3/2015 Tonkunst - Iris Winkler: Napoleons Traumrollen, Rezension von Roland Dippel

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Iris WinklerNapoleons Traumrollen.Alexander und Trajan im Werk des Komponisten Giovanni Simone MayrMusik und Kulturpolitik im napoleonischen Venedig und Mailand (= Mayr-Studien 7)München, Salzburg: Musikverlag Katzbichler 2014; 208 S.; ISBN 9783873971868Roland H. DippelDIE TONKUNST, Juli 2015, Nr. 3, Jg. 9 (2015), ISSN: 1863-3536S. 380f

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in seinen Werken wider: in der 1807 entstandenen 31. Sonate f-Moll op. 21 macht sich beispielsweise ein neues, leidenschaftliches Pathos breit, das überdies in einer bewussteren Ausnutzung der Lagen und Klangregister, sowie einem Auskosten von verminderten Septakkorden und der Domi-nantnone gipfelt.« – Lomnitzer (S. 29): »Die 1813 entstandene Sonate Op. 37, bemerkenswert vor allem wegen ihrer ungewöhnlichen Anlage, sucht in ihrem ersten Satz, einem überaus breiten Scherzo […], den brillanten Stil von Op. 26 und Op. 40 mit dem leidenschaftlichen Pathos der Mollsonaten zu verbinden.« / Pfefferkorn (S. V): »Die […] 1813 entstandene Sonate Nr. 39 f-Moll (op. 37) ragt be-sonders wegen ihrer eigentümlichen, zweisätzigen Anlage heraus und verbindet schon im ersten Satz, einem überaus breiten Scherzo, den brillanten Stil von op. 26 und op. 40 mit dem leidenschaftlichen Pathos der großen Mollsonaten.«

Gleich zu Beginn des Abschnitts wird, ob aus Gedanken- oder Skrupellosigkeit, sogar eine Bemerkung Lomnitzers zum Forschungsstand des Jahres 1961 (!) unverändert übernommen: Lomnitzer (S. 26): »Das gesamte Klaviersona-tenwerk Schneiders – trotz zahlreicher Spezial-untersuchungen über die Klaviermusik der Zeit

bislang von der Forschung völlig unbeachtet geblieben – entstand in dem kurzen Zeitraum zwischen 1802 und 1814, fand also bereits seinen Abschluß, bevor Beethoven seine späten Sonaten geschrieben hatte.« / Pfefferkorn (S. IV): »Friedrich Schneiders umfangreiches Schaffen für das Klavier blieb – trotz vielfältiger Spezialuntersuchungen auf diesem Gebiet – bisher von der Forschung völlig unbeachtet […]. Sein gesamtes Sonatenschaffen entstand […] in dem kurzen Zeitraum von 1802 bis 1814 und fand somit seinen Abschluss, noch bevor Beethoven seine späten Sonaten überhaupt geschrieben hatte.« Der arglose Leser könnte hier den Eindruck bekommen, Pfefferkorn und nicht Lomnitzer käme das Forschungsprimat zu. Der offenkundige Widerspruch, die Übersichtstabelle der Sonaten Schneiders (S. V) dann trotzdem »nach Lomnitzer« anzugeben (aus dessen systematischem Kompositionsverzeichnis, S. 351), fällt dem Autor des Vorworts leider nicht auf. Dem Verleger und Herausgeber wird dringend geraten, die geplante Edition der Klaviersonaten Schneiders durch ein von Grund auf neues Vorwort auf eine solide und redliche wissenschaftliche Grundlage zu stellen, um nicht seine Reputation für dieses an sich sehr verdienstvolle Projekt aufs Spiel zu setzen. 7

1992 war noch im Programmheft zu einem Konzert des Orchesters Zwickaus mit Simon

Mayrs Te Deum in Ingolstadt zu lesen von der Ur-aufführung anlässlich der Krönung Napoleons zum König Italiens 1805 im Mailänder Dom und von dessen hoher Wertschätzung für den bayerischen Komponisten, der sich in Italien Giovanni Simone nannte. Iris Winkler ging nach umfangreichen Recherchen in Bergamo und Venedig der Frage nach, wessen Te Deum am 26. Mai 1805 tatsäch-lich erklang. In Dokumenten zu Inszenierung und Ablauf der Zeremonie, den Personal- und

Iris Winkler

Napoleons Traumrollen.Alexander und Trajan im Werk des Komponisten Giovanni Simone Mayr Musik und Kulturpolitik im napoleonischen Venedig und Mailand (= Mayr-Studien 7)

München, Salzburg: Musikverlag Katzbichler 2014; 208 S.; ISBN 9783873971868

Roland H. Dippel

Honorar-Notizen ist der Name des Komponisten nirgends genannt, erhalten ist im Konservatorium Mailand allerdings das Autograph einer Partitur von Francesco Pollini.

