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Ulrich Enderwitz

Reichtum und Religion

Die Herrschaft des Wesens

Der Konkurs der alten Welt

Ça ira

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Werkverzeichnis

REICHTUM UND RELIGIONVier Bücher in sieben Bänden

Buch 1: Der Mythos vom Heros (1990)Buch 2: Der religiöse Kult (1991)Buch 3: Die Herrschaft des Wesens

Band 1: Das Heil im Nichts (1996)Band 2: Die Polis (1998)Band 3: Der Konkurs der alten Welt (2001)Band 4: Die Krise des Reichtums (2005)

KONSUM, TERROR UND GESELLSCHAFTSKRITIK (2004)Eine tour d’horizon

HERRSCHAFT, WERT, MARKT (2004)Zur Genese des kommerziellen Systems

DIE  SEXUALISIERUNG DER GESCHLECHTER (1999)Eine Übung in negativer Anthropologie

DER  KONSUMENT ALS IDEOLOGE (1994)200 Jahre deutsche Intelligenz

ANTISEMITISMUS UND VOLKSSTAAT (1998)Zur Pathologie kapitalistischer Krisenbewältigung

DIE  MEDIEN UND IHRE INFORMATION

Ein Traktat (1996)

TOTALE REKLAME (1986)Von der Marktgesellschaft zur Kommunikationsgemeinschaft

DIE  REPUBLIK FRISST IHRE KINDER (1986)Hochschulreform und Studetenbewegungin der Bundesrepublik Deutschland

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Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Ulrich Enderwitz:Reichtum und Religion [vier Bücher in sieben Bänden] / Ulrich

Enderwitz. - Freiburg i. Breisgau: Ça iraDie Herrschaft des WesensDer Konkurs der alten WeltISBN: 3-924627-50-9

c Ça ira, Freiburg i. Breisgau, 2001Postfach 27379002 FreiburgSatz:Umschlaggestaltung: Volker Maas, FreiburgDruck: Interprint LTD., Malta

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Inhaltsverzeichnis

. Rom ante portas   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

. Pietas  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27. Expansiver Föderalismus   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

. Das karthagische Vexierbild  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

. Das Provinzialsystem   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

. Extraktionswirtschaft   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

. Volksbewegung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260

. Imperium   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301

. Kaiserkult   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348

. Militärdespotie   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392

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. Rom ante portas

Soll der mit der Polis entstandene und von ökonomischer Freiheit, sozialer Mo-

bilität und politischer Teilhabe geprägte Gemeinschaftstyp aus den Konflikten gerettet werden, in die ihr Entstehungsprinzip, der kommerzielle Reichtum, diePolis stürzt, so genügt es nicht, nach dem Muster Platons den Reichtum pau-schal für fremdbürtig zu erklären und der Stadt zu verweisen, um die städtischeProduktionsgemeinschaft rein als solche zurückzubehalten. Vielmehr müssen diebürgerlichen Tugenden des neuen Gemeinschaftstyps genutzt werden, um sichdie für das Leben in der Polis nötige Subsistenz, den erforderlichen Wohlstand,auf anderem als kommerziellen Weg zu verschaffen. Die Polis muss sich mitanderen Worten aus einem ökonomisch-produktiven Verein in einen militärisch-appropriativen Verband verwandeln.

Der Platonische Vorschlag zu einer Sanierung der Polis, zu ihrer Errettungaus dem Teufelskreis Armut erzeugenden Reichtums und vom Reichtumzehrender Armut, setzt die arbeitsteilig-kooperative Polisgemeinschaft,die eigentlich nur Wirkung einer in der Anhäufung kommerziellen Reich-tums bestehenden Ursache beziehungsweise Mittel zum Zwecke weitererhandelskapitaler Akkumulation ist, als die ursprüngliche Sache selbst,das unvermittelte Wesen der Polis, ihr zeitlos vergangenes Sein, währender den kommerziellen Reichtum kurzerhand der Stadt verweist, ihn alsfremdbürtigen Überfluss und Luxus zu einer äußerlichen Zutat erklärt,

die dorthin zurückgeschickt werden müsse, wo sie herkomme, in dieterritorialherrschaftlich-frondienstlichen Gesellschaften, von denen diePolis umgeben ist.Die Möglichkeit zu dieser Entmischung liegt in der Tatsache beschlossen,dass der in der Polis sich sammelnde kommerzielle Reichtum nicht nur

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seinen Ausgangspunkt, sondern mehr noch seinen ständigen Kontra-

punkt im territorialherrschaftlich-frondienstlichen Reichtum hat, dass eralso, nachdem er einer anfänglich bloß auf den Austausch territorialherr-schaftlichen Überflusses beschränkten Maklertätigkeit entsprungen istund kraft der gemeinschaftsbildend kritischen Masse, die er schließlichverkörpert, die Polis mitsamt der in ihr entfalteten Produktionsgemein-schaft ins Leben gerufen hat, sich auch weiterhin ebenso sehr aus denKorn- und Schatzkammern der territorialherrschaftlichen Nachbarn wieaus den poliseigenen landwirtschaftlichen und handwerklichen Erzeug-nissen speist, dass er mit anderen Worten seine fortlaufende Akkumu-lation nicht weniger auf den durch das Produktivitätsgefälle zwischenPolis und Nachbarn höchst profitablen Außenhandel als auf den binnen-wirtschaftlichen Austausch gründet. Indem der Platonische Lösungsvor-schlag diese amphibolische Natur des kommerziellen Reichtums nutzt,um letzteren mit verdrängender Ausschließlichkeit seinem territorialherr-schaftlichen Aspekt, seiner mit Überfluss und Luxus assoziierten Rolleals fronwirtschaftlicher Überschuss, zuzuschlagen, eskamotiert er ihn inder Tat aus der Stadt und behält den abstrakt-unvermittelten Gegensatzeiner um ihren eigengesetzlich-akkumulativen Zweck gekürzten undstrikt auf die Polis beschränkten gemeinschaftlichen Arbeit und eines umsein eigennützig-distributives Mittel gebrachten und streng aus der Stadtverbannten herrschaftlichen Reichtums zurück.

Und indem er nun aber durch diesen Coup einer theoretischen Liqui-dation der die innerstädtische Arbeit und den territorialherrschaftlichenReichtum verbindenden Mitte des kommerziellen Reichtums oder Han-delskapitals die städtische Produktionsgenossenschaft von ihrer ebendarin, im kommerziellen Reichtum, gewahrten zentralen Krankheits-ursache befreit hat, zeigt sich, dass er mit dem sie krank machendenFaktor zugleich auch ihr Lebensprinzip aus der Stadt eskamotiert hat. Diearbeitsteilig-kooperative Produktionsgenossenschaft, um deren Rettungund Aufrechterhaltung es beim Platonischen Lösungsvorschlag geht, ist,gekürzt um ihren in der kapitalen Bewegung bestehenden Antrieb, ihr

als Akkumulationsprinzip perennierendes Motiv, nur mehr der Schattenihrer selbst, kein von heteronomen Entstehungsbedingungen befreiterund zu sich gekommener Selbstzweck, sondern ein um seinen heterono-men Zweck gebrachtes, autistisch leerlaufendes Mittel. Um diese vomAkkumulationsprinzip losgedachte Produktionsgenossenschaft auch nur

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theoretisch zu erhalten, bedarf es jener Zwangsveranstaltung, die Platon

in der Politeia beschwört und die aus der marktbezogenen, relativ freienGesellschaft ein betriebsfixiertes, absolut diszipliniertes Zwangslager,aus der weltoffenen, austauschhungrigen Metropole eine xenophobe,isolationistische Trutzburg werden lässt.

So gesehen, scheint der Platonische Lösungsvorschlag nur geeignet,die dilemmatische Unlösbarkeit der Situation der Polis ins rechte Lichtzu rücken und für jedermann sichtbar werden zu lassen. Einerseits kanndie auf der Grundlage des kommerziellen Reichtums und seines Akku-mulationsprinzips entstandene und zu einem arbeitsteilig-kooperativenGemeinschaftstyp sui generis oder jedenfalls eigenen Rechts entfaltetestädtische Produktionsgenossenschaft mit diesem ihrem Existenzgrundunmöglich auf Dauer sozial verträglich und politisch konfliktfrei auskom-men, weil er sie in einen Teufelskreis verstrickt, bei dem sich der durchKonzentration von Reichtum hervorgerufenen Armut nur durch weitereReichtumskonzentration begegnen läßt oder bei dem mit anderen Wortendie Armut erzeugende handelskapitale Akkumulation stets schon wiederVoraussetzung jeder die Armut bekämpfenden wohlfahrtsstaatlichenDistribution ist. Andererseits aber kann, wie das Platonische Gedan-kenexperiment zeigt, diese städtische Produktionsgenossenschaft auchnicht ohne den kommerziellen Reichtum und sein Akkumulationsprin-zip leben, weil sie sich damit ihres treibenden Motivs und objektiven

Beweggrundes begibt und sie selbst in ihrer arbeitsteilig-kooperativenVerfassung zu einer nichts bezweckenden und nichts bewirkenden Leer-laufreaktion erstarrt. Einer Leerlaufreaktion, die eben deshalb, weil ihrder objektive Beweggrund fehlt, als stetige Bewegung oder ständigeVeranstaltung nur durch eine auf Ritualisierung zielende Gewaltaus-übung, kurz, durch eine Dressur oder zwangsweise Konditionierung derBeteiligten, aufrechtzuerhalten ist, womit die Aufrechterhaltung dennaber den Verlust genau dessen einschließt, um dessen Erhaltung es beimPlatonischen Lösungsvorschlag doch eigentlich geht: den Verlust nämlichder mit der arbeitsteilig-kooperativen Produktionsgemeinschaft der Polis

von Haus aus einhergehenden relativen ökonomischen Freiheit, sozialenMobilität und politischen Mitwirkung der einzelnen.Diese praktisch-politischen, zivilgesellschaftlichen Folge- und Begleit-

erscheinungen der sich im Kraftfeld des marktspezifischen Austausch-systems und seines Akkumulationsprinzips entfaltenden städtischen

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Arbeitsgemeinschaft gibt also der Platonische Lösungsvorschlag preis, in-

dem er ihre Bedingung, die um den Markt zentrierte Arbeitsgemeinschaftselbst, zu erhalten strebt und dabei das die letztere in den Teufelskreisaus Bereicherung und Verarmung verstrickende Akkumulationsprinziploszuwerden sucht. Wie die von Platon entwickelte Staatsidee deutlichmacht, begibt sich mit dem kommerziellen Akkumulationsprinzip undseinem Geschöpf, dem handelskapitalen Reichtum, die Polis nicht nurihres Krankheitsherds, sondern auch ihres Lebensquells, gibt sie nichtnur auf, was ihre Bürger fraktioniert und in Konflikt miteinander geratenlässt, sondern auch und ebenso sehr, was sie zusammenführt und in derspezifischen Form von kommunaler Freiheit, Mobilität und Anteilnah-me assoziiert, um deren Rettung es den Platonischen Wesenssucherneigentlich geht.

Scheint demnach dies der dilemmatische Schluss des theoretischen Ret-tungsversuchs, dass mit dem kommerziellen Reichtum etwas aufgegebenwird, das aufgegeben werden muss, soll die städtische Produktionsge-meinschaft ihre generelle Existenz retten und nicht völliger Zerstörunganheimfallen, aber nicht aufgegeben werden kann, soll die städtischeProduktionsgemeinschaft ihre spezielle Identität wahren und sich nicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt wiederfinden, so zeigt indes die großeLehrmeisterin der Theorie, die Praxis, dass sich diesem Dilemma durcheine jene spezielle Identität erst einmal weitgehend unangetastet lassende

funktionelle Umorientierung der Gemeinschaft und Verlagerung ihresTätigkeitsbereichs, durch ihren Wechsel nämlich von einer ökonomisch-produktiven zu einer militärisch-appropriativen Organisation durchausentrinnen lässt. Solange, wie beim Rettungsversuch der PlatonischenWesenssucher der Fall, der kommerzielle Reichtum zwar abgeschafftund aus der Stadt verbannt erscheint, gleichzeitig aber die städtischeGemeinschaft in ihrer ursprünglichen Form als arbeitsteilig-kooperativeProduktionsgemeinschaft festgehalten wird, das heißt, in eben der Ge-stalt bestehen bleiben soll, in der sie wesentlich Mittel zum Zwecke derAkkumulation kommerziellen Reichtums ist, kann das theoretische Lö-

sungsmodell gar nicht anders, als sich selbst ad absurdum zu führen. Wases postuliert, ist ja nur ein um seinen Zweck gebrachtes und kurzerhandzum Selbstzweck erklärtes Mittel, ein Mechanismus, der, weil er bei derStange einer Aufgabe gehalten wird, die er zugleich nicht mehr erfüllendarf, im Wortsinne leerläuft und dessen fortdauerndes Funktionieren

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mangels natürlicher, sprich ökonomischer, Motivation nurmehr durch

den künstlichen Antrieb politisch-polizeilicher Gewalt sichergestellt wer-den kann – womit dann allerdings die Züge von persönlicher Freiheit,sozialer Mobilität und aktiver Anteilnahme des einzelnen preisgegebenwerden und verloren gehen, die doch eigentlich das Mittel als einenSelbstzweck erhaltenswürdig, die städtische Produktionsgemeinschaft alseine vom Akkumulationsprinzip unabhängige Organisation erstrebens-wert erscheinen lassen.

Von daher gesehen, besteht der das Dilemma provozierende Fehler desPlatonischen Lösungsmodells nicht sowohl darin, dass die kommerzielleAkkumulationsperspektive aufgegeben, sondern vielmehr darin, dass sienicht radikal genug aufgegeben wird, dass nicht die vollen Konsequenzengezogen werden, die sich für die städtische Produktionsgemeinschaft ausihrer Entmischung, ihrer Trennung von ihrem bisherigen Beweggrund,dem kommerziellen Reichtum, ergeben. Soll die städtische Produkti-onsgemeinschaft nicht der nur mit politischem Zwang und polizeilicherGewalt aufrechtzuerhaltenden Leerlaufreaktion eines Mittels verfallen,dem sein Zweck abhanden gekommen ist und das so tut, als wäre nichtsgeschehen – soll sie dieser Leerlaufreaktion entrinnen, so muss sie auf-hören, bloße ökonomische Produktionsgenossenschaft, nichts als einarbeitsteilig-kooperativer Erzeugerzusammenhang zum fahrengelasse-nen Zwecke handelskapitaler Bereicherung, kurz, das in völliger formaler

Identität mit sich perennierende und nur eben um seinen materialen Sinngebrachte Gespenst ihrer selbst sein zu wollen, und muss sich auf Basisder Qualifikationen, die sie sich im Zuge ihrer Entfaltung zur städtischenProduktionsgemeinschaft erworben hat, gestützt mit anderen Worten auf die technischen, organisatorischen und strategischen Fähigkeiten, die sie beim Aufbau des neuen Gemeinschaftstyps Polis ausgebildet hat, soweitumstellen und soweit verändern, dass sie sich aus einem – nur überhaupttheoretisch auf diese Weise vorstellbaren – Mittel ohne Zweck, aber inder vollen Montur seines Mittelcharakters, aus einer Hinterbliebenen desaus der Stadt verbannten kommerziellen Reichtums, die zum Denkmal

oder vielmehr zur Fehlanzeige des Verschwundenen versteinert ist, inein selbstbezüglich lebendiges, für seine vom kommerziellen Reichtumunabhängige Selbsterhaltung praktisch tätiges Gemeinwesen, in einenmit eigener Zweckmäßigkeit, mit einer zur Kapitalakkumulation positivalternativen Zweckbestimmung versehenen Organismus überführt.

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Positiv muss dieser eigene Zweck insofern sein, als er ihr das, was

die kommerzielle Akkumulation ihr, wenn auch mit zunehmend gravie-renden sozialen Einschränkungen und auf Kosten immer bedrohlichererpolitischer Konflikte, immerhin gewährte, die materielle Grundlage fürihr Bestehen, ein gedeihliches Auskommen, die ihrem Lebensstandardgemäße Subsistenz, gleichfalls gewährleistet. Und alternativ muss diesereigene Zweck in dem Sinne sein, dass er nicht mehr, wie die kommer-zielle Akkumulation das tut, solche Subsistenz nur und höchstens alsNebenerscheinung seiner aparten, amphibolisch-heteronomen Bestim-mung garantiert, sondern dass seine Bestimmung in solcher Subsistenzvielmehr rückhaltlos aufgeht, dass er selbst mit dem, was vorher bloß

Nebeneffekt seines amphibolisch-heteronomen Treibens war, als mit derallen andren Bezug ihm verschlagenden identischen Sache selbst seinesBestehens koinzidiert. Das, was das kommerzielle Prinzip der städtischenProduktionsgemeinschaft nur quasi als ein Abfallprodukt seines erfolgrei-chen Wirkens und nur um den Preis ökonomischer Divergenzen, sozialerSpaltungen und politischer Konflikte gewährt: der für die Erhaltungihrer differenzierten Lebensgewohnheiten und entfalteten Sozialbezie-hungen nötige relative Wohlstand, der dem Entwicklungsstand ihresBedürfnissystems und ihrer Anforderungen ans Milieu entsprechendeLebensstandard – ihn muss sie sich jetzt auf anderem Wege und ohne

die zweifelhafte Hilfestellung des sein privates Interesse verfolgendenkommerziellen Prinzips, will heißen, als die Hauptsache, das A und Oeiner auf nichts als auf den eigenen Fortbestand gemünzten und ebensoselbstverantwortlichen wie eigennützigen Tätigkeit zu sichern suchen.Um aber diese unmittelbare, vom Umweg über das kommerzielle Prinzip befreite Selbsterhaltungsleistung erbringen, diese zum zentralen Anliegenerhobene, der heteronomen Beziehung auf die Wahrung des kommer-ziellen Interesses entzogene Wahrung ihrer Identität ins Werk setzenzu können, muss sich die städtische Produktionsgemeinschaft radikalverändern. Um sich als ein von ökonomischer Freiheit, sozialer Mobi-

lität und politischer Teilhabe geprägter Gemeinschaftstyp, erhalten zukönnen, muss sie sich als die Produktionsgemeinschaft, die bis dahin inder arbeitsteilig-kooperativen Beziehung auf den Markt gleichermaßenihr organisierendes Prinzip und ihr disponierendes Tätigkeitsmerkmalhatte, aufgeben und sich aus einem auf den Austausch eigener Produkte

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mit fremdem Reichtum ausgerichteten ökonomisch-produktiven Ver-

ein in einen auf die kompensationslos-eigenmächtige Beschlagnahmungfremden Reichtums eingestellten militärisch-appropriativen Verbandverwandeln. Wo sonst nämlich soll sie den relativen Wohlstand, den ihreeingefleischten Bedürfnisse und Lebensgewohnheiten erheischen, dieihrem Entwicklungsstand gemäße Subsistenz, hernehmen, wenn nichtaus dem Fundus eben jenes fremden Reichtums, dem Füllhorn jenesterritorialherrschaftlichen Überflusses, zu dem der Markt mit seinemkommerziellen Austauschprinzip ihr den Zugang eröffnet und den sie,wenn die Dazwischenkunft und Vermittlung des Marktes keine Rollemehr spielen soll, sich nun aber auf andere und direktere Weise erschlie-

ßen muss?

Die Polis Athen ist zur erforderlichen Umrüstung der Gemeinschaft nicht mehrimstande. So sehr sie den Glauben an die segensreiche Wirkung des kommerzi-ellen Prinzips verliert, so sehr bleibt sie doch mit ihrer Vorstellung von einem

 funktionierenden Gemeinwesen den ökonomischen Strukturen verhaftet, diedas kommerzielle Prinzip hervorgetrieben hat. Die Strategie einer hegemonialdirekten Ausbeutung, mit der sie es vorübergehend probiert, kann sie in ihrerFixierung auf die durch das kommerzielle Prinzip geschaffenen Strukturen nurbestärken, weil Opfer der hegemonialen Strategie die ihrerseits dem kommerziel-

len Prinzip verhafteten stadtstaatlichen Bundesgenossen der Ägäis sind und weildeshalb das Scheitern der Strategie, für das die Bundesgenossen im Verein mitSparta sorgen, für sie, die Polis Athen, zum Beweis der Unentrinnbarkeit derdurch das kommerzielle Prinzip bestimmten Verhältnisse gerät.

Zugang zum fremden Reichtum verschafft der städtischen Produkti-onsgemeinschaft der vom Akkumulationsprinzip bestimmte kommerziel-le Austausch eben dadurch, dass er sie zu einer Produktionsgemeinschaftim Sinne des Wortes entfaltet, zu einem hauptsächlich handwerklichen,aber auch spezialisiert agrarischen, arbeitsteilig-kooperativen Erzeuger-

system, das ihm die Waren liefert, die er dann bei den territorialstaatli-chen Nachbarn in den benötigten fremden Reichtum, in landwirtschaftli-che Güter, Rohmaterialien, Edelmetalle, Luxusartikel, verwandelt. Diesedurch den kommerziellen Austausch, den Markt, gelenkte Entwicklungpräsupponiert und befördert, wie gesagt, neue, den Betroffenen durchaus

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willkommene gesellschaftliche Verhaltensweisen und Verkehrsformen:

eine relative Eigenständigkeit und Eigeninitiative im der ökonomischenBetätigung, eine relative Beweglichkeit und Orientierungsfreiheit beider sozialen Einordnung, eine relative Intensität und Effektivität derpolitischen Mitwirkung. Und sie bringt dank des Produktivitätsgefäl-les zwischen der städtischen Produktionsgemeinschaft und den terri-torialherrschaftlichen Produktionssystemen und dank der dadurch fürdie Produkte der ersteren gegebenen günstigen AustauschbedingungenReichtum mit sich, Reichtum, der dank der Tatsache, dass ein Teil davonauch in die Hände derer gelangt, die durch ihre Produkte den Grund zuihm legen, der städtischen Produktionsgemeinschaft ein nie gekanntes

gedeihliches Auskommen und subsistenzielles Wohlbefinden bescheren.Aber weil das gedeihliche Auskommen der Produktionsgemeinschaft beileibe nicht das zentrale Anliegen des vom Akkumulationsprinzip bestimmten Austausches, sondern höchstens und nur eine Nebener-scheinung des mit dem Austausch verfolgten eigentlichen Zweckes istund weil dieser eigentliche Zweck, wie gesehen, darin besteht, um derpolitischen Emanzipation vom traditionellen Herrschaftszusammenhangwillen in einem machtstrategisch ebenso erfolgreichen, wie herrschafts-systematisch unabschließbaren ökonomischen Wettstreit mit den umge- benden Territorialherrschaften immer mehr Reichtum anzuhäufen, nur

um immer mehr Reichtum anhäufen zu können – weil dies der zumlogischen Zirkelschluss sich verlaufende eigentliche Zweck des kom-merziellen Austausches ist, schafft die durch ihn gesteuerte Entwicklungnun auch zunehmend ökonomische Not und politischen Konflikt. Indemdie Vertreter der kommerziellen Akkumulation dank des Produktiv-kraftgefälles zwischen der Stadt und ihren territorialen Nachbarn imAustausch mit letzteren wohlfeilen fremden Reichtum, insbesondere inGestalt landwirtschaftlicher Erzeugnisse, in die Stadt bringen, zerstörensie die Existenzgrundlage der als kleine Landbesitzer subsistierendenmittleren Schichten und gesellen diese der dank der Attraktivität der

Stadt ohnehin wachsenden Gruppe der in den Gewerben, im Schiffswe-sen und im Handel Lohnarbeitsuchenden bei. Und indem sie, um nochmehr fremden Reichtum in die Stadt bringen zu können, den eingeschla-genen Weg fortsetzen und durch Konzentration und Rationalisierungder Produktion das Produktivitätsgefälle zu erhalten beziehungsweise

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zu vergrößern bestrebt sind, verschaffen sie dem Heer der Lohnarbeit-

suchenden weiteren Zulauf und sorgen für jenen Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt, der ihnen erlaubt, der städtischen Produktionsge-meinschaft durch Billiglöhne noch mehr Waren für den Austausch mitden territorialen Nachbarn abzupressen, ohne dass das Mehr an fremdemReichtum der durch die schlechte Entlohnung beziehungsweise durchArbeitslosigkeit in ihren konsumtiven Möglichkeiten zunehmend ein-geschränkten städtischen Produktionsgemeinschaft selbst irgend zugutekäme.

 Je mehr Reichtum die städtische Produktionsgemeinschaft durch ih-rer Hände Arbeit also schafft, um so weniger Reichtum gelangt, relativgesehen zumindest, in ihre Hände zurück, je mehr eigenes Produkt siedem Handel zur Verfügung stellt, um so weniger fremdes Produkt läßt er,wenigstens proportional genommen, ihr zukommen. Wenn so aber derkommerzielle Segen zum subsistenziellen Fluch wird und die städtischeArbeit, die in den Dienst des Kommerzes tritt, sich in eben dem Maß, wiesie als Mittel zum akkumulativen Zweck erfolgreich ist, um die Früchteihres Wirkens gebracht und nämlich mit einem relativ immer geringerenTeil des mit ihrer Hilfe Akkumulierten entlohnt und vielmehr abgespeistfindet, was Wunder dann, dass die städtische Produktionsgemeinschaftallmählich den Glauben an den kommerziellen Mechanismus als Garan-ten ihrer ökonomischen Wohlfahrt, sozialen Eintracht und politischen

Freiheit verliert und dem Gedanken an alternative Methoden, sich ihrenStatus quo als Polis zu erhalten, an mögliche andere, nichtkommerzielleWeisen, für ihre ökonomische Wohlfahrt, soziale Eintracht und politischeFreiheit zu sorgen, näher tritt? Was Wunder, dass sie darüber nachzu-sinnen beginnt, wie sie sich den territorialherrschaftlichen Überfluss,den fremden Reichtum, den sie als städtische Gemeinschaft mit ebensomassiertem Lebensmittelbedarf wie differenziertem Bedürfnissystem undkultivierten Milieuansprüchen braucht, auf anderem Wege als dem deskommerziellen Austausches beschaffen kann?

Zwar erst einmal sucht sie, wie gesehen, der vom kommerziellen Prin-

zip heraufbeschworenen Nöte und erregten Konflikte mit den politischenMitteln einer auf dem Wege wohlfahrtsstaatlicher Demokratisierungdurchgesetzten Umverteilung, eines von Staats wegen betriebenen Las-tenausgleichs Herr zu werden. Das heißt, sie läßt die ökonomische Struk-tur der Polis unangetastet, lässt das kommerzielle Prinzip als solches

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gewähren und beschränkt sich darauf, die durch die Wirksamkeit des

Prinzips produzierten Krankheitssymptome der Polis mittels staatlicherZuwendungen, die aus dem akkumulierten Fonds, dem der Wirksamkeitdes Prinzips entspringenden kommerziellen Reichtum, finanziert wer-den, nachträglich zu lindern und auf ein erträgliches, mit dem innerenFrieden, der Koexistenz der Fraktionen in der Stadt vereinbares Maßzurückzuführen. Weil indes die Umverteilung das kommerzielle Prinzipdazu anspornt, die Einbussen, die es erleidet, durch verstärkte Akkumu-lationstätigkeit wettzumachen, und weil die verstärkte Akkumulationwiederum die ökonomische Not vergrößert und den politischen Konflikt-stoff vermehrt, kurz, auf neue und verstärkte Umverteilung hinausläuft,die wiederum vom kommerziellen Prinzip mit erneuter und verstärkterAkkumulationsanstrengung beantwortet wird, verrennt sich diese Pro- blemlösungsstrategie zwangsläufig in einem Teufelskreis und erweistsich das Heilmittel oder, besser gesagt, Palliativ, das die Krankheit derPolis zu kurieren oder jedenfalls zu lindern verspricht, vielmehr als einWeg, die Krankheit zu verschlimmern und chronisch werden zu lassen.Angesichts einer solch niederschmetternden, in der Geschichte des demo-kratischen Athen exemplarisch vorgeführten Empirie verliert nun aberdie städtische Produktionsgemeinschaft den Glauben an die Segnungendes kommerziellen Prinzips und seines spezifischen Reichtums und voll-zieht einen Prozess der radikalen inneren Ablösung und schließlich auch

äußeren Abwendung von dem, was bis dahin als dynamischer Kern undtragender Mechanismus gleichermaßen des ökonomischen Gedeihens derPolis selbst und des subsistenziellen Wohlergehens aller ihrer Bürger galt.

