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Mouvement ( - vor der Erstarrung) 36 2.3 Das Zeitnetz, die Klangfamilien und deren Umsetzung 2.3.1 Die Klangfamilie 1 Die erste Klangfamilie hat 9 Einsätze und entfaltet sich zwischen dem Anfang des Stückes und Takt 48. In den Skizzen bezeichnet Lachenmann diese Familie als „Striche hin und her“. Es handelt sich um Einsätze der Streicher in verschiedenen Spielweisen in einer mehr oder weniger definierten Folge. Jedes Element – fast immer durch kurze Pausen von einander getrennt – das innerhalb der Familie „Striche hin und her“ verstanden wird, ist ein Bestandteil eines Klanges, der einen Gesamtausdruck vermittelt und gleichzeitig einzelne Elemente durch musikalische Eigenschaften wie Rhythmus, Tonhöhe, Dichte, und Dauer charakterisiert. Die Isolierung der einzelnen Elemente hilft, den Gesamteindruck dieses Klanges zu fassen. Man schaue sich dazu die Einsätze 1.3 62 und 1.4 auf der Seite 6 und 7 der Partitur an (Bild 21 und Bild 22). Zwischen den Takten 29 und 35 sind die zwei oben genannten Einsätze dargestellt, die den Tönen 16 (fis) und 22 (a) des Zeitnetzes entsprechen (siehe Bild 16 und Bild 17). Auf diesen Seiten sind noch andere Einsätze dieser Familie zu sehen, die als Subeinsätze bezeichnet werden, denn in diesem Teil wird fast jedem Ton des Zeitnetzes entweder ein Einsatz oder ein Subeinsatz zugewiesen. Dies bedeutet, dass in dieser Familie zwischen den Takten 27 und 35 insgesamt sechs Einsätze auftauchen. 62 Die Bezeichnung 1.3 entspricht den 3. Einsatz der ersten Familie, d.h. die erste Zahl bezeichnet die Klangfamilie und die zweite Zahl den Einsatz.

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2.3 Das Zeitnetz, die Klangfamilien und deren Umsetzung

2.3.1 Die Klangfamilie 1

Die erste Klangfamilie hat 9 Einsätze und entfaltet sich zwischen dem Anfang des

Stückes und Takt 48. In den Skizzen bezeichnet Lachenmann diese Familie als

„Striche hin und her“. Es handelt sich um Einsätze der Streicher in verschiedenen

Spielweisen in einer mehr oder weniger definierten Folge. Jedes Element – fast immer

durch kurze Pausen von einander getrennt – das innerhalb der Familie „Striche hin

und her“ verstanden wird, ist ein Bestandteil eines Klanges, der einen

Gesamtausdruck vermittelt und gleichzeitig einzelne Elemente durch musikalische

Eigenschaften wie Rhythmus, Tonhöhe, Dichte, und Dauer charakterisiert. Die

Isolierung der einzelnen Elemente hilft, den Gesamteindruck dieses Klanges zu

fassen. Man schaue sich dazu die Einsätze 1.362 und 1.4 auf der Seite 6 und 7 der

Partitur an (Bild 21 und Bild 22).

Zwischen den Takten 29 und 35 sind die zwei oben genannten Einsätze dargestellt,

die den Tönen 16 (fis) und 22 (a) des Zeitnetzes entsprechen (siehe Bild 16 und Bild

17). Auf diesen Seiten sind noch andere Einsätze dieser Familie zu sehen, die als

Subeinsätze bezeichnet werden, denn in diesem Teil wird fast jedem Ton des

Zeitnetzes entweder ein Einsatz oder ein Subeinsatz zugewiesen. Dies bedeutet, dass

in dieser Familie zwischen den Takten 27 und 35 insgesamt sechs Einsätze

auftauchen.

62 Die Bezeichnung 1.3 entspricht den 3. Einsatz der ersten Familie, d.h. die erste Zahl bezeichnet dieKlangfamilie und die zweite Zahl den Einsatz.

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Das erste Element a der Familie 1 besteht aus einem Flageolett mit dem Ton c und

anderen Tönen die ein Cluster-artiges Klanggebilde erzeugen. Das danach folgende

Element b ist ein Triller flautando, der in 1.3 (Takt 29) als ausnotierter Triller

auftaucht. Element c taucht im Takt 29 auf und besteht aus einem tonlosen Klang auf

dem Steg. Das letzte Element d ist eine tonlose Bewegung des Bogens legno auf den

mittleren Seiten (II und III). Die folgende Tabelle fasst eine formale Beschreibung der

Klangfamilie 1 zwischen Takt 27 und 35 zusammen, die auf der Seite 6 und 7 der

Partitur zu sehen ist (Bild 21 und Bild 22).

Takt 27 28 29 30 31 35

Einsätze 1.3 1.4

Subeinsätze i. ii. iii. iv. v. vi.