Die Annäherung an dieses Renommierereignis zeigt, wie umfassend sich im letzten Vierteljahrhun-dert die Beschäftigung mit Mayr verdichtete. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Simon-Mayr-Gesellschaft und deren internationalen Forschungs-initiativen ist die Autorin unmittelbar beteiligt an der Wiederentdeckung von dessen Schaffen. In In-golstadt beflügeln seit Jahren Wiederaufführungen

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vor allem von Oratorien und Kantaten die Mayr-Renaissance (dokumentiert in Einspielungen bei den Labels Guild, Naxos und Oehms).

Winkler stellte die Ergebnisse ihrer Recherchen in übergeordnete politische und kommunikative Diskurse. Diese Materialien zeigen sozialgeschicht-liche Aspekte zur musikalischen Praxis in den Opernhäusern und repräsentativen Aufführungs-stätten sowie weiteren öffentlichen und privaten Räumen auf. Bemerkenswert dafür sind Winklers Studien zu Mayrs sicher am meisten bekannten Stück, dem Gondoliere-Lied »La biondina in gon-doleta« (Iris Winkler: Giovanni Simone Mayr in Ve-nedig; Salzburg 2003). Sie nähert sich ihrem Thema ausgehend von der Bedingtheit des musikalischen Lebens in Oberitalien durch die fundamentalen Umbrüche: Giovanni Simone Mayr erlebte das Ende der Republik Venedig 1797, dann die unmit-telbare Beeinflussung von Musikleben, -inhalten und -ästhetik durch die Politik Napoleons auch in Mailand, wo viele seiner Opern teils in hauseige-nen Bearbeitungen gegeben wurden. In der Wahl seiner Sujets wurde der Komponist, Lehrer und Theoretiker entscheidend durch die nachfeudale Erweiterung des Klang- und Ausdrucksspektrums beeinflusst und gab dieser Impulse.

Nach plausiblen Spuren von Napoleons politischem und persönlichem Musikverständnis zeigt Winkler unmittelbare und versteckte Bezüge musikalischer Werke zum Zeitgeschehen. Die in repräsentativen Werken auffallende Tendenz zu durch Männerstimmen dominierten, syllabischen Klanggesten mit militärischem Appellcharakter der Instrumentation sei zukunftweisend bis zu in Risorgimento-Opern als nationalistische Proklamationen für ein vereintes Italien. Dabei unterscheidet Winkler zwischen den Großformen Oper und Oratorium – das Ospedale San Lazzaro dei Mendicanti, für das Mayr nach Ferdinando Bertoni mehrere Oratorien komponierte, war ein Zentrum der Musik in Venedig. Wirkungsvoller für die Präsenz der Person Napoleons und seiner politischen Aktionen waren Huldigungsmusiken wie auch die Adaption des Revolutionstanzes Car-magnole als Carmagnola. In Unterscheidung zwischen »Werk« und dem jeweiligen »Ereignis«, das Anlass für Entstehungsanlass oder Wiederaufführung ist,

stellt Winkler Beispiele aus Venedig um 1800 vor und vergleicht musikalische Huldigungsprogramme der vornapoleonischen Zeit mit für dessen Reprä-sentation entstandenen Werken. Eine spezifische Typologie findet sie darin allerdings nicht, da Kom-ponisten und Textdichter in Ermangelung einer spezifischen Klangsprache für die neuen Lebens-realitäten die alten Huldigungsmuster aufgriffen.

Als Beispiel für den dynamischen Wandel eines Genres mit spezifischen Gegenwartsbezügen ist Giovanni Simone Mayrs am 24. September 1797 im Teatro San Moisè uraufgeführte Farsa Il segreto (Das Geheimnis) auf ein Libretto von Giuseppe Maria Foppa nach Carlo Goldoni. In das erste Finale nahm Mayr die Melodie der Carmagnola auf und vertonte damit die Verse: »E poi ballando la carmagnola […] la nuova sposa ti burlerà.« (»Beim Tanz der Carmagnola […] wird die neue Braut dich auslachen«, S. 100). Dabei ist dieses Zitat mehr als doppelbödig, weil Napoleon den Appellcharakter der Melodie offenbar zuerst duldete, 1799 jedoch dieses Lied verbieten ließ. In den 22 Vorstel-lungen von Il segreto wurde eine musik-textliche Anspielung, dass Napoleon in der Lagunenstadt wenig Gegenliebe erfahren würde, zum Ereignis. An anderer Stelle führt Winkler Beispiele für die Aktualisierung in Vertonungen des Sujets vom Tod Cäsars (Drama per musica von Francesco Bi-anchi, Fatto istorico als mehrsätziges Orchesterwerk von Francesco Moro) auf.

