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    40 8 Universitat und Studiumsie sich nicht zu Angestellten machen lassen sollen, wahrend alles zuihrer Eingliederung verschworen scheint. Aber wir konnen ihnendas Bild einer Existenz von Menschen geben, die von dem anderen,das abstrakt sich nicht benennen laBt, nicht ablassen, das Bild vonMenschen, die nicht immer gewitzigter werden, urn am Ende bloBzu verdurnmen. Kenntnisse allein gentigen dazu nicht , und auchnicht soziologische Diskussionen und Arbeitskreise, Aber wir kon-nen durchdie lebendige und unausdruckliche Differenz ausdriik-ken, daB die satanische Notwendigkeit, in die wir eingespannt sind,als N orwendigkei t doch auch ein Schein ist , ein von Menschen Ge-machtes, das von Menschen hinweggenommen werden kann,solange diese nicht selber sich als Anhangsel der Maschinerie bestim-men, die sie ins Schlepptau nimmt.Es ist bemerkt worden, daBmit dem Ubergang zur verwalteten Weltdie Sprichworter auBer Kraft gesetzt worden sind, und das tr ifftgewiB zu. Aber in den Sprichwortern.hat von je auch das ungebro-chene BewuBtsein derer sich niedergeschlagen, welche die Zecheder Weltgeschichte zu bezahlen hatten, ohne zu akzeptieren, sie seidas Weltgericht. Diesen solltenwir die Treue halten. Bangemachengilt nicht.

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    Begriff der Bildung(1952)

    Diejenigen unter Ihnen, welche heute ihr Studium beginnen, tungut daran, flir einen Augenblick dariiber nachzudenken, was sie vondiesem Studium sich erwarten. 1mVordergrund steht wohl zumeistder prakcische Zweck, sich die Vorkenntnisse fur bestimmte Berufeanzueignen, die akademischen und staatlichen Diplome zu erwer-ben, an deren Nachweis manche, ja allzu viele Laufbahnenheutegebunden sind. Zuweilen mag die Tradition der Farnilieeine Rollespielen, der Umstand, daB freie und gelehrte Berufe in ihr heimischsind, das .Vorbild oder der Wille des Vaters, der Druck der Verhalt-nisse. Zu solchen Momenten tritt jedoch eine Vorstellung, die man-che unter Ihnen vielleicht niche sehr deut lich zu bezeichnen ver-mochten, von der ich aber glaube, daf sie in verschiedenen Gradendes Bewufstseins allen jungen Studenten eigen ist , auch wenn dieHarte des Lebens sie davon abhal t, s ich ihr hinzugeben. Es ist derGedanke, daBdas Studium an der Universitat nicht b loB besserewirtschaftliche und gesellschaftliche Moglichkeiten erschlieflt ,nicht bloB eine Karriere verspricht, sondern zur reicheren Entfal-tung der menschlichen Anlagen, zu einer angemessenen Erfiillungder eigenen Bestimmung die Gelegenheit bietet. Der Begriff, dersogleichsich darbietet, wenn diese Vorstellung sich aussprechenwill, ist der der Bildung. Erwarten Sie nicht, daB ich ihn definiere;Es gibt Bereiche, indenen es vor allem auf saubere und eindeutigeDefini tionen ankommt, und die Rolle von Definit ionen in der Er-kenntnis soIl gewiB nicht unterschatzt werden. Wenn man