Elemente a, b a, c a, b, d a, d, b a, d, b, b a, (b)

Bild 20: Klangfamilie 1und deren Elemente in Takte 27-35

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Bild 21: Mouvement, Analyse der Seite 6, Takte 27-30 mit dem Zeitnetz

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Bild 22: Mouvement, Analyse der Seite 7, Takte 31-35 mit dem Zeitnetz

Um die feinen Variationen und Ausnahmen bei der Umsetzung jedes Elements dieser

Klangfamilie zu verstehen, wird eine fokussierte Analyse nach Gesichtspunkten wie

Klangfarbe, Spielart und Tonhöhe aufgezeigt. Die Klänge, die in diesem Abschnitt

auftauchen, haben überwiegend eine durchgehende Charakteristik, die sie alle

miteinander verbindet, nämlich einen regelmäßigen inneren Rhythmus, der die

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verschiedensten Instrumente moduliert. Pierre Schaeffers Typologie zufolge enthält

so ein Klang ein iteratives Granulat (grain pour iteration) – ein Klang, dessen Dauer

auf Kosten einer sehr schnellen Wiederholung seiner selbst seine Existenz erlangt.

Also kein Impuls, kein gehaltener Ton, sondern ein Klang, der sich zwischen beiden

Extrema befindet. Das einfachste Beispiel wäre ein Triller auf der kleinen Trommel;

aber auch ein tiefer Ton auf dem Kontrafagott ist ein iterativer Klang.63 Auf den

Seiten 6 und 7 der Partitur sind einige dieser Klänge zu sehen. Der auffälligste

Vertreter dieser Kategorie ist der Klang der Xylomarimba gespielt mit Reibstock; die

Bläser frullato befinden sich selbstverständlich auch in dieser Gruppe. Der Triller auf

den Streichern kann ebenfalls in diesem Zusammenhang als iterativer Klang gesehen

werden, sowie das Saltando im Takt 29 (Vc. 1). Somit sind die einzigen nicht-

iterativen Klänge die Elemente a und c.

Das Fehlen des iterativen Granulats in Element a wird ergänzt durch den Einsatz der

Xylomarimba. Dies taucht von ii bis v immer gleichzeitig mit dem Flageolett auf, so

dass aus diesem Zusammenhang geschlossen werden kann, dass es sich um ein

Klanggebilde handelt, welches aus zwei verschiedenen Instrumenten bzw. aus zwei

verschiedenen, aber zueinander komplementären, Klängen besteht.

Mit dem Element c, zu dem das iterative Granulat der tonlosen Flöte und der

Trompete frullato gehört (Takte 27-29), geschieht etwas Ähnliches. Nach

rhythmischen Gesichtspunkten sind die Einsätze der Trompete 1 und Flöte 1 von der

Linie der Trompete 2 abhängig; abstrahiert man aber nach klanglichen Eigenschaften,

gehören diese beiden, also Flöte 1 und Trompete 1, zur Ebene der Streicher und

gleichzeitig der Trompete 2. Zwei Klangeigenschaften eint diese Instrumente: das

Frullato ist eine verbindende Spielart aller Bläser, vereinigt also die beiden

Trompeten und die Flöte; das Tonlose als Luftgeräusch bzw. als Holzgeräusch (auf

dem Steg) stellt die Verbindung zwischen Trompete 1 bzw. Flöte 1 und Streicher her.

Entscheidend für das Zusammenspiel der beiden ist der Rhythmus des Kontrabasses

im Takt 28. Da sein tonloser Klang zeitsynchron mit den Bläsern auftaucht, schafft er

eine Synthese zwischen dem tonlosen Klang des Elements c der Streicher – dessen

Bestandteil er ist – und dem ebenso tonlosen iterativen Granulat der Flöte und der

63 Diese Klänge spielen eine wichtige Rolle in vielen Stücken Lachenmanns sowie bei anderenzeitgenössischen Komponisten wie z.B. bei Nicolaus A. Hubers La Force du Vertige (1986).

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Trompete 1. Dementsprechend besteht sowohl das Element c als auch das Element a

aus zwei verschiedenen Instrumenten und Spielarten, woraus sich ein konsistentes

Klanggebilde ergibt, in dem auch das iterative Granulat präsent ist. So sorgt

Lachenmann für die Verschmelzung beider Instrumente und Klangfarben und für das

Kontinuum des iterativen Klanges. Mit dieser polyphonischen Methode lässt

Lachenmann einige Klangeigenschaften zwischen den verschiedenen Instrumenten

von Einem zum Nächsten wandern. Dies kann man besonders deutlich in den Takten

29 und 30 wahrnehmen. Hier ist ein einziger Einsatz des Elements d zu sehen,

welcher ein Saltando (Vc. 1) enthält. Dieser Klang entspricht einer Fortsetzung des

iterativen Granulats aus dem zweiten Element b und fügt dieses gleichzeitig zu

Element d hinzu. Dank dieser Klangeigenschaft, die als Übergang zwischen Element

b und d dient, sind die nächsten Einsätze des kontrastierenden Elements d – tonlose

Bogenbewegung auf den Seiten II und III – ohne Iterativität erst möglich.

Ein weiterer Aspekt, den wir bei der Analyse von Mouvement berücksichtigen wollen,

ist die Tonhöhenstruktur. Hier spielt sie im Gegensatz zu anderen Lachenmann

Stücken wie z.B. Kontrakadenz eine zumindest ebenso wichtige Rolle wie die bereits

erwähnten Parameter. Zwischen Takt 26 und 36 entfaltet sich ein Pedalton, der die

Aufmerksamkeit dieses Teils auf sich lenkt: ein g auf der Trompete frullato, pppp mit

Dämpfer. Zum diesem Ton schließt sich das c der Streichern (Element a) an. Die

übrigen Töne von Element a bilden Intervalle von kleinen Sekunden – seltener auch

große Sekunden – in der Tonumgebung um c und g. Dieses Intervall, das diesen

Abschnitt charakterisiert, trägt auch zu der Verzahnung aller Klangfarben bei: das as

im Takt 27 auf dem Violoncello 1 – Element a – bildet mit dem g der Trompete eine

kleine Sekunde. Dieses as wird im Takt 28 von der Xylomarimba fortgesetzt und fügt

somit die Rauheit des iterativen Klanges zu den Flageollets der Streicher zu Element

a hinzu. Gleichzeitig ordnet sich der chromatische Cluster von Element b zwischen

die kleinen Sekunden a-b und g-as aus Element a ein und erzeugt ein Cluster mit dem

Umfang einer großen Septime auf a’ (Bild 23).

