe einer holomorphen Funktion

Bemerkungen:

In Satz 31.12 ist auch Satz 31.4 zur Taylorreihe enthalten:Falls f im Kreis Kr (z0) holomorph ist, setzen wir ρ1 = 0 und ρ2 = r . Danngilt fur jedes 0 < s < r

ak =1

2πi

Cs

f (w)

(w − z0)k+1dw =

f (k)(z0)

k!fur k ≥ 0, ❥1

0 fur k < 0, ❥2❥1 : Cauchysche Integralformel 30.13 ❥2 : Cauchyscher Integralsatz 30.8

In diesem Fall ist also die Laurentreihe gleich der Taylorreihe von f zumEntwicklungspunkt z0.

Die Laurentreihe mit den Koeffizienten ak in Satz 31.12 konvergiert imKreisring Kρ1<ρ2(z0). Man beachte hierbei, dass die Radien ρ1 und ρ2 wiederrein geometrisch bestimmt werden, also keine Berechnung uber die Formelder Konvergenzradien erfordern.

Hohere Mathematik 745

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Satz: Laurentreihe einer holomorphen Funktion

Bemerkung:Zu einer gegebenen Funktion f und festem Entwicklungspunkt z0 gibt es imAllgemeinen mehrere Paare von Radien (ρ1, ρ2) und zugehorige Kreisringe, indenen f als Laurentreihe dargestellt wird.

Beispiel: f sei eine rationale Funktion mit Polstellen in z1 = 0, z2 = 3 und z3 = 5i . DerEntwicklungspunkt sei z0 = 0.

Es gibt drei Paare von Radien, also auch drei Kreisringe:

Mit ρ1 = 0 und ρ2 = 3 erhalten wir eine Laurentreihe von f , die fur 0 < |z| < 3konvergiert. Die Koeffizienten ak in 31.12 erhalt man durch Integration langs der Kreislinievom Radius s = 2 (oder zu beliebigem Radius 0 < s < 3).

Mit ρ1 = 3 und ρ2 = 5 erhalten wir eine Laurentreihe von f , die fur 3 < |z| < 5 konvergiert.Die Koeffizienten ak ergeben sich durch Integration langs der Kreislinie vom Radius s = 4.

Mit ρ1 = 5 und ρ2 = ∞ erhalten wir eine Laurentreihe von f , die fur |z| > 5 konvergiert.Die Koeffizienten ak ergeben sich durch Integration langs der Kreislinie vom Radius s = 6.

Die Koeffizienten, und damit die Laurentreihe, hangen also vom ausgewahltenKreisring ab, in dem f holomorph ist (d.h. keine Polstellen besitzt). Deshalb kannman nicht von “der” Laurentreihe einer Funktion f zum Entwicklungspunkt z0sprechen, sondern muss immer den Kreisring mit angeben.

Hohere Mathematik 746

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Zusammenhang zwischen Laurentreihen und Fourierreihen

31.13 Zusammenhang zwischen Laurentreihen und Fourierreihen

Wir betrachten wie in 31.8 die Fourierreihe einer 2π-periodischen Funktion

f : R → R, f (t) =∞�

k=−∞cke

ikt .

Mit z = eit ∈ C, |z| = 1, schreiben wir

f (t) = g(z) =∞�

k=−∞ckz

k . (∗)

Wenn f analytisch in R ist, so ist die Funktion g analytisch auf der Einheitskreislinie|z| = 1.

Beispiel: f (t) =1

2− cos t=

2

4− eit − e−it←→ g(z) =

2z

4z − z2 − 1.

Die Funktion g ist sogar holomorph auf einem Kreisring um z0 = 0 mit Radienρ1 < 1 < ρ2. Im Beispiel sind ρ1 = 2−

√3 und ρ2 = 2+

√3, weil dies die Nullstellen des

Nenners von g(z) sind.

Aus (∗) folgt fur den gesamten Kreisring Kρ1<ρ2 (0)

g(z) =∞�

k=−∞ckz

k fur alle ρ1 < |z| < ρ2.

Die Koeffizienten ck sind hierbei die Fourier-Koeffizienten von f .(Begrundung erfolgt analog zum Identitatssatz fur Potenzreihen.)

Hohere Mathematik 747

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Folgerung

31.14 Folgerung

Die Fourierkoeffizienten einer analytischen 2π-periodischen Funktion f stimmenmit den Koeffizienten der Laurentreihe der holomorphen Funktion g in (∗) aufdem Kreisring um z0 = 0 mit Radien ρ1 < 1 < ρ2 uberein.

Hohere Mathematik 748

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Abnahmegeschwindigkeit der Fourierkoeffizienten

Die Abnahmegeschwindigkeit der Fourier-Koeffizienten von f lasst sich nun durch dieKonvergenzradien ρ1 < 1 < ρ2 der Laurentreihe von g bestimmen:

Aus ρ1 = lim supk→∞

k

�|c−k | < 1 folgt, dass fur jedes s1 mit ρ1 < s1 < 1

eine Konstante B1 > 0 existiert mit

|c−k | ≤ B1sk

1 fur alle k > 0.

Aus ρ2 =1

lim supk→∞

k�

|ck |> 1 folgt, dass fur jedes s2 mit 1 < s2 < ρ2 eine Konstante

B2 > 0 existiert mit

|ck | ≤B2

sk2

fur alle k ≥ 0.

31.15 Abnahmegeschwindigkeit der Fourierkoeffizienten

Die Fourierkoeffizienten einer analytischen und periodischen Funktion f : R → R

nehmen exponentiell ab.

Hohere Mathematik 749

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Definition: isolierte Singulariat

Ab jetzt betrachten wir holomorphe Funktionen f : M \ N → C, wobei M ⊆ C einGebiet und N eine diskrete “Ausnahmemenge” von Punkten

N = {z1, . . . , zK} ⊂ M oder N = {zn | n ∈ N} ⊂ M,

ist. Die Menge N soll keine Haufungspunkte enthalten. Genauer:

31.16 Definition: isolierte Singulariat

Der Punkt zn ∈ M heißt isolierte Singularitat von f , wenn es ein s > 0 so gibt,dass f : Ks(zn) \ {zn} → C holomorph ist.

Hohere Mathematik 750

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Typen von isolierten Singularitaten

Wir unterscheiden 3 Typen von isolierten Singularitaten, die wir anschließenddurch die Laurentreihe von f charakterisieren.

31.17 Typen von isolierten Singularitaten

f : M \ N → C sei holomorph. zn ∈ N sei eine isolierte Singularitat von f .