Theoretischer Niederschlag solch fundamentalen Vertrauensverlus-tes und radikalen Ablösungsprozesses ist die Platonische Philosophiemit ihrer Verwerfung des kommerziellen Reichtums und seines general- bevollmächtigten Repräsentanten, des Geldes, mit ihrem Versuch, denkommerziellen Reichtum aus der Stadt zu verbannen und zur Gänze jenem fremden, territorialherrschaftlichen Reichtum zuzuschlagen, vondem er nicht zuletzt dank der Arbeit der städtischen Produktionsge-

meinschaft von Haus aus systematisch separiert ist und den er unterdem besagten Vorbehalt seines Akkumulationsinteresses und mit den be-schriebenen fatalen Auswirkungen, die sein Akkumulationsvorbehalt auf die ökonomische Entwicklung der Polis hat, für die städtische Produkti-onsgemeinschaft per Austausch zu organisieren und zu beschaffen dient.

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Zu diesem fremden, der Stadt äußerlichen Reichtum erscheint aus Sicht

der Platonischen Philosophie der kommerzielle, polisspezifische Reich-tum restlos übergelaufen, in ihm zeigt er sich spurlos verschwunden,während die von letzterem befreite, durch die Wächter vor ihm gefeitestädtische Produktionsgemeinschaft ihr arbeitsteilig-kooperatives Leben,ihr handwerkliches Tun und gewerbliches Treiben wie gewohnt, abernunmehr in Ruhe und Frieden, weil von der zerstörerischen Dynamik desVerschwundenen verschont, fortsetzen soll.

Allerdings ist die Platonische Philosophie damit zugleich theoretischerAusdruck der Unfähigkeit der athenischen Polis, jenen AblösungsprozessWirklichkeit werden zu lassen, Beweis ihrer durch die lange kommerzi-

elle Empirie verschuldeten déformation professionelle, Symptom ihrerchronischen Verfallenheit an die vom kommerziellen Prinzip geschaf-fenen Lebensbedingungen, ihrer krankhaften Abhängigkeit von einerstricto sensu produktionsgemeinschaftlichen Lebensführung. Weil danklanger Gewöhnung Platon sich die ökonomische Wohlfahrt, die sozialeEintracht und die politische Unabhängigkeit der Polis zwar nicht mehrverknüpft mit dem die städtische Produktionsgemeinschaft zeitigendenkommerziellen Prinzip, wohl aber strikt gebunden an das fait accomplider städtischen Produktionsgemeinschaft als solcher, als arbeitsteilig-kooperativ entfalteter handwerklich-gewerblicher Assoziation, und nur

als deren unmittelbaren Ausfluss, ihr natürliches Korollar, vorstellt, suchter, während er den kommerziellen Reichtum der Stadt verweist, die Pro-duktionsgemeinschaft als solche zu behaupten und zu kontinuieren. Alssolche aber ist die städtische Produktionsgemeinschaft Geschöpf deskommerziellen Prinzips und ohne das letztere objektiv nicht lebensfähigund kaum oder bloß im eklatanten Selbstwiderspruch denkbar. Will diePlatonische Philosophie die Produktionsgemeinschaft in fehlgeleiteterAmalgamierung ihres generischen Seins mit ihrem spezifischen Tun, ihrerpolitisch-praktischen Konstitution mit ihrer ökonomischen-technischenFunktion, dennoch als solche, als Produktionsgemeinschaft, kontinuieren,

so kann sie das höchstens mit Gewalt, höchstens dadurch, dass sie in derTheorie das in genere seines urheberschaftlichen Daseins vertriebene,aber zugleich in specie seines Geschöpfes festgehaltene kommerziel-le Prinzip durch eine personale Zwangsinstanz, durch das Diktat desWeisen und seiner Helfershelfer, ersetzt.

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Damit aber gibt sie an der Gemeinschaft eben den besonderen Charak-

ter preis, dessentwegen sie sie doch eigentlich bewahren und als Grund-lage der ökonomischen Wohlfahrt, sozialen Eintracht und politischenFreiheit der Polis kontinuieren will: die relative ökonomische Eigenini-tiative, soziale Mobilität und politische Mitwirkung der einzelnen, durchdie sich die Gemeinschaft vor den traditionellen, theokratischen oderauch ständehierarchischen Gesellschaften auszeichnet und als Gemein-schaftstyp sui generis behauptet. Will die städtische Produktionsgemein-schaft diese Preisgabe des eigentlich Erhaltenswerten an ihr, nämlichihrer politisch-praktischen Konstitution, verhindern, so muss sie viel-mehr mit der Abdankung des kommerziellen Prinzips als maßgeben-der Zweckbestimmung auch das dem Zweck entsprechende Mittel, ihreökonomisch-technische Funktionsweise, ihre produktive Ausrichtung,zur Disposition stellen, muss beides, die kommerziell fundierte ökonomi-sche Funktionsweise und die funktionell bedingte politische Konstitution,als voneinander trennbar erweisen und muss sich von der abstrakt ge-setzten letzteren her auf die ökonomisch eigenen Füße stellen, kurz, jenemilitärisch-taktische Reorganisation und Umfunktionierung vornehmen,durch die sie sich den fremden Reichtum, den sie für ihren Unterhalt braucht, aus eigener Kraft und mit ihr selbst als ausschließlichem Zweckder appropriativen Veranstaltung zu beschaffen vermag, statt ihn sichvermittels des hierbei sie in ein Mittel seiner eigenen Zweckmäßigkeit

heteronomisierenden kommerziellen Prinzips besorgen lassen zu müssen.Nicht, dass der athenischen Polis dieser Wechsel der Unterhaltsstra-

tegie, der den ökonomisch-technischen, marktbezogenen Produktions-mechanismus durch einen militärisch-taktischen, tributorientierten Ap-propriationsapparat ersetzt, völlig unvorstellbar wäre! Nicht, dass sienicht sogar schon selbst mit ihm experimentiert und Erfahrungen mitihm gesammelt hätte! Schließlich ist der mittels Peloponnesischem Bundinszenierte Aufstieg der athenischen Demokratie zur Hegemonialmachtdes Ägäischen Raumes als eben ein solcher Strategiewechsel anzusehen.Das kommerzielle Prinzip und seine Austauschmechanismen abdankend,

rüstet die Konspiration aus Demos und aristokratischer Führung die athe-nische Polis militärisch auf und organisiert sie taktisch um und versetztsie damit in die Lage, sich den Reichtum anderer auf dem Wege direkterTributzahlungen und das heißt, ohne die Dazwischenkunft des Marktesund ohne die Gegenleistung der durchs kommerzielle System erheischten

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eigenen Beiträge zum Markt zu beschaffen. Weil indes die anderen, deren

Reichtum sich die athenische Demokratie auf diese Weise verschafft,nicht etwa die territorialherrschaftlichen Nachbarn, sondern vielmehrdie übrigen Handelsstädte der Ägäis, die kommerziellen Partner Athens beim Austausch mit den territorialherrschaftlichen Nachbarn, sind, trifftdie Rede von einer Abdankung des kommerziellen Prinzips nur bedingtoder eigentlich gar nicht zu.

In Wahrheit dankt die athenische Demokratie mit dem Strategiewech-sel, den sie durch Verwandlung der Polis aus einer Austausch treibendenHandelsrepublik in eine Tribut empfangende Hegemonialmacht voll-zieht, das kommerzielle Prinzip gar nicht ab, sondern funktioniert es nur

um und überführt es aus einem in der Polis selbst und mit ihrer Hilfe sei-nen akkumulativen Zweck verfolgenden und hierbei höchstens marginalden nichtkommerziellen Interessen der ersteren dienlichen Intendantenin einen mitsamt seinem akkumulativen Zweck den Bundesgenossenzugeschobenen und vermittels der Bündnisverpflichtungen der letzterengegenüber der Polis deren nichtkommerziellen Interessen zentral dienst- bar gemachten Agenten. Das heißt, die athenische Demokratie verlagertdas kommerzielle Prinzip einfach nur aus der eigenen Stadt in die Städteder Bundesgenossen, lässt es dort wie gehabt agieren, den gewohntenAustausch mit den territorialherrschaftlichen Nachbarn pflegen, und

 beschränkt sich selbst darauf, durch die Eintreibung von Tributzahlungen bei den Bundesgenossen, die als Beiträge zum Bündnis kaschiert sind,die Früchte der dortigen kommerziellen Aktivitäten einzuheimsen, denGewinn aus dem dort mit den territorialen Nachbarn praktizierten Aus-tausch abzuschöpfen. Daran, dass es das kommerzielle Prinzip ist, dasder Polis fremden Reichtum zuführt, ändert sich demnach nichts; nur derModus der Zufuhr ändert sich. Durch ihre auf Militarisierung und dieTaktik hegemonialer Bündnisbeziehungen abgestellte Strategie gelingtes der athenischen Polis, sich dem ägäischen Handelssystem in der bisdahin von ihr gewahrten Funktion eines wie immer auch integrierenden

Bestandteiles zu entziehen, um sich statt dessen dem System in der neuenRolle der dominierenden Hauptsache zu revindizieren, sich aus einemtragenden Moment des Ganzen in dessen springenden Punkt, aus einem beitragenden Glied des Corpus in dessen nutznießenden Wasserkopf zuverwandeln.

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Aber vielmehr gelingt, wie gesehen, der athenischen Polis dieser Stra-

tegiewechsel nicht, weil sich zeigt, dass in der Rolle eines den nichtkom-merziellen Interessen der athenischen Demokratie dienenden Faktotums,in das es sich durch die Reduktion auf die Sphäre der Bundesgenossengedrängt findet, das kommerzielle Prinzip partout nicht zu Hause istund weil es die erste, in Gestalt des lakedämonischen Widerstandes ge-gen die hegemoniale Expansion Athens sich bietende Gelegenheit nutzt,seine Träger, die Bundesgenossen, zum Aufstand gegen die es als Mit-telbeschaffer für den Unterhalt der demokratischen Polisgemeinschaftzweckentfremdende Hegemonialmacht anzustacheln. Indem im Vereinmit der aristokratischen Territorialmacht Sparta das in Gestalt des Pelo-ponnesischen Bundes zum Unterhaltspflichtigen umfunktionierte undtributär ausgebeutete kommerzielle Prinzip sich aus seiner Dienstbarkeitgegenüber der Polis gewaltsam befreit und diese in die Schranken ihrerhandelsrepublikanisch bestimmten Existenz weist, macht es deutlich,dass die militärisch-taktische Inanspruchnahme des kommerziellen Me-chanismus durch sein eigenes soziales Geschöpf, die Polis, kein gangbarerWeg zur nichtkommerziellen Aneignung fremden Reichtums und zurBegründung einer auf solchem Reichtum aufbauenden und vor der Dy-namik kommerzieller Akkumulationsprozesse geschützten Subsistenzist.

Für Athen selbst, die betroffene Polis, kommt die Erfahrung des Schei-

terns ihrer hegemonialen Strategie einer Abdankung der militärisch-taktischen Aneignungsperspektive als solcher gleich. Eben weil sie nichtdurch Abstandnahme vom kommerziellen Prinzip, durch seine reguläreAbschaffung, sondern durch die Umfunktionierung des kommerziellenPrinzips, durch seine tributäre Indienstnahme, an den Reichtum derterritorialherrschaftlichen Nachbarn zu kommen sucht und weil die-ser Strategie, wie das Perikleische Zeitalter zeigt, ja erst einmal auchein voller Erfolg beschieden scheint, hinterlässt bei ihr das schließlicheScheitern dieses Versuchs, das kommerzielle System aus einem eigenge-setzlichen Transaktionsmechanismus in einen dienstbaren Requisitions-

apparat umzufunktionieren, den bleibenden Eindruck einer Widerlegungund Erledigung auch und gerade der in den Umfunktionierungsversucheingebundenen Bemühungen um die nichtkommerzielle Beschaffungfremden Reichtums und bedeutet die erzwungene Rückkehr zur han-delsrepublikanischen Tagesordnung für sie den Verlust jeder Hoffnung,

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sich den durchs kommerzielle Prinzip gegebenen subsistenziellen Rah-

menbedingungen entziehen zu können. Eben weil die athenische Polisdie nichtkommerzielle Requisition fremden Reichtums, die den Erwerbfremden Reichtums durch Teilhabe am kommerziellen Austauschsystem ja eigentlich zu ersetzen bestimmt ist, per medium des umfunktioniertenAustauschsystems selbst abwickelt, erkennt sie das kommerzielle Prinzipals die via regia zur Beschaffung von Reichtum realiter ebensoehr an,wie sie es formaliter außer Kraft setzt, und kann die Immunreaktion, diedas kommerzielle Austauschsystem gegen seinen dergestalt zweckent-fremdeten Gebrauch an den Tag legt, nur als pauschales Verdikt gegendie Praktikabilität einer nichtkommerziellen Beschaffung von Reichtumüberhaupt begreifen.

Das kommerzielle Prinzip und seine Wirklichkeit, den kommerziellenReichtum abzuschaffen, vermag sie höchstens noch theoretisch und bloßin der symptomatisch-widersprüchlichen Form, in der die PlatonischePhilosophie das vorführt. Nicht genug damit nämlich, dass in der Pla-tonischen Fassung die Polis den eigenen, kommerziellen Reichtum, umihn loszuwerden, mit dem fremden, herrschaftlichen Reichtum zusam-menwerfen und dem Reichtum überhaupt entsagen, ihn pauschal aus derStadt verbannen muss, die Polis straft in der Platonischen Version mehrnoch die Befreiung vom kommerziellen Prinzip, die sie dadurch für diestädtische Produktionsgemeinschaft zu erwirken sucht, eklatant Lügen,indem sie in ebenso scheinbarer wie suggestiver Vorwegnahme spätererEmanzipationskonzepte die Produktionsgemeinschaft als unverändertsolche, als funktionsteilig-kooperative Arbeitsgemeinschaft, aufrecht-erhält und demnach aber in inhaltslos-leerlaufreaktiver Kontinuität alsdas Geschöpf des kommerziellen Prinzips, das sie von Haus aus ist,zwangsweise bewahrt oder vielmehr als das versteinerte Gedächtnisdessen, wovon sie doch eigentlich zwecks eines neuen, besseren Lebens befreit werden sollte, mit Gewalt arretiert.

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Die Polis Athen ist nicht imstande, die Stadtgemeinschaft neuen Typs zu kre-

ieren. Diese Rolle fällt Rom zu. Dem ägäischen Handelssystem bleibt nurmehrdie Aufgabe, mittels Aufhebung der von ihr zuvor durchgesetzten Arbeitsteilungzwischen Stadtstaat und Territorialsystem, sprich, mittels Durchdringung derterritorialherrschaftlichen Sphäre mit hellenistischer Kultur, den Boden für diePolis neuen Stils, für Rom, zu bereiten. Werkzeug dieser Zurüstung ist dermakedonische Expansionsdrang.

Die Polis Athen ist also nicht mehr in der Lage, das Konzept einerFortführung der im Kraftfeld des kommerziellen Prinzips entstande-nen und entfalteten städtischen Gemeinschaft neuen Typs jenseits deskommerziellen Prinzips und auf einer vom kommerziellen Reichtumweitgehend unabhängigen Subsistenzbasis eigener Provenienz in dieTat umzusetzen. Sie ist nicht mehr imstande, jene Trennung zwischenihrer handelsbedingten ökonomisch-technischen Konstitution und ihrerdamit einhergehenden politisch-praktischen Disposition vorzunehmen,die nötig ist, um sich kraft politisch-praktischer Disposition nicht nur deskommerziellen Prinzips, sondern auch und ebenso sehr der durch es be-dingten ökonomisch-technischen Konstitution zu entschlagen und auf dieeigenen Füße einer neuen, militärisch-taktisch fundierten und, statt auf den transaktiven Austausch eigener Produkte, auf die offensive Beschlag-nahme fremden Reichtums ausgerichteten ökonomischen Verfasstheit

zu stellen. Dieses Experiment zu unternehmen, bleibt Rom vorbehalten.Damit Rom die Durchführung des Experiments mit Aussicht auf Erfolgin Angriff nehmen kann, fehlt allerdings auf der territorialherrschaftli-chen Seite, der tributpflichtig zu machenden Sphäre nichtkommerziellenReichtums, noch eine wesentliche Voraussetzung, und für die Schaffungdieser Voraussetzung ebenso durchschlagend wie unfreiwillig zu sorgen,erweist sich für die athenische Polis und das durch ihr Wirken geprägteStädtesystem des ägäischen Raumes als die letzte vor dem Versinken derganzen Region in Provinzialismus noch zu erfüllende Aufgabe.

Dabei ist es eben dies um die athenische Polis gescharte ägäische Sys-

tem von Handelsstädten, das, wie es jetzt unfreiwillig für die Schaffungder fehlenden Voraussetzung Sorge trägt, so im Zuge der vorangegange-nen kommerziellen Entwicklung zielstrebig auf das Fehlen der Voraus-setzung hingearbeitet hat. Was der vom kommerziellen Prinzip zwischenden Geschöpfen des kommerziellen Reichtums, den Stadtgemeinschaften,

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und deren territorialherrschaftlichen Nachbarn gestiftete Austauschzu-

sammenhang nämlich ins Leben gerufen hat, ist ja nicht nur ein Mecha-nismus, der beiden wechselseitigen Zugang zum Reichtum der anderenSeite verschafft, sondern auch ein Zwang zur Arbeitsteilung, eine unwi-derstehliche Tendenz, die jeweiligen Formen des Reichtums aufeinanderabzustimmen und in ein Verhältnis gegenseitiger Ergänzung zu bringen.Während mit anderen Worten die territorialen Nachbarn in durch ihreherrschaftlich-frondienstliche Gesellschaftsstruktur gewährleisteter Kon-tinuität der Tradition einer wesentlich agrarisch-naturwirtschaftlichenProduktion verhaftet bleiben und demgemäß die auf ihrem begrenztenTerritorium zusammengeballten Polisgemeinschaften mit dem, was die-sen dort fehlt beziehungsweise nicht in ausreichender Menge zur Verfü-gung steht, mit Grundnahrungsmitteln, Rohstoffen, Edelmetallen und fürdie höfische Kultur erzeugten Luxusgütern, versorgen können, durchlau-fen die Polisstaaten selbst unter dem Einfluss der sie begründenden undals politisch-ökonomische Gemeinschaften sui generis organisierendenkommerziellen Funktion einen Prozess der handwerklich-technischenRaffinierung und Produktivitätsentfaltung, der sie in die Lage versetzt,die territorialherrschaftlichen Nachbarn mit Gebrauchsgütern, techni-schen Geräten und spezialisierten landwirtschaftlichen Erzeugnissen zu beliefern.

Diese in den natürlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten der

Handelspartner angelegte und durch den kommerziellen Austausch selbstkräftig beförderte Arbeitsteilung eröffnet nicht nur wegen des erwähntenProduktivitätsgefälles, das mit ihr entsteht, dem einen Partner, der Polis,eine außerordentliche Bereicherungschance und trägt damit nicht nur ent-scheidend zum ökonomischen Wachstum und politischen Gedeihen derPolis bei, sie beschert auch und zugleich dem Austauschsystem als gan-zem markante zivilisatorische Fortschritte und eine ausgeprägte Hebungdes Subsistenzniveaus und Lebensstandards. Wenn sich schon durch ihrevon der kommerziellen Funktion angetriebene handwerklich-technischeEntwicklung die Polis als der Hauptnutznießer der per Austausch prak-

tizierten wechselseitigen Aneignung fremden Reichtums erweist, so zu-gleich aber auch als wesentlicher Beiträger zum Verfahren und, so ge-sehen, als ihres eigenen Glückes Schmied, insofern die Güter, die sieaufgrund solch handwerklich-technischer Entwicklung in den Austauscheinzubringen vermag, einen gewichtigen und tatsächlich unabdingbaren

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Teil des Wohlstandes und gedeihlichen Subsistenz- beziehungsweise

Konsumniveaus konstituieren, den ihnen selbst und den Oberschichtender territorialen Handelspartner der Austausch beschert.Will die Polis nun wegen der ebenso unabwendbar wie unverhofft

nachteiligen ökonomischen und sozialen Folgen, die mit dem kommer-ziellen Austauschsystem für sie oder vielmehr für ihre Produktionsge-meinschaft verknüpft sind, diesem den Laufpass geben und sich auf eine Requisition des Reichtums der anderen Seite mit nichtkommerzi-ellen Mitteln verlegen und will sie dabei aber ihren Wohlstand wahren,nichts von ihrem gewohnten Lebensstandard einbüßen, so muss sicher-gestellt sein, dass der gewichtige Beitrag, den sie zur Gewährleistung

solchen Lebensstandards bislang selber und eigenhändig leistete, von denterritorialherrschaftlichen Nachbarn, die sie aus Handelspartnern in Tri- butpflichtige zu verwandeln und deren Reichtum sie sich durch Beschlag-nahmung statt durch Austausch anzueignen anschickt, mit übernommenwird. Nur wenn die Arbeitenden in den territorialherrschaftlichen Gebie-ten zusätzlich zu ihren agrarisch-naturwirtschaftlichen Funktionen jenehandwerklich-technischen Leistungen erbringen, die zuvor Privileg derArbeitsgemeinschaft in der Polis waren, und nur also wenn die erste-ren die zuvor im Rahmen des kommerziellen Austausches praktizierteArbeitsteilung zugunsten einer Wahrnehmung der gesamten, im Zuge

solchen Austausches entwickelten Palette von Tätigkeiten und Produk-tionsaufgaben ad acta legen, können die letzteren erwarten, mit einerunmittelbar tributären Aneignung fremden Reichtums nicht schlechter zufahren als mit einer kommerziell vermittelten.

Dafür zu sorgen, dass die durch das kommerzielle Prinzip ins Le- ben gerufene Arbeitsteilung zwischen Polis und Territorialherrschaftenaufgehoben wird und die territorialen Regionen die volle, dem ökonomi-schen Entwicklungsstand der Zeit entsprechende Produktionskapazitäterlangen – dies also ist die letzte historische Aufgabe Athens und seinerstadtstaatlichen Pendants. Warum aber sollte ausgerechnet das ägäische

Stadtstaatensystem, das ja jener Arbeitsteilung seinen ökonomischenWohlstand und seinen politischen Aufstieg verdankt, für deren Auf-hebung sorgen? Tatsächlich kann von der Erfüllung einer historischenAufgabe, sofern die Suggestion autorschaftlicher Resolution und ver-antwortlichen Handelns daran geknüpft ist, nicht im entferntesten oder

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höchstens und nur im ironischen Sinne einer nicht absichtlichem mensch-

lichem Wirken, sondern den unabsichtlichen Wirkungen menschlichenWirkens entspringenden Geschichte die Rede sein. Was die ägäischenHandelsstädte tun, tun sie nicht aufgrund eines essentiell-inneren Kal-küls, sondern kraft einer akzidentiell-äußeren Konstellation, vollbringensie mit anderen Worten nicht als historisch handelndes Subjekt, sondernals ebenso bewusstloses wie unfreiwilliges Werkzeug einer anderen, alshistorisches Subjekt agierenden Macht, die ihrerseits denkbar weit ent-fernt davon ist, die Aufhebung der durch die kommerzielle Funktionetablierten Arbeitsteilung zwischen Stadtstaat und Territorialherrschaftund die darin beschlossene Bereitung des Bodens für die Polis neuen Sti-les, die römische urbs, als ihre Aufgabe zu betrachten, und die vielmehrmit ihrem Handeln ganz anderes zu erreichen strebt, als sie schließlichvollbringt.

Diese andere Macht ist einer der nördlichen Nachbarn des ägäischenStadtstaatensystems, das makedonische Reich, eine territoriale Königs-herrschaft, die von den Wirren ihrer südlichen Nachbarn profitiert undsich mit Hilfe der ihr von dort zuteil werdenden materialen Einflüsseund personalen Zuwanderungen im Windschatten des PeloponnesischenKrieges und hinter den Kulissen der Auseinandersetzungen um die Vor-herrschaft in Griechenland zu einer regionalen Großmacht entwickelt.Diese neue territorialherrschaftliche Macht realisiert das politisch zerfalle-

ne und in seine sozialen Konflikte verstrickte ägäische Stadtstaatensystemzuerst als Objekt und Entfaltungsraum und dann in einer folgenreichenWendung als Instrument und Transportmittel für ihre territorialen Ex-pansionsgelüste und imperialen Herrschaftsaspirationen. Das heißt, dasMakedonische Reich beschränkt sich nicht darauf, seinen politischenEinfluss und schließlich auch seine militärische Herrschaft auf das Gebietder äußerlich zerstrittenen und innerlich geschwächten Poleis auszudeh-nen, es begreift mehr noch seine territorialen Neuerwerbungen als einkapitales Sprungbrett zum Angriff gegen die asiatische Großmacht, dasPersische Reich.

Als ein Sprungbrett, wohlgemerkt, nicht einfach im topisch-geographi-schen, sondern vor allem auch im technisch-strategischen Sinne, nichtalso nur in der Bedeutung eines Vorwerks, von dem aus und mit demals logistischem Rückhalt, sondern mehr im Verstande eines Vehikels,mit dessen Hilfe und durch dessen strategischen Einsatz sich erfolgreich

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gegen die Großmacht im Osten zu Felde ziehen lässt. All die Errun-

genschaften in der Kriegsrüstung und im Schiffsbau, die der Polis ihrehandwerklich-technische Entwicklung beschert haben, all die neuen Or-ganisationsformen und Funktionsweisen, die sie auf dem Boden derveränderten Produktionsverhältnisse und im Rahmen der gewandeltengesellschaftlichen Institutionen ausgebildet hat, die ganze, von machtge-stützter Willkür ebenso wie von kultischer Zwanghaftigkeit relativ freieZweckrationalität und Improvisationsfähigkeit im Planen und Handeln,die den Polisbewohnern durch ihre zwischen vertraglicher Kooperationmit dem anderen und manipulativer Indoktrination des anderen chan-gierende Einübung in die Kunst der Vermittlung von Interessen undnichtautoritären Willensbildung zugewachsen sind – das alles steht der

makedonischen Macht zu Gebote, um es für ihre expansiven Absichten zufunktionalisieren und zum Einsatz zu bringen. Sie, die durch Ausnutzungder gleichermaßen innerstädtischen und zwischenstaatlichen Konfliktedes Stadtstaatensystems letzteres unter ihre Kontrolle bringt und die dankihrer ethnisch-kulturellen Affinität zur stadtstaatlichen Bevölkerung, ih-res gemeinsamen Hellenentums, wie auch dank der Tatsache, dass siedem zerrütteten System zwar die Freiheit und Eigenständigkeit nimmt,ihm dafür aber Frieden und Stabilität bringt, mit ihrem Herrschaftsan-spruch zwar beileibe nicht ungeteilte Zustimmung findet, aber ebensowenig auf einhellige Ablehnung stößt – sie, die als traditionelles Königs-

tum organisierte territoriale Macht, sieht sich mit einer Neuerwerbung beglückt, die, recht verstanden, nicht einfach nur einen quantitativen,auf die Erweiterung des Herrschaftsgebietes und die Vergrößerung derSchar der Tributpflichtigen hinauslaufenden Zuwachs, sondern einenqualitativen, zur Eroberung und Unterwerfung weiterer und ungleichgrößerer Gebiete tauglich machenden Gewinn bedeutet.