aber demWesentlichen und Substantiellen nachgehen will, das in Begriffensich anmeldet, dann muG man versuchen, des ihnen einwohnendenLebens, ihrer Spannungen und Mehrdeutigkeiten inne zu werden,auf die Gefahr hin, daB man dabei auf Widerspriiche stoBt, ja, daBman sich selbst der Widerspriiche schuldig macht. Definitionenmogen widerspruchslos sein, die Wirklichkeit aber, in der wir lebenund die von den Begriffen getroffen werden soli, ist widerspruchs-

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    410 Universitat und Studiumvoll. Eine Weise der Erkenntnis, die davon nicht Zeugnis ablegte,liefle ihrem Gegenstand selbst keine Gerechtigkeit widerfahren.Man soll nicht aus dem Bediirfnis intellektueller Sicherheit, nur urnjakeinenFehler zu begehen, mit Ideen wie mit Spielmarken hantie-ren, sich auf das definitorische Verfahren festlegen. Seien Sie miB-trauisch gegen jenes iibertriebene intellektuelle Sauberkeitsbediirf-n is , das da bei jeder Diskussion vorweg verlangt, man miisse ersteinmal genau wissen, was mit einem Begriff gerneint sei, ehe manihn i iberhaupt verwenden konne. Der Prozef der Klarung und Be-stimmung der Begriffe ist nicht etwas, was der Erkenntnis voran-geht, die Begriffe sind nicht Instrumente, die man recht scharfschleifen muB; damit sie schneid en, sondern eben jener Prozef voll-zieht sich nur, indern Sie die Begriffe selber auf Gegenstande anwen-den und Akte der urteilenden, inhaltl ichen Erkenntnis selbst voll-ziehen.Das gilt auch fiir den Begriff der Bildung. Er ist dem des Geformtenverwandt . U ngebi ldet nennen wit gewehnl ich einen Menschen,wenn er uns als ungeschliffen erscheint, wenn erN atur darstellt , dienicht gesellschaftlich gestaltet, nicht gesellschafi:lich vermittelt ist.Nicht nur dasdeutsche Wort Bildung- weist auf Bilden, Formeneines Naturstoffes hin,sondern die meisten Ausdriicke in den ver-schiedensten Sprachen, welche die Sphare iiberhaupt bezeichnen; soheiBt das lateinische eruditio, der altiiberlieferte Ausdruck geradefiir die gelehrte Bildung, daB ein Mensch aus dem Zustand derRoheit herausgenommen sei; und das Wort Kultur selbst kommtvon co/ere, plegen, und bezieht sich urspriinglich auf den Ackerbaualseine regelmafsige und geordnete Praxis, der die blinde Produkti-vitat des Bodens unterworfen ist . Bildung ware demrtach die Urn-formung der ungeformten, primitivenNatur; der Mensch wirdHerr iiber das, was ihrn drauBen und drinnen alsbefremdl ich undbedrohlich erscheint. In der Bildung besteht Natur als solche fort,doch sie tragt die Ziige der Arbeit, der menschlichen Gemeinschaft,der Vernunft. J emehr eine Natur durch die Bediirfnisse der mensch-l ichen Gemeinschaft geformt war und sich zugle ich als Natur indieser Form erhielt, wie im Brot der Geschmack des Korns, dieTraube im Wein,der bloBe Trieb in der Liebe, der Bauer imBiirgerund Stadter, desto mehr scheint der Begriff der Bildung im ur-spriinglichen Sinn erfiillt.