(i) zn heißt hebbar (vom Begriff “heben=aufheben, eliminieren”), wenn derGrenzwert lim

z→zn

f (z) = A ∈ C existiert.

(ii) zn heißt ein Pol der Ordnung m (mit m ∈ N), wenn der Grenzwertlimz→zn

(z − zn)mf (z) = A ∈ C existiert UND ungleich Null ist.

(iii) zn heißt wesentliche Singularitat, wenn zn weder hebbar noch ein Polirgendeiner Ordnung m ∈ N ist.

Hohere Mathematik 751

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Singularitaten und Laurentreihe

31.18 Singularitaten und Laurentreihe

f : M \ N → C sei holomorph. zn ∈ N sei eine isolierte Singularitat von f und

f (z) =∞�

k=−∞ak(z − zn)

k

sei die Laurent-Reihe von f im Kreisring 0 < |z − zn| < ρ2.Dann gilt:

(i) zn ist genau dann hebbar, wenn der Hauptteil der Laurentreihe verschwindet,also 0 = a−1 = a−2 = · · · gilt.In diesem Fall ist f sogar holomorph in Kρ2(zn).

(ii) zn ist genau dann ein Pol der Ordnung m ∈ N, wenn der Hauptteil nur dieGlieder mit k = −m,−m + 1, . . . ,−1 besitzt;genauer: wenn a−m �= 0 und 0 = a−m−1 = a−m−2 = · · · gilt.

(iii) zn ist genau dann eine wesentliche Singularitat, wenn der Hauptteil unendlichviele Glieder besitzt; genauer: es existieren 0 > k1 > k2 > . . . mit akp �= 0 furalle p ∈ N.

Hohere Mathematik 752

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Singularitaten und Laurentreihe

Spezialfall: Anstelle rationaler Funktionen betrachten wir die großere Klasse vonFunktionen

R(z) =f (z)

g(z),

wobei f , g : M → C holomorph und nicht identisch Null sind.

Die Nullstellen von g sind isolierte Singularitaten von R : Hatten sie einenHaufungspunkt in M, so ware g ≡ 0 nach dem Identitatssatz 31.6.

Ob eine Nullstelle von g eine hebbare Singularitat oder ein Pol ist, kann manan den Taylorreihen von f und g ablesen. Dies fuhrt u.a. zur Regel von del’Hospital.

Hohere Mathematik 753

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Satz: Regel von de l’Hospital

31.19 Satz: Regel von de l’Hospital

Die Funktionen f , g : M → C seien holomorph. Fur ein z0 ∈ M und ein n ∈ N

gelteg(z0) = g �(z0) = · · · = g (n−1)(z0) = 0, g (n)(z0) �= 0.

Weiter sei m ∈ N0 gegeben mit

f (z0) = f �(z0) = · · · = f (m−1)(z0) = 0, f (m)(z0) �= 0.

(Der Fall m = 0 bedeutet hierbei nur f (z0) �= 0.)Mit anderen Worten: g hat in z0 eine Nullstelle der Ordnung n und f hat dortkeine Nullstelle (m = 0) oder eine Nullstelle der Ordnung m.

Falls m < n gilt, so hat R(z) = f (z)g(z) eine Polstelle der Ordnung n −m in z0.

Falls m ≥ n gilt, so hat R(z) = f (z)g(z) eine hebbare Singularitat in z0, und es

gilt die Regel von de l’Hospital

limz→z0

f (z)

g(z)= lim

z→z0

f (n)(z)

g (n)(z)=

f (n)(z0)

g (n)(z0).

Hohere Mathematik 754

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Definition: Residuum

Die komplexe Funktion f habe eine isolierte Singularitat z0. Der Koeffizient a−1 der Laurentreihezum innersten Kreisring 0 < |z − z0| < r lautet als Kurvenintegral

a−1 =1

2πi

Cs

f (z) dz,

wobei Cs eine Kreislinie um z0 vom Radius 0 < s < ρ2 ist. Dieser einzelne Koeffizient spielt eine

wichtige Rolle bei der Berechnung von komplexen Kurvenintegralen.

31.20 Definition: Residuum

Die komplexe Funktion f sei holomorph im Gebiet Kr (z0) \ {z0} . Fur ein0 < s < r sei Cs die Randkurve von Ks(z0) orientiert gegen den Uhrzeigersinn.Dann heißt der Koeffizient der Laurentreihe

Res (f ; z0) := a−1 =1

2πi

Cs

f (z) dz

das Residuum von f in z0.

Bemerkung: Ist f sogar holomorph im Kreis Kr (z0) (oder z0 eine hebbareSingularitat von f ), so gilt nach dem Cauchyschen Integralsatz 30.8Res (f ; z0) = 0.

Hohere Mathematik 755

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Satz: Residuen rationaler Funktionen

31.21 Satz: Residuen rationaler Funktionen

Fur die rationale Funktion R(z) = P(z)Q(z) sei die Partialbruchzerlegung

R(z) =K�

n=1

mn�

�=1

An,�

(z − zn)�

bekannt. Dann gilt

Res (f ; zn) = An,1, n = 1, 2, . . . ,K .

Hohere Mathematik 756

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Satz: Residuum an einer Polstelle

31.22 Satz: Residuum an einer Polstelle

f sei holomorph in Kr (z0) \ {z0} und habe eine Polstelle der Ordnung m in z0. Wirdefinieren g : Kr (z0) → C, g(z) = (z − z0)mf (z). Dann gilt

Res (f ; z0) = limz→z0

g (m−1)(z)

(m − 1)!=

g (m−1)(z0)

(m − 1)!.

Hohere Mathematik 757

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Satz: Residuum an einer Polstelle

Spezialfalle:

z0 ist hebbare Singularitat oder ein einfacher Pol:

Res (f ; z0) = limz→z0

(z − z0)f (z).

R =f

gmit f und g holomorph, g(z0) = 0 und g �(z0) �= 0 hat das Residuum

Res (R(z); z0) =f (z0)

g �(z0).

Hohere Mathematik 758

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Residuensatz

Die Integralformeln von Cauchy ermoglichen die Berechnung vieler komplexerKurvenintegrale durch Verwendung von Residuen.

31.23 Residuensatz

M sei ein Gebiet und N ⊂ M eine diskrete Teilmenge ohne Haufungspunkt. DieFunktion f : M \ N → C sei holomorph.