Was das Stadtstaatensystem der territorialherrschaftlichen Macht antechnischem Knowhow, militärischer Übung, organisatorischem Inge-nium, logistischem Potential, strategischer Weitsicht, taktischer Beweg-lichkeit und genereller säkularisierter Urteilsfähigkeit beziehungsweiseentritualisierter Zweck-Mittel-Rationalität zugänglich werden lässt, ist

geeignet, den der Territorialmacht traditionell eigenen Expansionsten-denzen eine beispiellose Antriebs- und Schwungkraft zu verleihen. Diesineins zu erkennen und unter Beweis zu stellen, bleibt dem jungen Alex-ander vorbehalten, der als Kind beider Welten, als ebenso sehr mit stadt-staatlicher Kultur und Bildung vertrauter Philosophenzögling wie in den

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dynastischen Zusammenhang einer opferkultlichen Territorialherrschaft

eingebundener Thronnachfolger, das Eroberungswerk seines Vaters mitden anderen Mitteln eben jenes unter die Kontrolle der Königsherrschaftgebrachten Polissystems fortsetzt und damit denn aber das hochent-zündliche Gemisch aus territorialherrschaftlichem Expansionsbedürfnisund stadtstaatlichem Expansionspotential zu einer die überlegene asiati-sche Macht, das Persische Reich, aus der Geschichte fegenden Explosion bringt.

Dabei sind die modernen Mittel und Methoden der Kriegsführung,der Logistik und der Verwaltung, die der Poliszusammenhang dem kö-niglichen Eroberer zur Verfügung stellt und mit deren Hilfe er den jä-hen Untergang der persischen Großmacht herbeiführt und besiegelt, fürAlexander selbst partout nur Mittel zum Zweck der Errichtung einerweiteren Territorialherrschaft, der Schaffung eines eigenen Großreiches.Er fühlt sich als durch seinen Sieg berufener Nachfolger der Achämeni-den, und wenn er schon seine Aspirationen mit Mitteln und Methodendurchsetzt, die einem ganz anderen Kontext als dem der herkömmlichenterritorialherrschaftlich-fronwirtschaftlichen Aneignung und Verwaltungvon Reichtum auf theokratisch-opferkultlicher Legitimationsgrundlageentstammen, bleiben doch die Aspirationen selbst ganz und gar traditio-nell und zielen auf nichts anderes als auf dies mit ihm als Oberhaupt undDynastiestifter neubegründete und in möglichst umfänglichen geographi-

schen Grenzen wiederhergestellte System fronwirtschaftlich-territorialerHerrschaft.

An dieser Zielsetzung ändert sich auch nichts, als nach dem frühenTod Alexanders seine Feldherren die Macht übernehmen und, nicht ohneviele Streitigkeiten und kriegerische Auseinandersetzungen das allzu un-geschlachte Herrschaftsgebiet unter sich aufteilend, in Ägypten, Syrien,Kleinasien und Makedonien Reiche begründen. Alle streben sie eine Kö-nigsherrschaft alten Stiles, nämlich eine Herrschaft auf der ökonomischenBasis fronwirtschaftlicher Abschöpfung von Reichtum und mit der theo-kratischen Legitimation opferkultlicher Obödienz gegenüber den Göttern

an. Und alle bedienen sie sich zur Erreichung dieses Zieles, das heißt,zur Begründung und Befestigung ihrer territorialen Theokratien, dermodernen Mittel, die ihnen die Zivilisation der griechischen Stadtstaatenzur Verfügung stellt: sie operieren mit griechischer Kriegsrüstung undKriegstechnik, gründen als militärische Stützpunkte und als logistische

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Koordinaten griechische Kolonien und Städte in ihren Herrschaftsgebie-

ten, bringen griechische Handwerker, Künstler und Handeltreibende insLand, richten griechische Staatsverwaltungen ein.Das objektive Resultat ihres selbstischen Handelns ist der Hellenismus,

ein das ganze östliche Mittelmeer prägendes Amalgam aus traditionelltheokratischen Gesellschaftsstrukturen und entwickelten städtischen Le- bensformen, aus hergebrachten Produktionsverhältnissen und neuartigenProduktionstechniken, aus agrarisch-territorialer Fronwirtschaft undstädtischen Handwerkszentren, aus Götterkult und säkularer Bildung.Die Erben Alexanders, die Seleukiden, Ptolemäer, Antigoniden, Attaliden,infizieren die asiatischen Theokratien mit griechischer Zivilisation, legenmit Hilfe der technisch-handwerklichen, militärisch-organisatorischenund lebenspraktisch-bürokratischen Errungenschaften der Polis in denalten Territorialherrschaften eine Kultur an, die mit der alten, kommer-ziell durchgesetzten ökonomischen Arbeitsteilung zwischen Polis undterritorialen Nachbarn zugunsten von technische Avanciertheit mit poli-tischer Rückständigkeit verbindenden einheitlichen Wirtschaftssystemenaufräumt und die damit aber den Nährboden für das Gedeihen der sichauf die tributäre Abschöpfung territorialherrschaftlichen Reichtums ver-legenden Polis neuen Zuschnitts bildet, sprich, die ökonomische Bühnefür den historischen Auftritt Roms bietet

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. Pietas

Im Prinzip ähnlich strukturiert wie sie unterscheidet sich die Urbs Romana von

der Polis Athen durch das Übergewicht, das die im Intermezzo der Königsherr-schaft zur Aristokratie sich mausernde Formation der römischen Genokratie überdie kommerzielle Funktion behauptet, unterscheidet sich die Urbs von der Polismit anderen Worten dadurch, dass die mit dem Handelsplatz koalierenden terri-torialherrschaftlichen Repräsentanten nicht sowohl als wichtige Partner, sondernals mächtige Patrone der Marktgesellschaft firmieren.

Die Anfänge der neuen Stadtrepublik, der italischen Urbs, sind denen deralten, der ägäischen Polis, durchaus vergleichbar. Hier wie dort entstehtdas Stadtwesen im Kraftfeld kommerzieller Tätigkeit und mit Hilfestel-

lung einer aus der kommerziellen Tätigkeit Nutzen ziehenden und siedeshalb protegierenden Aristokratie. Nur, dass hier die kommerzielleTätigkeit sich nicht als Seehandel entfaltet und demgemäß nicht im ent-ferntesten die Dimensionen des von Athen mit den großen territorialenNachbarn, den Anrainerstaaten im östlichen Mittelmeer, betriebenen Aus-tausches annimmt, sondern auf die Schaffung einer im wesentlichen zuLande funktionierenden Handelsverbindung zwischen den etruskischenStadtstaaten im Norden und den griechischen Koloniegründungen imSüden Italiens beschränkt bleibt. Und dass hier die Aristokratie von Hausaus keine einem theokratisch-königsherrschaftlichen Zusammenhang

entstammende Oberschicht, sondern eine genokratische Assoziation, einelockere Verbindung ortsansässiger führender Geschlechter ist, die sich imNiemandsland zwischen etruskischem und griechischem Einflussgebietunabhängig behaupten und denen die in ihrem Schutze gedeihende kom-merzielle Funktion nicht weniger zur Bewahrung dieser ihrer politischen

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Eigenständigkeit als zur Sicherung ihres ökonomischen Wohlstandes

dient.Weil in den römischen Anfängen anders als im Falle Athens die kom-merzielle Funktion eine eher bescheidene Rolle spielt und der in ihrerAusübung akkumulierte Reichtum kein als kritische Masse für die Stif-tung der Stadtgemeinschaft ausschlaggebendes Eigenwicht gewinnt undweil zugleich wegen der geographischen Lage und Landgebundenheitdes Handelsplatzes und seiner Austauschwege der militärischen Stärkeund Abwehrbereitschaft der Aristokratie oder vielmehr Genokratie fürden Schutz und die Aufrechterhaltung der kommerziellen Funktion ent-scheidende Bedeutung zukommt, ist hier von Anfang an kennzeichnendfür das Verhältnis zwischen Oberschicht und Handel, zwischen Genokra-tie und Kommerz, ein – negativ gefasst – vorherrschaftliches Übergewichterster über den letzteren oder ein – positiv genommen – von ersterergegenüber letzterem wahrgenommenes Patronat.

Wegen der Entwicklungsdynamik des überseeischen Handels undaufgrund der Tatsache, dass die Aristokratie als eigenständiger Macht-faktor erst ins Spiel kommt, als die kommerzielle Funktion bereits starkgenug ist, um im Bunde mit ihr die Königsherrschaft abzuschütteln,ist in Athen das Verhältnis zwischen Aristokratie und Kommerz eherdurch eine gleichberechtigte Partnerschaft und Interessenkonvergenz bestimmt als durch ein asymmetrisches Zugleich von schirmherrschaft-

licher Dominanz und klientelspezifischer Dependenz. Auch wenn dieathenische Aristokratie erst einmal unbestritten die politische Führunginnehat, die Lenkung des Staatsschiffes, die arché,  für sich in Anspruchnimmt, bleibt sie doch aber in ihrem politischen Agieren angewiesenauf und bestimmt durch den ökonomischen Juniorpartner, im Vereinmit dem sie den Bestand des Gemeinwesens garantiert und der, weil ur-sprünglich er die Polis durch sein ökonomisches Handeln ins Leben ruftund unabhängig von ihr, der Aristokratie, als Gemeinschaftstyp eigenerProvenienz konstituiert und weil, so gesehen, sie, die Aristokratie, sich beim Sturz der Königsherrschaft in das von ihm gemachte Nest setzt, sich

ihr gegenüber je schon in der nach Maßgabe seines Gedeihens zuneh-mend unanfechtbaren Machtposition einer das vitale Prinzip der Polis zurGeltung bringenden grauen Eminenz, eines das ökonomische Interesseund den kommunalen Willen der breiten Bürgerschaft repräsentierendenSpiritus rector behauptet.

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In Rom dagegen, wo die kommerzielle Funktion in ihrer Entfaltung

 binnenländischen Beschränkungen unterliegt und wo das machtpoli-tische Niemandsland, in dem sie sich entfaltet, sie von Anfang an auf die Duldung und Protektion der dort als lokaler Ordnungsfaktor herr-schenden Geschlechter angewiesen sein lässt – in Rom also behauptetsich jene die kommerzielle Funktion tolerierende beziehungsweise unterihre Fittiche nehmende Genokratie in der Position der eindeutig überle-genen, definitiv maßgebenden Partei und behält, wie sie die politischenund militärischen Rahmenbedingungen schafft, unter denen der Handelüberhaupt nur zu entstehen und zu gedeihen vermag, so denn auch dieKontrolle und Verfügung über das, was da unter ihrem Patronat ent-steht und an der Schnittstelle zweier Einflusssphären allmählich Gestaltannimmt. Dabei ist die kommerzielle Funktion ihren genokratischenSchutzherren in beiderlei Hinsicht, in politischer nicht weniger als inökonomischer, von Nutzen. Während sie die letzteren zum einen an dentechnischen Errungenschaften und konsumtiven Lebensformen des etrus-kischen und des großgriechischen Kulturraumes teilhaben lässt, dientsie ihnen zum anderen als Faustpfand im Umgang mit den etruskischenStädten, den großgriechischen Koloniegründungen und den unmittelbar benachbarten, latinischen und sonstigen Stämmen, insofern sie diesenallen die wegen der Wehrhaftigkeit seiner Beschützer nur um den Preisseiner politischen Unabhängigkeit zu habende Existenz des römischen

Handelsplatzes als eine im jeweils eigenen Interesse und nämlich im allengemeinsamen Interesse an einem regelmäßigen Güterverkehr und un-gestörten Austausch zwischen den Kulturräumen liegende Gegebenheitvorstellig werden lässt.

Die Königsherrschaft, der das etruskische Geschlecht der TarquinierRom für hundert Jahre unterwirft, bedeutet nur scheinbar einen Fehl-schlag dieser Strategie der römischen Genokratie, die kommerzielle Funk-tion unter ihren wehrhaften Schutz zu stellen, um mit ihrer Hilfe diepolitische Unabhängigkeit zu sichern. So gewiss die Königszeit Episode bleibt, so gewiss zeitigt sie zwei, der politischen Unabhängigkeit Roms

auf der Grundlage kommerzieller Beziehungen und unter der Kontrolleeines patrizischen Patronats letztlich förderliche Ergebnisse.Zum einen führt die Königsherrschaft dazu, dass im Guten wie im

Bösen, in höfischer Anpassung an die homogenisierende Kraft des kö-niglichen Zentralismus ebenso wie in frondesker Reaktion auf die vom

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autokratischen Herrn ausgehende Gefahr der Nivellierung, die Genokra-

tie sich zu einer Aristokratie stricto sensu mausert, bewirkt mit anderenWorten der teils positiv zur Nachfolge anhaltende, teils negativ zum Wi-derstand aufreizende Druck der Alleinherrschaft, dass, nicht zuletzt dankdes Ferments einer Vermischung mit etruskischem Adel, aus den dispa-raten, durch Heirat und Zweckbündnisse lose miteinander verbundenenGeschlechtern, deren Gemeinsamkeit sich im Interesse an der politischenUnabhängigkeit erschöpft und die ansonsten in der Sprödigkeit haus-mächtig in sich ruhender Sippenverbände, idiosynkratisch verschwore-ner Gemeinschaften, gegeneinander verharren, eine einheitliche, durchgemeinsame Lebensformen und ein artikuliertes Standesbewusstseinkontinuierlich gemachte Oberschicht wird.

Zum anderen sorgt die der monarchischen Herrschaft als natürlichesund praktisch auch einziges Mittel zur Bereicherung und Vergrößerungihrer Macht eingeschriebene territoriale Expansionstendenz dafür, dassder Hauptkonkurrent vor Ort, der latinische Stammesbund, unterworfenwird und die ihm angehörenden Städte sich der römischen Vorherrschaftin der Region beugen müssen. Dergestalt durch das monarchische In-termezzo sowohl innenpolitisch-institutionell gestärkt und als in sichgeschlossenes Corpus etabliert, wie außenpolitisch-territorial erfolgreichund nämlich als militärische Trägerin des römischen Hegemonialan-spruchs in der Region bewährt, besinnt sich die Aristokratie auf ihreursprüngliche, genokratisch behauptete Unabhängigkeit, vertreibt denfremdbürtigen Monarchen, schüttelt das Joch der in ihm verkörpertentheokratischen Herrschaft ab und beginnt jene beispiellose aristokratisch-republikanische Karriere, die sie zur Begründerin einer Weltherrschaftwerden und ihren Untergang erst in dem durch ihr allzu erfolgreichesWirken heraufbeschworenen Konkurs des gesamten Mittelmeerraumesund dem als Konkursverwaltung fungierenden Kaiserreich finden lässt.

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Das andere Kräfteverhältnis zwischen römischer Aristokratie und Marktgemein-

schaft bringt es mit sich, dass letztere bei der Legitimierung des den rituellen Ver- pflichtungen der territorialherrschaftlichen Sphäre entrissenen und in den Frei-raum der Stadt überführten aristokratischen Reichtums keine Rolle spielt. Wäh-rend es in Athen die Bürgerschaft ist, die der Aristokratie im Austausch gegendie Übernahme liturgischer Aufgaben die entsakralisiert freie Verfügung über ih-ren Reichtum verschafft, muss in Rom die Aristokratie aus eigener Kraft mit den

 göttlichen Ansprüchen auf ihren territorialherrschaftlichen Reichtum ins Reinekommen. Sie tut das in der Weise, dass sie im Rex sacrorum ein Schattenbild desverjagten Stellvertreters der Götter, des theokratischen Monarchen, beibehält undes diesem auf die reine Opferfunktion reduzierten König überlässt, die durch deninnerstädtisch freien Gebrauch, der von ihrem Reichtum gemacht wird, erzürn-ten Götter in bewährter opferkultlicher Manier zu versöhnen.

Als politisches Beratungs- und Entscheidungsgremium der neuen ari-stokratischen Herrschaft dient die bereits in monarchischer Zeit zur festenEinrichtung erhobene Ratsversammlung, der Senat. Dieser wählt aus sei-ner Mitte eine Reihe von Funktionären, an ihrer Spitze zwei Konsuln, dieer mit der Leitung der politischen Geschäfte, mit militärischen und büro-kratischen Exekutivaufgaben betraut. Sowohl die Doppelbesetzung desAmtes als auch der jährliche, durch Neuwahl bewirkte Wechsel im Amtsollen dafür sorgen, dass es zu keiner funktionsbedingten Machtkonzen-

tration kommt und das für eine aristokratische Herrschaft entscheidendePrinzip der politischen Ebenbürtigkeit, der gleichmäßigen, kollegialenTeilhabe an der Macht gewahrt bleibt. So fremdbürtig und episodisch diemonarchisch-theokratische Herrschaft im von Haus aus genokratisch ver-fassten Rom ist – in einem der neugeschaffenen Ämter überlebt sie underweist sich damit haltbarer als in Athen, das doch aus einem originärmonarchischen Staatswesen hervorgeht. Im Rex sacrorum, im Opfer-könig, und im Pontifex maximus, im “Großen Brückenbauer”, existiertder theokratische Herr, der Stellvertreter der Götter, fort und obliegt alsVorsteher des Priesterkollegiums beziehungsweise als oberster Priester

des Kollegiums seiner angestammten Aufgabe, den Göttern die ihnen alsden wahren Herren des gesellschaftlichen Reichtums zustehenden Opferzu bringen; nur dass jetzt die Wahrnehmung der opferkultlichen Aufgabemit keinem Anspruch auf gesellschaftliche Herrschaft, auf politischeFührungskompetenz, auf theokratische Macht mehr einhergeht.

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Diese Fortführung der theokratischen Rolle in der Gestalt eines poli-

tisch entmachteten Priesteramtes, eines symbolisch-repräsentativen Sa-kralverhältnisses, einer abstrakt religiösen Spezialbeziehung zu den Göt-tern, ist einmal mehr Niederschlag der markant anderen Stellung undFunktion, die, verglichen mit der aristokratischen Führungsschicht inder athenischen Polis, die in Rom herrschende Aristokratie in bezugauf das um den Handelsplatz entstehende städtische Gemeinwesen in-nehat. In Athen ist zum Zeitpunkt der Abschaffung der Monarchie diekommerzielle Funktion bereits stark genug und beweisen der durch sieakkumulierte Reichtum und die um ihn und seinen Akkumulationsme-chanismus sich organisierende neue Gemeinschaft bereits hinlänglicheSchwerkraft, um die mit der kommerziellen Funktion verbündeten Er- ben des theokratischen Systems, die Aristokraten, ganz und gar in denBannkreis des neuen politischen Milieus überwechseln zu lassen und zueiner sub specie der neuen Verhältnisse vollzogenen Neubestimmungaller ihrer überkommenen sozialen Rechte und rituellen Pflichten zuzwingen. Das gilt, wie an früherer Stelle gezeigt, auch und vor allem fürihr Verhältnis zu dem ökonomischen Erbe, das sie aus dem aufgelasse-nen theokratischen Zusammenhang mitbringen, ihr Verhältnis zu ihremOikos, ihrem territorialen Besitz, und für die kultischen Verbindlichkei-ten, die opferkultlichen Rücksichten, die dieser territoriale Besitz ihnenauferlegt.

In der dem Wesenskult entlehnten Strategie, durch die sie ihren indie Polis mitgebrachten oikosentsprungenen Reichtum seiner ihm vonHaus aus eigenen kultischen Hypothek und Opferqualität entkleidenund zur privatim verfügbaren Manövriermasse ihrer polisinternen Exis-tenz machen, spielt die Polisgemeinschaft eine Schlüsselrolle, indem sieihnen das wesensbezogene höhere Selbstsein bescheinigt, das in demMaße, wie es erlaubt, die Welt aus einer substantiellen Habe der Götterin entgöttlicht wesenlose Erscheinungen verflüchtigt zu gewahren, ihnenfreie Verfügung über ihren als Teil dieser Erscheinungswelt firmierendenReichtum verschafft. Für ihr Attest verlangt die Polisgemeinschaft den

Aristokraten allerdings als Gegenleistung jene liturgische Art der Reich-tumsverwendung ab, in der sie das ihnen attestierte höhere Selbstseinden einzig angemessenen Ausdruck finden sieht und durch die sich dieletzteren aus machtbesessen-potentiellen Zwietrachtsäern in der Stadt zuruhmbegierig-aktuellen Wohltätern des Gemeinwesens geläutert zeigen.

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Ganz anders in Rom! Hier, wo die kommerzielle Funktion und die in

ihrem Kraftfeld organisierte Gemeinschaft beschränkt und schwach ge-nug sind, um sich eher in Klientelabhängigkeit von den aristokratischenPatronen zu befinden, als ihnen in partnerschaftlicher Eigenständigkeitgegenüberzutreten, und um für die Aristokratie eher ein Faustpfand undMittel in deren kontinuierlichem Kampf um Unabhängigkeit und Machtzu bilden, als ein Milieu und Medium darzustellen, in das die Aristokratieerst einmal mit Haut und Haar überwechseln muss, um sich nach sei-ner innenpolitischen Maßgabe dann in ihren Interessen und Intentionenneu zu definieren – hier also, in Rom, bleibt es der Aristokratie selbstüberlassen und ist sie, mit anderen Worten, ohne die alles revidieren-de Dazwischenkunft des kommerziell-städtischen Milieus gehalten, dieKluft zwischen der opferkultlichen Sphäre fronwirtschaftlichen Reich-tums, der sie durch ihre Ländereien, ihren Territorialbesitz, verhaftet, undder vom Austausch geprägten Sphäre kommerziellen Reichtums, in derals in der unter ihrem Patronat sich entfaltenden neuen städtischen Ge-meinschaftsform sie mittlerweile zuhause ist, zu überbrücken, sprich, dieAblösung von den göttlichen Prärogativen und kultischen Hypotheken,mit denen ihr herrschaftlich erworbener Reichtum belastet ist, zu vollzie-hen, und den Wechsel zu der vergleichsweise freien Verfügung über ihrenReichtum, zu den austauschkonformen Weisen seiner Verwendung, diedas Leben in der Stadtgemeinschaft ihr gleichermaßen ermöglicht und

abverlangt, zu legitimieren.Dabei spielt im Einklang mit dem eher instrumentellen als medialen

Charakter, in dem sich die römische Stadtgemeinschaft ihrer Aristokra-tie darbietet, hier der wesenskultliche Legitimationsmechanismus, denAthen seiner politisch führenden Schicht zur Auflage macht, keinerleiRolle. Dieser Legitimationsmechanismus, der auf ein wesensbezogenhöheres Selbst als auf die conditio sine qua non einer durch kultischeRücksichten unbehinderten Reichtumsverwendung rekurriert, gründet ja in der Gleichzeitigkeit des Bedürfnisses des Aristokraten nach freierVerfügung über seinen Reichtum und des Bedenkens der Polisgemein-

schaft gegen eben solche freie Verfügung und dient dem Zweck, dieGewährung der letzteren an ihre Domestizierung zu knüpfen, sprich,die Aufhebung der göttlichen Hypotheken und opferkultlichen Verbind-lichkeiten, die den herrschaftlichen Reichtum von Haus aus belasten,davon abhängig zu machen, dass der Aristokrat seine freie Verfügung

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über den Reichtum der Kuratel neuer, polisspezifischer Konventionen

und alternativer, polisdienlicher Verpflichtungen unterstellt. Auf dieseWeise sucht die Polisgemeinschaft zu bannen, was ihr Bedenken erregt:die Gefahr nämlich, dass eine uneingeschränkt freie Verfügung über ihrenherrschaftlichen Reichtum die Aristokraten dazu ermuntern könnte, sichEinflusssphären zu schaffen, Anhängerschaften zu kaufen, und auf dieserGrundlage dann die Stadt in zerreißende Kämpfe um private politischeMacht und persönliches soziales Prestige zu verstricken.

In Rom indes spielt teils wegen der Schwäche und Unerheblichkeit desstädtischen Milieus, in dem die Aristokraten sich um Einfluss bemühenund Partisanen sammeln müssten, teils wegen des starken Zusammen-

halts und korporativen Geistes, zu dem die prekäre Lage des Gemeinwe-sens inmitten anderer, eigenständiger Volksgruppen und im Schnittpunktübermächtiger fremder politischer Systeme und kultureller Sphären dierömische Aristokratie zwingt, diese Gefahr eines im herrschaftlichenReichtum lauernden politischen Konfliktpotentials und Keims sozialerZwietracht keine nennenswerte Rolle. Und weil also wegen der geringenVerführungen, die das ärmliche Gemeinwesen für den Ehrgeizigen undGeltungssüchtigen bereithält, und wegen der relativen Solidarität, dieder Aristokratie das gemeinsame Streben nach Unabhängigkeit in einerWelt von Feinden abnötigt, von der freien Verfügung der Aristokraten

über ihren in die Stadt importierten herrschaftlichen Reichtum kaum eineBedrohung für die Eintracht und den inneren Frieden des um die Han-delsfunktion gescharten Gemeinwesens ausgeht, kann letzteres getrostdie Legitimation solch freier Verfügung der Aristokratie selbst überlassenund braucht ihr nicht wie in Athen die Avancen eines wesenskultlich radi-kalen Bruches mit der theokratisch-opferkultlichen Tradition zu machen,in dessen zirkelhafter Konsequenz die Aristokratie zwar auf der Basisdes ihr attestierten wesensbezogen höheren Selbstseins tatsächlich dievon ebensoviel Narzissmus wie Agnostizismus gespeiste Lizenz erhält,mit ihrem Reichtum nach Gutdünken zu verfahren, diese Lizenz zugleich

aber an die Erhaltung jener Basis geknüpft und so denn das Gutdünkenauf die Einsicht in die Opportunität einer Reichtumsverwendung redu-ziert findet, die sich in Zuwendungen an die Polisgemeinschaft zwecksErlangung ihres zur Basis jener Basis erhobenen rühmenden Attests, ihrerlegitimierenden Anerkennung, erschöpft.

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Bleibt demnach im römischen Kontext der Aristokratie solch wesens-

kultlich zweischneidige Hilfestellung versagt und bleibt es ihr ganz undgar selbst überlassen, die Überführung ihres fronherrschaftlichen Reich-tums in die kommerzielle Sphäre und den vergleichsweise freien, aus-tauschbestimmten Gebrauch, den sie dort von ihm macht, zu legitimieren,so hat sie offenbar gar keine andere Wahl, als sich mit den eigentlichenHerren und ursprünglichen Eignern herrschaftlichen Reichtums, denMachthabern der theokratischen Sphäre, den Göttern, ins Benehmen set-zen und sich bei ihnen die Lizenz für den Transfer ihres Reichtums in dieStadt und für den neuen, von opferkultlichen Rücksichten dispensiertenGebrauch, der dort von ihm gemacht wird, zu besorgen. Worin sonst abersoll diese von den Göttern gegebene Erlaubnis zur außerkultisch freienVerfügung über den herrschaftlichen Reichtum, diese der Aristokratieerteilte göttliche Lizenz ihren Ausdruck finden, wenn nicht in einer At-titüde wohlwollender oder jedenfalls stillschweigender Duldung, die siegegenüber dem fait accompli der neuen, austauschspezifischen Reich-tumsverwendung an den Tag legen, einer Haltung konzilianten oder jedenfalls nachsichtigen Laissez-faires, die sie angesichts der vollzogenenaristokratischen Desertion in die Stadt beweisen? Und wie anders abersoll diese Duldung, diese Laissez-faire-Haltung der Götter sich erreichenlassen, wenn nicht in der gehabten Weise einer als conditio sine quanon des eigenen Nießbrauchs am Reichtum realisierten prinzipiellen

Anerkennung des göttlichen Eigentumstitels auf den Reichtum, sprich, inder gewohnten Manier, die Götter durch als Retributionen wohlverstan-dene Reichtumsgaben, durch Opfer, gnädig zu stimmen oder jedenfallszum Stillhalten zu bewegen? So gewiss der römischen Aristokratie keinewesenskultlichen Avancen den Weg in eine zum radikalen Bruch mit dertheokratischen Tradition geratende Neubegründung ihres fronwirtschaft-lich fundierten ökonomischen Wohlstandes und ihres damit verknüpftensozialen Status weist und so gewiss sie sich vielmehr zur Rechtfertigungdes neuen, von religiösen Bindungen und kultischen Verpflichtungenfreien Gebrauchs, den sie im städtisch-kommerziellen Kontext von ihrem

Wohlstand macht, an die Herren der von ihr im Stich gelassenen theo-kratischen Sphäre, die Götter selbst, zurückverwiesen findet, so gewissist sie gehalten, sich auf altbewährte Weise mit ihnen zu arrangierenund nämlich einmal mehr das im Opferkult bestehende theokratischeLegitimationsinstrumentarium zu bemühen.