    Begriff der BildungAn solcher iiberkommenen Bestimmung des Begriffs Bildung heutefestzuhalten, scheint uns aus vielen Griinden verwehrt, Ich weisenur auf einen einzigen hin: Die Anderung in der Beziehung vonGesellschaft und N atur, die in den letzten hundert Jahren sich voll-zogenhat. Die Lebensbereiche, die von der Gesellschaft unabhan-gig sind, das is t auch Ihnen bewufst, schrumpfen immer mehr zu-sammen. Es gibt nichts Unbetretenes mehr. Es sieht so aus, als warei iberhaupt kein Sti ickchen unerfafsrer Natur mehr iibrig, wederdrauflen noch drinnen, Symbolisch fiir das Drauflen scheint mir einBericht aus Innerafrika, daB die dart dank vieler Schongesetze nochnicht ganz ausgerotteten wilden Tiere eine Storung der Flughafenbildeten und die Sicherheit gefahrdeten. Wir brauchen aber nichtan Afrika zudenken. In Europa, von Amerika ganz zu schweigen,erhalt bald jedes Dorf geniigend Elektrizitat und Rundfunk, urn,seinen technischen Voraussetzungen nach, in Kiirze dem zu wider-sprechen, was die Neu-Romantik an Naturverbundenheit dort auf-zuspiiren behauptet.Symbolisch fiir das Drinnen ist die Tendenzdes GroBbetriebes, die menschlichen Beziehungen bis ins Kleinstezu regulieren. Nicht blofs werden Verkauferinnen im Lacheln aus-gebildet und der Betrie bsleiter in Menschenbehandlung, sondern eswird gang und gabe, das miihsam gelernte, wohl gardurch Psycho-therapie hewirkte, unverpflichtende, neutrale Wesen, das durch Be-kundung von Affekten sich keine Schwierigkeiten schafft .und mitden Spielregeln der Gesellschaft auf gutem FuBe steht, als das natiir-l iche anzusehen - und das natiirl iche in seiner Befangenheit als un-normal . In all dem kii rtdigt s ich ein Zustand an, in dem Natur vonder Gesellschaft nicht bloB aufgesogen, sondern zunichte gemacht,nichtgehegt, sondern negiert, nicht alsWertvolles gepflegt, sondenialsMaterial verwertet wird, Es ist gegeniiber dem friiheren Wesender Arbei t der durch die Tecbnisierung, den Industria li smus ge-setzteUnterschied.Der Prozef der Bildung ist inden der Verarbei-tung umgeschlagen. Die Verarbeitung - und darin liegt das Wesendes Unterschieds -laBt dem Gegenstand keine Zeit , die Zei t wirdreduziert . Zeit aber steht fiir Liebe; der Sache, der ich Zeit schenke,schenke ich Liebe; die Gewalt ist rasch. Man konnte alsovertreten,dem Begriff der Bildung ware im wortlichsten Sinn seine Substanzdadurch entzogenworden, daB es niches Ungebildetes, keine unbe-herrschte Naturimmenschlichen Bereich iiberhaupt mehr gibt, die

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    41 2 Universitat und Studiumzu bilden ware, und daB esvielleicht eher darauf ankommt, an diese,an das noch nicht ganz von menschlicher Planung und Selbstdiszi-plin Bewaltigte zu mahnen, als das Reich der Bildung auszudehnen,das ohnehin total zu werden scheint.Die Ausmerzung der Natur, ihre Vernichtung zu blofsem Material,f iihrt in die Krise der Bildung, von der so viel dieRede ist. Das al telate inische Sprichwort, auch wenn man die Natur mi t der Forkeaustr iebe, s ie kehre stets wieder - naturam expellas furca, tamenusque recurret -, gehort offenbar im Gegensatz zu dem, daB Hand-werk einen goldenen Boden habe, unddaf der Krug so lange zum .Brunnen gehe, bis er bricht, zu denjenigen, die noch nicht at il lerKurs gesetzt sind. Diemoderne Psychologie hat miegrofsem Nach-druck enrwickelt, daB die unterdriickte Natur, die zivilisatorischgewaltsam zuriickgedrangten Triebe