G sei ein Normalgebiet mit G ⊂ M. Der Rand Γ = ∂G bestehe aus endlich vielengeschlossenen doppelpunktfreien regularen Kurven, die so durchlaufen werden,dass G links liegt. Weiterhin gelte Γ ∩ N = ∅.

Dann enthalt G hochstens endlich viele isolierte Singularitaten z1, . . . , zK ∈ N vonf , und es gilt

Γf (z) dz = 2πi

K�

n=1

Res (f ; zn).

Hohere Mathematik 759

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Berechnung reeller Integrale

31.24 Berechnung reeller Integrale

Der Residuensatz kann zur Berechnung bestimmter Integrale verwendet werden.

Typ 1:Integration 2π-periodischer Funktionen R(sin x , cos x) uber eine vollePeriode. Dabei ist R eine gebrochen rationale Funktion der Variablen sin xund cos x ohne Polstellen.

Wir setzen dazu z = e it , siehe 31.25.

Typ 2:uneigentliche Integrale

�∞−∞ f (x) dx oder

�∞0 f (x) dx .

Wir “komplexifizieren” das Integral und setzen dazu z = t, siehe 31.26.

Hohere Mathematik 760

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Integrale des Typs 1

31.25 Integrale des Typs 1

Sei R eine gebrochen rationale Funktion der Variablen sin x und cos x ohnePolstellen.Dann ist

2π�

0

R(cos t, sin t)dt = 2π�

|zk |<1

Res

�1

zR

�z2 + 1

2z,z2 − 1

2iz

�, zk

Summiert wird dabei also uber alle Residuen von Punkten, die innerhalb desEinheitskreises liegen, d.h. fur die |zk | < 1 gilt.

Hohere Mathematik 761

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Integrale vom Typ 2

Die obige Methode lasst sich allgemein beschreiben.

31.26 Integrale vom Typ 2

Das Gebiet M ⊆ C enthalte die abgeschlossene obere Halbebene H+.Die Teilmenge N ⊂ M sei endlich, enthalte keine Punkte der reellen Achse und dieFunktion f : M \ N → C sei holomorph. Weiter gelte

limR→∞

R |f (Re iφ)| = 0 gleichmaßig fur φ ∈ [0,π].

Dann gilt

limR→∞

�R

−R

f (x) dx = 2πiK�

n=1

Res (f ; zn),

wobei z1, . . . , zK ∈ N samtliche Punkte von N mit Im z > 0 sind.

Bemerkung: Wird die Aussage entsprechend fur die untere Halbebene formuliert,ergibt sich wegen der Orientierung des Randes

limR→∞

�R

−R

f (x) dx = −2πiK�

n=1

Res (f ; zn).

Hohere Mathematik 762

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Integrale vom Typ 2

Beispiele: Typische Beispiele fur die Anwendung von Satz 31.26 sind uneigentliche Integrale uberrationale Funktionen

f (x) =anx

n + · · ·+ a1x + a0

bmxm + · · ·+ b1x + b0

mit an �= 0 und bm �= 0 und m ≥ n + 2, d.h. der Grad des Nennerpolynoms ist um mindestens 2großer als der Grad des Zahlerpolynoms. Wenn der Nenner keine reelle Nullstelle besitzt, folgt dieKonvergenz des uneigentlichen Integrals

� ∞

−∞f (x) dx

mit dem Majorantenkriterium 16.26. Außerdem gilt

R|f (Reiφ)| =����anR

n+1 + · · ·+ a1R2 + a0R

bmRm + · · ·+ b1R + b0

���� ≈|an|

|bm|Rm−n−1fur großes R > 0,

also die gleichmaßige Konvergenz limR→∞

R|f (Reiφ)| = 0. Wir erhalten insgesamt

� ∞

−∞f (x) dx = lim

R→∞

�R

−R

f (x) dx = 2πiK�

n=1

Res (f ; zn),

wobei z1, . . . , zK die Nullstellen des Nennerpolynoms in der oberen Halbebene sind.

Hohere Mathematik 763

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Satz: uneigentliche Integrale vom Fourier-Typ

Fur manche Integrale kann die Voraussetzung an f abgeschwacht werden.

31.27 Satz: uneigentliche Integrale vom Fourier-Typ

Das Gebiet M ⊆ C enthalte die abgeschlossene obere Halbebene H+.Die Teilmenge N ⊂ M sei endlich, enthalte keine Punkte der reellen Achse und dieFunktion f : M \ N → C sei holomorph. Weiter gelte fur ein R0 > 0

|zf (z)| ≤ B fur alle z = |z |e iφ mit |z | ≥ R0, φ ∈ [0,π].

Dann gilt fur jedes ω > 0

limR→∞

�R

−R

f (x) e iωx dx = 2πiK�

n=1

Res (f (z)e iωz ; zn),

wobei z1, . . . , zK ∈ N samtliche Punkte von N mit Im z > 0 sind.

Hohere Mathematik 764

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Beispiel

31.28 Beispiel Ein kleiner Zusatztrick wird benotigt, um den Cauchy-Hauptwertdes Integrals � ∞

−∞

e iωx

xdx

fur ω > 0 zu berechnen. Dieser spielt eine wichtige Rolle bei derHilbert-Transformation (→ Signalverarbeitung). Der Cauchy-Hauptwert ist derGrenzwert von � −�

−R

e iωx

xdx +

�R

e iωx

xdx ,

fur R → ∞ und � → 0 (mit � > 0), weil

f : C \ {0} → C, f (z) =1

z,

die Polstelle z1 = 0 besitzt.

Hohere Mathematik 765

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Beispiel: Ein wichtiges Integral

31.29 Beispiel: Ein wichtiges Integral

Die Funktion S(x) = sinπxπx ist das Herzstuck der digitalen Signalverarbeitung und

wird “Sinus-Cardinalis” genannt: Ihre Funktionswerte an den ganzen Zahlen sindS(0) = 1 und S(n) = 0 fur alle n ∈ Z \ {0}.

In Kapitel uber die Fourier-Transformation zeigen wir, dass sog. bandbeschrankteFunktionen die Darstellung

f (x) =∞�

n=−∞f (n)

sinπ(x − n)

π(x − n)

besitzen, also aus den diskreten “Abtastwerten” f (n), n ∈ Z, mit Hilfe derFunktion S reproduziert werden konnen. Dies ist die Basis aller Analog-DigitalWandler.

Hohere Mathematik 766

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Beispiel: Ein wichtiges Integral

Ein hierbei auftretendes Integral ist der Cauchy-Hauptwert von

� ∞

−∞

sin x

xdx .