Winkler stellt neben den originär italienischen Genres des Musiktheaters (Farsa) die Tendenz zur Adaption französischer Stoffe und musiktheatraler Gestaltungsmuster vor (wie sie nach 1810 program-matisch am Teatro San Carlo in Neapel praktiziert wurden). Zu den Opern Mayrs mit bereits von Luigi Cherubini vertonten Sujets gehört dessen zweite Oper Lodoiska für das Teatro La Fenice (Venedig 1796) mit einer eigenen Fassung für das Teatro alla Scala (Mailand 1799). Dass Napoleon beim Besuch einer Vorstellung dieser Oper das wie üblich zwischen den Akten angesetzte Ballett erst nach deren Ende aufzuführen anordnete, beschrieb der Mayr-Biograph Girolamo Calvi (Bergamo 2000). Der vermutete Grund ist, dass der Herrscher auch in kulturellen Manifestationen Stringenz und Kohärenz schätzte.

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VERLAGS-NEUHEITEN

Winkler zeichnet in ihrer Studie einen signifi-kanten Ausschnitt des Musiklebens in Italien unter Napoleon in prägnant gewählten Einzelbeispielen. Ihr gelingt, gerade weil sie oftmals vieldeutig-vage bestehende Genre-Definitionen – z. B. der »Ret-tungs- und Schreckensoper« – bewusst negiert, der objektive Blick auf einen Teil der erhaltenen Spuren und ein Erspüren der Unsicherheit jener Künstler-Generation, die mit ihrer Ausbildung für feudale Kulturinstanzen auf revolutionäre und

napoleonische Veränderungen nach 1790 nur unsicher agieren konnte. Erst nach dem beschrie-benen Zeitraum (1797–1807) manifestierten sich regionalspezifisch für das 19. Jahrhundert rich-tungsweisende Klangphänomene und Textstruk-turen. Offensichtlich wird in Winklers Arbeit die Dynamik zwischen Entstehung und Ereignissen in politischen Kontexten. Dabei steht ein weiteres Mal Giovanni Simone Mayr für Werke des Über-gangs für eine Gesellschaft im Übergang. 7

Silke Leopold gibt ein neues Lexikon über das Gesamtkunstwerk Oper heraus. Im Lexikon Oper (ISBN 9783476023940) finden sich neben Artikeln zu Text und Musik, Sujet und Dramaturgie, Partitur und Auf-führung, Bühne und Publikum, Produktion und Rezeption auch Einträge zu den Stoffen und Traditionen der verschiedenen Libretti . Das umfangreiche Nachschlagewerk würdigt Opernkomponisten von Jacopo Peri und Claudio Monteverdi bis hin zu Adriana Hölszky und Salvatore Sciarrino. Es beschreibt die Orte, an denen weltweit Oper gespielt wird. Neben Studien zu wesentlichen Komponisten widmet sich das Lexikon jedoch auch ausführlich denjenigen, ohne die das Ereignis Oper nicht zustande käme – den Impresari und Intendanten, Regisseuren, Bühnenbildnern und, nicht zuletzt, den Sängern. Weitere Informationen unter www.metzlerverlag.de.

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Opern-Lexikon

Friedrich Cerha gilt als der bedeutendste zeit-genössische Komponist Österreichs. Der Band Mechanismen der Macht: Friedrich Cerha und sein musikdramatisches Werk (ISBN 9783706551960), herausgegeben von Gerhard Gensch und Matthias Henke, beschäftigt sich mit der Sonderstellung seiner musikdramatischen Werke. Mit dem Motto »Unangepasst« führt Lothar Knessl in das Büh-nenschaffen des Komponisten ein. Einzelstudien

Mechanismen der Macht

Rätsel und Legenden ranken sich um Mozarts berühmtes Requiem KV 626. Die Umstände des Auftrags, der tiefe Ausdruck der musikalischen Sprache, die Trauer über den Tod des großen Komponisten, der das Werk nicht vollenden

Mozarts Requiem im Faksimile

konnte, bilden ein Geflecht aus Wahrheit und Legende. Das zweiteilige Manuskript spiegelt die dramatische Geschichte des Requiems wider, löst

Rätsel und stellt neue: Neben den Fragmenten von Mozarts Handschrift sind die ergänzenden Eintragungen und Ver-vollständigungen von

Franz Xaver Süßmayr und anderen sichtbar. Das Faksimile (ISBN 9783761823460), herausgegeben von Günter Brosche, präsentiert die Wiedergabe der Seiten mit dem originalen Beschnitt und vermittelt so über den Mythos hinaus auch einen körperlichen Eindruck des Originals. Neben der detaillierten Beschreibung des Manuskripts enthält der Band auch ein Vorwort von Christoph Wolff, der die Entstehungsgeschichte schildert. Mehr unter www.baerenreiter.com.

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