nicht einfach verschwinden,sondern in andere Energien sich umsetzen, und zwar proportionalzum Anwachsen des Drucks gerade in zerstorerische, Diese bedro-hen den Bau selbst ..Wenn ich es paradox ausdriicken soil, so produ-ziert der industrielle Prozef zugleich auch ein neues und vielleichtungeahntes MaB an Barbarei. Dies gi lt sowohl fii r den einzelnenMenschen unserer Zeit, hinterdessen beherrschter, selbstsicherer,routinierter Haltung nicht selten die destruktive, hamische, .ver-zweifelte Geste bereit steht, als von der ganzen Gesellschaft. Auchin dieser ist die Unbi ldung keineswegs auf landl iche Bezirke be-schrankr, auf die der Begriff des Rohen urspriinglich von den mittel-alterlichen Stadtern gemunzt war. Die fortgeschrittenen Schichtensind nicht die am wenigsten anfalligen, Man wird Zweifel daran he-gen, 0b ein Bauer aus dem neunzehnten J ahrhundertwir klich sovielungebildeter war,als ein J t ingling es ist .der seine Freizeir- -sonennt man das heutzutage -damit verbringt, sichin einem Strand-bad systematisch braunbraten und dazu seinRadio dudeln zu las-sen. Wenn auch die scheinheilige Ansicht, daB gerade das Landlicheund Bodenstandige die Kuhur garant iere, e ine romantische undschlieiilich totalitare Palschung ist, so konnen wirdarum derHumanitat der Verkehrshauptstadte uns keineswegs fur versicherthalten. Die durch den eiligen Fortschritt sichverstockende N atur istallenthalben bereit,Wir miissen uns iiberhaupt hiiten, jenen Prozels der universalenVergesellschaftung, jenes Geformt- und ErfaBtwerden eines jeg-

    Begriff der Bildunglichen Einzelnen durch die Totalitat, allzu buchstablich und simpeluns vorzustellen. Gerade das Tempo, das die technische Entwick-lung und mit ihr die Durchorganisation der Gesellschaft wahrendder letzten Dezennien angenommen haben, bewirkte, daB immerweitere Sektoren des Lebens und der Menschen in diesen Prozefhineingerissen wurden, die ihrer eigenen geschichtlichen Entwick-lung nach niche reif dazu waren. Unendlich viel Krudes und Unge-formtes wird von der allgegenwartigen Formung diinn iiberspon-nen. Der Widerspruch zwischen diesem Ubersponnensein und demDarunterliegenden, im weiten MaBe Formlosen, hat seine verhang-nisvollen Aspekte: die alten traditionalistischen Bildungselementewerden aufgelost, ohne.dafs der neue Zustand des Geistes bereits amBewuBtseinsstand der Subjekte seine Stiitze hatte, und so wachsttatsachlich heran, was Spengler den modernen Hohlenmenschennannte. Wenn wir heute von der Problemat ik der Bi ldung, ihremUmschlag ins Gegenteil, sprechen, diirfen wir dabei nicht denRiickstand des Ungebildeten, Nichtmitgekommenen, irn buchstab-lichen Sinn Rohen vergessen, der von der jiingsten Phase der Zivili-sation mitgeschleppt, jedoch keineswegs der eigenen Substanz nachdurchdrungen ist, Die geistige Urteilsfahigkeit der Bevolkerung,die in so schreiendem MiBverhaltnis zum hohen Stand der Wissen-schaften und der Technologie sich befindet, die Versuchung zumBetrug , den dieser intel lek tuelle Zustand der Massen standig fii rskrupellose Machtige bedeutet, sind gerade den industriell fortge-schrittenen Volkern gemeinsam, und die jiingste Geschichte kenntdie Folgen, die in der zugleich totalen und oberfli ichlichen Verge-sellschaftung des modern en Lebens angelegt sind. LassenSie unshoffen, daB Ihre Generation nicht noch weitere und neue zu tragenhat, daB sie die Kraft - und vor al lem die Zeit - f inder, Einsicht zugewinnen in