Mit sin x = 12i (e

ix − e−ix) und dem Beispiel 31.28 erhalten wir

CH

� ∞

−∞

sin x

xdx =

1

2i(iπ − (−iπ)) = π.

Man beachte noch, dass der Integrand analytisch ist (z1 = 0 ist hebbareSingularitat). Also ist

CH

� ∞

−∞

sin x

xdx = lim

R→∞

�R

−R

sin x

xdx .

Hohere Mathematik 767

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Holomorphe Funktionen, Potenzreihen und Laurentreihen Beispiel: Fresnel-Integrale, “Chirps”

31.30 Beispiel: Fresnel-Integrale, “Chirps”Ein ahnliches Verfahren liefert sog. Fresnel-Integrale vom Typ

� ∞

0sin(x2) dx =

� ∞

0cos(x2) dx =

√π

2√2.

Die Funktionen sin x2, cos x2 sind Beispiele sog. Chirp-Signale (engl.chirp=Zwitschern). Sie beschreiben die Wellenform eines akustischen Signals mitlinear wachsender Frequenz (“FM”=frequency modulated). Solche Wellenformentreten beim Doppler-Effekt (Radar-Messung) auf; die Bezeichnung geht auf dieUltraschallsignale zuruck, die Fledermause bei der Jagd aussenden.

Hohere Mathematik 768

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Potentialgleichung Potentialgleichung

32.1 Potentialgleichung

Die Potentialgleichung oder Laplace-Gleichung

∆u = 0

ist zeitunabhangig und daher ein typisches Beispiel fur ein Randwertproblem(RWP).Die Losungen der Potentialgleichung heißen harmonische Funktionen.Als Verallgemeinerung betrachten wir auch die Poisson-Gleichung (= inhomogeneLaplace-Gleichung)

∆u = f

Die Gleichung wird auf einem Gebiet K ⊂ R2 oder R3 betrachtet, das die Form

K = G mit Normalgebiet G ⊂ R2 oder R3 hat.

Der Rand ∂K besteht aus endlich vielen regularen Kurven (G ⊂ R2) oder

orientierten Flachenstucken (G ⊂ R3).

�n: sei der außere Normalenvektor auf ∂K (mit Lange 1)∂u

∂�nsei die Richtungsableitung nach der außeren Normalen

Hohere Mathematik 769

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Potentialgleichung Randwertprobleme

32.2 Randwertprobleme

Die folgenden Randwertprobleme werden gestellt:

(i) Dirichlet-Problem:

�∆u = 0 (in K )u(�x) = g(�x) (x ∈ ∂K ) Randbed.

(ii) Neumann-Problem:

�∆u = 0 (in K )

∂u

∂�n(�x) = h(�x) (x ∈ ∂K ) Randbed.

(iii) gemischtes Problem: mit a, b ∈ R

�∆u = 0 (in K )

au(�x) + b∂u

∂�n(�x) = k(�x) (x ∈ ∂K ) Randbed.

Die Losungsmethoden Methoden hangen stark vom Korper K ab.

Hohere Mathematik 770

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Potentialgleichung Dirichlet-Problem auf einer Kreisscheibe

32.3 Dirichlet-Problem auf einer Kreisscheibe

K ⊂ R2 sei die Kreisscheibe um 0 mit Radius r0 > 0.

Das Dirichlet-Problem in Polarkoordinaten lautet

uxx + uyy = Urr +1

rUr +

1

r2Uϕϕ = 0, 0 < r < r0, 0 < ϕ < 2π. (A)

Dabei ist u(x , y) = U(r ,ϕ) mit x = r cosϕ, y = r sinϕ.

Damit U wohldefiniert ist, verlangen wir�

U(0,ϕ) = const, 0 ≤ ϕ ≤ 2πU(r , 0) = U(r , 2π), 0 < r ≤ r0.

((B))

Die Dirichlet-Randbedingung fur (x , y) ∈ ∂K gibt schließlich

U(r0,ϕ) = g(ϕ), g ist 2π-periodisch. ((C))

Hohere Mathematik 771

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Potentialgleichung Losung des Dirichlet-Problems

Wir haben folgende Aussage hergeleitet:

32.4 Losung des Dirichlet-Problems

Gegeben sei das Dirichlet-Problem auf der Kreisscheibe vom Radius r0 > 0 umden Nullpunkt. Die Randbedingung laute in Polarkoordinaten

U(r0,ϕ) = g(ϕ),

wobei g stetig und periodisch mit der Periode 2π sei und die Fourier-Reihe gegeng konvergiere. Dann ist eine Losung des Dirichlet-Problems gegeben durch

u(x , y) = U(r ,ϕ) =1

� π

−πg(θ)

r20 − r2

r20 + r2 − 2r0r cos(θ − ϕ)dθ.

Das obige Integral nennt man das Poisson-Integral von g .u(x , y) ist eine harmonische Funktion im Innern der Kreisscheibe.Es gilt lim

r→r0−U(r ,ϕ) = g(ϕ) fur alle ϕ.

Als Korollar erhalten wir aus den Eigenschaften der Faltung:

Harmonische Funktionen sind beliebig oft differenzierbar.

Hohere Mathematik 772

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Potentialgleichung Maximumprinzip fur harmonische Funktionen

Bemerkungen

(1) Fur r = 0 folgt sofort die Mittelwerteigenschaft der harmonischen Funktion u:

u(0, 0) =12π

� π

−π

U(r0, θ) dθ.

(2) Man erkennt auch folgendermaßen, dass u(x , y) harmonisch ist:Mit z = x + iy = re

iϕ gilt

u(x , y) =1π

� π

−π

g(θ)

�12+ Re

� ∞�

n=1

zn

rn0

e−inθ

��dθ

also ist u der Realteil einer holomorphen Funktion im Innern der Kreisscheibe (vgl.Funktionentheorie)

Die Mittelwerteigenschaft liefert das folgende wichtige Prinzip:

32.5 Maximumprinzip fur harmonische Funktionen

G ⊂ R2 (oder R3) sei ein beschranktes Gebiet, u eine in G zweimal stetig differenzierbare

Losung der Potentialgleichung ∆u = 0, die auf G definiert und stetig ist. Dann nimmt usein Maximum auf ∂G an.

Hohere Mathematik 773

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Potentialgleichung Eindeutigkeit und Stabilitat

Hieraus folgt schon die Eindeutigkeit der Losung des Dirichlet-Problems:

32.6 Eindeutigkeit und Stabilitat

Sei G ein beschranktes Gebiet (in R2 oder R3). Dann hat das Dirichlet-Problem

∆u = 0 (in K )u(�x) = g(�x) (x ∈ ∂K ) stetige Randbed.

mit stetiger Funktion g hochstens eine Losung. Diese ist stabil.