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Bild 23: Tonhöhenstruktur Takt 27-35

Das as in der Xylomarimba erfüllt außerdem noch die Funktion, die Elemente a und b

in den Takten 29-30 zu verbinden, indem die Oktaveverdopplung dieses Tones –

Element a – das Register des Clusters – Element b – umfasst. Ab diesem Ton (as''')

bildet sich eine Quintstruktur bis zum g, die die Verteilung der Clustertöne des

Elements b bestimmt. Die Quintorganisation läuft bis zum Takt 35 – der letze Einsatz

des Clusters. Dieser Einsatz taucht gleichzeitig mit dem Element a auf und ist somit

durch ihn überdeckt. Außerdem entsprechen die Töne von b einer Oktavwiederholung

des vorletzten Einsatzes (Takt 34). Daher soll dieser also nicht als ein neuer Einsatz

interpretiert werden sondern als Wiederholung: der Kontrabass spielt eine Oktave

tiefer die Töne der Bratsche 1 und die beiden Violoncelli spielen dieselben Töne auch

eine Oktave tiefer und umfassen somit ein Quartintervall E-A anstatt der Quinte C-G.

Die eigentlichen Töne, die zu dieser Struktur gehören, das C und das G, sind in den

Streichern (Element a) bzw. in der Trompete als Pedaltöne wiederzufinden.

Bild 24: Tonhöhenstruktur des Elements b

Dementsprechend ist die Tonhöhenstruktur noch ein weiterer Parameter, mit dem

Lachenmann detailliert aus allen beteiligten und unterschiedlichen Materialien eine

Einheit zwischen Klang, Rhythmus, Spielarten und Tonhöhe bildet. Die Vernetzung

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aller Parameter entwickelt und transformiert sich organisch von Einem zum Nächsten

mittels einer Polyphonie von Klangeigenschaften. Diese können so unterschiedlich

sein wie z.B. das iterative Granulat – welches, wie zuvor erörtetet, fast alle

Instrumente erfasst -, das Register, der Umfang und die Tonhöhe, der Rhythmus oder

die Klangfarbe.

2.3.2 Jenseits des Zeitnetzes

Wie in den letzen Zeilen dargestellt wurde, entfaltet sich die Klangfamilie 1 zwischen

dem Anfang des Stückes und Takt 48. Der letzte Einsatz ist 1.9 in Takt 47 auf der

Seite 9 der Partitur (ein Überblick von der Taktaufteilung und dem Zeitnetz ist auf der

Seite 51 zu sehen). Aus dem Vergleich der Partitur und der Zeitstruktur in den ersten

Seiten kann man schließen, dass die Umsetzung des Zeitnetzes (in der Partitur) nicht

auf eine Parallele zwischen dem Zeitnetz und den verschiedenen Einsätzen der

Materialien hinweist, d.h. die Einsätze des Zeitnetzes entsprechen nicht den Einsätzen

der Klangfamilien oder deren Elemente: die extreme Ausdehnung der ersten Takte

(12/4, 8/4 und 6/4 statt 3/8), wo nur ein oder zwei Einsätze pro Takt zu sehen sind

schließt diese Möglichkeit aus. Das Zeitnetz bis Takt 18 erfüllt somit weder die

Funktion eines Einsatzgerüsts noch eines Rhythmusgerüsts und scheint

dementsprechend kein entscheidender Aspekt der detaillierten Kompositionsarbeit zu

sein. Die Einsätze der Klangfamilie 2 („Flöte 1&2“) und 3 („Trompete“) in den

Takten 18 bzw. 26 entsprechen tatsächlich wichtigen formalen Änderungen, die so

vom Zuhörer wahrgenommen werden. Das Zeitnetz fängt mit einer Pause von 11

Vierteln vor dem ersten Einsatz an. Die Frage, die man sich hierbei ganz legitim

stellen kann ist: wie komponiert man eine Pause? Ist sie reine Stille oder wird sie

einfach ignoriert? Noch allgemeiner: bedeuten die Pausen Stille zwischen Einsätzen

oder gehören sie zum vorherigen Einsatz und sind deshalb eher Dauer? Und wie geht

man um mit so einer Zeitstruktur, die so unterschiedliche Dauern von 12/4 bis zum

3/8 enthält – die eine befindet sich auf der Form-Ebene und die andere auf der

Rhythmus-Ebene? Diese Fragen sind einige von vielen, die bei der

Kompositionsarbeit von Lachenmann ständig beantwortet werden müssen. Sie

enthalten aber Spekulationen, die jeden Schritt, jeden Einsatz und jede Umsetzung

immer neu in Frage stellen, und deshalb ist das Zeitnetz eine Komopositionshilfe, die

während dem Stück verschiedene Rollen übernehmen kann. Dies bedeutet, dass in

diesem Zusamenhang das Zeitnetz ein Gesichtspunkt der Kompositionsarbeit ist, der

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vom Komponist im Zusammenspiel mit anderen Aspekten interpretiert werden muss.