das Wesen des anscheinenden Verhangnisses, undschlieBlich die Macht, es abzuwenden, ehe sie in es hineingezogenwird. Das ist die Bildungsaufgabe, zu der wir gegenwanig, an deut-schen Universitaten, aufgerufen sind.Aber nun will ich endlich den Einwand nennen, der Ihnen gewiB aufden Lippen liegt. Sie werden sagen, ich harte den Unterschied vonechter und unechter Bildung, von Geist und Ratio, von Kultur undZivilisation iibersprungen, Kultur sei jener zuerst erwahnte Begriffder Bildung, die in bioBer Gewalt iiber die unterjochte Natur sich

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    414 Universitat und 5tudiurnnicht erschopfe, sondern sie zugleich versohnlich am Leben erhalte.Die moderne Erfassung der Natur durch die Gesellschaft dagegen,und die aus ihr sich ergebenden gesellschaftlichen Beziehungen zwi-schen den Menschen, sei blciie Zivilisation, Sie werden geneigt sein,Perioden echter und uneehter Bildung dogmatisch zu unterscheidenund bestimmte geschichtliche Zustande alsMuster fiir die guten undandere als solche fur die schlechten heranzuziehen, wahrend doch inden gepriesenen Epochen die Mehrheit der Mensehen sich indump-fer und unfreier Arbeit verzehrte. Sie werden mit dem traditione1-len, ideal is tischen Bildungsbegriff Bi ldung dort sehen, wo einMensch sich selbst gewissermaBen wie ein Kunstwerk zu gestaltensucht, sich sozusagenselbst zum Objekt der eigenen Formungwird, und nicht, wo er seine Kraft an die Formung der Weltwendetund in den iiliBeren gesellschaftlichen Prozef eingreift, Siekonnten,wie zuletzt noch die George-Schule, asthet ische Gesta ltung fii rKultur halten und die Wirksamkeit in der Welt fiir unedle Zivilisa-tion, Ich mochte Sie davor warnen - und eben diese Warnun'g istvielleicht ein Stiick Bildung -, mit soIchen Gegensatzen allzu raschzu hantieren; das eindringende Verstandnis der sich ungleichartigentfaltenden Momente geschichtlicher Strukturen laBt sich durchkeine schematische Klassifikation ersetzen, Es wird gerade zur Bil-dung gehoren, die Sie an der Universi ta tgewinnen, daB Sie sichsolcher handlicher Antithesen entschlagen und nicht so denken, alswaren die wichtigsten Dinge zwischen verni inftigen Menschenohnehin Iangst abgemacht, Werden Sievielmehr milltrauisch, wenneiner die Phanomene in Schafe und Boeke einteilen will, Es konntein unserem Fall so sein, daB eben das, was man der angeblich bosenZivilisation vorwirft, in der scheinbar so guten Kultur unserer Vaterschon enthalten war und sieh notwendig aus ihr entfaltete. Die soge-nannte Bildung der Personlichkeit, die Verinnerlichung, die Riick-wendung des gestaltenden Willens auf sich selbst, so viel Positivessie auch gewirkt haben mogen, trugen doch zweifellos zur Ver-hartung der einzelnen Menschen, zum Hochmut , zum Privi leg-bewufstsein und der Verdiisterung der Welt bei, Indem unter demTitel der Bildung der gestaltende Wille, und das heiiledie Liebe, vonder Realitat auf das seiner eigenenFormung lebende Individuum sichzuriickwandte, kiindigte die Barbarisierung der Mensehheit bereitsim neunzehnten Jahrhundert s ich an . Es konnte =weiter - in unse-