Hohere Mathematik 774

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Diffusionsgleichung Diffusionsgleichung

Kap. 33: Diffusionsgleichung

33.1 Diffusionsgleichung

Gegeben sei ein Gebiet M ⊂ R3. Die Funktion u : M × [0,T ] sei eine (genugend

oft differenzierbare) Funktion des Ortes (x , y , z) ∈ M sowie der Zeit t ∈ [0,T ].Wir bilden die partiellen Ableitungen ut nach der Zeitvariablen und ∆u nach derOrtsvariablen.

u erfullt die Warmeleitungsgleichung oder Diffusionsgleichung (engl. heatequation), wenn gilt

ut(x , y , z , t)− c2∆u(x , y , z , t) = 0 fur alle (x , y , z) ∈ M, t ∈ [0,T ].

Hierdurch wird oft die Temperaturverteilung in einem Korper modelliert.

Wir werden auch mit nur einer oder zwei Ortsvariablen x bzw. (x , y) arbeiten.M = [a, b] ⊂ R: eine Funktion u(x , t) mit ut − c2uxx = 0 beschreibt die Spannungin einem Kabel oder die Temperatur in einem dunnen Stab zur Zeit t ≥ 0

Hohere Mathematik 775

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Diffusionsgleichung Die Diffusionsgleichung

Im physikalischen Modell der Temperaturverteilungin einem homogenen Medium liegen weitere Annah-men vor:

Die Temperaturverteilung zur Zeit t = 0 istbekannt:u(x , 0) = f (x), x ∈ M,Anfangsbedingung L x

t

u(x, 0) = f (x)

ux (0, t) = g(t)

ux (L, t) = h(t)

ut = c2uxx

oderu(0, t) = g(t)

oderu(L, t) = h(t)

Die Temperatur oder der Warmeabfluss am Rand Γ = ∂M des Gebietes sindbekannt, also entweder

u(x , t) = g(x , t), x ∈ Γ, t > 0, Dirichlet-Randbedingung

oder

∂u

∂�n(x , t) = g(x , t), x ∈ Γ, t > 0, Neumann-Randbedingung

wobei ∂u∂�n die Richtungsableitung von u(x , t) am Rand von M in Richtung der

außeren Normalen ist.

Hohere Mathematik 776

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Diffusionsgleichung Anfangs-Randwertproblem zur Diffusionsgleichung

33.3 Anfangs-Randwertproblem zur Diffusionsgleichung

M sei ein beschranktes Gebiet im Rn (mit n = 1, 2 oder 3). Gesucht ist eine Funktion

u : M × [0,∞) → R, die die Diffusionsgleichung

ut − c2∆u = 0 (mit c > 0),

die Anfangsbedingung u(x , 0) = f (x) und eine der beiden Randbedingungen erfullt.

Wir beschreiben ausfuhrlich die Losung im eindimensionalen Fall.Mit M = [0, L] (Stab der Lange L) lautet das Anfangs-Randwertproblem

ut(x , t)− c2uxx(x , t) = 0, x ∈ (0, L), t > 0

u(x , 0) = f (x), x ∈ (0, L), (Anfangsbedingung)u(0, t) = g(t)u(L, t) = h(t)

�t > 0, (Dirichlet-Randbedingung)

oder

ut(x , t)− c2uxx(x , t) = 0, x ∈ (0, L), t > 0

u(x , 0) = f (x), x ∈ (0, L), (Anfangsbedingung)ux(0, t) = g(t)ux(L, t) = h(t)

�t > 0. (Neumann-Randbedingung)

Hohere Mathematik 777

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Diffusionsgleichung Grundlosungen der Diffusionsgleichung in [0, L] × [0,∞)

33.4 Grundlosungen der Diffusionsgleichung in [0, L]× [0,∞)

Die Funktionen

ψs(x , t) = e−c2st(As cos(

√sx) + Bs sin(

√sx)) mit s > 0,

ψ0(x , t) = A0 + B0x , (fur s = 0),

sowieψs(x , t) = e−c

2st(Ase

√|s|x + Bse

−√

|s|x) mit s < 0

erfullen die Diffusionsgleichung ut − c2uxx = 0.Die Funktionen ψs mit s ≥ 0 sind beschrankt auf dem Definitionsbereich[0, L]× [0,∞).

Hohere Mathematik 778

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Diffusionsgleichung Losung des Anfangs-Randwertproblems mit Dirichlet-Randbedingungen

33.5 Losung des Anfangs-Randwertproblems mit Dirichlet-Randbedingungen

Das Anfangs-Randwertproblem

ut(x , t)− c2uxx(x , t) = 0, x ∈ (0, L), t ∈ (0,∞),

mit homogenen Dirichlet-Randbedingungen

u(0, t) = 0, u(L, t) = 0, t ∈ (0,∞)

wird zu jeder Anfangsbedingung

u(x , 0) = f (x), x ∈ (0, L),

mit quadrat-integrierbarer Funktion f gelost durch die Funktion

u(x , t) =∞�

k=1

bk sin

�kπL

x

�e−c

2(kπ/L)2t

mit den reellen Koeffizienten

bk =2L

�L

0

f (x) sin

�kπL

x

�dx , k = 1, 2, 3, . . .

Hohere Mathematik 779

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Diffusionsgleichung Eigenschaften der Losung

Bemerkungen zur Konvergenz der Reihe:Fur t = 0: Die Reihe konvergiert gegen f im Sinne der Konvergenz im quadratischenMittel. Falls f stetig ist, die Randbedingung f (0) = f (L) = 0 erfullt und sogar stuckweisestetig differenzierbar ist, konvergiert die Reihe sogar punktweise gegen f .

Fur t > 0: Die Reihe konvergiert gleichmaßig gegen die stetige Funktion u(x , t): denn dieKoeffizienten bk sind beschrankt (sie bilden sogar eine Nullfolge wegen derParseval-Identitat), also ist

∞�

k=1

|bk |e−c2(kπ/L)2t

eine konvergente Majorante. Man zeigt sogar:

33.6 Eigenschaften der Losung

Die Losung u(x , t) der Diffusionsgleichung zu quadrat-integrierbarerAnfangsbedingung u(x , 0) = f (x) und homogenen Dirichlet-Randbedingungen istim Streifen [0, L]× (0,∞) beliebig oft stetig partiell differenzierbar. Es gilt

limt→∞

u(x , t) = 0 fur alle x ∈ [0, L].