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Wenn so aber die Aristokratie zur Rechtfertigung der nichttheokratisch

freien Verfügung, die sie über ihren herrschaftlichen Reichtum bean-sprucht, auf theokratische Legitimationspraktiken, sprich, auf Opfer-handlungen, rekurrieren muss, dann ist das nolens volens gleichbedeu-tend mit einem Rekurs auf denjenigen, der diese Praktiken traditionellübt, für diese Handlungen seit alters zuständig ist: den als Stellvertre-ter oder Statthalter der Götter die Opfer bringenden Priesterkönig, dentheokratischen Herrn. Und eben das ist der Grund, warum die römischeAristokratie die Monarchie, kaum dass sie mit ihr als politischem Faktumaufgeräumt hat, als religiösen Faktor wieder ins Spiel bringt, warum sieden königlichen Herrn, kaum dass sie ihn als Rex populi verjagt und adacta gelegt hat, als Rex sacrorum wiedererstehen und erneut in Aktiontreten lässt. Dieser zum Priesterkönig im buchstäblichen Sinne des Wortesgewordene Opferer vom Dienst sorgt nun mit seinem die alte Opferge-meinde repräsentierenden Kollegium dafür, dass die Götter, die Herrendes fronherrschaftlichen Reichtums, ihre traditionelle Anerkennung fin-den, ihr gewohntes Teil erhalten und, sediert oder saturiert, beschwichtigtoder versöhnt, die aristokratischen Erben ihres Reichtums gewähren, siein ihrem neuen, von theokratischen Zwängen emanzipierten städtischenMilieu mit dem herrschaftlichen Reichtum nach Gutdünken beziehungs-weise nach Maßgabe der neuen Verwendungsmöglichkeiten, die derkommerzielle Zusammenhang eröffnet, verfahren zu lassen. Hat alsoschon der dem römischen Gemeinwesen aufgepfropfte Monarch derursprünglichen Oberschicht des Gemeinwesens, der Genokratie, nolensvolens den doppelten Dienst geleistet, sie zur vergleichsweise homogenenAristokratie zusammenzuschweißen und ihr durch militärische Expan-sion den für ihre weitere, selbständige Entwicklung nötigen territorialenSpielraum zu verschaffen, so muss er nun quasi post mortem ein übrigestun und in Gestalt eines als opferkultlicher Spezialist institutionalisiertenRevenants für das Wohlwollen oder jedenfalls das Stillhalten jener göttli-chen Mächte sorgen, mit denen die in den neuen städtischen Lebensraumüberwechselnde Aristokratie durch ihr territorialherrschaftliches Erbe,

ihre Landgüter, verbunden und denen sie durch den fronherrschaftlichenReichtum, den sie in das neue Milieu mitnimmt und kraft dessen sie sichdort als herrschende Schicht etabliert, verpflichtet bleibt.

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Die Suggestion einer manipulativen Behandlung der territorialen Götter durch

die in der Stadt Fuß fassende Aristokratie trügt. Die mittels Rex sacrorum praktizierte pauschale Abgeltung der opferkultlichen Verpflichtungen gegenüberden Göttern geht Hand in Hand mit den von den Familien wahrgenommenentotenkultlichen Verpflichtungen gegenüber den eigenen Ahnen. Gleichzeitigverhindert die Einbindung der einzelnen Familien in den Geschlechterverbandder um den Handelsplatz kreisenden Aristokratie den Rückfall des den theokra-tischen Opferkult zur Formalie degradierenden genokratischen Ahnenkults intotenkultlich-katabolische Jenseitsorientierung.

Gleichermaßen strukturell und funktionell erscheint indes diese künst-liche Wiederbelebung des theokratischen Herrn und seiner Opfergemein-de im Rex sacrorum und seinem Kollegium als ein so durchsichtigerSchachzug der auf freie Verfügung über ihren Reichtum erpichten Aristo-kratie, als eine derart eklatant auf die Überlistung der Götter abgestellteManipulation, dass sich die Frage aufdrängt, wie sogar die Aristokratieselbst, ganz zu schweigen von den übrigen gesellschaftlichen Gruppen,diesem opferkultlich erzielten Arrangement über den Weg trauen unddie Bedeutung eines ebenso bindenden wie geheiligten Übereinkommensmit den Göttern beimessen kann, statt ihm das Attest eines ebenso kapri-ziösen wie frevelhaften Umspringens mit ihnen auszustellen. Nicht nursind nämlich der Rex sacrorum und sein ganzes Kollegium Amtsträger,

die aus den Reihen der Aristokratie und von ihr selbst gewählt werdenund die insofern, statt als Repräsentanten der Götter und Sachwalter ihrerAnsprüche zu figurieren, vielmehr als Kreaturen der Aristokratie undHandlanger aristokratischer Interessen firmieren – Tatsache ist und bleibtaußerdem, dass die Aristokratie das ganze opferkultliche Spektakel zudem einzigen Zweck aufführt, sich ihren opferkultlichen Verpflichtungenzu entziehen, dass sie sich der beflissen theokratischen Rücksichtnahmenur befleißigt, die traditionelle Huldigung an die Götter nur inszeniert,um sich ansonsten um die Götter nicht mehr kümmern zu müssen undsich in ihrem neuen, die opferreligiöse Rücksicht dem kommerziellen

Austausch opfernden Lebensraum frei bewegen, mit ihrem herrschaftli-chen Reichtum, den sie aus der opferreligiösen Sphäre mitbringt, nachGutdünken als vielmehr nach Maßgabe der privateigentümlichen Ver-wendung, der sie ihn im kommerziellen Austausch zuführt, schalten undwalten zu können.

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Wie kann sich die Aristokratie zu einer so offenkundig manipulati-

ven Behandlung der Götter, einem so unschwer als Überlistungs- undTäuschungsmanöver erkennbaren Umgang mit ihnen verstehen, ohnesogleich vom Bewusstsein ihres frevelhaften Unterfangens ereilt, von demin jedem Missgeschick, jedem Fehlschlag, jedem Unglück Ausdruck fin-denden Zorn der Götter heimgesucht zu werden? Wie kann sie den theo-kratischen Begründungsmechanismus derart durchsichtig ins Instrumenteines Ausstieges aus dem theokratischen System umfunktionieren, denOpferkult derart zielstrebig zur Rechtfertigung einer vom Opferzwangemanzipierten städtischen Lebensführung missbrauchen, ohne sogleichvom Zynismus ihrer Vorgehensweise erdrückt zu werden, ohne die for-male Befreiung von göttlichen Verfügungsansprüchen, die sie mit demLippenbekenntnis eines als quasi bürokratischer Akt inszenierten Opfer-kults erwirkt, durch das Bewusstsein der materialen Profanität ihres Tuns,ihrer Sünde wider den Geist der sakralen Handlung zunichte gemacht zusehen? Schließlich nutzt ja die Aristokratie die Verfügungsgewalt überden herrschaftlichen Reichtum, die sie sich in traditionell theokratischerManier durch die opferkultliche Anerkennung des göttlichen Eigentums-titels auf den Reichtum sichert, einzig und allein dazu, diesen Reichtumin einen Kontext einzubringen, in dem er sich aus einem von den Götternihrem Stellvertreter zu treuen Händen übergebenen Gut in ein von denErben des Stellvertreters persönlich beanspruchtes Eigentum verwandelt.

Das heißt, sie führt ihn Verwendungsformen zu, die ihn die substantielleSichselbstgleichheit eines öffentlichen Ereignisses, das objektiver Selbst-zweck ist und nämlich dem in ihm erbrachten sakrifiziellen Vorweis derWirklichkeit und des bleibenden Wertes der ganzen Welt dient, verlierenund statt dessen die kommerzielle Austauschbarkeit einer Privatsachegewinnen lässt, die nurmehr Mittel subjektiver Ambitionen ist und näm-lich dem Nachweis des ökonomischen Wohlstandes und der sozialenGeltung dessen dient, der über sie verfügt. Die Aristokratie springt alsomit dem durch den Rex sacrorum, den theokratischen Herrn als nur-mehr religionsbürokratische Institution, unter ihre Verfügung gebrachten

herrschaftlichen Reichtum auf eine Weise um, die den Eigentumstitelder Götter, den sie pro forma des Opfers reaffirmiert, pro materia ihresAlltags Lügen straft, indem sie den Reichtum eben der substantiellenIdentität und funktionellen Zweckmäßigkeit beraubt, auf die der göttlicheTitel lautet, und demnach den Göttern mit jeder Opfergabe, die sie ihnen

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darbringen lässt, ein Muster ohne Wert präsentiert, das sakrale Exemplar

einer profanisierten Gattung, das Paradigma einer öffentlich-rituellenWirklichkeit, die gar nicht mehr beziehungsweise bloß noch in der siezur Unkenntlichkeit entstellenden Form entritualisierter Instrumentalitätund privateigentümlicher Funktionalität existiert. Wie kann das so alsSchwindelunternehmen offensichtliche, als reale Enteignung unter demDeckmantel nomineller Zueignung unschwer erkennbare, bürokratisierttheokratische Opferbringen bei den Beteiligten verfangen und den Ein-druck einer mit den Göttern erzielten glaubwürdigen Verständigung undseriösen Übereinkunft vermitteln?

Die Suggestion allerdings einer derart radikalen und reinlichen Schei-dung zwischen sakraler Reichtumsübereignung und profaner Reichtums-verwendung, die Vorstellung mithin, als ginge es für die Aristokratiewirklich nur darum, sich durch den Rex sacrorum und seine opferkult-liche Obödienz gegenüber den Göttern freie Verfügung über den herr-schaftlichen Reichtum zu verschaffen, um dann kraft solcher Verfügungden Reichtum in die allem opferkultlichen Gottesdienst definitiv ent-zogene städtisch-kommerzielle Sphäre zu transferieren und ihn dort in jeder sakrifiziellen Verpflichtung und öffentlichen Verantwortung ledigenselbstisch-privaten Gebrauch zu nehmen – diese Suggestion und Vorstel-lung führt in die Irre. Verhielte sich die Sache so, es wäre in der Tat nichteinzusehen, wie die Aristokratie vor sich selbst und in den Augen der

anderen als ernstzunehmender sakrifizieller Vertragspartner bestehen,wie sie sich dem Vorwurf eines sakrilegischen Verhaltens gegenüber denGöttern und nämlich eines in der Form der bürokratischen Aufrechter-haltung der theokratischen Opferroutine gegen die Götter praktiziertenmanipulativen Vorgehens und expropriativen Betrugs entziehen könnte.Was indes die Aristokratie vor diesem Vorwurf bewahrt, ist ihre genokra-tische Herkunft und das ahnen- und totenkultliche Erbe, das sie von dortmitbringt.

Anders als etwa die athenische Aristokratie, die ihre historische Iden-tität rückhaltlos im theokratisch-opfergemeindlichen Zusammenhang

findet, ist die im Niemandsland zwischen etruskisch-theokratischer Sphä-re und griechisch-stadtstaatlicher Kolonisierung ihre Stellung behaup-tende römische Genokratie ursprünglich noch in der autochthonen Tra-dition eines Kults der einzelnen Geschlechter um ihre stammesspezifi-schen toten Herren, einer von den jeweiligen Sippenverbänden gepflegten

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lebenspraktisch-rituellen Bindung an ihre ins Jenseits übergewechselten

angestammten Reichtumseigner und hauseigenen Despoten, ihre nichtschon zu Göttern abstrahierten und revidierten Ahnen, verhaftet. Andersals die bereits ob ovo durch ihre opfergemeindliche Zugehörigkeit undFunktion, ihre Gefolgschaft gegenüber dem Stellvertreter der Götter,dem theokratischen Herrn, definierte griechische Aristokratie sind dierömischen Aristokraten von Haus aus eigenständige Sippenhäupter undals solche Repräsentanten der stammeseigenen Toten, der im Jenseitsversammelten Reihe von ihresgleichen, die in letzter oder besser vor-letzter Instanz auf den Heros, das seiner Negativität entrissene und zurAffirmations- und Integrationsfigur gewendete andere Subjekt, zurück-geht und in ihm die totenkultlich geltend gemachte Legitimation ihrer

durch die Person des Repräsentanten geübten Herrschaft findet.Zwar wird im Zuge der Unterwerfung der römischen Genokratie unter

die theokratische Herrschaft der tarquinischen Monarchen diese toten-kultliche Ahnenreligion durch den von der Theokratie mitgebrachtenopferkultlichen Götterglauben verdrängt und überlagert, aber so wahres sich dabei eben nur um eine Verdrängung und Überlagerung handelt,so wahr sich nicht eine primäre Aufhebung stammesspezifisch diskreterAhnenkulte in einen ebenso kontinuierlich organisierten wie systematischartikulierten Götterkult ereignet, sondern bloß eine sekundäre Absetzungdieser diskreten Ahnenkulte durch das bereits als fait accompli vorhande-

ne götterkultliche System statthat, so wahr bleibt den unter dem Einflussder ihnen aufgepfropften Theokratie sich widerstrebend zur Aristokratiehomogenisierenden römischen Geschlechtern ihr hauseigener Totenkultals pièce de résistance, als ein durch keine opfergemeindliche Integrationauszuräumender Vorbehalt gegen die Macht und Verfügungsgewalt derGötter und ihres irdischen Stellvertreters erhalten. Und es ist nun abergenau dieser Vorbehalt, auf den die römische Aristokratie, nachdem sieden theokratischen Herrn, den Monarchen, vertrieben und sich als imMilieu des städtischen Handelsplatzes aufgrund ihres herrschaftlichenReichtums führende eigenständige Gruppe etabliert hat, bei ihren dieVerfügung über den herrschaftlichen Reichtum betreffenden opferkult-

lichen Transaktionen mit den Göttern zurückgreifen und den sie gegenden Vorwurf eines unter dem Deckmantel jener Transaktionen geübtenVerrats an den Göttern, einer hinter der Maske opferkultlicher Obödi-enz begangenen sakrilegischen Profanisierung ihres Reichtums geltendmachen kann.

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Weit entfernt davon, dass die Aristokratie, wenn sie den durch bü-

rokratische Opferhandlungen unter ihre Verfügung gebrachten herr-schaftlichen Reichtum aus der territorialen Sphäre, der Sphäre seineröffentlichen Zueignung und rituellen Verwendung, in den städtischenRaum, den Raum seiner persönlichen Aneignung und seines privatenGebrauchs, überführt, die Herren des Reichtums, die Götter, kompensati-onslos beraubte und nämlich ihren opferkultlich sanktionierten, sakralenTitel auf den Reichtum durch nichts als durch den eigenen, lebensprak-tisch motivierten, profanen Umgang mit dem Reichtum substituierte,tauscht sie vielmehr nur die eine sakrale Abhängigkeit gegen die andereaus und entgeht dem Vorwurf, an den Göttern ein Sakrileg zu verüben,schlicht dadurch, dass sie die opferkultlichen Verbindlichkeiten ihnengegenüber durch die totenkultliche Verpflichtung gegenüber den eigenenAhnen ablöst. So gewiss der einzelne Aristokrat Pater familias, Ober-haupt eines von Haus aus eigenständigen Geschlechtes, einer ebensoursprünglich heroologisch begründeten wie in der Folge genealogischverfassten Sippe ist, und so gewiss er als Pater familias persona, Per-son in sakralen Sinne des Wortes, nämlich die Maske ist, hinter der unddurch die hindurch die Vorfahren sich Stimme und Gehör verschaffen,Repräsentant einer in ihm resultierenden Reihe verschiedener und kraftVerschiedenheit ihre Identifizierung als für die Lebenden unabdingbarerBestand, als die Substanz der Wirklichkeit fordernder, sprich, kultische

Zuwendung heischender, Herren ist, so gewiss bedeutet persönlicheVerfügung über den der theokratischen Sphäre entstammenden territori-alherrschaftlichen Reichtum keine bloß privativ-profane Appropriationdes Reichtums durch die auf ihre Individualität reduzierte Person, denabstrakt-empirischen einzelnen, sondern die in der Person des einzelnenstatthabende Reklamation dieses Reichtums durch die als sakral-privateInstanz überdauernde genokratische Substanz, die toten Ahnen.

Gleichzeitig indes ist der einzelne Aristokrat kein personales Absolu-tum, kein auf sich als auf die Reihe seiner eigenen Vorgänger gestellterDespot, kein in seiner genealogischen Substanz selbstherrlich gründen-

der Autokrat, sondern Genosse in einer Gruppe von Gleichgesinnten,Angehöriger eines vergleichsweise homogenisierten Standes, Mitgliedeines Interessenverbandes, dessen Existenz und Zusammenhalt conditiosine qua non der ökonomischen Eigenständigkeit und politischen Un-abhängigkeit ist, die in seiner privaten Religion, seinem persönlichen

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Kult um die Ahnen, seiner zur genealogischen Bindung ermäßigten ge-

nokratischen Ursprungsfixierung ihren sakralen Ausdruck findet undihre soziale Legitimation erlangt. Und ebenso wenig ist das Geschlecht,dem der einzelne Aristokrat als Pater familias vorsteht, ein in autarkerIsolation und völliger Autonomie für sich bestehendes Gebilde, sondernes ist Teil der anfänglich genokratisch und nach ihrer monarchischenLehrzeit nunmehr aristokratisch verfassten Geschlechtergemeinschaft,die sich um das fundamentum in re ihres gemeinschaftlichen Bestehens,den locus communis ihres praktischen Zusammenhalts, den städtischenHandelsplatz, schart und die, was sie an ökonomischer Eigenständigkeitund politischer Unabhängigkeit selber in genere behauptet und ihren

einzelnen Mitgliedern in specie garantiert, der von allen getragenen Ver-antwortung und Haftung für dieses ihr Realfundament, der solidarischenHege und Pflege dieses ihres Gemeinplatzes verdankt.

Und genau jene Einbindung der Aristokraten und ihrer Geschlechter inden Bezugsrahmen und Interessenverbund der städtisch-kommerziellenEinrichtung, genau jene Überführung der Aristokraten selbst in einenVerein von Patres und Verwandlung ihrer Geschlechter in einen Kreisführender Familien, die ebenso sehr per modum wie pro domo des alsökonomische Grundlage und als politisches Faustpfand allen Strebensnach Eigenständigkeit und Unabhängigkeit firmierenden städtischen

Marktes statthat – sie verhindert nun aber, dass sich das Heilmittel, dasdie Aristokratie gegen die mit dem Transfer territorialherrschaftlich-opferkultlichen Reichtums ins städtisch-kommerzielle Milieu verknüpfteGefahr sakrilegischer Profanisierung anwendet, als ein auf seine Anwen-der zurückschlagendes Gift herausstellt und dass nämlich die ahnenkult-liche Bindung, die die Aristokratie gegen alle opferkultlichen Verpflich-tungen geltend macht und die ihrem Anspruch auf innerstädtisch-freieVerfügung über den herrschaftlichen Reichtum eine eigene Sanktion, einsakrales Recht sui generis verleiht, in den alten katabolischen Verfall desverfügbaren Reichtums an die Toten ausartet, sprich, in totenkultlicher

Fixierung an das von jedem Herrn des Reichtums letztlich zu beziehendeund deshalb den Reichtum als in Wahrheit sein Erbteil fordernde und ver-schlingende unterweltliche Jenseits endet. Weil die im Pater familias sichartikulierende genokratische Selbstherrlichkeit, auf die der römische Ari-stokrat seinen Anspruch auf freie Verfügung über den der theokratischen

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Sphäre entstammenden Reichtum stützt, nicht etwa Ausdruck eines glei-

chermaßen als ökonomische Autarkie und als politische Autonomie sichpräsentierenden unmittelbar unabhängigen Bestehens des vom einzelnenAristokraten angeführten Sippenverbandes oder Geschlechtes, sondernvielmehr Konsequenz der mittelbaren ökonomischen Eigenständigkeitund politischen Unabhängigkeit ist, deren die einzelnen Geschlechterallererst durch ihr auf den locus communis der kommerziellen Funktionkonzentriertes soliarisches Zusammenwirken, ihr vom ökonomischen Re-alfundament und politischen Faustpfand des städtischen Handelsplatzesgetragenes adelsrepublikanisches Schutz- und Trutzbündnis teilhaftigwerden, und weil insofern die für die genokratische Selbstherrlichkeit alsLegitimationsbasis grundlegende ahnenkultliche Bindung ihre entschei-dende Voraussetzung in jenem um die städtisch-kommerzielle Sphärekreisenden adelsrepublikanischen Zusammenhalt hat, kommt nun auchdiese ahnenkultliche Bindung gar nicht erst dazu, ihre alte totenkultli-che Dynamik zu entfalten und sich in einen an die Welt der Lebendenadressierten Imperativ zur katabolischen Übertragung von Reichtum anseine im Reich der Toten residierenden wahren Eigner zu verwandeln,sondern findet sich von vornherein in die Reflexion ihres eigenen kondi-tionellen Bestehens getrieben und das heißt, in ein Motiv zur Erhaltungund Pflege dieses, als ihre conditio sine qua non firmierenden adelsrepu- blikanischen Zusammenhalts und seiner städtisch-kommerziellen Basis

umfunktioniert.So gewiss die in der isolierten Existenz der einzelnen Geschlechter sich

mitnichten erschöpfenden äußeren Umstände und strukturellen Bedin-gungen, die den geschlechtereigenen Ahnenkult seine alte Macht behal-ten beziehungsweise wiedergewinnen lassen, das die Eigenständigkeitund Unabhängigkeit der Geschlechter gewährleistende aristokratisch-ständische Bündnis und die diesem Bündnis Halt und Inhalt verleihendekommerziell-städtische Gemeinschaft sind, so gewiss liegt es im Selbst-erhaltungsinteresse der Ahnen, dass diese äußeren Umstände und struk-turellen Bedingungen Bestand haben und in Kraft bleiben; statt in alter,

totenkultlicher Manier ihre die Zuwendung von Reichtum betreffendenAnsprüche an die Lebenden geltend machen und durchsetzen zu können,müssen sie es zufrieden sein, dass der Reichtum erst einmal und vor-dringlich für die Aufrechterhaltung und Sicherung jenes aristokratischenBündnisses und jener städtischen Gemeinschaft verwendet wird, die

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Voraussetzung dafür sind, dass, wie die Geschlechter ihre relative Eigen-

ständigkeit und Unabhängigkeit, so sie, die als Legitimationsinstanz andiese Unabhängigkeit gebundenen Ahnen selbst, ihre Existenz behaltenund, wenn schon nicht aktuell, so jedenfalls virtuell ihre totenkultlichenReichtumsansprüche und Eigentumstitel geltend machen können.

Auf diese Weise also verwandeln sich die Ahnen der römischen Ge-schlechter aus potentiell egoistischen unterirdischen Mächten, die ihrespeziellen Nachfahren in den Dienst ihrer mittels Zuwendung von herr-schaftlichem Reichtum zu vollbringenden Anbindung ans irdische Lebenund Einbindung in dessen Perspektive stellen, in eine aktuell solidari-sche substantielle Instanz, die vielmehr sich in den Dienst der um denlocus communis gescharten generellen Gemeinschaft stellt, indem siedie gemeinwohldienliche Verwendung herrschaftlichen Reichtums, seineÜberführung aus der opferkultlichen Sphäre ins städtisch-kommerzielleSystem und seine Nutzbarmachung für dieses System und für das darauf fußende adelsrepublikanische Bündnis, mit einer der verratenen göttli-chen Sakrifizierung ebenbürtigen neuen Sanktion versieht und damit vordem drohenden Vorwurf sakrilegischer Profanisierung bewahrt. Und auf diese Weise gelingt es der Aristokratie in der Tat, den genokratischenAhnenkult, den sie im Zuge ihres Wechsels aus dem monarchisch re-gierten territorialherrschaftlichen Zwangsrahmen in den selbstregiertenFreiraum der Stadt und des damit verknüpften Transfers herrschaftlichen

Reichtums aus der Sphäre opferkultlich-öffentlicher Zuteilungen in einSystem kommerziell-privaten Austausches nicht sowohl kontinuiert, alsvielmehr parallel zur Einrichtung der Opferbehörde des Rex sacrorumwiederaufgreift und neuinszeniert, zu einem nicht weniger beherrsch- baren als nützlichen Instrument eben dieses Wechsels und Transfers zumachen: Während einerseits der Ahnenkult die ihm zugewiesene Auf-gabe erfüllt, dem durch die kommerzielle Funktion organisierten Raumstädtischer Privatheit ein Moment von sakraler Bindung zu verleihen,das die sakralen Verpflichtungen, die mit der von der Opferfunktion beherrschten Sphäre kultischer Öffentlichkeit verknüpft sind, zu substi-

tuieren und damit außer Kraft zu setzen vermag, bleibt er andererseitsdurch seine Einbettung in den neuen Kontext eines um die Förderungund Erhaltung des städtischen Handelsplatzes kreisenden adelsrepubli-kanischen Unabhängigkeitsstrebens geschützt davor, dass dieses Momentvon sakraler Bindung sich verselbständigt und die alte Dynamik einer

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totenkultlich-katabolischen Jenseitsorientierung entfaltet – mit anderen

Worten, der vom einzelnen Aristokraten, vom Pater familias, gepflogeneAhnenkult bleibt für die Gesamtheit der Patres, für den aristokratischenStand, ein brauchbares Strategem und faktorelles Hilfsmittel, die po-litische Emanzipation vom monarchisch-theokratischen System auchreligiös zu artikulieren und sich frei vom Verdacht sakrilegischer Profa-nisierung eine vergleichsweise selbstherrliche Verfügung über den vomtheokratischen System und seinen Göttern übernommenen territorial-herrschaftlichen Reichtum zu sichern.

Während die griechische Arete, der Bezug zum Wesen, einen wirklichen Bruchmit der opferkultlich-rituellen Reichtumsbindung, einen effektiven Ausfallschrittheraus aus der Prozession des theokratischen Kults um den Reichtum bedeu-tet, bleibt die römische Pietas, die Beziehung zu den Ahnen, im Kontinuumder Reichtumsfixierung und wechselt nur die sakralen Herren des Reichtums,tauscht den theokratischen gegen einen genokratischen Eigentumstitel aus. Dassdieser Wechsel nicht zu einer Regression in totenkultliche Praktiken gerät, istdabei der Tatsache geschuldet, dass die Ahnen ihren locus communis und ihreBestandsgarantie in der städtischen Gemeinschaft haben und Ahnenkult deshalbwesentlich und zuerst Dienst an der Förderung und Erhaltung des städtischen

Freiraums ist.