    Begriff der Bildungrem Fall so sein, daB eine der geistigen Ursachen der Bildungskrisegerade im Festhalten des aufs vereinzelte Ieh bezogenen Bildungs-begriffs gelegen ist, in der Vergotzung des sich selbst geniigendenIchs, die vielleicht ein notwendiges historisches Durchgangssta-dium, jedoch ganz und gar keine ewige Norm war. Wenn aber einsolcher innerer Zusammenhang zwischen dem traditionellen Kul-turbegriff und der Zivilisation besteht, ware die Aufgabe, iiber denalten Bildungsbegriff, der sich gegen die Hingabe ans Zivilisatori-sche, Gesellschaftliche, blof absetzt, hinauszugehen.In der Geschichte des deutschen Geistes ist dies selber angelegt .Wenn Herder, Schiller, Humboldt und Schleiermacher auf der ihrerPeriode angemessenen Verinnerliehung insistierten, hat dasrealisti-sche Ingenium VOnHegel und Goethe tiefer gesehen als die indivi-dual is tischen Denker, deren Kul t des Individuums auf das En.desubstantieller Bildung und eben damit auf die Abschaffung des Indi-viduums hinauslauft, J ene beidenhaben gewufit , dafs.der Weg derBildung einer der Entaufjerung ist: man konnte auch schlicht sagen:einer der Erfahrung. Gebi ldet wird man nicht durch das, was manaus sich selbst macht, sondern einzig in der Hingabe an die Sache,in der intellektuellen Arbeit sowohl wie in der ihrer selbst bewufitenPraxis. Nicht anders als in dem Eingehen in sachlicheArbeit vermagdas Individuum iiber die Zufalligkeit seiner bloBenExistenz hinaus-zukommen, an der der al te Bildungsglaube haftet und in der ohnejene Entaulierung blofs das beschrankte eigene Interesse und damitdas schlechte Allgemeine sich durchsetzt. Steht die Erfahrung VOnKunst nicht im Zusammenhang mit e inern Leben, das in der Wel tund von der Welt erwas will, so bleibt sie leer und blind, und machteder Konsument im Auto alle i ta lienischen Stadte mit Museen undDomen ab, sei erin den Konzertsalen der Welt zuHauseund besitzedie Platten aIler Symphonieorchester. Mit dem Aneignen ist esnichtgetan.Wer nicht aus sich herausgehen,sieh an ein Anderes, Objek-tives ganz und gar verlieren und arbeitend doch darin sich erhaltenkann, i st nicht gebildet , und der sogenannte Gebi ldete , der dazuunfahig ist, wird stets Male einer Beschranktheir und Befangenheitaufweisen, die seinen eigenen Anspruch auf BiIdung Liigen strafen.Das Andere, Objektive aber ist heute nicht blof das Besondere, wasIhnen in Ihrem Beruf als ein abgetrennter Sektor des gesellschaft-lichen Lebens begegnet, Ihr spezifisches Arbeitsgebiet, das, was zu

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    41 6 Universitat und StudiumIhrem personl ichen Fortkornmen gehort, sondern ebenso und inerster Linie das, ohne was die Entfal tung des einzelnen gar nichtmoglich ist; ich meine die verniinftige und menschliche Einrich-tung, die Verbesserung und Durchbildung des gesellschaftlichenGanzen. Wenn Nietzsche meint, daB das Wachsen der Dummheitund der Schurkerei zum Fortschritt gehore, so wuflte er doch auch,dafi man in einer dummen Welt nicht weise und in einer schlechtennicht gut sein kann.Bildung ist so sehr Bi ldung des aufieren Gan-zen, wie gerade damit Bildung seiner selbst. Niemand ist gebildet,der nicht in Hingabe an seine eigene Sache ihren Zusammenhang mitdem Ganzen erkennt und der nicht dieselbe Freiheit von Schlagwor-tern, Klischees und Vorurteilen, die man im akademischen Beruf inseiner Wissenschaft sich erwerben soli, gegen denZeitgeist auch inoffentlichen Dingen tatiganwendet.Die Auskunft, daB Indust ria li smus und Massengesel lschaft unszwar zum Bewufitsein der Problematik des iiberkommenen Bil-dungsbegriffs, aber dochnicht zu seiner Freigabe zwingen, war eineReflexion auf Ihre Vorstellung von dem, was von der Universitat Sieerhoffen durfen. Wir sind zur Einsicht gelangt, daf