Deshalb sollte auch die Aussage Cavallottis64 über Mouvement keine Überaschung

sein. Er erörtert, dass, zumindest in Mouvement, das Zeitnetz nur in einem geringen

Maße respektiert wird. Wenn man bedenkt, dass Lachenmann mehrere Versionen

desselben Abschnitts schrieb, wobei jede neue Version über die alte geschrieben wird

– und somit die neue immer einer weiteren Abstraktion der ursprüngliche Struktur

entspricht – ist es offensichtlich, dass die Entfernung zwischen Struktur und Resultat

bei jeder neuen Version immer größer wird, und dementsprechend schiebt sich das

Zeitnetz bis zur völligen Unkenntlichkeit immer mehr in den Hintergrund .

In den nächsten Kapiteln (2.3.3, 2.3.4 und 2.3.5) soll untersucht werden, welche

anderen systematischen Vorgehensweisen Lachenmann benutzt außer dem Zeitnetz

und wie sie im Verhältniss zum Zeitnetz stehen – oder ob es überhaupt möglich ist,

sie zu systematisieren. Im Kapitel 2.3.1 wurde bereits eine solche Untersuchung

vorgeführt, hauptsächlich im Bezug auf die Klangfarbe. Der nächste Abschnitt

beschäftigt sich mit einem formalen Aspekt: dem Kadenzklang.

2.3.3 Der Kadenzklang

Ein Überblick der Materialien, die am Anfang auftauchen, weist darauf hin, dass die

Elemente der Klangfamilie 1, die im Kapitel 2.3.1 diskutiert wurden, auch hier zu

finden sind. Seit dem ersten Takt findet man den tonlosen Klang der Streicher auf

dem Steg, die Flageoletts, die Xylomarimba gespielt mit dem Reibstock, und den

Triller, bzw. Elemente c, a und b der Klangfamile 1. Diesem Sinn folgend führe ich

eine Analyse der Elemente der Klangfamilie 1 rückbezüglich vom Anfang bis zum

Takt 48 durch.

Der Beginn des Stückes ist vom Einsatz der zwei Xylomarimbas mit Reibstock

geprägt. Diese sind im Gegensatz zu den Takten 28 bis 31 nicht von Element a

abhängig, sondern führen eine eigene Linie – man bezeichne die Einsätze der

Xylomarimba65 mit dem Buchstaben a’. Dieser Klang erfüllt am Anfang des Stückes

eine formale Funktion, nämlich die anderen Elemente abzugrenzen. Im

Zusammenspiel mit dem Element b – tonloser Klang der Streicher auf dem Steg –

64 Vgl.: Cavallotti, S. 1465 In diesem Kapitel bedeutet Xylomarimba immer Xylomarimba mit Reibstock gespielt.

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baut Lachenmann drei Sätze, die, um Lachenmanns Terminologie zu benutzen, als

Kadenzklang charakterisiert werden können (siehe Bild 25). Der erste Satz (Takt 1 bis

2) beginnt mit dem iterativen Granulat der Xylomarimbas p, dem sich die tonlosen

Streicher mit einem Crescendo von p bis zum „f“ anschließen. Der Einsatz des

Violoncellos 1 beendet diesen Satz mit zwei Anschlägen „f“. Der nächste Satz fängt

dann in Takt 2 mit dem Violoncello 2 und dem Kontrabaß an – beide mit einem

Crescendo von p bis „f“, aber in der Zeit versetzt. Dem Crescendo des Kontrabasses

schließen sich die Xylomaribas mit „f“ an. Der zweite Satz endet mit dem Crescendo

des Violoncello 2. Die Trompeten setzen den tonlosen Klang im dritten Satz auch mit

einem, in der Zeit versetzten, Crescendo fort, aber dieses Mal bis zum „f“ und „ff“

(entspricht Trompete 2 und 1). Dieser wird vom Kontrabass mit zwei tonlosen

Schlägen „ff“ beendet wird.

Bild 25: Formale Analyse Takt 1-3

Diese Satzkonstruktion ist ein Beispiel von oben genanntem Kadenzklang. Die zwei

Elemente woraus dieser Klang besteht bezeichnen einen Dualismus zwischen

kontrastierenden und gleichzeitig sich ergänzenden Elementen mit denen

Lachenmann einfache Satzstrukturen gestaltet. In dem Fall sind die Elemente die

Xylomarimba und der tonlose Klang. Um zu sehen wie Lachenmann so eine Struktur

organisch transformiert, analysieren wir die drei Sätze unter zwei Aspekten: Nach der

Gruppierung des Crescendos (1) und des Ausschwingvorgangs des Crescendos (2).

Jeder Crescendo-Satz wird von zwei Instrumenten ausgeführt: zuerst die beiden

Bratschen; dann kommt das Violoncello 2 und der Kontrabass; als letztes die beiden

Trompeten. Im ersten Satz sind die Bratschen absolut synchron; im zweiten und

dritten sind sie in der Zeit versetzt und die Dauer jedes Elementes ist unterschiedlich,

d.h. dass in den letzen zwei Mal eigentlich jeweils zwei Crescendi auftauchen . Diese

Aufteilung nutzt Lachenmann in Takt 2 um den Einsatz der Xylomarimba ebenfalls

zu versetzen, und somit einen Sub-Kadenzklang einzufügen (siehe Var. 2 im Bild 27).