(Abkuhlung des gesamten Stabes der Lange L auf 0 Grad.)

Hohere Mathematik 780

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Diffusionsgleichung Eigenschaften der Losung

Hohere Mathematik 781

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Diffusionsgleichung Losung des Anfangs-Randwertproblems mit Neumann-Randbedingungen

33.7 Losung des Anfangs-Randwertproblems mit Neumann-Randbedingungen

Das Anfangs-Randwertproblem

ut(x , t)− c2uxx(x , t) = 0, x ∈ (0, L), t ∈ (0,∞),

mit homogenen Neumann-Randbedingungen

ux(0, t) = 0, ux(L, t) = 0, t ∈ (0,∞)

wird zu jeder Anfangsbedingung

u(x , 0) = f (x), x ∈ (0, L),

mit quadrat-integrierbarer Funktion f gelost durch die Funktion

u(x , t) =a0

2+

∞�

k=1

ak cos

�kπL

x

�e−c

2(kπ/L)2t

mit den reellen Koeffizienten

ak =2L

�L

0

f (x) cos

�kπL

x

�dx , k = 0, 1, 2, . . .

Hohere Mathematik 782

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Diffusionsgleichung Eigenschaften der Losung

Die Bemerkungen zur Konvergenz der Reihe gelten wie in 33.6.

33.8 Eigenschaften der Losung

Die Losung u(x , t) der Diffusionsgleichung zu quadrat-integrierbarerAnfangsbedingung u(0, t) = f (x) und homogenen Neumann-Randbedingungen istim Streifen [0, L]× (0,∞) beliebig oft stetig partiell differenzierbar. Es gilt

limt→∞

u(x , t) =a02

=1

L

�L

0f (x) dx fur alle x ∈ [0, L].

(Temperaturausgleich entlang des Stabes der Lange L auf den Mittelwert derAnfangstemperatur.)

Hohere Mathematik 783

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Diffusionsgleichung Eigenschaften der Losung

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Diffusionsgleichung Inhomogene Randbedingungen

Wie konnen inhomogene Randbedingungen realisiert werden?

Antwort: Mit Hilfe der allgemeinen Grundlosungen ψs und ηs in 33.4. Dabeiverwenden wir nur die beschrankten Grundlosungen mit s ≥ 0.Zunachst werden Dirichlet-Randbedingungen behandelt:

33.9 Inhomogene Randbedingungen

(i) Falls die Funktion h die Darstellung als Parameterintegral

h(t) =

� ∞

0B(s) sin(

√sL)e−c

2st ds,

mit einer stetigen und beschrankten Funktion B besitzt, so ist

uR(x , t) =

� ∞

0B(s) sin(

√sx)e−c

2st ds

eine Losung der Diffusionsgleichung zu den Randwerten

u(0, t) = 0, u(L, t) = h(t), t > 0.

Hohere Mathematik 785

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Diffusionsgleichung Inhomogene Randbedingungen

(ii) Falls die Funktion g die Darstellung als Parameterintegral

g(t) =

� ∞

0A(s) sin(

√sL)e−c

2st ds,

mit einer stetigen und beschrankten Funktion A besitzt, so ist

uL(x , t) =

� ∞

0A(s) sin(

√s(L− x))e−c

2st ds

eine Losung der Diffusionsgleichung zu den Randwerten

u(0, t) = g(t), u(L, t) = 0, t > 0.

Bemerkung:

Ersetzt man jeweils sin durch cos, erhalt man Losungen mit inhomogenenNeumann-Randbedingungen.

Statt des Parameterintegrals kann auch eine endliche Summe oder unendlicheReihe solcher Grundlosungen vorliegen.

Hohere Mathematik 786

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Diffusionsgleichung Diffusionsgleichung mit inhomogenen Randbedingungen

Zusammensetzen der Losung (Superposition):

33.10 Diffusionsgleichung mit inhomogenen Randbedingungen

Die Diffusionsgleichung mit der Anfangsbedingung u(x , 0) = f (x) undinhomogenen Randbedingungen

R0(u; t) = αu(0, t) + βux(0, t) = g(t),

RL(u; t) = γu(L, t) + δux(L, t) = h(t)

wird wie folgt gelost:1. Bestimme eine Losung uR der Diffusionsgleichung zu den Randwerten R0(u; t) = 0,

RL(u; t) = h(t), siehe 33.9(i). (ohne Anfangsbedingung)

2. Bestimme eine Losung uL der Diffusionsgleichung zu den Randwerten R0(u; t) = g(t),RL(u; t) = 0, siehe 33.9ii). (ohne Anfangsbedingung)

3. Bestimme die (eindeutige) Losung uA der Anfangs-Randwertaufgabe zu den homogenenRandwerten R0(u; t) = RL(u; t) = 0 und der Anfangsbedingung

u(x , 0) = f (x)− uR(x , 0)− uL(x , 0).

Die Gesamtlosung ist dann u = uA + uR + uL.

Hohere Mathematik 787

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Diffusionsgleichung Diffusionsgleichung mit inhomogenen Randbedingungen

Zur Durchfuhrung des 1. Schrittes (inhomogene RB am rechten Rand) ist eserforderlich, die Funktion h(t) als Parameterintegral

h(t) =

� ∞

0B(s) sin(

√sL)� �� �

=:F (s)

e−c2st ds

darzustellen. Dieses Integral beschreibt die Laplace-Transformation einergesuchten Funktion F (s) = B(s) sin(

√sL).

Hier wird also noch mehr Mathematik gebraucht. :-)

Hohere Mathematik 788

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Diffusionsgleichung Satz: Maximumprinzip

Weitere qualitative Aussagen stimmen mit der physikalischen Realitat uberein:

33.11 Satz: Maximumprinzip

Die Funktion u : [0, L]× [0,∞) sei zweimal stetig differenzierbar in der offenenMenge (0, L)× (0,∞), stetig in der abgeschlossenen Menge [0, L]× [0,∞) underfulle die Diffusionsgleichung

ut(x , t)− c2uxx(x , t) = 0, x ∈ (0, L), t > 0.

Fur beliebiges T > 0 betrachten wir das Rechteck

GT = {(x , t) | 0 ≤ x ≤ L, 0 ≤ t ≤ T}.