Wenn man will, erfüllt damit in Rom die ahnenkultliche Bindung derAristokratie die gleiche Aufgabe wie in Athen ihr wesenskultlicher Selbst- bezug. Wie dort sein aufs Wesen gerichtetes höheres Selbstsein es ist,das den Aristokraten von der Göttermacht und der Befolgung ihrer op-ferkultlichen Sanktionen vergleichsweise emanzipiert und ihm jene auf Arete hinauslaufende überlegene Intelligenz und Vortrefflichkeit desUrteils verleiht, dank deren er die Dinge der Welt als hintergrundslo-se Gegebenheiten, bedeutungslose Erscheinungen wahrzunehmen und

deshalb einen von kultischen Verpflichtungen weitgehend dispensiertenUmgang mit ihnen zu pflegen, eine von agnostischer Unbekümmertheitgetragene freie Verfügung über sie zu erlangen vermag, so ist es hierseine in den Ahnen fundierte tiefere Personalität, die ihm Distanz zurtheokratisch-opferkultlichen Sphäre ermöglicht und ihm jene aus Pietas

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hervorgehende substantielle Resolution und Handlungsvollmacht ge-

währt, kraft deren er die Dinge der Welt als eine von aller götterkultlich-hpyothekarischen Belastung freie Objektivität, als Privateigentum ohne jeden Beigeschmack einer Privation, eines an der Öffentlichkeit begange-nen Raubes, mit Beschlag zu belegen und pro domo seiner Interessen zuinstrumentalisieren, sprich, einer vom sachwalterischem Rationalismusfamiliären Machterwerbs und Machterhalts beherrschten Verwendungzuzuführen vermag. Und wie dort das in Arete sich äußernde wesens- bezogen höhere Selbstsein zugleich dafür sorgt, dass die freie Verfügungdes Aristokraten über die weltlichen Güter im allgemeinen und deneigenen herrschaftlichen Reichtum im besonderen liturgische Formenannimmt und vornehmlich im gemeinwohldienlichen Sinne, nämlich zuNutz und Frommen derer praktiziert wird, die ihm nur aufgrund derliturgischen Wendung, die er seiner freien Verfügung über den Reichtumgibt, das diese legitimierende höhere Selbstsein attestieren, geradesogewährleistet nun hier die zur Pietas verhaltene ahnenvoll tiefere Perso-nalität, dass die Verwendung, die der römische Aristokrat für den ihmzur Disposition stehenden herrschaftlichen Reichtum findet, vordringlichder Förderung und Stärkung jener Kombination aus städtischem Han-delsplatz und aristokratischem Bündnis dient, die conditio sine qua nonallen adelsrepublikanischen Unabhängigkeitsstrebens und damit auchund nicht zuletzt der aus genokratischen Zeiten übernommenen Ah-

nenverehrung ist, in der sich dieses Unabhängigkeitsstreben kultischenAusdruck verschafft.

Griechische Arete und römische Pietas, die dem Wesensbezug ent-springende Einsicht des autonomen Selbst in den von substantiellenRücksichten freien, hintergrundslosen Erscheinungscharakter der Weltund der dem Ahnenkult entstammende Glaube der bevollmächtigtenPerson an den vom Interesse der Sippe beherrschten, vorbehaltlosenWerkzeugcharakter der Welt, erfüllen beide den Zweck, den herrschaft-lichen Reichtum, den die Aristokratie in den kommerziellen Kontextder Stadt überführt, von göttlichen Prärogativen und opferkultlichen

Hypotheken zu dispensieren und für den neuen, privaten Gebrauch,den die Aristokratie in der Stadt von ihm macht, verfügbar werden zulassen. Und beide tragen sie dank des in der Polisstiftung oder der Urbscondita bestehenden politisch-ökonomischen Rahmens, in dem sie selbstund der sie qua Wesensbezug oder qua Ahnenkult legitimierende Grund

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überhaupt nur möglich sind, zugleich Sorge dafür, dass die freie Verfü-

gung über den herrschaftlichen Reichtum nicht einer unkontrollierbarenEigendynamik verfällt und nämlich weder zu einem um den Preis desöffentlichen Friedens privative Machtgelüste und idiosynkratische Gel-tungsbedürfnisse einzelner befriedigenden Mißbrauch verkommt, nochin einen um den Preis des allgemeinen Wohlstandes jenseitigen Ansprü-chen und unterweltlichen Titeln Rechnung tragenden totenkultlichenZwangsmechanismus ausartet. So gewiss beide, Arete und Pietas, Eigen-schaften beziehungsweise Verhaltensformen sind, deren legitimierendesPrinzip und organisierendes Zentrum seinerseits in der städtischen Ge-meinschaft des Handelsplatzes die Voraussetzung seines Bestehens, seineconditio sine qua non, hat, so gewiss ist vielmehr in beiden Fällen dafürgesorgt, dass die freie Verfügung über den herrschaftlichen Reichtum, diesie der Erbin des monarchischen Systems, der Aristokratie, verschaffen,eine dieser städtischen Gemeinschaft und ihrem Bestand, dem Gemein-wohl, verpflichtete Veranstaltung bleibt.

Allerdings liegt bei aller funktionellen Gleichsinnigkeit und faktischidentischen Wirkung damit zugleich auch auf der Hand, was Arete undPietas, den griechischen und den römischen Weg zur Integration ter-ritorialherrschaftlichen Reichtums in den kommerziellen Freiraum derStadt, inhaltlich oder der strukturellen Anlage nach unterscheidet – dieDifferenz nämlich zwischen den die beiden Haltungen legitimierenden

Prinzipien selbst, die Divergenz, mit anderen Worten, zwischen Wesens- bezug und Ahnenkult. Als eine die Welt zur wesenlosen Erscheinungdegradierende Perspektive ist der Wesensbezug ein ebenso radikales wiegeniales Mittel, die Macht der Götter über den herrschaftlichen Reichtumund dessen in der göttlichen Macht bestehende opferkultliche Substantia-lität, seine hypothekarisch-hintergründige Wirklichkeit, aufzuheben undder diesen herrschaftlichen Reichtum verwesenden Aristokratie ineinsdie freie Verfügung über ihn zu verschaffen und eine gemeinwohldien-liche Ausübung solcher freien Verfügung zur Pflicht zu machen. Auchwenn so der Wesensbezug am empirischen Ende nur metaphysisches

Mittel zum physischen Zweck ist und nämlich nur als transzendenterBezugspunkt gebraucht wird, um jene aus überlegener Einsicht und hö-herer Rücksicht, aus Freiheit und Selbstverpflichtung gemischte Haltungzu erzeugen, die Arete heißt und die dem sie kultivierenden Aristokra-ten Motiv ist, seinen konsumtiven Gebrauch des zum Privateigentum

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entgöttlichten herrschaftlichen Reichtums mit gemeinschaftsdienlich li-

turgischen Leistungen zu verknüpfen, die er kraft solchen Privateigen-tums vollbringt – auch wenn also der Wesensbezug letztlich nur als Listder praktisch-politischen Vernunft herhalten muss, bleibt er doch imtheoretisch-systematischen Prinzip ein offensiver Ausbruch aus demKontext opferkultlicher Reichtumsverwendung, ein wirklicher Ausfall-schritt heraus aus der althergebrachten Prozession eines als Bindemittelseinerseits gebundenen Sakrifiziums, eines von den Göttern als ihr Ei-gentum mit Beschlag belegten, weil seinerseits die Götter ihrer latentenIndifferenz und Negativität entkleidenden und als seine Herren in Positur bringenden, als seine Eigner dingfest machenden Opferguts.

Mit anderen Worten, der Wesensbezug säkularisiert – und unter dengegebenen Umständen des von der Aristokratie vollzogenen Fronten-wechsels von der theokratischen Herrschaft zur städtischen Freiheit heißtdas: privatisiert – den herrschaftlichen Reichtum auf nachdrücklicheWeise, macht ein für allemal Schluss mit jener Art von hypothekari-schen Rücksichten und stipulatorischen Verbindlichkeiten, wie sie imopferkultlichen System dank der grundlegenden Bedeutung, die demherrschaftlichen Reichtum für die über ihn Verfügungsgewalt verleihen-den Götter selbst, für ihr interessiertes Verhältnis zur Welt, ihre Positivitätund Bodenhaftung, zukommt, an die Verfügung über diesen Reichtumgeknüpft ist. Weil das Wesen, auf das sich der Aristokrat nun als auf 

das Reflexiv seines höheren Selbstseins bezieht, das vom Aristokratenselbst als seine zeitlos vergangene eigene Herkunft reklamierte Sein desanderen Subjekts in all seiner bezüglich der Welt ausgemachten Indiffe-renz und Negativität ist, entwertet und entwirklicht dieser Bezug aufsWesen wie die Welt in genere, so den herrschaftlichen Reichtum in specieein für allemal zur wesenlosen Erscheinung und macht damit in der Tatauch jener hypothekarischen Beziehung, jener opferkultlich reaffirmier-ten Rücksicht auf die Götter den Garaus, die ja nur dem Versuch sichverdankt, den Reichtum vor solcher Entwertung und Entwirklichungdurch die mittels seiner vollzogene Umdeutung der Indifferenz in eine

spezifisch reichtumbezügliche Anspruchshaltung, die mit seiner Hilfe insWerk gesetzte Umfunktionierung der Negativität in eine eignerschaftlichopferheischende Position, zu bewahren – einem Versuch, der in demMaße, wie er demnach den Reichtum dazu missbraucht, die von diesemselbst bezeugte Wahrheit zu verschleiern und umzulügen und nämlich

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das als das Jüngste Gericht über seinen Wert und seine Wirklichkeit ihm

selbst entspringende Geschöpf, das andere Subjekt, durch Vergöttlichungund opferkultliche Positivierung in einen Erhalter eben nur der Reich-tumsperspektive zu verkehren, nolens volens den Reichtum in dieserRolle als sakrales Bindemittel, für die er ihn missbraucht, um ihn alsprofane Wirklichkeit zu erhalten, aufgehen lässt, ihn mit anderen Wortendieser seiner opferkultlichen Umfunktionierungsfunktion, die er ihmaufbürdet, um ihn nicht zum Opfer bringen zu müssen, aufopfert.

So gewiss der Wesensbezug eine vorbehaltlose, wenn auch durch diequasibiographische Reklamation des Anerkannten entscheidend ent-schärfte Anerkennung des Seins des anderen Subjekts in seiner gan-zen weltüberhobenen Indifferenz und transzendenten Negativität dar-

stellt, so gewiss bildet er zugleich eine rücksichtslose Absage an alle quaGötterkult dieser Indifferenz und Negativität gegenüber mit Hilfe desherrschaftlichen Reichtums ins Werk gesetzte Verleugnungs- und Um-funktionierungsstrategien. Durch den Wesensbezug, den die Erbin derTheokratie, die Aristokratie, behauptet, von jeder funktionellen Einbin-dung in jene götterkultlich-sakrifiziellen Verleugnungsstrategien befreit,ohne die Befreiung mit neuer Ahängigkeit von seinem Befreier, dem ihnvielmehr als wesenlose Erscheinung preisgebenden und verwerfendenWesen, bezahlen zu müssen, erweist sich demnach der herrschaftlicheReichtum in der Tat als ein im Vergleich mit seiner bisherigen hypotheka-

rischen Haftung und Verhaftetheit herrenloses Gut; mit anderen Worten,er steht den Erben oder vielmehr Konkursverwaltern der Theokratie,den als bloße Bürger, wenn auch reichtumfundiert höherer Geltung, alssimple Privatleute, wenngleich standesbedingt ersten Ranges, in denstädtischen Freiraum, den der Kommerz stiftet, übergewechselten Aristo-kraten, zur privatim-machtpolitischen Verwendung und zum konsumtiv-persönlichen Gebrauch theoretisch uneingeschränkt zur Verfügung.

Wenn es dennoch mit der praktisch uneingeschränkten Verfügbarkeitnicht weit her ist und wenn vielmehr der Aristokratie aus ihrem de ju-re frei verfügbar gewordenen Reichtum de facto neue, als liturgischesWirken, als Dienst an der Gemeinschaft ausgemachte opferkultähnliche

Verpflichtungen und quasirituelle Verbindlichkeiten erwachsen, dannnicht etwa, weil diese neuen Verpflichtungen und Verbindlichkeiten imWesenbezug positiv einbegriffen wären und weil also das den herrschaft-lichen Reichtum von der göttlichen Eignerschaft entbindende, vom Op-ferkult freisetzende Wesen nun seinerseits eignerschaftliche Ansprüche

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auf den Reichtum erhöbe und eine ihn rituell bindende Kraft entfaltete,

sondern weil im Gegenteil das wohlverstandene Wesen eigentlich nichtnur von der opferkultlichen Botmäßigkeit gegenüber den Eignern desherrschaftlichen Reichtums, den Göttern, sondern auch und mehr nochvom Interesse an dem Eigentum als solchem, dem zur wesenlosen Er-scheinung entwirklichten herrschaftlichen Reichtum selbst, entbindet,weil insofern das privative Festhalten am herrschaftlichen Reichtum undStreben nach persönlicher Verfügung über ihn und die Funktionalisierungdes Wesens zu einem Mittel bloß der Freisetzung des Reichtums von gött-licher Eignerschaft den von der Aristokratie behaupteten Wesensbezugebenso wohl als widersprüchlich diskreditiert, weil mit anderen Wortendie von der Aristokratie für ihre freie Verfügung über den Reichtumgeltend gemachte Legitimationsbasis, das Wesen, sich durch eben das,was legitimiert werden soll, die Verfügung über den Reichtum, einerproblematischen Existenz überführt zeigt und weil nun die Polisgemein-schaft diese problematische Existenz des Wesens zu einem Handel nutzt,in dessen Ergebnis sie der Aristokratie die Wirklichkeit ihres Wesens- bezuges, sprich, die Gegebenheit der für ihre freie Verfügung über denherrschaftlichen Reichtum erforderlichen Legitimationsbasis attestiert,allerdings nur unter der Bedingung, dass die Aristokratie diese freieVerfügung sozialverträglich realisiert und nämlich ihren Reichtum der beschriebenen liturgisch-gemeinschaftsdienlichen Verwendung zuführt.

Auch wenn also praktisch oder modo obliquo des wesenswidrigenGebrauchs, den die Aristokratie von dem kraft Wesen den Göttern entzo-genen und vom Opferkult entpflichteten herrschaftlichen Reichtum un-mittelbar zu machen strebt, der Wesensbezug dazu dient, den Reichtummit neuen quasisakralen Verpflichtungen zu belasten und die Verfügungüber ihn an neue quasirituelle Konditionen zu binden – theoretisch odervia directa bleibt er der besagte offensive Ausbruch aus dem System desals sakrales Bindemittel rituell gebundenen herrschaftlichen Reichtums, bleibt er der wirkliche Ausfallschritt, der den Reichtum ein für allemalentsakralisiert und seiner die Indifferenz und Negativität des anderen

Subjekts in eignerschaftliche Anteilnahme und göttliche Positivität zuverkehren bestimmten kultischen Funktionen entkleidet, kurz, der denReichtum in den neuen profanen Zusammenhang der durch kommerziel-len Austausch vergesellschafteten Stadt ebenso reibungslos integrierbarwie rückhaltlos überführbar werden lässt.

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Ganz anders der Ahnenkult, mit dessen Hilfe die römische Aristokratie

den herrschaftlichen Reichtum seinen opferkultlich-territorialen Bindun-gen entreißt und dem städtischen Freiraum zuwendet. Weil er die auf dem herrschaftlichen Reichtum liegende Hypothek göttlicher Eigner-schaft nicht durch Berufung auf ein qua Wesen den Reichtum zur bloßenErscheinung entwirklichendes und damit das reichtumfixiert eigner-schaftliche Verhältnis als solches, den Götterkult überhaupt, als Humbugentlarvendes transzendentes Sein aushebelt, sondern nur durch Beschwö-rung eines zur göttlichen Eignerschaft alternativen Eigentumstitels auf den Reichtum, einer mit den Göttern konkurrierenden anderen und to-tenkultlich älteren Opfermacht ablöst, bleibt der Ahnenkult in der vomGötterkult vorgezeichneten Immanenz einer den Reichtum als sakralesBindemittel reklamierenden und nämlich als Mittel zur Einbindung desanderen Subjekts, zur Verwandlung seiner existentiellen Negativität insakrifizielle Positivität, seiner revokativen Selbstherrlichkeit in affirmativeHerrschaft mit Beschlag belegenden Verdrängungs- und Umfunktionie-rungsveranstaltung. Weil er nicht in der einfachen Anerkennung derreichtumüberhoben absoluten Indifferenz und Negativität des reich-tumentsprungen anderen Subjekts, sondern bloß im Bekenntnis zu eineralternativen Form dieses als differente Instanz und positive Macht reich-tumbezüglich begründeten und vereinnahmten anderen Subjekts besteht,ist der römische Ahnenkult im Unterschied zum griechischen Wesens-

 bezug kein offensiver Ausbruch, sondern nur ein regressiver Auswegaus dem Zwangsrahmen einer das andere Subjekt in Göttergestalt ban-nenden opferkultlichen Reichtumsverwendung, stellt er mit anderenWorten keinen reellen Ausfallschritt dar, bei dem sich der Aristokrat kraftBerufung auf eine absolute Schiedsinstanz der Ansprüche der relativenGöttermacht auf sein theokratisches Erbe, den herrschaftlichen Reichtum,ein für allemal entledigt, sondern nur einen artifiziellen Spagat, bei demder Aristokrat die Ansprüche der reichtumrelativen Göttermacht durchdie Forderungen einer ebenso reichtumrelativen kultischen Gegenmacht,eben der totentkultlich reklamierten Ahnen, entkräftet und ersetzt.

Oder vielmehr ist, sub specie dieser seiner als einfacher Machtwechselimmanenten Ersetzungsleistung betrachtet, der Ahnenkult unmittelbar bloß ein Übergang, nichts weiter als ein nach Maßgabe der historischverkehrten Richtung, die er einschlägt, regressiver Schritt; zum Spagatwird er erst dank des – für das eigentliche Ziel einer freien Verfügung

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über herrschaftlichen Reichtum im Kontext der Stadt allerdings entschei-

denden – Umstandes, dass die familiären Ahnen, zu denen der regressiveSchritt hinführt, die Stammestoten, zu deren kultischer Verehrung derÜbergang weg vom Götterkult vollzogen wird, ihre conditio sine quanon und Bestandsgarantie, die Bedingung ihrer regressiv reaffirmiertenExistenz in der um die kommerzielle Funktion, die Schwerkraft des Han-delsplatzes gescharten städtischen Gemeinschaft haben und an derenWachstum und Gedeihen deshalb nicht weniger und sogar vordringlicherinteressiert sein müssen als an ihrer eigenen Erhaltung und Pflege. Weiles die Vergesellschaftungsform des Handelsplatzes, die kommerziell fun-dierte städtische Gemeinschaft ist, die den genokratischen Geschlechternund nach dem monarchischen Intermezzo auch den aristokratischenFamilien ihre politisch-ökonomische Unabhängigkeit, ihre Widerstands-kraft gegen die definitive theokratische Vereinnahmung, verleiht und,so gesehen, auch die Bedingung der Möglichkeit der qua Ahnenkultartikulierten kultischen Eigenständigkeit der Geschlechter darstellt, fälltnun, da die Aristokratie diese ahnenkultliche Eigenständigkeit geltendmacht, um ihren der götterkultlichen Sphäre entstammenden Reichtumseinen theokratischen Verpflichtungen zu entziehen, in den Freiraum derStadt zu überführen und dort zur freien Verfügung zu haben, hinsichtlichder aus der freien Verfügung konsequierenden faktischen Verwendungdes herrschaftlichen Reichtums der städtischen Gemeinschaft die Rolle

eines primären Adressaten und zentralen Begünstigten zu und nimmt mitanderen Worten die Stadt selbst die Züge einer den Impetus totenkultlich-katabolischen Reichtumstransfers, der im Ahnenkult impliziert ist, wieman will, zu brechen oder umzulenken geeigneten sanktionierten Nutz-nießerin oder lebendigen Opferstätte an. So gewiss der Ahnenkult das- jenige ist, was dem aufgrund des opferkultlichen Formalismus, den dervon der Aristokratie bestellte Rex sacrorum praktiziert, den Göttern ent-rissenen und in den städtischen Kontext überführten herrschaftlichenReichtum die Legitimität eines von göttlicher Sanktion befreiten Beste-hens, eines Prospektes sui generis, verleiht und so gewiss aber dieser

Ahnenkult, rebus sic stantibus, eine ideelle Position, um nicht zu sagen,ideologische Konstruktion ist, die ihr fundamentum in re, ihre empirischeVoraussetzung in eben dem städtischen Kontext hat, zu dem aus deropferkultlichen Sphäre überzulaufen und in den das theokratische Erbe,den herrschaftlichen Reichtum, mitzunehmen, sie die Aristokratie zu

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legitimieren dient, so gewiss gewinnt die Aufgabe einer Erhaltung und

Stärkung jenes städtischen Kontextes Priorität vor dem Vollzug und derErfüllung der von den Ahnen auferlegten totenkultlichen Verpflichtun-gen oder wird, wenn man so will, das eine, die Entfaltung des Kults deraristokratischen Geschlechter, in der Rolle eines dem herrschaftlichenReichtum zwingend vorgeschriebenen Verwendungszweckes suspendiertund zugunsten des anderen, der Erhaltung der für den Kult der Ge-schlechter erforderlichen städtischen Gemeinschaft, ad calendas graecasoder vielmehr ad datum romanum außer Kraft gesetzt.

Der ideologisch einfache regressive Wechsel und Übertritt der Ari-stokratie aus der theokratischen Sphäre in die genokratische Traditionerweist sich somit als ein empiriologisch komplizierter Spagat, ein in actuverhaltener Spreizschritt: Indem das, wozu übergetreten werden soll, jene totenkultlich-chthonische Macht der Ahnen, die die Emanzipationvon der opferkultlich-olympischen Herrschaft der Götter zu legitimierendient, ihre Existenzbedingung, ihr empirisches Fundament in dem alskommerziell-städtischer Kontext etablierten irdischen Raum hat, derüberhaupt erst den für die faktische Distanzierung von der götterkultlich-territorialherrschaftlichen Sphäre nötigen Freiraum bietet, findet sichdie mitsamt ihrem theokratischen Erbe, dem herrschaftlichen Reichtum,im Übertritt begriffene Aristokratie in ihrer Konversionsbewegung auf-gehalten, in ihrem regressiven Fortschreiten arretiert und an eben die-

sen kommerziell-städtischen Kontext als an den nur in haltgebenderEigenschaft weiterbringenden Trittstein für den Übergang, das nur intragender Funktion übersetzende Vehikel für den Wechsel bis auf un-absehbar weiteres fixiert. Und damit ist in der Tat genau das erreicht,wozu die ahnenkultliche Bindung der römischen Aristokratie verhel-fen soll: kraft in der ahnenkultlichen Bindung bestehender kultischerSanktion oder sakraler Legitimation kann die Aristokratie ihr formaliter,in den Opferhandlungen des Rex sacrorum, als Eigentum der Götteranerkanntes theokratisches Erbe, den herrschaftlichen Reichtum, realiterden Göttern entziehen, in den städtischen Freiraum einbringen und dort

unbeeinträchtigt von opferkultlichen Rücksichten und Verbindlichkeitendarüber verfügen, ohne dass sie ihre Emanzipation von der Sphäre derGötter mit neuen kultischen Hypotheken büßen müßte und sich nämlichdurch die ihre Emanzipation legitimierende alternative sakrale Instanz,die Ahnen, Hals über Kopf in eine totenkultliche Katabole gestürzt fände.

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sie diktierten Umgangs mit dem herrschaftlichen Reichtum ist der Ah-

nenkult und ist der mit ihm von Haus aus verknüpfte totenkultlicheReichtumstransfer; von daher gesehen ist der kraft Ahnenkult legitimierteverhaltenspraktische Wechsel aus der opferkultlichen Sphäre der Götterin den städtisch-kommerziellen Zusammenhang, den die Aristokratiemitsamt ihres theokratischen Erbes vollzieht, gleichbedeutend mit ei-ner legitimationstheoretischen Einbindung des städtisch-kommerziellenZusammenhanges in den qua Ahnenkult beschworenen Prospekt, kurz,gleichbedeutend mit einer Verwandlung der Stadt in eine wie immer fest-gegründete Opferstätte im Dienste der unterweltlich fordernden Ahnen,eine wie immer bleibende Zwischenstation auf dem Weg zur letztlich

geforderten totenkultlichen Katabole.Das Strategem der römischen Aristokratie zur Herauslösung des herr-schaftlichen Reichtums aus seinen theokratisch-opferkultlichen Bindun-gen und zur Integration dieses Reichtums in den Freiraum der städ-tischen Gemeinschaft ist demnach zwar praktisch von Erfolg gekrönt,hat aber zugleich die unverhoffte Konsequenz, dass die städtische Ge-meinschaft ideologisch ihren Freiraumcharakter einbüßt und sich, denneuen Bindungen des ihr zugeführten herrschaftlichen Reichtums gemäß,in den topischen Platzhalter und dynamischen Vorposten des von derAristokratie auf städtischem Boden geltend gemachten neuen alten Op-

ferzusammenhanges eines dem Leben der Ahnen geweihten Totenkultesverwandelt findet. Ganz anders, was den letzteren Punkt betrifft, wirktsich, wie gesagt das zu solchem Integrationszweck von der Aristokra-tie der Polis eingesetzte Strategem aus, als das sich der Wesensbezugdarstellt. Weil das Wesen, auf das sich die griechische Aristokratie be-ruft, um ihr theokratisches Erbe, den herrschaftlichen Reichtum seineropferkultlichen Bestimmung zu entziehen und eine dem Freiraum derStadt angemessene freie Verfügung über ihn zu gewinnen, anders alsdie Ahnen kein – wie auch immer fälschlich – positives Verhältnis zumReichtum behauptet und keinerlei eigene Ansprüche mit ihm verknüpft,

weil es mit anderen Worten die bestehenden götterkultlichen Bindungendes Reichtums in actu ihrer Aufhebung nicht durch neue, wesensspezifi-sche Verbindlichkeiten ersetzt, gibt es nun auch nichts, was in genere daspraktische Verhalten des Aristokraten in seinem neuen städtischen Entfal-tungsraum und in specie den Gebrauch, den er dort von seinem Reichtum

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macht, im Voraus festlegen und damit mehr noch dem städtischen Ent-

faltungsraum selbst einen durch das Verhalten der Aristokratie und ihreReichtumsverwendung bestimmte ideologische Stellung und Funktionvindizieren könnte. Das heißt, das Wesen erschöpft sich mangels eigener,positiver, oder besser gesagt in Positivität verkehrter, Beziehung zumherrschaftlichen Reichtum in der rein negativen Leistung, den Reichtumseiner Substantialität und Abgründigkeit, sprich, seiner für die göttlicheSphäre konstitutiven Rolle und seiner dadurch bedingten, opferkultlichreaffirmierten, eigentümlichen Bindung an die Götter zu berauben undals die hintergrundslos-substanzlose Gegebenheit, als die er hiernacherscheint, denen zur freien Verfügung zu überlassen, die ihn aus demterritorialherrschaftlich-theokratischen Bereich in den Freiraum der Stadtüberführen.