zur Verwirk-lichung der individuellen Bildung die im Studium zu erwerbendeinnere Freihei t, der Mut und die unbei rrbare Hingabe ans Ganzemithinzugehoren. Wenn solche Auskunft, so niichtern und schlichtsie gemeint is t, doch wie eine hochgespannte Forderung kl ingenmag, so mochte ich jetzt einen Zug an Ihrer Erwartung bezeichnen,durch den sie einer unmittelbaren Erfiillung fahig ist . An derUni-versitat studieren Sie nicht nur, sondern indem Sie mit den anderenStudenten wie mit Ihren Lehrern zusarnmenkornrnen, finden Siesich in einer Gemeinschaft, die ja schon auf Bildung und darnit aufWahrheit, Freiheit, Hurnanitat bezogen ist, Sie begegnen einemKreis, dem es auf Dinge ankommt, die durch gemeinsarnen Besitznicht vermindert, sondern eher gesteigert werden, auf wesentlicheDinge, von denen nicht nur Ihr eigenes, sondern das Dasein derGesamtheit abhangt, Dies aber ist eine hochst menschenwiirdigeBeziehung, und die wie immer unklare Vorstellung solcher Gemein-schaft ist , wie ich meine, in dem Bild inbegriffen, das Sie von Ihrerkiinftigen Universitatszeit hierher mitbringen. - Zu dieser Erwar-tung lassen Sie mich noch ein Wort sagen.Es gibt eine moderne Denkweise, die annimm t, daB ein Mensch nur

    Begriff der Bildungdann verniinftig handelt , wenn sein eigenes oder fremdes Wohl dieletzte Absicht sei. Die Menschen gelten dabei immer als das letzteZiel, jede andere Zwecksetzung als Aberglaube; sinnlos sei es, wennman sich Sachen hingabe, ansta tt s ie bloB als Mit te l fur d ie Men-schen anzusehen. Aber diese menschenfreundliche PhilosophieweiB nichts davon, daB die Menschen zu leeren Hii lsen werden,wenn sie nicht verrnogen, in der Sache aufzugehen. Sojedoch alleinerhalten sie Inhalt und Substanz und gewinnen sich als Menschenzuriick, DaB den Menschen alles in der Welt aufser dem Menschenzum bloisen Instrument wird, tragt mit dazu bei, daBschliefilich-im Widerspruch zur guten Absicht - die Welt blofi verwaltet , dieHumanitat zur Phrase wird. Jede echte menschliche Beziehung istvermittelt, sie grundet in einer gemeinsamen Bekiimmerung urn einAnderes, sei es das summum bonum, Gerechtigkeit oder irgendeinschlichtes Werk. Erstein soIches Interesse gibt der Beziehung Be-stand. Die Universitat aber ist ein Ort, wosolche Beziehungen sichanspinnen und damit auch die jugendlichen Bindungenund Freund-schaften entstehen, die im Kleinen das Wesen der.Gesellschaft vor-wegnehmen, wie sieeinmal im Grofsen als die richtige GeseUschaftsich gestalten soll. Ich gIaube, daB der Wunsch nach solchen echten,wenn Sie wollen utopischen Bindungen, der zutiefst mit dem nachwahrer Bildung zusammenhangt, zu der Vorstellunggehort, die Siehierher mitbringen, und ich hoffe aus ganzem Herzen, daB ersichfur Sie erftillen wird,Ebenso jedoch wie ich Siedavor warn enrnuilte, Ihren Anspruch aufBildung durch einen antiquierten, der Zivilisation sichblof entge-gensetzenden Kulturbegriff abkaufen zu lassen, so wiirde ich urnIhretwillen es bedauern, wenn Sie anstatt die ernste menschlicheBeziehung aus der wissenschaftlichen, asthetischen oder sonstigenSache entstehen zu lassen, das Verhaltnis umkehr ten und die Bezie-hung zum Selbstzweck machten. Richtige Freundschaft gehort zuden Dingen, die sich schwer organisieren lassen, fast so schwer wieBriiderlichkeit. Wenn Sie sie suchen, laufen Sie Gefahr,\dafi sie vorIhnen flieht, Sie ergibt sich aus einer Not, aus einem gemeinsamenkonkreten Anliegen in der Welt, aus dem Widerstand gegen dasSchlechte, einem groBenpolitischen oder religiosen Glauben, nichtaus dem Glauben an die gute menschliche Beziehung als Selbst-zweck, denn dieser Glaube ist leer und abstrakt. Er wird, urn den