Dann nimmt die Einschrankung u|GTihr Minimum und ihr Maximum auf der

Teilmenge ΓT = Γ1 ∪ Γ2 ∪ Γ3 des Randes an, wobei

Γ1 = {(x , 0) | 0 ≤ x ≤ L}, Γ2 = {(0, t) | 0 < t ≤ T},

Γ3 = {(L, t) | 0 < t ≤ T}.

Bemerkung: Der Satz besagt, dass im “Zeithorizont” [0,T ] das Maximum und Minimumentweder am Rand des Stabes (bei x = 0 oder x = L) oder am “Anfang” t = 0 vorliegen.Hohere Mathematik 789

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Diffusionsgleichung Eindeutigkeitssatz

Hat man das Maximumprinzip, so folgen wichtige Eigenschaften “wie von selbst”:

33.12 Eindeutigkeitssatz

Besitzt das Anfangs-Randwertproblem mit inhomogenenDirichlet-Randbedingungen eine stetige Losung u : [0, L]× [0,∞), so ist dieseeindeutig.

Hohere Mathematik 790

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Diffusionsgleichung Stabilitatssatz

Stetigkeit der Anfangs- und Randwerte sei im Folgenden immer gegeben.

33.13 Stabilitatssatz

Stetige Losungen u und u : [0, L]× [0,∞) von zwei Anfangs-Randwertproblemenzu unterschiedlichen Anfangswerten und inhomogenen Dirichlet-Randbedingungenunterscheiden sich bis zum Zeithorizont T hochstens so viel, wie sich die Anfangs-und Randwerte der beiden Probleme bis zu diesem Zeithorizont unterscheiden.

Hohere Mathematik 791

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Wellengleichung Wellengleichung

Kap. 34: Die Wellengleichung

34.1 Wellengleichung

Gegeben sei ein Gebiet M ⊂ R3. Die Funktion u : M × [0,T ] sei eine (genugend

oft differenzierbare) Funktion des Ortes (x , y , z) ∈ M sowie der Zeit t ∈ [0,T ].Wir bilden die partiellen Ableitungen ut , utt nach der Zeitvariablen und ∆u nachder Ortsvariablen.

u erfullt die Wellengleichung (engl. wave equation), wenn gilt

utt(x , y , z , t)− c2∆u(x , y , z , t) = 0 fur alle (x , y , z) ∈ M, t ∈ [0,T ].

Hierdurch wird oft die Ausbreitung von Wellen in der Akustik, Elektrotechnik etc.modelliert., z.B. schwingende Saiten eines Instruments oder eine schwingendeMembran.

Im physikalischen Modell werden zwei Anfangsbedingungen bei t = 0 undRandbedingungen bei x ∈ Γ := ∂M gestellt:

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Wellengleichung Wellengleichung

Die Ausgangslage zur Zeit t = 0 ist bekannt:u(x , 0) = f1(x), x ∈ M1. Anfangsbedingung

Die Geschwindigkeit der Anderung derAuslenkung ist bekannt:ut(x , 0) = f2(x), x ∈ M,2. Anfangsbedingung L x

t

u(x, 0) = f1(x)

ux (0, t) = g(t)

ux (L, t) = h(t)

utt = c2uxx

oderu(0, t) = g(t)

oderu(L, t) = h(t)

ut(x, 0) = f2(x)

Die Auslenkung selbst oder ihre Ableitung in Normalenrichtung ist fur dieRandpunkte bekannt:

u(x , t) = g(x , t), x ∈ Γ, t > 0, Dirichlet-Randbedingung

oder

∂u

∂�n(x , t) = g(x , t), x ∈ Γ, t > 0. Neumann-Randbedingung

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Wellengleichung Anfangs-Randwertproblem zur Wellengleichung

34.2 Anfangs-Randwertproblem zur Wellengleichung

M sei ein beschranktes Gebiet im Rn (mit n = 1, 2 oder 3). Gesucht ist eine Funktion

u : M × [0,∞) → R, die die Wellengleichung

utt − c2∆u = 0 (mit c > 0),

die Anfangsbedingungen u(x , 0) = f1(x) und ut(x , 0) = f2(x) sowie eine der beidenRandbedingungen erfullt.

Wir beschreiben zuerst die Losung im eindimensionalen Fall.

utt(x , t)− c2uxx(x , t) = 0, x ∈ (0, L), t > 0

u(x , 0) = f1(x), x ∈ (0, L), (1. Anfangsbedingung)ut(x , 0) = f2(x), x ∈ (0, L), (2. Anfangsbedingung)u(0, t) = g(t)u(L, t) = h(t)

�t > 0, (Dirichlet-Randbedingung)

oder

utt(x , t)− c2uxx(x , t) = 0, x ∈ (0, L), t > 0

u(x , 0) = f1(x), x ∈ (0, L), (1. Anfangsbedingung)ut(x , 0) = f2(x), x ∈ (0, L), (2. Anfangsbedingung)ux(0, t) = g(t)ux(L, t) = h(t)

�t > 0. (Neumann-Randbedingung)

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Wellengleichung Grundlosungen der Wellengleichung in [0, L] × [0,∞)

Man erhalt n ganz analog zur Diffusionsgleichung die folgenden Losungen derWellengleichung (ohne Berucksichtigung von Anfangs- und Randbedingungen):

34.3 Grundlosungen der Wellengleichung in [0, L]× [0,∞)

Es sei µ ∈ R, s =�

|µ|/c. Dann losen die Funktionen

ψs(x , t) = c1 cos (sx) cos (sct) + c2 cos (sx) sin (sct)+

c3 sin (sx) cos (sct) + c4 sin (sx) sin (sct)

= C1 cos (s(x + ct)) + C2 sin (s(x + ct))

+C3 cos (s(x − ct)) + C4 sin (s(x − ct)) fur µ < 0,

ψ0(x , t) = c1 + c2x + c3t + c4xt

= C1 + C2(x + ct) + C3(x − ct) + C4[(x + ct)2 − (x − ct)2] fur µ = 0

sowie

ψs(x , t) = C1es(x+ct) + C2e

−s(x+ct) + C3es(x−ct) + C4e

−s(x−ct) fur µ > 0

die Wellengleichung utt − c2uxx = 0.

Die Funktionen ψs fur µ < 0 (sowie ψ0 mit C2 = C3 und mit C4 = 0) sind beschranktauf dem Definitionsbereich [0, L]× [0,∞).