Eben dies allerdings, dass das Wesen seine Wirksamkeit darin erschöpft,den herrschaftlichen Reichtum um den Preis seiner Degradation zur blo-ßen Erscheinung seiner götterkonstitutiv-substanziellen Bedeutung undseiner opferkultlich-sakralen Funktion ein für allemal zu entkleiden, kurz,ihn unwiderruflich zu säkularisieren und zu profanisieren, und dass sichdamit die Aristokratie kraft des Bezugs zum Wesen, den sie behauptet,legitimiert findet, über diesen ihren säkularisierten und profanisiertenReichtum nach Gutdünken zu verfügen, das heißt, mit ihm als mit ihrem,ihr durch nichts und niemanden mehr streitig zu machenden Privatei-

gentum anzufangen, was sie will – eben dies beschwört die Gefahr einervon egoistischem Machtstreben und persönlicher Geltungssucht diktier-ten und deshalb die Gemeinschaft als Ganzes in Konflikte stürzendenund aufs Spiel setzenden Verwendung des Reichtums herauf. Und zurBewältigung dieser Gefahr bemüht nun die Polisgemeinschaft erneut denaristokratischen Wesensbezug, nicht etwa, um dem vom Aristokratenreklamierten Wesen ein dennoch positiv eigenes und den aristokrati-schen Umgang mit dem Reichtum direkt disponierendes Verhältnis zumReichtum nachzuweisen, sondern einzig und allein, um ihn, den aristo-kratischen Wesensbezug, als solchen zu problematisieren und damit die

von der Aristokratie für ihren potentiell privativen Umgang mit demReichtum geltend gemachte Legitimationsbasis in Frage zu stellen.Dass sich der Wesensbezug, sofern er besteht, hinsichtlich des herr-

schaftlichen Reichtums im Sinne einer ersatzlosen Streichung aller kulti-schen Hypotheken und sakralen Bindungen und einer privateigentümlich

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freien Verfügung über diesen Reichtum auswirkt, das ist ein für allemal

ausgemacht. Ob er allerdings besteht, ob im Falle der theokratischenErbin, der Aristokratie, der Wesensbezug Wirklichkeit ist, daran mel-det die Polisgemeinschaft, gestützt auf den latenten Widerspruch, dassdas Wesen, dessen sich die Aristokratie zur Befreiung von opferkult-lichen Bindungen bedient, an sich ja auch von den Bindungen an denReichtum selbst zu befreien taugt, Zweifel an. Und indem sie sich nunineins zur Richterin über und zur Kronzeugin für die Wirklichkeit oderUnwirklichkeit des aristokratischen Wesensbezuges aufwirft und ihraffirmatives Zeugnis und Urteil aber daran knüpft, dass die Aristokratievon ihrem zum Privateigentum säkularisierten Reichtum einen gemein-schaftsdienlichen Gebrauch macht, gelingt es ihr in der Tat, die Gefahrkonfliktträchtigen Machtstrebens und asozialer Geltungssucht zu bannenund bei der Aristokratie jene Arete genannte Haltung zu provozieren,die, wie sie einerseits als Nachweis des aristokratischen Wesensbezugeshonoriert wird, so andererseits die Gewähr für eine sozialverträglicheIntegration des aristokratischen Reichtums in den städtischen Kontext bietet.

Von diesem, als Arete firmierenden verhaltenspraktischen Resultather gesehen, erweist sich das zur Herauslösung des herrschaftlichenReichtums der Aristokratie aus territorialherrschaftlich-theokratischenBindungen und zur Einbindung dieses Reichtums in den kommerziell-

städtischen Kontext bemühte Strategem des Wesensbezuges als ganzund gar das Werk der kommerziell-städtischen Gemeinschaft selbst und bestätigt damit deren relative Eigenmacht und Unabhängigkeit. Der We-sensbezug ist das Zuckerbrot und die Peitsche, womit die städtischeGemeinschaft operiert, um die mit herrschaftlichem Reichtum gesegneteAristokratie ihren territorialherrschaftlichen Obligationen zu entreißenund in der Stadt heimisch werden zu lassen, sie dort aber auch zur Räson bürgerlichen Gemeinsinns zu bringen und auf eine der Gemeinschaftnicht zum Fluch werdende, sondern im Gegenteil förderliche Verwen-dung ihres Reichtums zu vereidigen.

Die Polisgemeinschaft ist es, die der Aristokratie jenen Bezug zumWesen attestiert, der ihr eine bedingungslose Emanzipation von der Göt-termacht und eine unbeschränkt freie Verfügung über ihr theokratischesErbe, den herrschaftlichen Reichtum, verschafft. Und die Polisgemein-schaft ist es, die ihr Attest an Konditionen knüpft, deren faktischer Effekt

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die Überführung der privatim freien Verfügung des Reichtums in dessen

gemeinschaftsdienliche Verwendung, die Verwandlung reichtumgestütztpersönlicher Ambitionen in reichtumfundiert liturgische Leistungen ist.Der Wesensbezug ist das katalytische Ferment, das die Polisgemein-schaft aus eigener Machtvollkommenheit ins Spiel bringt, um sich dieAristokratie zu amalgamieren und ihren der theokratischen Sphäre ent-stammenden Reichtum in das kommerziell profanisierte, als Warenzu-sammenhang säkularisierte polisspezifische Eigentum zu integrieren:Ohne materialiter in den Prozess einzugehen und ohne einen die eigeneBeschaffenheit zur Geltung bringenden verändernden Einfluss auf die amProzess beteiligten Faktoren auszuüben, ruft dies katalytische Fermentaus reiner, Widerstände und Vorbehalte in Gestalt von Bindungen undRücksichten außer Kraft setzender Negativität die gewünschte Reaktionhervor – die Herauslösung der Aristokratie und ihres Reichtums aus derterritorialherrschaftlich-opferkultlichen Sphäre und die sozialverträglicheEinbindung beider in die durch kommerziellen Austausch bestimmteVergesellschaftungsform der Stadt.

Anders der Ahnenkult, der gemäß dem für die römische Republikkonstitutiven anderen Kräfteverhältnis zwischen einer in Patronatsrollefigurierenden übermächtigen Aristokratie und einer in abhängiger Kli-entelfunktion firmierenden kommerziell-städtischen Gemeinschaft dasstrategische Werk nicht der letzteren, sondern vielmehr der Aristokratie

selbst ist. Die Aristokratie selbst ist es, die aus der Tiefe ihrer genokra-tischen Vergangenheit den Ahnenkult als für ihre Emanzipation vongötterkultlicher Bevormundung und ihre Integration in den Freiraum derStadt taugliches Strategem hervorzieht und ins Spiel bringt. Vom herr-schaftlichen Reichtum als von der Substanz ihres Daseins noch ganz undgar eingenommen und in der Logik seiner ihn selber kultisch bindendensakralen Bindekraft noch ganz und gar befangen, wendet sie demnacheinen Kunstgriff an, der im Unterschied zu der von der griechischen Polisqua Wesensbezug gebrauchten List nicht in einer simplen Entwertung dersakralen Funktion des Reichtums resultiert, sondern in deren veritabler

Umwertung besteht, der die mit dem Reichtum verknüpfte opferkult-liche Rücksicht nicht ersatzlos streicht, sondern durch eine alternativeRücksicht ersetzt, dessen Wirksamkeit sich mit anderen Worten nichtin der schieren Negation aller bis dahin dem Reichtum aufgebürdetenkonstitutiven Leistungen und repräsentativen Bekräftigungen erschöpft,

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Pietas unter Beweis stellende Weg darin besteht, sich dem Dienst an

eben jenem ahnenkultlichen Realfundament zu verschreiben, will heißen,all sein Vermögen, all seine persönliche Kraft und sein privates Vermö-gen in den Aufbau und die Erhaltung, die Pflege und Förderung desals Bastion und Opferstätte der Ahnen wohlverstandenen städtischenFreiraumes zu investieren. Ein und dasselbe sozialverträgliche bezie-hungsweise gemeinschaftsdienliche Verhalten, das beim die Aristokratieemanzipierenden und ihre freie Verfügung über den Reichtum legiti-mierenden Strategem der griechischen Polis unter dem Namen Areteumständlich und durch quasi formelle Verfahrenstricks, nämlich durchdie Problematisierung und an Bedingungen geknüpfte Attestierung desals Befreiungsinstrument und Legitimationsbasis herhaltenden Wesens- bezuges, durchgesetzt werden muss, ergibt sich beim entsprechendenStrategem der Urbs Romana wie von selbst und liegt nämlich als Pie-tas in der strukturellen Konsequenz und der situativen Logik des hierals Befreiungsinstrument und Legitimationsbasis ins Spiel gebrachtenAhnenkultes der aristokratischen Geschlechter.

Diesem praktischen Vorzug, den der – Gemeinschaftssinn in der Bedeu-tung von Pietas erzeugende – römische Ahnenkult vor dem – Gemein-schaftssinn im Sinne von Arete bewirkenden – griechischen Wesensbezughat, steht allerdings der besagte ideologische Nachteil gegenüber, dass imUnterschied zum Wesensbezug der Ahnenkult den Freiraum der Stadt

nicht so belässt, wie er ist, dass er vielmehr in dem Maße, wie er realiterder Erhaltung und Förderung des städtischen Freiraumes dient, ihn idea-liter in seine kultische Perspektive verstrickt und ihn aus einem von derterritorialherrschaftlich-theokratischen Sphäre relativ ausgenommenenprofanen Austauschort und säkularen Handelsplatz für herrschaftlichenund in wachsendem Umfange auch nichtherrschaftlichen Reichtum ineine Niederlassung und Hochburg totenkultlicher Aspirationen, in dasSchanzwerk oder den Vorposten einer beileibe zwar nicht aktuell, wohlaber potentiell auf den Transfer herrschaftlichen Reichtums an seine wah-ren Eigner, die Ahnen, abgestellten und zum göttlichen Opferkult einfach

nur alternativen Jenseitigkeit umdefiniert. Insofern der das pietätvolleWirken der Aristokratie für die Stadt, ihre gemeinschaftsdienliche Ver-wendung herrschaftlichen Reichtums, im Doppelsinn von Rechtfertigungund Motivierung begründende Ahnenkult eine bloß ideale Bestimmung,die totenkultlichen Konsequenzen, die mit ihm verknüpft sind, ein bloß

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potentieller Prospekt bleiben, und insofern also die neue religiöse Per-

spektive, in die er die städtische Gemeinschaft einspannt, und die alterna-tive sakrale Funktion, die er ihr aufhalst, eben nur eine ideologische, diePraxis in der Gemeinschaft nicht weiter tangierende Relevanz behauptet,fällt jener Nachteil nicht ins Gewicht und ist im Blick auf das eigentlicheZiel der Veranstaltung, im Blick auf die Integration des herrschaftlichenReichtums der Aristokratie in den kommerziell-städtischen Kontext, dasvon der römischen Aristokratie angewandte ahnenkultliche Strategemnicht schlechter – beziehungsweise, was die Unmittelbarkeit des von ihminduzierten Gemeinschaftssinnes betrifft, sogar besser – als der Kunstgriff einer der Aristokratie attestierten wesensbezüglichen Haltung, mit demdie Polisgemeinschaft operiert.

Daran ändert auch nichts der Umstand, dass es bei der ahnenkultlichenAusrichtung der Stadt ganz ohne empirisch-sichtbarliche Konsequenzendoch nicht abgeht und diese ahnenkultliche Neuorientierung sich, wennsie schon keine praktisch-reellen Auswirkungen hat, so immerhin dochkultisch-institutionellen Ausdruck verschafft. So wahr die römische Ari-stokratie dem Rex sacrorum, dem bürokratisch-kursorischen Abspeiserder Götter, den Pontifex maximus, den “Großen Brückenbauer”, zurSeite stellt beziehungsweise als oberste religiöse Einrichtung überordnet,so wahr zollt dieses höchste kultische Amt der prekären Stellung derStadt zwischen abgedankter theokratisch-opferkultlicher Verpflichtung

und um der Abdankung jener Verpflichtung willen geltend gemachtergenokratisch-ahnenkultlicher Bindung Tribut und markiert mit ande-ren Worten den Spagat, den die Aristokratie vollführt, um sich und ihrtheokratisches Erbe, den herrschaftlichen Reichtum, aus der territorial-herrschaftlichen Sphäre auszulösen und in den Freiraum der Stadt zuintegrieren – einen Spagat, der in der Tat dem Schwebezustand einesBrückenbaues, einem in die Schwebe zurückgenommenen, zur Brückein sich verhaltenen Übergang gleicht und in den die Aristokratie auch,ideologisch zumindest, die dadurch in einen tragenden Pfeiler verwan-delte städtische Gemeinschaft verwickelt und einspannt. Aber eben weil

der große, von den Göttern zu den Ahnen, vom Opferkult zum Ah-nenkult verlaufende Bogen, in den der Pontifex maximus die städtischeGemeinschaft als tragenden Pfeiler einspannt, weil die richtungweisendeBrücke, die er mit Hilfe der als Stützpunkt und Operationsbasis rekla-mierten Stadt schlägt, eine rein kultische, nicht etwa zur Praxis in der

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Stadt alternative, sondern ihr vielmehr komplementäre Veranstaltung

 bleibt, dient das ideologisch die Stadt als Mittel zum ahnenkultlichenZweck reklamierende Amt des Pontifex maximus in aller Praxis dazu,die städtische Gemeinschaft selbst als vorläufig höchsten Zweck desaristokratischen Tuns und Treibens, den Freiraum der Stadt als das Aund O ihres von Pietas erfüllten reichtumgestützen Wirkens ineins zu bestätigen und zu bekräftigen.

Faktisch wichtig und praktisch folgenreich wird der in der Einbin-dung der städtischen Gemeinschaft in die ahnenkultliche Perspektive deraristokratischen Geschlechter und in der Umfunktionierung des städ-tischen Freiraums in eine quasitotenkultliche Opferstätte bestehendeideologische Nachteil des römischen Strategems zur Integration herr-

schaftlichen Reichtums nur und erst dort, wo herrschaftlicher Reichtumzu einer ständig wiederkehrenden und ständig neu nach seiner inte-grativen Bewältigung verlangenden Erscheinung wird. Weil die eman-zipierende Kraft des ahnenkultlichen Strategems sich nicht wie beimKunstgriff des Wesensbezuges in der definitiv negativen Entwertung undEntwirklichung des herrschaftlichen Reichtums und aller ihn angeblicheignerschaftlich reklamierenden theokratischen Mächte erschöpft, son-dern vielmehr in einer infinit positiven Umwertung und alternativenVerwirkung des Reichtums, sprich, in der Ablösung der alten, dem städti-schen Freiraum, der sich aus ihrem Herrschaftsgebiet absentiert, feindlich

gesonnene Herren des Reichtums und ihrer Ersetzung durch neue, demstädtischen Freiraum, der sich ihnen als Kultstätte zur Disposition stellt,wohlgesinnte Reichtumseigner resultiert und weil also das ahnenkultli-che Strategem den herrschaftlichen Reichtum nicht einfach ein für allemalentmächtigt und der mit ihm verknüpften sakralen Verbindlichkeitenentledigt, sondern dies nur dadurch vollbringt, dass es ihm ad infinitumeine alternative Mächtigkeit nachweist und ihn einer neuer sakralenBindung überführt, ist in besagtem Falle, dem Fall, dass ständig weitererherrschaftlicher Reichtum in die Stadt fließt, dafür gesorgt, dass nunauch jener vom ahnenkultlichen Strategem geltend gemachte alternativeeignerschaftliche Anspruch ständig neu erhoben wird und als ein der Er-

scheinung des herrschaftlichen Reichtums selbst an Permanenz in nichtsnachstehender Bemächtigungstrieb in Aktion tritt.

Sowenig das, was den herrschaftlichen Reichtum der Aristokratie imSinne einer Entkräftung seiner opferkultlich-sakralen Bindungen profani-siert, ein als absolutes Wesen negatives Prinzip ist, das dem Reichtum als

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solchem mit nicht geringerer Indifferenz und Negativität begegnet als den

hinter ihm stehenden göttlichen Mächten, sosehr es vielmehr seinerseitseine als relative Ahnenreihe positive Macht ist, die den herrschaftlichenReichtum seinen göttlichen Eignern streitig macht und ihn in diesemSinne profanisiert, nur um ihn stante pede mit neuer sakraler Bedeutungzu versehen und nämlich zu ihrem eigenen Anliegen zu erklären, ihn alsetwas, das ihr zusteht, in Anspruch zu nehmen, sowenig kann diese quaAhnen wirksame, alternativ besitzergreifende Macht jemals Ruhe geben,sosehr muss sie sich jeden weiteren, im Freiraum der Stadt von außerhalbauftauchenden herrschaftlichen Reichtums als ihres Erbteils, ihres legiti-men Eigentums bemächtigen. Oder besser gesagt müssen, da sie selbst ja nur ein ideologischer Faktor, eine nirgends sonst als in den religiösenVorstellungen und kultischen Veranstaltungen der aristokratischen Fa-milien Wirksamkeit beweisende strategische Figur ist, ihre lebendigenRepräsentanten, die in ihrem Namen, als ihre Sprachrohre, ihre perso-nae, agierenden Oberhäupter der Familien, die aristokratischen Patres,solchen Bemächtigungstrieb an den Tag legen und mit unstillbarer Besitz-gier allen im Dunstkreis der Stadt etwa auftauchenden herrschaftlichenReichtum an sich reißen, um jenem zur Integration des Reichtums in denkommerziell-städtischen Zusammenhang ersonnenen Strategem einerEntkräftung und Tilgung theokratisch-opferkultlicher Verpflichtungendurch alternative Ansprüche genokratisch-ahnenkultlicher Provenienz

Genüge zu leisten.Allerdings legen die Patres dieses von Rücksicht auf die Ahnen, von

schierer Pietas, diktierte unersättliche Besitzstreben im Blick auf allen derterritorialherrschaftlich-götterkultlichen Sphäre entstammenden Reich-tum ja nur an den Tag, um sogleich die kultische Rücksicht in praktischeVoraussicht, die pietätvolle Bindung an die familiären Ahnen in nichtminder pietätvolle Verbundenheit mit dem als Wohnsitz und Hochburgder Ahnen unentbehrlichen städtischen Freiraum umzumünzen undden in Besitz genommenen Reichtum in den Dienst dieses Freiraumesund des ihn okkupierenden Gemeinwesens zu stellen, kurz, ihn gemein-

schaftsdienlich zu verwenden. Nur durch diese im Begriff der Pietas beschlossene Gleichsetzung des Kults um die Ahnen mit einem hinge- bungsvollen Wirken für das Wohl der als faktische conditio sine quanon solchen Ahnenkults erscheinende städtische Gemeinschaft, nur alsodurch die umstandslose ideologische Umfunktionierung der Stadt in

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die vordringlichste und vornehmste ahnenkultliche Opferstätte, können

sich ja die Patres den totenkultlich-katabolischen Konsequenzen einesin das Grab hinein fortgesetzten Reichtumstransfers entziehen, die an-sonsten in dem von ihnen zur Anwendung gebrachten ahnenkultlichenStrategem beschlossen und die in der Tat geeignet wären, die mit demStrategem verfolgte Zielsetzung einer Integration des herrschaftlichenReichtums in den kommerziell-städtischen Kontext katabolisch-gründlichad absurdum zu führen.

Und von dieser qua Pietas durchgesetzten Gleichsetzung von Bindungan die Ahnen und Hingabe an die Stadt beziehungsweise von familiär-privativer Aneignung und gemeinschaftsdienlicher Verwendung her betrachtet, scheint nun auch die Dynamik der mit dem ahnenkultlichenStrategem verknüpften Bemächtigungssucht und Besitzgier, mit der diePatres im Namen der genokratischen Substanz, die sie personifizieren, jeglichem in der Stadt auftauchendem herrschaftlichen Reichtum begeg-nen, kein sonderlicher Schade und überhaupt kein wirklicher Nachteil,da somit der von der Aristokratie kultverdächtig-zwanghaft angeeigneteReichtum pietätvoll-zuverlässig stets doch der städtischen Gemeinschaftzugute kommt, zur Festigung und Förderung, Vergrößerung und Erhö-hung des kommerziell-städtischen Gemeinwesens verwendet wird, undsich also der vom ahnenkultlichen Strategem diktierte familiär-privativeGestus des Pater familias, des persönlichen Repräsentanten der Ahnen,

immer gleich wieder in die selbstverleugnende Gebärde des in der respublica seine wahre Heimstatt und sein eigentliches familiäres Anliegenfindenden Patronus urbis, des öffentlichen Bewahrers der von den Ahnengeheiligten Kultstätte, umgewandelt zeigt.

Zum Problem wird die Sache nur und erst dann, wenn nicht alleinständig neuer herrschaftlicher Reichtum in das städtische Gemeinwesenfließt, sondern wenn es mehr noch das städtische Gemeinwesen selbstist, das für diesen ständigen Zufluss an herrschaftlichem Reichtum sorgt.Falls nämlich die Stadt selbst den Reichtum beschafft, der jedes Malneu den im ahnenkultlichen Strategem implizierten Bemächtigungs-

trieb der Aristokratie beziehungsweise ihrer Oberhäupter erregt, liegtder Nachteil jener die Integration des Reichtums durch dessen positiveUmwertung ins Werk setzenden ahnenkultlichen Strategie auf der Handund tut sich in einem wahren Teufelskreis aus privater Bereicherungund Verwendung fürs öffentliche Wohl, sprich, in einem circulus vitiosus

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der Umwandlung des kommerziell-städtischen Freiraums in eine sich

selbsttätig füllende Beute- und Schatzkammer der aristokratischen Ahnenebenso unabschließbar wie unübersehbar kund.Unnötig zu sagen – weil in der früheren Behauptung von einer mit

dem Übergang von der griechischen Polis zur römischen Urbs einher-gehenden Verwandlung des städtischen Gemeinwesens aus einem kom-merziellen in einen nichtkommerziellen Reichtumbeschaffer ja bereitsvorweggenommen –, dass genau dies, die problematische Kombinationnämlich des ahnenkultlichen Strategems zur Integration herrschaftlichen,nichtkommerziell erworbenen Reichtums in die Stadt mit einem von derStadt selbst ausgebildeten Mechanismus zur Beschaffung immer neuenherrschaftlichen, nichtintegrierten Reichtums, der Fall der römischenRepublik ist! Und unnötig zu sagen – weil durch die Geschichte selbstsattsam belegt –, dass diese Kombination aus aristokratischem Strategemund gemeinschaftlich ausgebildetem Mechanismus der Fall der Republikin der ganzen Zweideutigkeit des Wortes ist: mit der Republik Gegebenes,Faktum, und zugleich über die Republik Verhängtes, Fatum. In eben demMaße, wie der von der res publica, der städtischen Gemeinschaft unteraristokratischer Führung, ständig neu herbeigeschaffte herrschaftlicheReichtum von der Aristokratie im Namen ihrer genokratischen Substanz,der Ahnen, mit Beschlag belegt und aber aus Pietas, aus wohlverstan-dener Sorge um das Leben der Ahnen und den Bestand ihres Kultes,

zur Stärkung und Förderung ihrer irdischen Hochburg und diesseitigenKultstätte, des als kommerzielles Gemeinwesen etablierten städtischenFreiraumes, verwendet wird, wird nolens volens auch und zugleich dieFähigkeit dieser von der Aristokratie geführten städtischen Gemeinschaftgestärkt und gefördert, den von ihr ausgebildeten nichtkommerziellenAppropriationsmechanismus immer umfänglicher und wirksamer einzu-setzen und immer mehr herrschaftlichen Reichtum aus der territorialherr-schaftlichen Sphäre in den Freiraum der Stadt zu schaffen, und findet sichdamit, wie zum einen die städtische Gemeinschaft immer stärker in einenBeschaffungsautomaten für die Habgier der im Namen ihrer Ahnen agie-

renden Familien überführt, so zum anderen die Aristokratie selbst vor dieimmer herausforderndere und zunehmend unlösbare Aufgabe gestellt,den im Namen der Ahnen vereinnahmten herrschaftlichen Reichtum ent-gegen allen mit ihm unmittelbar verknüpften totenkultlich-katabolischenKonnotationen im Sinne von Pietas zu verwenden und das heißt, zu Nutz

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und Frommen der in einen Automaten zur Beschaffung von immer mehr

herrschaftlichem Reichtum verwandelten städtischen Gemeinschaft zugebrauchen. Die römische Republik findet sich mit anderen Worten durchdie Kominbation aus ahnenkultlichem Reichtumsintegrationsstrategemund nichtkommerziellem Reichtumsbeschaffungsmechanismus in eineeskalierende Zirkelbewegung, eine automatische Spirale eingespannt, dieebenso sehr als ihr Lebensprinzip, als ein sie zu gewaltiger politischerMacht und beispielloser historischer Größe treibendes Motiv erscheint,wie sie sich am Ende als ihre Todesspirale, eine sie in die schier endlo-se Agonie des Kaiserreichs katapultierende, selbsttragend-prinzipielleFehlorientierung herausstellt.

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. Expansiver Föderalismus

Die junge aristokratische Republik ist nicht auf territoriale Eroberungen, sondern

darauf aus, ihrem Handelsplatz ein möglichst umfassendes Betätigungsfeld zu er-schließen. Signum dieser nichtokkupativen Expansion sind die foedera, die sie mitden umliegenden Völkerschaften und Gemeinwesen nach deren militärischer Nie-derlage jeweils schließt und durch die sie sich diese als Bundesgenossen anglie-dert.

Noch allerdings stehen wir nicht am Ende, sondern am Anfang der Re-publik, noch ist von den beiden Faktoren, die in Kombination den Le- benslauf der Republik befeuern und dabei in eine tödliche Fieberkurveüberführen werden, nur erst das eine, pietätvoll-reichtumintegrative ah-nenkultliche Strategem vorhanden. Es sorgt dafür, dass die Häupter der

Aristokratie, die Patres, nach der Vertreibung des Monarchen und der Be-seitigung des Königstums ihr territorialherrschaftliches Erbe, ihren nicht-kommerziell erwirtschafteten, frondienstlich erworbenen Reichtum, mitDuldung beziehungsweise Zustimmung der durch die bürokratischenOpfergesten des Rex sacrorum abgespeisten Götter in den unter aristo-kratischem Patronat sich entfaltenden kommerziell-städtischen Freiraumeinbringen und dort frei über ihn verfügen, sprich, ihn nach Maßgabeder vom Pontifex maximus repräsentierten ahnenkultlichen Orientie-rung pietätvoll und nämlich zu Nutz und Frommen, zur Stärkung undErhöhung, der als diesseitiger Aufenthalt und irdische Opferstätte der

Ahnen geheiligten Urbs Romana verwenden können. Ehe sie dies dannmit ebenso großem Erfolg wie Einsatz zu tun beginnen, ehe sie anfangen,mit Zielstrebigkeit und dem Glück des Tüchtigen die ihrem Patronatunterstehende Stadt in immer weiteren Teilen Mittelitaliens und darüberhinaus als zentrale Gegebenheit in Szene zu setzen, den Handelsplatz

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Rom zum immer umfangreicher organisierenden Knotenpunkt und im-

mer weitreichender richtungweisenden Kraftfeld der Region zu machen,erleidet das römische Gemeinwesen allerdings noch einen Rückschlagund Machtverlust, der die Erfolgsaussichten eines unter aristokratischemPatronat sich vollziehenden – und das heißt, von der Aristokratie nicht bloß politisch kontrollierten, sondern mehr noch ökonomisch gemanag-ten – Aufstiegs des Handelsplatzes zur Metropole in einem eher trübenLichte erscheinen lässt.

Unmittelbar nach der Abschaffung der Monarchie fallen die unterder Monarchie unterworfenen latinischen Stämme und eroberten latini-schen Städte von Rom ab und reduzieren die Stadt in dem Augenblick,in dem sie unter die Herrschaft ihrer zur Aristokratie homogenisierten bodenständigen Genokratie zurückkehrt, scheinbar wieder auf die eherökonomische als politische Bedeutung eines überregionalen Marktesund Fernhandelsfunktionen erfüllenden Umschlagsplatzes, die sie vorEtablierung der Monarchie, zu Zeiten der genokratischen Herrschaft,auch bereits hatte. Indes ist, was als Wiederherstellung eines Status quoante erscheinen könnte, in Wahrheit ein bloßes Atemholen, ein kurzesInnehalten, ehe die Stadt unter ihrer aristokratischen Führung die vonder Monarchie eingeschlagene machtpolitische Richtung und adoptierteexpansive Strategie mit ebensoviel pietasgesättigter Kraft wie gemein-schaftssinnigem Nachdruck weiterverfolgt. Wie der kurz darauf mit dem

latinischen Städtebund geschlossene Bündnisvertrag, der dem römischenGemeinwesen die unter der Monarchie errungene Vorherrschaft vor Orterneut sichert, erkennbar werden lässt, hat die junge aristokratische Re-publik den Expansionsdrang der abgeschafften tarquinischen Monarchiedurchaus übernommen; nur die Mittel zu seiner Befriedigung sind an-dere geworden, die Art und Weise, wie die Expansion betrieben wird,hat sich markant gewandelt – und nichts anderes als diesen markantenWandel, diesen Paradigmenwechsel in der Vergrößerungsstrategie läutetder vorübergehende Verlust der durch die Monarchie unter römischeBotmäßigkeit gebrachten Gebiete ein.