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Im dritten Satz erfolgt die Versetzung des ersten Satzes mit dem Crescendo der

zweiten Trompete deren Dauer kürzer ist als die der ersten. Der Einsatzpunkt ist aber

genau wie beim ersten Satz rhythmisch synchron. Eine formale Zusammenfassung

dieser drei Sätze unter dem Aspekt Crescendi-Gruppierung wäre folgende: a-b-b

(Bild 26); fassen wir aber unter dem Aspekt Gruppierungs-Einsatzpunkt zusammen,

sieht der formale Plan schon anders aus: a-b-a. Der Ausschwingvorgang der drei

Sätze entspricht auch so einem dreiteiligen formalen Plan. Die beiden Bratschen

beenden ihren Crescendo mit einem Anschlag „f“ auf Takt 2 – wo sich das

Violoncello 1 ebenfalls „f“ anschließt. Dasselbe passiert mit der ersten Trompete am

Takt 4 „f“ – der Kontrabass übernimmt jetzt die Rolle des Violoncello im vorherigen

Satz mit „ff“. Der zweite Satz endet ohne einen neuen Anschlag, also nur mit dem

Crescendo. Diese Formulierung besonders unterstützend ist die Bemerkung

Lachenmanns in der Violoncello-Stimme in Takt 2-3.66 Sie weist darauf hin, dass die

Akzente auf dem Violoncello kein neuer Ton ist – kein Bogenwechsel – und

verdeutlicht somit den Unterschied zwischen neuem Ton und Akzente, also

Bogenwechsel und Nicht-Bogenwechsel bzw. zwischen Satz 1/3 und Satz 2,

verdeutlicht. Die drei Sätze sind somit mit mehrschichtigen polyphonischen

Strukturen gestaltet die stetig die Aufmerksamkeit des Zuhörers erfordern. Die

Möglichkeiten des Hörens vervielfältigen sich.

Nach diesem kleinen Exkurs über den Kadenzklang sollte es klarer geworden sein,

wie Lachenmann mit so einfachen Strukturen Komplexität schafft, die sich nicht auf

eine einzelne Ebene reduzieren lässt. Von dem höchsten Grad der Abstraktion – ein

Kadenzklang, ist nichts anderes als ein Zusammenspiel zweier Elemente – bis ins

Detail hinein spielt Lachenmann mit einer Vielfalt von Bedingungen die dazu

beitragen, eine subtile Transformation die äußerst aufmerksam auf alle mitwirkende

Elemente, Parameter und Bedingungen reagiert.

66 „Akzente durch plötzliche Verstärkung des Drucks (kein Bogen Wechsel)“

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Bild 26: Crescendostruktur Takt 1-3

Bild 27: Kadenzklang und zwei mögliche Variationen

2.3.4 Die Klangfamilie 2

Die zweite Klangfamilie nennt Lachenmann „Flöte 1&2“. Diese Familie, die nur zwei

Einsätze hat, entfaltet sich ausführlich zwischen den Takten 18 und Takt 25, und, wie

der Name schon andeutet, handelt es sich um Einsätze der Flöten, die paarweise

eintreten. Diese Einsätze sind in dem Fall eher da, um die Dauer dieser Familie

abzugrenzen als die Einsatzpunkte zu bestimmen. Jedenfalls sind zwei eindeutige

Einsätze in der Partitur in den Takten 18-19 und 23-25 zu sehen. In beiden Fällen

bleibt die Tonhöhenstruktur gehalten: eine chromatische Skala mit dem Umfang einer

großen Septime c-h, die sich zwischen Flöte 1 und 2 verteilt.

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Bild 28: Flöte 1&2 Tonhöhenstruktur – Klangfamilie 267

In einem Blatt der Skizzen, bezeichnet Lachenmann diese Familie auch als „PK

Kesselschläge“. Dies bedeutet, dass die Klangfamilie 2 nicht nur die Einsätze der

Flöten bezeichnet sondern auch der Pauke (Kesselschläge mit Trommelstöcken). Die

Analyse der Partitur zeigt jedoch, dass diese in mehreren Takten auftaucht und sich

nicht auf die Dauer der Klangfamilie 2 begrenzt. Bereits im Takt 4 erscheint die

Pauke das erste Mal mit einer abgeschlossenen und bestimmten Funktion, nämlich die

Elemente a’’ (Streicher) und a’ (Xylomarimba) zu verbinden. Die tonlose Pauke, die

wegen der rauhen Oberfläche der Pauke ein leises iteratives Granulat erzeugt, sorgt

für einen Übergang zwischen dem Klang der Xylomarimbas und dem Flautando,

bzw. zwischen dem starken iterativen Klang und dem nicht iterativen Klang. Auch im

Takt 36-40 vermittelt die Pauke zwischen den tonlosen Bewegungen der Streicher

legno und dem iterativ granulaten Klang der Blechbläser durch ein alternierendes

rhythmisches Zusammenspiel zwischen den beiden. Der Pauke wohnt somit eine

gewisses Linearität und Unabhängigkeit inne, die sie nicht so einfach zu einer

bestimmten Familie zuordnen lässt. Die Pauke passt sich den unterschiedlichen

Parametern ihrer Umgebung an, und übernimmt dementsprechend die Rolle eines

Vermittlers zwischen den unterschiedlichsten Elementen.