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    41 8 U n i ve r si ta z u n d S t ud iu mtreffenden Bryschen Ausdruck Yo . zu gebrauchen, zur verkapptenReligion, die die Liebe zur Wahrheit ausloscht. Das soll Siewahrlichnicht abhalten,die Gruppen und Vereinigungen, die sich an unsererUniversi ta t gebi ldet haben, al te und neue, und welche Ihnen denWegzu Studenten und Studentinnen in ahnlicher Lage bahnen, auf-merksam zu prii fen und, wenn Sie es fur richt ig halten, der e inenoder anderen beizutreten, Aher wir wiinschen uns, daB Sie diewahre Ordnung Ihrer Interessen nicht verkehren, daB Siedie Sache,urn deretwillen Sie hier sind, namlich die Wahrheit, nicht anderenPflichten gegeniiber zuriickstellen. Wir wiinschen vor aHem, daBSie den kompromifslosen Willen zur Mitarbeit an einer besserenEinrichtung der Welt nicht durch die verkehrte Loyal itat zu einerunwahr gewordenen Ideologie sich schmalern lassen. J eder IhrerSchritte a ls Studenten, und zumal als Studenten der FrankfurterUniversitat, die ihr Entstehen und Fortbestehen sowohl dem Staateund damit allen Schichten der Bevolkerung.wie besonders auch demaufgeschlossenen Geist derfreien Burger dieser Stadt verdankt,jeder Ihrer Schritte, die gesehen werden, schlieBt eine Bedeutungund Verantwortung ein, die sich annoch so ehrwiirdigen und kiinst-lich erneuerten Brauchen und Auffassungen einzelner Bunde nichtmessen lassen, sondern einzig am eigenen entfalteten Denken undGewissen. Dies ist von meinem Vorganger von dieser Stelle aus beider feierlichen Immatrikulation stets ins Bewuiltsein gerufen wor-den , und ich wiederhole es heute in dem Glauhen, daBmehr als jedie Zukunft einer freien Welt darauf gestellt ist, daB unter deutschenStudenten geniigend Manner=-und Frauen - mit Zivilcourage undWiderstandskraft , mit innerer Unabhangigkeit erstehen, die nichtwie die manipulierten Massen iiberall auf brausende Worte undFiihrerrufe reagieren, sondern - in der WeIt des Gegengeistes - gei-stige Menschen sind.Wenn wir als Lehrer dazu beitragen konnen,Sie so zu bilden, dann haben wir die spezifische Aufgabe der Uni-versitat erfiillt,Zu den Beziehungen, die an der Universitat aufgrund verniinftigerInteressen sich ergeben konnen, gehoren vor allem jene, die Sie imZuge Ihrer Mitwirkung an der studentischen Selbstverwal tungankniipfen. Es ist mir wohl verstandlich, daB der AStA und das Stu-[* Carl Christian Bry, Autor des Buches Verkapp te Re l igionen (1.Aufl. 1924).]

    B e g r if f d e r B i ld u ng 419dentenparlament, die Fachschaften und die Vollversammlungen fUrviele unter Ihnen zunachst keine Verlockung bilden, Geben Sie die-ser Abneigung nicht nacho An den meistenoffentlichen Dbeln derneuen Geschichte war wenigstens ebenso sehr wie die Aktivitat derBosen die Inaktivitat der Besseren schuld. Ich bitte Sie im Namendes Senats urn Ihre Mitarbei t an diesen Dingen. Sie werden durchdie alltaglichen Fragen, denen Sie dort tatig begegnen miissen, ineinem entscheidenden Sinn t iefer furs Al lgemeine gebildet a ls inmanchen anderen Sektoren des studentischen Lebens, Dies gilt be-sonders dann, wenn Sie sich durch die Routine der Verwaltung Ihreeigenen Ziele nicht nehmen lassen und lernen, sich als junge Men-schen durchzusetzen.