Im Unterschied zur theokratischen Monarchie ist die junge aristokra-tische Republik nicht darauf aus, territoriale Eroberungen zu machen,sich neue, fremde Gebiete anzueignen, um sich auf diesem Wege neueÜberflussquellen zu erschließen, ihre fronwirtschaftlich betriebene Pro-duktion herrschaftlichen Reichtums auf eine erweiterte Grundlage zu

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stellen. Vielmehr geht es ihr nur darum, das Unterpfand ihres ökono-

mischen Wohlstandes und ihrer politischen Unabhängigkeit zu stärkenund in seiner Entwicklung zu fördern, sprich, den Handelsplatz, in demsie gründet, weitreichenden Einfluss und umfassende Verbindlichkeitgewinnen zu lassen, der kommerziellen Funktion, um die sich organisiert,Zugriff auf möglichst viele Wirtschaftsräume und Produktionsgemein-schaften zu verschaffen. Territoriale Eroberungen und Okkupationen,insofern sie die Möglichkeit zu einer direkten Inbesitznahme fremderReichtumsquellen zwecks herrschaftlicher Ausbeutung eröffnen, wärendiesem Ziel einer indirekten Erschließung fremder Reichtumsquellenmittels kommerziellen Austausches im Zweifelsfall eher abträglich alsförderlich. Weil im Zuge der direkten militärischen Bemächtigung undokkupatorischen Gewaltausübung die fremden Reichtumsquellen, so-weit sie nicht überhaupt zerstört oder zum Versiegen gebracht würden,den Okkupanten in die Hände fielen und als persönliches Eigentumfür sie verfügbar, ihrer fronwirtschaftlich-herrschaftlichen Ausbeutungzugänglich würden, wäre die in der relativen politisch-ökonomischenSelbständigkeit der fremden Reichtumsquellen bestehende Basis für dieindirekte, durch kommerziellen Austausch praktizierte Reichtumsaneig-nungsprozedur, der die Okkupation doch von Haus aus dienen und zuder sie eigentlich nur den Grund liegen sollte, in actu solcher Grund-legung vielmehr entfallen; in einer Art Unschärferelation schließt das

eine, die im realen Zugriff unmittelbare Okkupation der fremden Reich-tumsquellen, das andere, die durch kommerziellen Austausch vermitteltePartizipation an deren Früchten, aus.

Letzteres aber, die kommerziell vermittelte Partizipation an fremdemReichtum, ist, wie der Existenzgrund des Handelsplatzes und des inseinem Kraftfeld sich entfaltenden städtischen Freiraumes, so zugleichdie Bestandsgarantie der als seine Beschützer, seine Patrone, um denstädtisch-kommerziellen Freiraum gescharten, weil in ihm die Grundlageihres ökonomischen Wohlergehens und das Faustpfand ihrer politischenUnabhängigkeit findenden aristokratischen Allianz. Will die aristokra-

tische Allianz im Bewusstsein ihrer ständischen Geschlossenheit undmilitärischen Stärke die Expansionspolitik der verjagten Monarchie fort-setzen beziehungsweise wiederaufnehmen, so kann und darf sie dasnicht auf dem Wege einer direkten territorialen Okkupation tun, die kraft besagter Unschärferelation der Substanz ihres Wohlergehens und ihrer

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Unabhängigkeit, der kommerziellen Funktion, vielmehr den Weg ver-

 bauen und die Expansionsmöglichkeiten verschlagen und außerdem sie,die Allianz selbst, zersprengen und ihre Mitglieder, die aristokratischenFamilien, bestenfalls in landnehmende und ihren festen Besitz, ihr Terri-torium, einander streitig machende traditionelle Herrschaften zerfallen,schlimmstenfalls zur – nach Maßgabe ihrer Zerstrittenheit und Isolation– leichten Beute für umliegende Teritorialmächte werden lassen müsste.Statt dessen muss die aristokratische Allianz Expansion pro domo und imInteresse des Handelsplatzes betreiben, muss sie im oben erklärten Sinnevon pietas alles daransetzen, den Geltungsbereich, das Tätigkeitsfeld unddie Einflusssphäre des den städtischen Freiraum begründenden und diestädtische Gemeinschaft tragenden kommerziellen Austauschsystems zuvergrößern.

Ausdruck des so definierten expansiven Bestrebens sind die foedera,die zuerst mit den unmittelbaren Nachbarn und dann mit den Völker-schaften und Gemeinwesen des zunehmend weiter gefassten Umkreises jeweils zum Ende militärischer Auseinandersetzungen geschlossenenBündnisse, sind Verträge, die den im Krieg unterlegenen Gegner, denVertragspartner, zum freundschaftlichen Verkehr und friedlichen Gü-teraustausch mit Rom verpflichten, ihn dafür aber vor der völligen Un-terwerfung und der direkten Unterstellung unter römische Herrschaft bewahren und ihm ein mehr oder minder großes Maß an politischer

Autonomie und sozialer Selbstorganisation belassen. Dafür, dass derrömische Handelsplatz ungehinderten Zugang zu den Austauschpro-zessen des anderen Gemeinwesens und freien kommerziellen Zugriff auf seine Überschüsse und Ressourcen erhält und für das andere Ge-meinwesen Fernhandelsaufgaben übernimmt und seine Einbindung inden größeren, zu Anfang eher latinisch-mittelitalischen und später dannmehr noch italisch-mittelmeerischen Wirtschaftsraum besorgt, machtdie Römische Republik das andere Gemeinwesen zum Bundesgenossen,zum socius, bietet ihm Beistand und Schutz gegen Nachbarn und äu-ßere Feinde und lässt es an einem durch die römische Wehrhaftigkeit

garantierten allgemeinen Landfrieden partizipieren, während sie ihmgleichzeitig gestattet, seine kommunal-lokalen Organisations- und Ent-scheidungsstrukturen beizubehalten und seine inneren Angelegenheitenauch weiterhin per Selbstverwaltung zu regeln. Nichts weiter setzt dieRömische Republik mittels Bündnisvertrag durch als jenes Minimum an

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politischer Vorherrschaft und militärischer Kontrolle, das erforderlich ist,

um beim Bundesgenossen kommerzielle Aufgeschlossenheit, sprich, dieökonomische Bindung an den Handelsplatz Rom, zu gewährleisten.Nicht von ungefähr geht den Bündnisverträgen fast immer eine krie-

gerische Auseinandersetzung voraus; ohne ein gewisses Maß an mili-tärischen Zwang und politischem Druck ist die kommerzielle Aufge-schlossenheit, das gegenüber dem römischen Austauschsystem bewie-sene Wohlverhalten, des Vertragspartners, seine Kooperation, nicht zuhaben, geschweige denn zu erhalten: Zu klärlich bedeutet einerseits dieökonomische Bindung an den Handelsplatz Rom, aller relativen Autono-mie, die dem Bundesgenossen verbleibt, zum Trotz, eine Beschneidung

seiner Souveränität, das heißt, eine Einschränkung ebenso sehr seineraußenpolitischen Bewegungsfreiheit, seiner Freiheit, sich nach Maßgabeseiner eigenen Interessen Freunde zu suchen und Feinde zu machen, wieseiner innenpolitischen Prozessfähigkeit, seiner Fähigkeit, gesellschaftli-che Konflikte auszutragen und nach Maßgabe eigener Kräfteverhältnissezu lösen, und zu spürbar ist andererseits das im kommerziellen Prinzipals solchem angelegte Moment ökonomischer Ausbeutung, die für allenHandel konstitutive Tatsache nämlich, dass der Handeltreibende nurvermittelnd tätig wird, wenn der Austausch ihm einen regelmäßigen, bezifferbaren Mehrwert einbringt – zu deutlich also sind diese beiden mit

der festen Anbindung an den Handelsplatz Rom und sein kommerziellesSystem verknüpften Belastungen, als dass sich nicht sei’s bei den umihre politische Macht bangenden führenden Gruppen, sei’s bei den öko-nomische Nachteile befürchtenden unteren Schichten des prospektivenBündnispartners Widerstand gegen den Anschluss an Rom regen bezie-hungsweise, wenn er denn Wirklichkeit geworden, immer wieder einmaldas Bedürfnis einstellen müsste, sich der politischen Vormundschaft undökonomischen Direktive Roms zu entziehen.

Allerdings sind auch die mit dem Bündnis verknüpften Beeinträchti-gungen und Nachteile wiederum nicht so groß und nicht so bar jeder

kompensatorischen Implikationen, dass der Widerstand unüberwindlichwürde beziehungsweise das Aufbegehren eine Stärke und Unnachgiebig-keit gewänne, die es über spontane Unruhen und sporadische Aufständehinausgelangen und die Fasson einer ständigen Bereitschaft zur Revolteund Widerstandsbewegung annehmen ließe. Schließlich bietet den oberen

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Schichten der ins Bündnis aufgenommenen Gemeinschaften die Einglie-

derung in das römische Handelssystem Gelegenheit, ihren Reichtumoder Wohlstand in ganz anderem Maße als zuvor sei’s akkumulativ zumehren, sei’s konsumtiv zu nutzen, und beschert ihnen mit anderen Wor-ten Bereicherungschancen und eine Hebung ihres Lebensstandards, dieohne weiteres geeignet erscheinen, für den Verlust an außenpolitischerAutonomie und innenpolitischer Entscheidungsfreiheit zu entschädigen.Und schließlich ermöglicht diese Eingliederung in das römische Han-delssystem Individuen aus den unteren Schichten der Bundesgenossenein bis dahin unbekanntes Maß an sozialer Mobilität und ökonomischfundierter politischer Emanzipation, das heißt, es eröffnet den Tüchti-gen, Intelligenten und Glücklichen Wohlstandsperspektiven und sozialeAufstiegschancen, die ihnen ihr Gemeinwesen in der alten Form undVerfassung nicht zu bieten hätte und die aus Sicht dieser einzelnen ei-ne durchaus akzeptable Kompensation für die den unteren Schichtenals Kollektiv widerfahrende kommerzielle Ausbeutung darstellen. Dieden Vertragspartnern aus ihrem Bündnis mit der Römischen Republikentstehenden Nachteile politischen Machtverlusts und kommerziellerAusbeutung werden also durch die ihnen aus dem Bündnis erwachsen-den Vorteile individuellen Wohlstands und sozialer Mobilität halbwegswettgemacht, und deshalb genügt ein initialer Akt kriegerischer Gewalt beziehungsweise in der Folge dann ein relativ geringes Maß an politischer

Kontrolle und militärischem Zwang, um die Bundesgenossen bei derStange des römischen Handelssystems zu halten und ihre Mitwirkung beider spezifischen römischen Expansionsstrategie zu gewährleisten.

In der Tat ist, dass die Römische Republik, sobald sie ein von ihr be-siegtes und ihrer Expansionsstrategie erlegenes Gemeinwesen vertraglichgebunden und auf die Kooperation im Rahmen ihres kommerziellen Sys-tems vereidigt hat, dies Gemeinwesen im Blick auf künftige kriegerischeAuseinandersetzungen zur militärischen Gefolgschaft und Stellung vonHilfstruppen verpflichtet und also dazu bringt, sich an der Fortsetzungeben der Strategie aktiv zu beteiligen, der es zuvor selbst zum Opfer

gefallen ist, vielleicht das genialste Strategem in der eigentümlichen Ver-fahrensweise, kraft deren das frühe, adelsrepublikanische Staatswesenseine politisch-ökonomische Einflusssphäre ausweitet und damit sei-ne Unabhängigkeit und Macht offensiv sichert. Indem die RömischeRepublik die im Rahmen ihrer föderativen Expansionsstrategie ihrem

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mittelitalischen Handelssystem eingegliederten Stämme und Gemeinden

zur Heerfolge, sprich, zur Beteiligung an künftigen kriegerischen Ausein-andersetzungen mit gemeinsamen Nachbarn und Gegnern verpflichtet,verwandelt sie die Eingegliederten aus passiven Objekten, faktischen Po-sitionen der Strategie in faktorelle, die Strategie mittragende Aktivposten,in wenn auch ihr, der Römischen Republik, nachgeordnete handelndeSubjekte, lässt die damit aus einer bloßen Manövriermasse in Handlungs-gehilfen, Strategen zweiter Ordnung, Transformierten wie in specie ander mit Krieg verknüpften Aussicht auf Beute, so in genere an der mitExpansion einhergehenden Perspektive vermehrten Wohlstandes undgesteigerter Macht teilhaben und schafft auf diese Weise einen moti-vationalen Einklang und intentionalen Zusammenhang, der an Stärkedes Zusammenhalts und solidarisierender Wirkung alles übertrifft, waspolitischer Zwang und militärische Kontrolle herzustellen vermöchten.

Allerdings werden mit dieser, in der Überführung der vincti in socii,der Unterworfenen in Bundesgenossen, beschlossenen Transformati-on der primären Objekte und Opfer der römischen Expansionsstrategiein deren sekundäre Subjekte und Träger bei den solcherart Transfor-mierten auch Erwartungen geweckt und Ansprüche genährt, die sichauf Dauer mit der den Betreffenden zugewiesenen Stellung von Hand-lungsgehilfen und Bundesgenossen, von Mitwirkenden zweiten Grades,nicht vertragen und vielmehr auf eine vollgültige Mitgliedschaft, auf 

die uneingeschränkte Aufnahme in die städtische Gemeinschaft Roms,die Zuerkennung voller Bürgerrechte dringen. Sosehr die Geschichte derrömischen Republik geprägt ist von dem daraus resultierenden Konflikt,dem Versuch einerseits der Bundesgenossen, als Vollbürger, als an derUnabhängigkeit der römischen Gemeinschaft Partizipierende, Geltung zuerlangen, und dem Bemühen andererseits der römischen Gemeinschaftselbst, die Bundesgenossen als Bürger zweiter Klasse in Abhängigkeitzu erhalten, sowenig ändert indes der Konflikt etwas daran, dass dieKonstellation, in deren Rahmen er sich abspielt und entfaltet, nämlich dasrömische System von Bundesschlüssen, in dem das ökonomische Gebilde

des von Rom organisierten latinisch-italischen Handelszusammenhangessich politisch artikuliert, eine ebenso große Haltbarkeit wie Dynamik,eine ebenso ausgemachte Kohäsions- wie Expansionskraft beweist, dieihren Grund in dem motivational ansprechenden Subjektstatus, demintentional verbindenden Projektbewusstsein findet, mit dessen Hilfe die

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Römische Republik die Objekte ihrer Aggression politisch-ökonomisch

wieder aufrichtet, kaum dass sie sie strategisch-militärisch am Boden hat.

Im Inneren ist die Gesellschaft in Patrizier und Plebejer, das heißt, in die ari-stokratische Oberschicht und deren Anhang einerseits und in die kommerzi-elle Funktion und die hinter ihrer Fahne sich sammelnden Handwerker undLohnabhängigen andererseits dichotomisiert, wobei sich die Plebejer dank deszunehmenden ökonomischen und sozialen Gewichts, das ihnen die auf Ausdeh-nung des römisch-italischen Marktsystems zielende bundesgenossenschaftlicheStrategie der Republik verschafft, eine wachsende Beteiligung an der politischen

 Macht sichern; deutlichsten Ausdruck findet ihre politische Emanzipation in der

Einrichtung der Zenturiatskomitie.

Tiefgreifender als die Differenzen mit den Bundesgenossen und für dieExistenz der Republik beziehungsweise den Bestand ihres hegemonia-len Systems bedrohlicher ist da der Streit, der bald schon im Machtzen-trum selbst, in der städtischen Gemeinschaft der Urbs Romana, ausbrichtund der als Ständekampf an die zweihundert Jahre lang die Politik be-herrscht, weil er an wechselnden Stellen des sozialen Gefüges die immergleich entscheidende klassengesellschaftliche Verwerfungslinie markiert.Nährboden des Streites ist die erfolgreiche Entwicklung, die unter aristo-kratischem Patronat das latinisch-italische Handelssystem mit Rom alsorganisierendem Zentrum und primär profitierendem Umschlagsplatznimmt: In dem Maße, wie dank der auf die Förderung der kommerzi-ellen Funktion und die Erweiterung der kommerziellen Einflusssphäregerichteten kontraktiven Expansionsstrategie der römischen Aristokratieder Handel gestärkt wird und gleichermaßen an geographischem undsächlichem Volumen, an Verbreitung und Vielseitigkeit gewinnt, sammeltsich aufgrund des mit der Handelsfunktion untrennbar verknüpftenAkkumulationsmechanismus kommerzieller Reichtum in den Händenderer, die den Handel betreiben, wie auch derer, die ihm als in seinemKraftfeld, im Freiraum der Stadt, siedelnde Handwerker zuarbeiten, und

erzeugt politische Spannungen zwischen diesen Neureichen von untenund der aristokratischen Führungsschicht.Quelle der Spannungen ist im wesentlichen die mit dem neuen Reich-

tum, der neuen ökonomischen Kapazität, verknüpfte Forderung nach po-litischer Mitsprache und Mitwirkung, der die aristokratische Oberschicht

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entschieden ablehnend begegnet. Für die Oberschicht ist die kommerzi-

elle Funktion beziehungsweise die sie wahrnehmende und ausübendestädtische Gemeinschaft ein gleichermaßen als außenpolitischer Faktorund als innenpolitisches Faktotum wirksames strategisches Instrument,mit dem sie rechnet und das sie nach Maßgabe eigener Interessen ein-setzt. Die kommerzielle Gemeinschaft dient der Oberschicht mit anderenWorten als Faustpfand ihrer unabhängigen Stellung und ihres Einflussesnach draußen sowie als Grundlage ihres konsumtiven Wohlergehensund ihres urbanen Lebensstandards. Weil der römische Handelsplatz derpolitischen Unabhängigkeit und der ökonomischen Wohlfahrt der aristo-kratischen Oberschicht nutzt, genießt er deren Schutz und Patronage underscheint als der Hauptbegünstigte der von letzterer mit militärischenMitteln verfolgten kontraktiven Expansionsstrategie. Aus aristokrati-scher Sicht aber ist damit zugleich die kommerzielle Funktion und diesie tragende Gemeinschaft auf ein striktes Klientelverhältnis vereidigt:Ihre Stärkung und Förderung soll abhängige Variable des Unabhängig-keitsstrebens und Lebensformbedürfnisses sein und bleiben, dem dieOberhäupter der Familien, die als Patrone firmierenden Patres, huldigenund das sie umstandlose mit dem Interesse des gesamten Gemeinwesens,der Republik als solcher, gleichsetzen.

Wie sich indes herausstellt, ist die kommerzielle Funktion beziehungs-weise die sie wahrnehmende städtische Gemeinschaft kein so ohne weite-

res beherrschbares, kein nach Belieben manipulierbares Instrument, son-dern vielmehr ein mit Eigeninteressen und mit eigenem Willen begabtesgesellschaftliches Subjekt, das in dem Maße, wie es dank der interessier-ten Protektion der aristokratischen Führungsschicht an ökonomischerKraft und sozialer Präsenz gewinnt, diese seine Eigeninteressen zuneh-mend deutlicher artikuliert und diesen seinen eigenen Willen immervernehmlicher geltend macht. Dabei sind es in der Hauptsache zweiQuellen, aus denen sich die Eigeninteressiertheit und Eigenwilligkeit derkommerziellen Funktion und ihrer Träger beziehungsweise Gefolgschaftspeist und kraft deren sie sich zu einer aller Instrumentalisierung trotzen-

den originär oppositionellen Haltung, einer dem aristokratischen Kalkülin die Quere kommenden alternativen Programmatik entfaltet.Die eine Quelle ununterdrückbarer Eigengesetzlichkeit und unmani-

pulierbarer Selbstmächtigkeit ist das für die kommerzielle Funktion alssolche konstitutive Akkumulationsprinzip, der jedem kommerziellen

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Austausch eingeschriebene Zwang, das jeweils Eingetauschte sogleich

wieder als Ausgangspunkt für einen neuen und erweiterten Austausch-vorgang in Anspruch zu nehmen, mithin als Basis für eine kontinuierli-che Anhäufung von Tauschmitteln und darin verkörpertem Tauschwert,kommerziellem Reichtum, zu nutzen. Treibendes Motiv dieses ökonomi-schen Zwanges ist, wie an früherer Stelle ausgeführt, das Streben der denkommerziellen Austausch Betreibenden nach politischer Emanzipation,nach einer auf der Grundlage des angehäuften kommerziellen Reichtumszu guter Letzt zu erlangenden Absolution von den Abhängigkeiten und,egal ob theokratischen, ob ständehierarchischen Zwangsmechanismen,die mit der Erzeugung und Verteilung fronwirtschaftlich-herrschaftlichenReichtums verknüpft sind. So paradox, um nicht zu sagen, zutiefst wi-dersprüchlich diese dem kommerziellen Austausch eigentümliche undihn, wenn man so will, intern instrumentalisierende Zielsetzung einerdurch die Akkumulation von Reichtum zu effektuierenden Befreiungaus den mit der Produktion von Reichtum ausgebildeten gesellschaftli-chen Abhängigkeiten und Herrschaftsverhältnissen auch anmuten mag,sie macht den Austausch jedenfalls immun gegen jede anderweitige,externe Instrumentalisierung. Sie verhält ihn mit anderen Worten in un-verbrüchlicher Treue zum ihn als kommerziellen konstituierenden Ak-kumulationsprinzip, zumal bei aller Unerreichbarkeit jenes paradoxenZiels einer politischen Autonomie auf Basis ökonomischer Eigenstän-

digkeit die Treue zum Akkumulationsprinzip doch mit soviel Gewinnan ökonomischer Macht und Zuwachs an politischem Einfluss belohntwird, dass die Handeltreibenden gar nicht umhin können, darin sei’seinen überzeugenden Vorschuss auf das noch nicht Erreichte, sei’s einenannehmbaren Ersatz für das in Wahrheit ja auch gar nicht Erreichbare zugewahren.

Mag also auch die kommerzielle Funktion unter den in der römischenRepublik herrschenden Strukturbedingungen gezwungen sein, sich alsKlientin dem Patronat der aristokratischen Familien zu unterstellen undihnen gleichermaßen als Faustpfand ihrer politischen Unabhängigkeit

und als Faktotum ihres ökonomischen Wohlergehens dienstbar und zuWillen zu sein, ihr als Akkumulationsprinzip, als Prinzip einer Anhäu-fung kommerziellen Reichtums zwecks Anhäufung kommerziellenReichtums perennierendes paradoxes Konstitutiv verliert sie deshalbnoch lange nicht aus den Augen; und je mehr ökonomische Macht und

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politischen Einfluss ihr die strikte Wahrung dieses ihres konstitutiven

Prinzips einträgt, um so vernehmlicher und dringlicher wird ihre For-derung nach einer direkten Einbeziehung ihrer auf dessen weitere Wah-rung gemünzten Interessen und Vorstellungen in den von der aristo-kratischen Führungsschicht monopolisierten politisch-ökonomischenEntscheidungsprozeß. Beileibe nicht jede politische Maßnahme oder bü-rokratische Initiative der Aristokratie entspricht dem Bereicherungsinter-esse der kommerziellen Funktion und ihrer Betreiber. Beileibe nicht jedeTaktik, mit der die Aristokratie die militärische Stellung oder den bünd-nispolitischen Einfluss der Republik zu stärken und mit der sie die eigeneinnenpolitische Machtposition zu konsolidieren oder den eigenen zivilenWohlstand zu sichern strebt, liegt im Sinne der Handel- und Gewerbetrei- benden in der Stadt, mag sich die Aristokratie der Bedeutung von Handelund Gewerbe für die Unabhängigkeit und Wohlfahrt des Gemeinwesensauch noch so bewusst und mag ihre Gesamtstrategie deshalb auch nochso sehr auf deren Förderung und Ausbreitung gerichtet sein. Die Handel-und Gewerbetreibenden haben deshalb allen Grund, ihren dank solcherFörderung wachsenden politisch-ökonomischen Einfluss mit dem Zieleiner Mitwirkung an den Willensbildungs- und Entscheidungsprozessender Republik geltend zu machen.

Dieser zunehmende politisch-ökonomische Einfluss der Handel- undGewerbetreibenden oder, besser gesagt, die soziale Konstellation, auf der

er beruht, stellt nun aber neben der ersten, im Akkumulationsprinzip bestehenden, inneren, die zweite, äußere, aber deshalb nicht minderergiebige Quelle dar, aus der sich die Eigeninteressiertheit und Eigen-willigkeit der kommerziellen Funktion speist. In dem Maße, wie diekommerzielle Funktion ihren Wirkungsbereich ausbreitet und an Ge-schäftsvolumen gewinnt, vergrößern sich auch die Gruppen der Hand-werker und Handlanger, der kleinen Produzenten und Lohnarbeiter, diedirekt oder indirekt, kontinuierlich oder bei Gelegenheit, aktuell oderpotentiell für den Markt tätig und in ihrer Subsistenz deshalb mehr oderminder von ihm abhängig sind. Von der kommerziellen Funktion auf den

Plan des Handelsplatzes gerufen und dort als marktbezogenes Kollektiv,als durch den Austausch vermittelte Assoziation organisiert, sind es dieseGruppen, die zusammen mit den Betreibern der kommerziellen Funktion,den Handeltreibenden selbst, die städtische Gemeinschaft im engerenSinne bilden. Und sie sind nun zugleich die soziale Konstellation, die der

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kommerziellen Funktion ihr volkswirtschaftliches Fundament und ihren

politischen Rückhalt verleiht, in der die ökonomische Macht und derpolitische Einfluss verkörpert sind, die bei Auseinandersetzungen mit deraristokratischen Führungsschicht die Handeltreibenden ins Feld führenkönnen. Indem sich das subsistenzielle Wohl oder Wehe jener marktbe-zogenen Gruppen zunehmend mit dem Gedeihen oder Verderben derkommerziellen Funktion und ihrer Betreiber verquickt, können die erste-ren gar nicht umhin, in letzteren die Repräsentanten ihrer Interessen undGaranten ihres Wohlergehens zu gewahren, und sind im Zweifelsfall, derder Normalfall ist, geneigt, die Positionen der Betreiber des Marktes ge-genüber der aristokratischen Führung zu unterstützen und sich mit ihrenForderungen nach Mitwirkung bei den Staatsgeschäften und Mitbestim-mung in den durch die Patres monopolisierten Entscheidungsprozessender Republik zu solidarisieren.

Was sich auf diese Weise herausbildet und was als maßgebendes Struk-turmerkmal während der ersten knapp hundert Jahre nach Begründungder Republik das römische Gemeinwesen charakterisiert, ist eine Dicho-tomisierung der Gesellschaft, bei der die Scheidelinie direkt unterhalbder aristokratischen Oberschicht verläuft und bei der sich die Vielen,die hinter der Fahne der kommerziellen Funktion und ihrer Betreiberversammelten unteren Schichten aus Handwerkern und Lohnabhängi-gen, kurz, die Plebejer, und die um die Patres, die Sippenhäupter, ge-

scharten Angehörigen der aristokratischen Familien, die Patrizier, alspolitische Konkurrenten, als Kontrahenten in der Frage, ob patrizischesMachtmonopol oder plebejische Beteiligung an der Macht der Republik bekömmlicher und angemessener sei, gegenüberstehen.