Dies trifft genau zu auf den Einsatz dieses Klangs in folgender besonderen Situation:

er entfaltet sich zwischen Takt 18 und 25 – die Dauer der Flöten stimmt also überein

mit der der Pauke – in denen sie einen punktierten Rhythmus spielt. Dieses neue

rhythmische Element mit der Proportion von 3:1 sorgt für eine prägnante Wirkung.

67 In Takt 18-19 und 23-25 spielen die Flöte und die Altflöte kurze Lufttöne staccato. Nach Angabenaus der Partitur sollte die Notation der Altflöte immer transponiert sein – was, im Endeffekt, eineandere Stuktur als die in Bild 28 darstellen würde. Die Aufnahme gibt keine Auskunft darüber, dennin den Takten 18-19 (53’’- 56’’) sind keine eindeutigen Töne der Flöten zu hören, sondern eineBewegung, die ungefähr die Gestalt der notierten Tonhöhen darstellt. In den Takten 23-25 spielen diebeiden Flöten Lufttöne, was eine eindeutige Tonhöhenwahrnehmung erlaubt. Deshalb, auch wenn

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Dazu zählt auch die Tatsache, dass die Einsätze der Pauke bis Takt 18, d.h. von Takt 4

bis 17 eine in sich abgeschlossene Form aufweisen – jeder Einsatz zieht einen 2.

Einsatz nach sich, dessen Bewegungsrichtung die Umkehrung des vorherigen erhält:

jeder der 3 Einsätze mit 3, 2 oder 1 Richtungswechselpunkt hat eine gespiegelte

Variante.

Bild 29: Gestaltstruktur des Elements e – Pauke (Schlg. II), Takte 4-17

Die Vereinigung dieser zwei Aspekte – die Abgeschlossenheit der früheren Einsätze

sowie die Einführung des neuen Rhythmus – tragen dazu bei, nicht die Pauke als

Bestandteil der Klangfamilie 2 zu berücksichtigen sondern den Rhythmus, welchen

sie hinzubringt. Der Einsatz des Rhythmus` ist also das neue Element, welcher mit

den Einsätzen der beiden Flöten gleichzeitig beginnt und endet.

Der Rhythmus der Pauke erscheint in diesem Zusammenhang anfangs als eine neue,

die anderen überlagernde Schicht – genau wie die Lufttöne der Flöten – ohne in einer

direkten Beziehung mit den anderen Elemente zu sein. Der punktierte Rhythmus,

welcher in Takt 11 von den Streichern vorbereitet wurde, verstreut sich ab dem Takt

23 zwischen den Flöten, den Xylomarimbas und der Pauke. Die ursprüngliche

Proportion 3:1 wird während der Takte 23-24 vergrößert zu 5:1, 7:1 und verkleinert

zu 2:1 bzw. 4:2. Im Takt 25 kehrt die erste Proportion 3:1 zurück und wird von den

tonlosen Klarinetten und der Pauke interpretiert, die zusammen diesen Teil

abschliessen. Im folgenden Takt taucht die Trompete 1 mit dem Pedalton g’’ auf, was

als ein auffälliger Solo-Einsatz wahrgenommen wird. Dieser Einsatz leitet die dritte

neue Klangfamilie ein. Der Klangfamilie 2 wohnt somit die Funktion, die

Klangfamilie 3 vorzubereiten, inne.

das Bild 28 unterschiedliche Eigenschaften der Tonhöhen darstellt, sind, meiner Meinung nach, diedargestellten Strukturen korrekt.

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Bild 30: Punktierter Rhythmus Takt 23-25

Die Rolle der beiden Xylomarimbas, die als Elemente der Klangfamilie 1 eingeordnet

wurden, ist hier auch entscheidend, um die verschiedenen Schichten zu verbinden und

zwischen ihnen zu vermitteln. Während sich die Klangfamilie 2 zwischen den Takten

18 und 25 entfaltet, läuft gleichzeitig die Klangfamilie 1 parallel mit

unterschiedlichen Elementen. Die Anpassung der Xylomarimbas an den Rhythmus

der Pauke und der Flöten sorgt für eine Verschmelzung der verschiedenen Schichten

beider Familien, also der Streicher – Klangfamilie 1 -, der Flöten und der Pauke –

Klangfamilie 2. Die Tonhöhenstruktur trägt auch dazu bei. Die große Septime h’-c’

die den Umfang des zweiten Einsatzes der Flöte festlegt (Takt 23-25), ist in der Linie

der ersten Xylomarimba enthalten – von h’’’ bis zum c’’. Die Tonhöhen, mit denen

die Flöten ihren Satz beginnen, sind auch in den beiden Xylomarimbas zu finden (h’-

h’’’ und es’-es’’’), wie auch der Anfangston des zweiten Subsatzes im Takt 24 cis’

der zweiten Flöte, der sich im des’’’’ der zweiten Xylomarimba wiederfindet.