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Wellengleichung Satz: Spezielle Form der Grundlosungen der Wellengleichung

34.4 Satz: Spezielle Form der Grundlosungen der Wellengleichung

Die Grundlosungen der Wellengleichung haben die Form

ψs(x , t) = h1(x + ct) + h2(x − ct)

mit beliebig oft differenzierbaren Funktionen h1, h2 : R → R (und ebenso fur ηs).

Sind andererseits beliebige zweimal stetig differenzierbare Funktionenh1, h2 : R → R gegeben, so erfullt die Funktion

u(x , t) = h1(x + ct) + h2(x − ct)

die Wellengleichung.

Bemerkung: Die Funktion g : R2 → R, g(x , t) = h1(x − ct) hat als Graphen eineWelle, die mit der “Ausbreitungsgeschwindigkeit” c > 0 in die positive x-Richtunglauft. Ebenso stellt f2(x + ct) eine Welle dar, die mit der Geschwindigkeit c in dienegative x-Richtung lauft. Die Uberlagerung beider Wellen erfullt dieWellengleichung zum Parameter c .

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Wellengleichung Losung des ARWP mit Dirichlet-Randbedingungen

34.5 Losung des ARWP mit Dirichlet-Randbedingungen

Das Anfangs-Randwertproblem

utt(x , t)− c2uxx(x , t) = 0, x ∈ (0, L), t ∈ (0,∞),

mit homogenen Dirichlet-Randbedingungen

u(0, t) = 0, u(L, t) = 0, t ∈ (0,∞)

wird zu Anfangsbedingungen

u(x , 0) = f1(x), ut(x , 0) = f2(x), x ∈ (0, L),

mit quadrat-integrierbaren Funktionen f1, f2 gelost durch die Funktion

u(x , t) =1

2(f1(x + ct) + f1(x − ct)) +

1

2c

�x+ct

x−ct

f2(ξ) dξ.

Hierbei mussen die Funktionen f1 und f2 als ungerade periodisch fortgesetzt mitder Periodenlange 2L betrachtet werden.

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Wellengleichung Losung des ARWP mit Dirichlet-Randbedingungen

Bemerkungen:

Die Losung u(x , t) der Wellengleichung hat fur t > 0 keine hohere“Glattheit” als die 1. Anfangsbedingung: Hat f1 einen Sprung bei x1, so hatu(x , t) (fur festes t) im allgemeinen zwei Sprunge bei x1 + ct und x1 − ct.

Sprunge in der 2. Anfangsbedingung f2 liefern i.a. noch stetige Losungen: Hatf2 einen Sprung bei x2, so entsteht durch die Integration eine stetige Funktion,die an den Stellen x2 ± ct nicht differenzierbar ist (“Kanten” in u(x , t)).

Auch wenn f1 ≥ 0 und f2 = 0 gelten, wird u fur t > 0 negative Werteannehmen. Das liegt an der ungeraden Fortsetzung von f1. (Siehe Beispiel)

Doppelte Periodizitat: Die Losung ist nicht nur periodisch in x-Richtung(Periodenlange 2L), sondern auch in t-Richtung (Periodenlange 2L/c):Dies erkennt man an der Gestalt der Grundlosungen 34.4.

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Wellengleichung Losung des ARWP mit Dirichlet-Randbedingungen

t

xx − ct x + ct

(x , t)Der Wert der Losung u im Punkt (x , t)hangt ab

(1) von den Werten Funktion f1 in denPunkte x ± ct

(2) von der Werten der Funktion f2 imIntervall [x − ct, x + ct].

Wachstum von u(x , t):Im Fall f2 = 0 ist |u(x , t)| ≤ �f1�∞ fur alle t > 0.

Im allgemeinen Fall gilt

|u(x , t)| ≤ �f1�∞ + t�f2�∞, 0 < t < 2L/c.

D.h. die Welle kann mit wachsender Zeit 0 < t < 2L/c linear anschwellen.

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Wellengleichung Cauchyproblem der Wellengleichung

Da in der Losungsformel L nicht explizit vorkommt, gibt die Losungsformel in 34.5auch die Losung des Cauchyproblems an:

34.6 Cauchyproblem der Wellengleichung

Das Cauchyproblemutt = c2uxx , x ∈ R, t > 0

u(x , 0) = f (x), ut(x , 0) = g(x)

hat die (eindeutige) Losung

u(x , t) =1

2(f1(x + ct) + f1(x − ct)) +

1

2c

�x+ct

x−ct

f2(ξ) dξ.

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Wellengleichung Losung zum ARWP mit homogenen Neumann-Randbedingungen

34.7 Losung zum ARWP mit homogenen Neumann-Randbedingungen

Die Grundlosungen der Wellengleichung mit homogenenNeumann-Randbedingungen sind

ψ0(x , t) = c1 + c2t,

sowie

ψk(x , t) = cos

�kπx

L

��c1 cos

�kπct

L

�+ c2 sin

�kπct

L

��, k = 1, 2, 3, . . .

Die Anfangsbedingungen u(x , 0) = f1(x), ut(x , 0) = f2(x) werden durchUberlagerung mit den Koeffizienten der Cosinus-Reihen von f1 und f2 gebildet;hier mussen die Funktionen also gerade fortgesetzt werden zur Periodenlange 2L.

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Wellengleichung Zusammenfassung der Losung

34.8 Zusammenfassung der Losung

Das Anfangs-Randwertproblem

utt(x , t)− c2uxx(x , t) = 0, x ∈ (0, L), t ∈ (0,∞),

mit homogenen Neumann-Randbedingungen

ux(0, t) = 0, ux(L, t) = 0, t ∈ (0,∞)

wird zu Anfangsbedingungen

u(x , 0) = f1(x), ut(x , 0) = f2(x), x ∈ (0, L),

mit quadrat-integrierbaren Funktionen f1, f2 gelost durch die Funktion

u(x , t) =1

2(f1(x + ct) + f1(x − ct)) +

1

2c

�x+ct

x−ct

f2(ξ) dξ.

Hierbei mussen die Funktionen f1 und f2 als gerade periodisch fortgesetzt mit derPeriodenlange 2L betrachtet werden.

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Wellengleichung Behandlung inhomogener Randbedingungen

34.9 Behandlung inhomogener RandbedingungenDie Behandlung inhomogener Randbedingungen erfolgt durch Verwendung ALLERGrundlosungen ψs mit s ≥ 0 in 34.3, wie bei der Diffusionsgleichung in 33.9. Diesfuhrt hier auf die “Fourier-Transformation” fur nicht-periodische Funktionen (wirdspater behandelt). Auf eine ausfuhrliche Diskussion wird hier verzichtet.

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