Nicht zu vergessen ist die Aufstellung beider Xylomarimbas. Sie werden an die

äußersten Positionen des Raumes gesetzt. Die Xylomarimba 1 findet sich ganz an der

linken Seite und Xylomarimba 2 ganz an der rechten. Berücksichtigt man, dass die

Dichotomie der Schwarz-/Weißtasten bei den Xylomarimbas erhalten bleibt (d.h. die

Xylomarimba 1 spielt nur weiße Tasten und die Xylomarimba 2 nur schwarze, siehe

auch unten), so erkennt man, wie dadurch ein Tonhöhenfeld definiert wird, welches

eine direkte Verbindung zwischen Raum und Tonhöhe herstellt: zur Linken Diatonik

und zur Rechten Pentatonik. Diese Form des Dualismus-Prinzips ist somit auf die

Kompositionebene des Raumes übertragen worden und erzeugt aufgrund der

punktierten Rhythmen eine örtliche Bewegung. Was im ersten Takt schon angedeutet

und später durch die Synchronität der Einsätze neutralisiert wurde, wird hier zu einem

weiteren Parameter, mit dem Lachenmann komponiert: die Raumbewegung des

Klangs. Sie befindet sich im Einklang mit dem punktierten Rhythmus und ist in 2

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kleine Sätze mit je 6 Tonhöhen paarweise organisiert. Der erste Satz enthält das Paar

L-R (Links-Rechts) und der zweite dessen Umkehrung R-L (Bild 31).

Bild 31: Raumbewegung der Xylomarimbas – Takt 23-25

Bild 32: Taktaufteilung der Partitur und Zeitnetz

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2.3.5 Die Tonhöhensysteme

Wie bereits erwähnt wurde, können sich die Tonhöhensysteme in Lachenmanns Musik

nicht auf ein globales System reduzieren, von dem aus sich alles organisieren und

ableiten lässt. Das übergeordnete Prinzip bleibt mehr oder weniger konstant, er

verwendet aber in der Komposition und sogar nur in einzelnen Abschnitten

unterschiedliche Organisationsmethoden, die weit verzweigte Ursprünge haben.68

Die Analyse der Skizzen zeigt, dass Lachenmann einige Skalen als Ausgangspunkt für

Tonhöhenkonstellationen hat. Es handelt sich um Skalen, die bestimmte regelmässige

oder unregelmässige Folgen von Intervallen enthalten. In der ersten Gruppe enthält die

mit der Zahl II bezeichnete Skala eine konstante Folge von 1 bis 6 Halbtönen. Mit

Ausnahme der Diatonikskala sind die anderen mit den Zahlen I und III bezeichneten

Skalen solche, die auf einen zugrundeliegenden Prozess verweisen. Die Intervalle der

ersten Skala werden immer kleiner, was an ein harmonisches Spektrum erinnert, wobei

die Töne der Skala III deren Umkehrung mit sich vergrössernden Intervallen bilden

(Bild 33).

Bild 33: Transkription aus den Skizzen

Im Bezug auf diese Tonhöhenkonstellationen sollen die Beispiele aus der Partitur helfen

zu erkennen, inwiefern Lachenmann solch unterschiedliche Tonhöhensysteme benutzt

und er sie zu integrieren versucht. Mit diesem Kontext im Hintergrund ist der Anfang

des Stückes zu verstehen. Ein kurzer Blick auf die ersten vier Takte bringt bestimmte

Intervalle ans Licht: die Quinte in den Xylomarimbas, die kleine Terz und die grosse

68 Ich möchte an dieser Stelle auf den Aufsatz über Mouvement von Piencikowski aufmerksam machen.Er analysiert verschiedene polyphonische Techniken, die im dritten Teil des Stückes eine wichtigeRolle spielen, z.B. einen Canon in motu contrario.

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Mouvement ( - vor der Erstarrung) 53

Septime auf den Violoncelli. Ebenso wie in den Takten 27-31 spielt hier die Quinte eine

wichtige Rolle, einerseits aus struktureller Sicht wie auch als wahrgenommenes

Intervall. Die Quinte taucht simultan und sukzessiv als Intervall in der Stimme der

beiden Xylomarimbas auf. Die Tonhöhen der Xylomarimba 1 sind auf einer Folge von

fünf Quinten b-es-as-des-ges69 aufgebaut; mit der zweiten Xylomarimba geschieht

etwas Ähnliches: obwohl sie zum Teil die erste adaptiert, ist sie ebenfalls auf die

Quintfolgen d-g-c-f und h-e-(a) eingerichtet. An der ersten Quinte b-es der ersten

Xylomarimba schliesst sich eine kleine Terz tiefer die Quinte der Xylomarimba 2 an.

Die Violoncelli spielen am Anfang kleine Terzen in großen Septim-Abständen, deren

obere Stimme gis-f (Violoncello 2) die Quintstruktur der Xylomarimbas b-es-as(gis)

bzw. g-c-f erweitert. In Takt 2 und 3 wiederholt die Xylomarimba 1 ihre Quinte aber

sukzessiv anstatt simultan. Für jeden Ton dieser Wiederholungen (also zu dem b und

dem es) fügt die zweite Xylomarimba einen Einsatz hinzu, dessen höchster Ton eine

kleine Sekunde oberhalb vom b steht und eine kleine Sekunde unterhalb vom es, also

das h und das d. Zu dem h setzt Lachenmann noch das e hinzu und bildet somit eine

Quinte. Die Wiederholung vom ersten zum zweiten Einsatz gewinnt infolgedessen eine

größere Bedeutung: in der Xylomarimba 1 wiederholt er die genauen Tonhöhen und

setzt die Tonhöhe sukzessiv statt simultan ein; in der Xylomarimba 2 wiederholt er das

Intervall und transponiert die Tonhöhe. So entsteht die kleine Sekunde b-h, deren

logische Folge der dritte Einsatz ebenfalls mit einer kleinen Sekunde es-d ist.

Der vierte Einsatz der Xylomarimbas (Takt 4) holt die Töne des Violoncello gis-f (Takt

1) nach und setzt die Quintfolge fort mit dem des – Xylomarimba 1 (as-des) – bzw.

wiederholt den neu hinzugefügten Ton des zweiten Einsatzes e – Xylomarimba 2 (e-f).

Der fünfte Einsatz in Takt 5 – die Oktave ges auf der Xylomarimba 1 – erfüllt die

Funktion, die zwei Quintsequenzen der beiden Xylomarimbas miteinander zu verbinden

b-es-as-des-ges und fis-h-e-a.

69 Von oben nach unten

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Bild 34: Tonhöhensystem der ersten Takte

Bei der Tonhöhenstruktur der Xylomarimbas fällt noch ein interessantes Merkmal auf:

Die Töne der beiden Xylomarimbas lassen sich kurioserweise – zumindest bis Takt 48

fast ausnahmslos und sehr auffällig in den ersten Takten – in weiße und schwarze

Tasten einer Klaviatur aufteilen: die erste Xylomarimba spielt des-es-ges-as-b und die

zweite c-d-e-f-g-a-h. Die Überlappung von unterschiedlichen Skalen, in diesem Fall der

pentatonischen (schwarze Tasten) mit der diatonischen Skala (weiße Tasten) ist eine

bekannte Technik, die von Bartok verwendet wurde,70 deren Benutzung sich auch in

diesem konkreten Fall aufgrund des Instrumentenbaus und der idiomatischen

Möglichkeiten des Instruments erklären lässt.71

Die Benutzung der Diatonik begrenzt sich nicht auf diese einzelnen Ereignisse. Im Takt

35 nach den chromatischen Clustern des Elements b in den Takten 33-35 (siehe Bild

23) tauchen die beiden Flöten frulatto ppp mit einer großen Terz f’’-a’’ auf, die das g

der Trompete umgibt, um einen Cluster f-g-a zu bilden. Das b und das c der Bratschen

ergänzen die diatonische Struktur. Im Takt 51 spielen die beiden Celli mit einem

Crescendo bis ff den symmetrischen Akkord G-c -e -a, welcher aus der

Zusammensetzung zweier großer Sexten aufgebaut ist. Die kleinen Sexten der

Bratschen in Takt 59 konstruieren ebenfalls einen symmetrischen Akkord cis’’-es’’-a’’-

h’’, dieses Mal mit einem Crescendo und einem Decrescendo in jeder Bratsche. Diese

zwei Akkorde entsprechen den Einsätzen 1 und 4 der Klangfamilie 11.

70 Siehe z.B. Mikrokosmos für Klavier oder die Streichquartette von Bela Bartok71 Grundsätzlich ist es einfacher zwei Töne gleichzeitig nur auf einer Seite der Xylomarimba zu spielen,

bzw. auf der Seite der schwarzen oder der weißen Tasten.

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Zwei Einsätze aller drei Klarinetten in Takt 51 und Takt 53 zeigen die Verwendung von

Diatonik in der Form des Dur-Akkords. Zuerst gibt es einen Quartsextakkord auf as (es-

as-c’) und auf d (A-d-fis) dann einen Sextakkord auf e (Gis-e-h) und auf es (G-es-b). Im

Takt 73 ist eine Überlappung zweier Diatonikskalen zu sehen. Die zwei tiefsten

Klarinetten spielen Abschnitte der Diatoniksakla auf b; die Klarinette 1 spielt die

Quinte, die einen Halbton höher als b liegt – h-fis. In den Skizzen bezeichnet

Lachenmann diesen Abschnitt als „Formantenspektrum“.

Bild 35: Formantenspektrum Takt 73

Alle diese Beispiele, die aufgrund ihrer Vielfältigkeit schwer strukturierbar sind und

deshalb in einer etwas verworrenen Art und Weise genannt wurden, stehen für

Methoden, die Lachenmann für seine Tonhöhenstrukturierung verwendet. Wie am

Anfang dieses Kapitels erörtert wurde sind diese nicht auf ein allgemeines System zu

reduzieren, mit dem alles erklärt werden kann. Die Vielfalt an Fragmenten jeglicher

Herkunft, die Lachenmann benutzt, ist gleichzeitig die Verneinung eines einzigen

Systems, das als oberste Regelinstanz fungiert. Die Benutzung des einen oder anderen

Systems folgt einer Logik der Beobachtung, des Zuhörens, wonach alles, was zuvor in

der Partitur geschrieben worden ist, berücksichtigt wird, um sich diesbezüglich und

anhand der Palette der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten kompositorisch zu

entscheiden. Dies bedeutet aber keinesfalls, dass den Tonhöhen keine angemessene

Bedeutung zugewiesen wird. Ganz im Gegenteil: Sie sind wichtig, lassen sich aber nicht

auf eine Abstraktion reduzieren, sondern sie sind Bestandteil aller Elemente, die

sozusagen aktiv zuhören und durch eine Offenheit des Systems reagieren können.