Dabei fungieren in dieser ersten Etappe des Ständekampfes die hinterdem Banner der kommerziellen Funktion versammelten unteren Schich-ten noch als dessen bloße Träger und Hochhalter, als den Betreibernder kommerziellen Funktion, den Handeltreibenden und am Markt-geschehen maßgeblich Beteiligten, durch ihre Parteinahme einfach nurRückhalt gebende und Einfluss verschaffende Pressuregroup, und kehren

noch keine eigene soziale Identität hervor, bringen sich noch nicht alsein politisch-ökonomisch besondertes Subjekt zur Geltung. Weil es diekommerzielle Funktion ist, die mit dem als dynamisches Zentrum ihr ein-geschriebenen Akkumulationsprinzip eine originäre, nicht auf das kollek-tive Unabhängigkeitsinteresse, korporative Machtstreben und privative

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Wohlstandsdenken ihrer Patrone, der Patres, reduzierbare Eigeninteres-

siertheit und Eigenwilligkeit beweist und weil die unteren, handwerkli-chen und lohnarbeitenden Schichten, die Plebejer im eigentlichen Sinne,die kommerzielle Funktion mitsamt aller akkumulationsspezifischenDynamik bis dahin ausschließlich als segensreiche, existenzsicherndeInstanz, als in ihrem politisch-ökonomischen Sinne und zu ihrem subsis-tenziellen Wohle wirkende gesellschaftliche Kraft kennen und schätzengelernt haben, ist es durchaus konsequent, dass sie in den Betreibernder kommerziellen Funktion ihre Repräsentanten, ihre Sachwalter er-kennen, sich hinter ihnen zusammenscharen und die Forderungen nachpolitischer Mitwirkung und Beteiligung an den Staatsgeschäften, die jeneerheben, zu ihrer Sache machen oder, besser, sich selbst als Druckmittel

und Durchsetzungsinstrument in den Dienst jener Forderungen stellen.Und indem aber die Plebejer sich solcherart mit den Betreibern und

Vertretern des Marktes solidarisieren, indem sie diese mittlerweile vermö-genden Gruppen aus dem plebejischen Milieu als ihre politisch-ökonomi-sche Führung vorbehaltlos akzeptieren und nach Kräften unterstützen,verschaffen sie den letzteren das soziale Gewicht, das nötig ist, um diewiderstrebende Aristokratie zu Zugeständnissen zu bewegen und ihreine allmähliche Gleichstellung dieser nach Maßgabe ihres Vermögensführenden plebejischen Gruppen in juridischer, militärischer und schließ-lich politischer Hinsicht abzutrotzen. Der frühen Kodifikation des Rechtesim Zwölftafelgesetz, das die Plebejer als Rechtssubjekte zur Geltung bringt, folgt bald schon die Zulassung vermögender Plebejer zum Heeres-dienst, die gleichbedeutend ist mit der Anerkennung der Betreffenden alsVollbürger, und endlich die Einführung der Zenturiatskomitie, einer nachVermögensklassen gegliederten gemeinsamen Volksversammlung ausPatriziern und Plebejern, die ergänzend zu der bis dahin alleinherrschen-den Kuriatskomitie, der rein patrizischen Vollversammlung, hinzutrittund diese in den politisch entscheidenden Fragen, bei Beschlussfassungenüber Krieg und Frieden, bei bündnispolitischen Fragen und bei der Wahlder Staatsbeamten in der Tat ersetzt. Ihren krönenden Abschluss findetdieser mühsame Prozess einer Eingliederung der führenden plebejischen

Gruppen in das bis dahin von der Aristokratie monopolisierte politisch-militärische Entscheidungs- und Machtgefüge, der die Formationsphaseder Republik markiert, in der gut hundert Jahre nach Gründung desrepublikanischen Gemeinwesens erreichten Zulassung von Plebejernzum höchsten Staatsamt, zum Konsulat.

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Dank der sich ausbildenden Klientelverhältnisse zwischen Patriziern und Plebe-

 jern, der zunehmenden Beteiligung der ersteren an den Profiten der letzteren, derTotalisierung der Münze des Marktes, wie sie die Einteilung der Gesellschaft inVermögensklassen bezeugt, und des dadurch ermöglichten Erwerbs von Landbe-sitz durch neureiche Plebejer wächst die patrizische Führungsschicht mit letzte-ren allmählich zu einer Oberschicht neuen Gepräges, einer als Gentry zu charak-terisierenden Nobilität, zusammen.

So massiv und hartnäckig der von Standesdenken und Traditiona-lismus geprägte Widerstand der Patrizier gegen eine Beteiligung dervermögenden, oberen Schicht der Plebejer an der politischen Macht auchist, der Prozess der politischen Gleichstellung dieser Schicht mit demPatriziat erweist sich als unaufhaltsam, weil er in Wahrheit nur Ausdruckder zwischen den beiden gesellschaftlichen Gruppen zunehmenden öko-nomischen Verflechtung und infolgedessen fortschreitenden sozialenIntegration ist. Wenn die patrizische Oberschicht durch ihre expansiveBündnisstrategie der kommerziellen Funktion und ihren plebejischenBetreibern neue Handelsquellen eröffnet und weitere Märkte erschließt,so primär im Interesse an einer durch das Handelszentrum Rom gewähr-leisteten Stärkung ihrer politischen Unabhängigkeit, ihrer korporativenStellung, und Verbesserung ihres ökonomischen Wohlergehens, ihreskonsumtiven Gedeihens. In dem Maße indes, wie diese von den patrizi-

schen Patronen zugunsten ihrer plebejischen Klientel verfolgte expansiveStrategie Wirkung zeigt und der letzteren die Anhäufung wachsendenkommerziellen Reichtums ermöglicht, finden sich die Patrizier selbst überdie Rolle von machtpolitisch Begünstigten und konsumtiven Nutznießernder Akkumulation hinaus zunehmend in die Lage regelrechter Geschäfts-partner, direkter oder auch indirekter Teilhaber an der kommerziellenBereicherung, versetzt.

Direkt ziehen sie durch ihren ausgedehnten Landbesitz Nutzen aus derEntfaltung des Handelssystems: Die kommerzielle Funktion ermöglichtihnen, die Überschüsse aus der fronwirtschaftlichen Produktion ihrer

Landgüter in klingende Münze umzusetzen, beziehungsweise eröffnetihnen die im Umfang ihrer Güter angelegte Chance, Teile der Anbau-fläche an Handelsbedürfnissen auszurichten und durch monokulturel-len oder anderweitig im Sinne der Nachfrage des Marktes spezialisier-ten Landbau an den wachsenden Gewinnen, die das im Gefolge der

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militärisch-bündnispolitischen Expansion ausgreifende Handelssystem

erzielt, systematisch zu partizipieren. Indirekt profitieren die Patrizi-er von der kommerziellen Funktion durch die Patronatsrolle, die sieihr gegenüber erfüllen und deren Wirksamkeit sich nicht etwa schonin der generellen Förderung und Begünstigung erschöpft, die sie ihrkraft militärisch-bündnispolitischer Strategie angedeihen lassen. Auchnachdem sie ihre generelle Aufgabe einer militärstrategischen Erschlie-ßung neuer Märkte und einer bündnispolitischen Absicherung der zuden neuen Märkten aufgenommenen Handelsbeziehungen erfüllt haben, bleiben die Patrizier wegen ihrer Macht und ihres Ansehens, wegen ihresaußenpolitischen Einflusses und ihrer innenpolitischen Stellung für dieplebejischen Handeltreibenden von ganz spezieller Bedeutung, und wiees für die letzteren nahe liegt, sich zur Herstellung von Kontakten, zurAnbahnung von Geschäften, zur Anerkennung von Rechtstiteln und zurSchlichtung von Streitigkeiten der Hilfe der patrizischen Honoratioren zuversichern und also zu dem einen oder anderen von ihnen ein persönli-ches Klientelverhältnis zu unterhalten, so ist, zumal in einer zunehmendvom kommerziellen Tausch geprägten Gesellschaft, für die als Patrone inAnspruch genommenen Patres die Versuchung unwiderstehlich, sich dieHilfestellung, die sie als Kontaktknüpfer, Berater und Flankenschutz denHandeltreibenden leisten, von diesen honorieren und in Form einer Be-teiligung an den Gewinnen aus den mit ihrer Unterstützung angebahnten

Geschäften, erwirkten Titeln und geschlossenen Vergleichen vergüten zulassen.

Dank der korporativen Geschlossenheit, in der das dominierende In-teresse an ihrer politischen Unabhängigkeit und adelsrepublikanischenAutonomie die Aristokratie verhält, und dank der objektiven Kontroll-und Disziplinierungsfunktion, die kraft ihrer finanziellen Zuwendungendie am Bestand des Gemeinwesens aufs höchste interessierten plebeji-schen Klienten gegenüber ihren patrizischen Patronen ausüben, führendiese Klientelverhältnisse nun zwar nicht zu Klüngelbildungen und par-tikularen Machtkonzentrationen, die wie in der griechischen Polis die

Bürgerschaft mit Spaltung und Parteienzwist bedrohten, wohl aber ha- ben die Klientelverhältnisse zur Folge, dass es zu einer nach Maßgabeder geschäftlichen Verbindungen zwischen Patronen und Klienten undder finanziellen Nützlichkeit, die letztere für erstere beweisen, zu einerfortschreitenden Durchlöcherung der patrizischen Abwehrfront kommt.

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In die Geschäfte der kommerziell Tätigen eingespannt und an ihren Ge-

winnen beteiligt, können die Patrizier gar nicht anders, als sich mit dieserihrer Klientel gemein zu machen und sie allmählich in ihren Reihen Fußfassen zu lassen: Sosehr sie sozial oder pro forma ihrer Patronatsrolledie neureichen Plebejer, als deren Beschirmer und Wohltäter sie fungie-ren, auf Distanz halten und in die untergeordnete Stellung von bloßenSchutzbefohlenen, abhängigen Faktota verweisen, sosehr erkennen siereal oder pro materia der Tauschgeschäfte, die sie mit ihnen tätigen, dieseihre Klienten als eigenständige Kontrahenten, als bei aller juniorpart-nerschaftlichen Zweitrangigkeit im Prinzip des Austauschverhältnissesgleichberechtigte Mitspieler an.

Und nicht nur erkennen die Patrizier die reichen Plebejer als de fac-to ihrer geschäftspartnerschaftlichen Beziehungen ihresgleichen an, sieakzeptieren dabei mehr noch und vor allem deren Austauschmittel, denkommerziellen Reichtum mit seinem allgemeinen Äquivalent, seinerMünze, dem Geld, als verbindliche Maßbestimmung und allgemein-gültiges Vergleichsmedium. Nicht, dass sie den Markt, solange sich ihrUmgang mit ihm noch weitgehend auf den Güterverkehr, den Austauschvon Produkten ihrer Ländereien, von frondienstlich erwirtschaftetem,herrschaftlichem Reichtum, mit den Waren, die der Markt ihnen offeriert,mit im Äquivalententausch erworbenem, kommerziellem Reichtum –

nicht dass die Patrizier da den Markt und seine Münze als maßgebendeökonomische Einrichtung nicht auch schon akzeptierten. Nur bleibt,weil sie in dieser Situation des reinen Gütertausches den Ausgang voneinem nicht bereits zum Markt gehörigen, nicht schon dem Markt alsWare integrierten Gut, nämlich von ihrem eigenen herrschaftlich erwirt-schaftetem Reichtum, einem unmittelbar in ihren Händen befindlichenKonsumgut, nehmen, der Markt für sie eine bloße Hilfskonstruktion undseine Münze, seine im allgemeinen Äquivalent, im Geld bestehende Maß-gabe ein bloß äußeres Mittel, das sich auf die Rolle eines katalytischenFerments beschränkt und dessen Funktion sich nämlich darin erschöpft,

ihren unmittelbar gegebenen herrschaftlichen Reichtum mit sich selbst zuvermitteln und einem Transformationsprozess zu unterziehen, in dessenKonsequenz er sich aus überflüssigem in brauchbaren Reichtum, auseinem Konsumgut, das quantitativ des Guten zuviel ist, in ein qualitativanderes und als solches konsumierbares Gut verwandelt zeigt.

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Nun aber, da sie auch und in zunehmendem Maße kraft nichtsächlicher

Leistungen mit den Handeltreibenden in Austausch treten, da sie, wennman so will, nichts als ihre Arbeitskraft, genauer gesagt, ihre Fähigkeit,Kontakte zu knüpfen, Titel zu erwirken, Lobbyismus zu betreiben, ju-ridischen Beistand zu gewähren, zu Markte tragen und sich ihre dieserFähigkeit entspringenden Leistungen mit der Münze des Marktes ho-norieren lassen, sich für ihre persönliche Mitwirkung am Markt, ihrenorganisatorischen Beitrag zum kommerziellen Geschehen, mit allgemei-nem Äquivalent, mit in Geldform gefasstem Anspruch auf den sächlichenFundus der Handelssphäre, die auf dem Markt versammelten Güter,entlohnt finden – nun also ergeht es ihnen ähnlich wie anderen, in ihrerSubsistenz unmittelbar auf den Markt angewiesenen gesellschaftlichenGruppen, den Gruppen der arbeitsteiligen Handwerker, der sächlichenBeiträger zum Markt, und der lohnabhängigen Handlanger, der persön-lichen Zuträger des Marktes: Sie erleben die Handelssphäre als umfas-sendes Medium, als Totalität, erfahren den kommerziellen Reichtum alsselbstgesetzte Einheit seiner selbst und seines vorausgesetzten anderen,des herrschaftlichen Reichtums, gewahren die Münze des Marktes als,was sie ist, allgemeines Äquivalent, Maß aller Dinge. Sosehr sie durch ih-ren allen kommerziellen Transaktionen vorausgesetzten herrschaftlichenReichtum einerseits Distanz zum Markt wahren und den letzteren bloßals ein ihrer Sphäre äußeres Mittel, als eine ihren Reichtum einfach nur

zu metamorphisieren und damit konsumtiv zu diversifizieren tauglicheHilfsfunktion gelten lassen, so sehr verwickeln sie andererseits ihre halbkomplizen-, halb partnerschaftlichen Geschäfte mit den Handeltreiben-den zunehmend in den Marktzusammenhang selbst und stellen ihnendiesen als kraft Tauschverhältnis alles, was geschieht und existiert, auf sich beziehende und mit sich vergleichende mediale Sphäre, als gleicher-maßen zur Integration und zur Distribution jeder erdenklichen Art vonReichtum und Subsistenz geschickte funktionelle Totalität vor Augen.

Und diese bei den Patriziern Raum greifende neue Sicht vom Marktals von einem im Prinzip ebenso sehr alles integrierenden wie im Ef-

fekt alles distribuierenden Medium, die zur traditionellen patrizischenVorstellung vom Markt als von einem zum Zwecke der Verwandlungherrschaftlichen Reichtums und Entfaltung herrschaftlichen Konsumsnach Belieben in Dienst zu nehmenden und auch wieder zu entlassendenäußeren Hilfsmittel und unverfänglichen Faktotum hinzutritt – sie muss

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in dem Maße, wie die sie nährende praktische Einlassung der Patrizier

in die kommerziellen Geschäfte an ökonomischer Bedeutung für dieletzteren gewinnt und wie sie selber zudem das ganze Gewicht einervon den anderen Gruppen geteilten, gemeinschaftlichen Sichtweise, einerkollektiven Perspektive, hervorkehrt, über jene traditionelle Vorstellungallmählich triumphieren und sie zumindest im öffentlichen Raum, imUmgang der Patrizier mit den anderen Gruppen, verdrängen und er-setzen. Praktisch-politische Besiegelung dieses Triumphs der Sicht vomMarkt als medialer Realität über die Vorstellung vom Markt als margina-ler Vermittlungsinstanz ist die auch und nicht zuletzt von den Patriziernakzeptierte Einteilung der Zenturiatskomitie nach Vermögensklassen,das heißt, die Bereitschaft der Patrizier, die Beteiligung der Plebejer ander politischen Macht und der Staatsregierung und damit auch ihreneigenen Anteil an ihr in der Münze des als mediale Sphäre mit dem ge-sellschaftlichen Raum deckungsgleich gedachten Marktes zu bestimmenund nämlich danach einzustufen beziehungsweise abzumessen, wie vielTauschwert, was für ein Quantum Ware, ausgedrückt in allgemeinemÄquivalent, der Besitz des einzelnen potentiell darstellt, welche quanti-tative Partizipation am Markt und demgemäß kommerzielle Position auf ihm der einzelne mit anderen Worten hätte, wenn er sein gesamtes Habund Gut zu Markte trüge und dort in die Waagschale würfe, als Mittel zurBefriedigung konsumtiver und subsistenzieller Bedürfnisse in Austausch

 brächte.Nicht mehr qualitative, den gesellschaftlichen Wert seiner Person be-

treffende Kriterien, Stammbaum, ständische Stellung, korporative Verbin-dungen, Privilegien, Funktionen, Fähigkeiten, sondern ein quantitativer,im kommerziellen Tauschwert seines Eigentums bestehender Maßstabentscheidet demnach mit Zustimmung aller, auch der dadurch um ihrtraditionelles Monopol auf politische Betätigung gebrachten Patrizier,fortan über die Tatsache und den Umfang der politischen Existenz deseinzelnen, seine Mitwirkung an den Beratungen und Beschlussfassungendes grundlegendsten Organs der Republik, der Komitie. Ungeachtet und,

wenn man so will, unbeschadet der sozialen Distinktionen, des ständi-schen Prestiges und der politischen beziehungsweise religiösen Präro-gative, wodurch sich die patrizischen Familien auch weiterhin von derplebejischen Menge abheben, sorgt so die im quantitativen Vermögens- begriff zum maßgebenden Politikum gewordene Münze des Marktes für

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eine Vergleichsebene, auf der im Verhältnis der Gruppen zueinander die

Kontinuität der Diskretheit die Waage hält und auf der sich bei Gleichheitoder Ähnlichkeit der als Tauschwert quantifizierten Vermögen eine querzum traditionellen Standesdenken stehende substanziell-ökonomischeEgalität der Betroffenen in Gestalt ihrer funktionell-politischen Gleichstel-lung Geltung verschafft. Wie könnte diese politische Gleichstellung mitihrer sie fundierenden marktbestimmt ökonomischen Egalität verfehlen,ein Gruppenbewusstsein eigener Provenienz ins Leben zu rufen unddie alten qualitativen, im Reichtumserwerb, in den sozialen Aufgabenund Positionen und in der Lebensart gründenden Unterschiede mit demdurch sie erzeugten Standesdenken und Korpsgeist zwar nicht über denHaufen zu werfen beziehungsweise ad acta zu legen, aber doch jedenfallszu relativieren und in den Rang sekundärer, eher über oberschichtinterneStrukturen und Gesellschaftskreise als über Klassenschranken und dieZugehörigkeit zur Oberschicht als solche entscheidenden Distinktionenzu verweisen?

Vollends aber der Bildung eines neuen, integrativen Gruppenbewusst-seins zwischen Patriziern und neureichen Plebejern förderlich zeigt sichdie zum Zwecke der politischen Machtverteilung in der Münze des Mark-tes vorgenommene Gliederung der Gesellschaft nach Vermögensklassenund die darin implizierte tauschwertförmige Gleichsetzung des herr-schaftlichen mit dem kommerziellen Reichtum in dem Maße, wie – durch-

aus im Einklang mit dem Totalitätsanspruch des Mediums Markt undseines universalen Maßstabes, des als allgemeines Äquivalent firmieren-den Geldes! – diese Egalisierung nicht nur den herrschaftlichen Reichtumals frondienstlich produziertes Gut, als dem Grundbesitz und seinerHerrschaftsform entspringende bewegliche Habe, betrifft, sondern sichauch und mehr noch auf das ökonomische Fundament des frondienstlichProduzierten, die natürliche Quelle des herrschaftlichen Reichtums, denGrundbesitz selbst, erstreckt und mithin eben den Nährboden einbegreift,auf dem die traditionellen und, aller politischen Relativierung zum Trotz,soziale Kraft und ständische Geltung behauptenden Distinktionen und

Prärogative der patrizischen Oberschicht entstehen und gedeihen. Sogewiss sich die Patrizier aufgrund ihres wachsenden patronatsbedingtenEngagements im Marktgeschehen, ihrer zunehmenden beraterschaft-lichen, lobbyistischen, juridischen Mitwirkung an den kommerziellenGeschäften auf die Perspektive des Marktes als ebenso umfassenden wie

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zentralen und mit seinem Maßstab, seiner Münze gleichermaßen den

eigenen, kommerziellen Reichtum und dessen formelles anderes, denherrschaftlichen Reichtum, bestimmenden Mediums einlassen, so gewissmüssen sie geschehen lassen, dass in systemkonformer Konsequenzziehe-rei auch die natürliche Quelle des herrschaftlichen Reichtums, der Grundund Boden seiner fronwirtschaftlichen Erzeugung, mit der gleichen Ellegemessen und, wie theoretisch-kalkulatorisch als Teil des Vermögens inden Tauschwertzusammenhang, so am Ende praktisch-transaktorischals zu veräußerndes oder zu erwerbendes Gut in den Austauschprozesseinbezogen wird.

Den neureichen Plebejern, denen ihr kommerziell akkumulierter Reich-

tum ohnehin schon die mit der Einführung der Vermögensklassen be-siegelte ökonomische Egalisierung und, darauf fußend, die politischeGleichstellung gebracht hat, eröffnet sich damit die Möglichkeit, durchden Kauf von Grund und Boden, den Erwerb von Grundbesitz, auch inlebensartlich-ständischer Hinsicht mit den Patriziern gleichzuziehen und jenes soziale Prestige zu erringen, das unverändert mit herrschaftlichemReichtum, sprich, mit der Verfügung über dessen Fundament und natür-liche Quelle, mit Landeigentum, Dominium, verknüpft ist. Das Ergebnisdieser doppelten Bewegung einer in der Münze des Marktes vollzogenenEgalisierung der realen Vermögen und einer mittels der Kommerzialisie-

rung und des Erwerbs von Landbesitz plebejischen Angleichung an dieständische Distinktion und das soziale Prestige der Patrizier ist eine neuformierte Oberschicht, eine aus reichen Plebejern und alten Patrizierengemischte Nobilität, eine Gentry, die – ihren Namensgebern im zweitau-send Jahre späteren England durchaus vergleichbar! – den kommerziellenReichtum und sein allgemeines Äquivalent mit dem herrschaftlichenReichtum und seinem besonderen Fundament, das Geldvermögen mitdem Grundbesitz, die Münze des Marktes mit der Quelle von Herr-schaft derart gründlich amalgamiert, dass eine Trennung dieser beidengesellschaftlichen Machtfaktoren praktisch unvorstellbar wird und die

Basis für eine von oberschichtinternen Spannungen und Konflikten freieHerrschaft langfristig gegeben scheint.Indem einerseits die Vertreter herrschaftlichen Reichtums, die patrizi-

schen Landbesitzer, ihr ganzes politisch-militärisches Beginnen in denDienst einer Stärkung und Expansion des ökonomisch-dynamischen

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Kerns der Stadt, der Handelsfunktion, stellen und sich mit anderen Wor-

ten als Wegbereiter, Lobbyisten und Schutztruppe zur Verfügung desvon ihnen als das Maß aller Dinge, ihr herrschaftliches Eigentum ein-geschlossen, akzeptierten kommerziellen Reichtums und seines Akku-mulationsanspruches halten und indem andererseits die Repräsentantenakkumulierten kommerziellen Reichtums, die neureichen Plebejer, im-mer wieder bestrebt sind und auch die Möglichkeit finden, letzterenin Landbesitz und ihm entspringenden herrschaftlichen Reichtum zu-rückzuverwandeln, um auf diese Weise am sozialen Prestige und derständischen Lebensart der Oberschicht, zu der nicht zuletzt pietätvollesWirken für den Kultort der Ahnen, die Stadt, gehört, zu partizipieren,entsteht ein als ständiger Austauschprozess funktionierender elitärerZyklus, der in dem Maße, wie er die Revision der alten Herrschaftsstruk-turen durch die neue kommerzielle Macht mit einer Integration der neuenMacht in die alten Strukturen verknüpft und also uno actu den politi-schen Status quo Empfänglichkeit für die ökonomische Entwicklung unddie ökonomische Entwicklung Anpassungsfähigkeit an den politischenStatus quo beweisen lässt, eine beispiellose Homongenität der in der Stadtmachthabenden Gruppen und Stabilität der von ihnen wahrgenommenenFührung bewirkt.

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Die gedeihliche Entwicklung der aristokratischen Oberschicht und der neu-

reichen Plebejer und ihr Zusammenwachsen zur Nobilität gehen zu Lastender bäuerlichen Mittelschicht und reißen eine neue soziale Trennlinie auf. Denkurzfristigen Vorteilen, die dieser Mittelschicht aus der militärischen Expan-sion der Republik, deren Hauptträgerin sie ist, erwachsen, stehen langfristigeNachteile gegenüber, die in Verarmung und Landverlust resultieren. Gegendiesen fortschreitenden Verfall des Mittelstands und die Konfliktsituation, die erheraufbeschwört, weiß sich die Führung kein anderes Mittel als die Fortsetzungder militärischen Expansionsstrategie und steuert so das Gemeinwesen immertiefer in die soziale Krise.

Dass die als städtischer Landadel, als Gentry, firmierende klassischerömische Oberschicht, zu der alteingesessene Patrizier und neureichePlebejer nach anderthalb Jahrhunderten zähen Ringens um politischeMacht und soziale Anerkennung schließlich zusammenwachsen, dankder Art, wie ihre beiden Hauptgruppen einander als systematisches Kon-stitutiv dienen und sich praktisch auseinander reproduzieren, ebensovielHomogenität im sozialen Auftreten wie Stabilität in der politischen Füh-rung beweist, bedeutet allerdings nicht, dass sie ein unvermischter Segenfür die Stadt wäre und der letzteren die gleiche relative Reibungs- undKonfliktlosigkeit bescherte, die sie selber auszeichnet. Tatsächlich hat

die Entstehung dieser Gentry-Oberschicht ihren Preis; die Trenn- undKonfliktlinie zwischen Plebejern und Patriziern, die diese neue Ober-schicht überwindet und partiell tilgt, kehrt an anderen Stellen und zuerstund vor allem als eine im patrizischen Milieu und Umfeld aufbrechendeVerwerfungslinie wieder.

Was den kommerziellen Reichtum akkumulierenden und dessen Mün-ze als das ökonomische Maß für militärische Mitwirkung und politischeMitsprache zur Geltung bringenden vermögenden Plebejern endgültigAufnahme in die Reihen der patrizischen Oberschicht verschafft, derErwerb von Grund und Boden und die Erlangung des damit verknüpften

sozialen Prestiges beziehungsweise die Ausbildung eines darauf fußen-den ständischen Lebens, geht eindeutig zu Lasten einer die aristokra-tischen Familien traditionell tragenden und ihrem Führungsanspruchüberhaupt erst soziales Gewicht und politisch-ökonomisches Momen-tum verleihenden Schicht aus kleinen und mittleren Landeigentümern,

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freien Bauern, ackerbautreibenden Wehrfähigen, vergleichbar den Mit-

telständlern in der Polis, die über Landbesitz verfügen und als HoplitenKriegsdienst leisten. Dieser, die kollektive politische Freiheit, die ihmdie Republik beschert, mit relativer ökonomischer Unabhängigkeit ver- bindende Bauernstand, der zum Markt in einem ähnlichen Verhältnisinteressierter Distanz oder reservierten Engagements steht wie die Ari-stokratie und den der relative Wohlstand und die kollektive Freiheit, dieer auf der eigenen Scholle genießt, zum entschiedenen Traditionalistenmacht, zum Bewahrer des Bewährten, zum Anhänger eines Status quo, zudem neben der etablierten ständischen Ordnung und den überkommenenEigentumsverhältnissen ohne Frage auch der städtische Markt und die

mit ihm sich bietenden ökonomischen Entwicklungschancen und kon-sumtiven Entfaltungsmöglichkeiten gehören – dieser Bauernstand ist dernatürliche Verbündete der Patrizier, mit denen er auch nach Einrichtungder Zenturiatskomitien im wesentlichen gemeinsame Sache macht unddenen seine solidarische Existenz überhaupt erst das politische Standver-mögen verleiht, das ihnen gestattet, anderthalb Jahrhunderte lang denMitbestimmungs- und Gleichstellungsforderungen der aufstrebendenplebejischen Neureichen zu trotzen beziehungsweise höchstens und nurin einer Politik der kleinen und kleinsten Schritte nachzugeben.

Zugleich ist es diese bäuerliche Mittelschicht, diese Formation aus frei-

en, wehrfähigen kleinen und mittleren Landbesitzern, die als natürlichenVerbündeten und freiwillige Gefolgschaft der patrizischen Familien dieHauptlast der vom Patriziat verfolgten föderativen Expansionsstrate-gie tragen. Und sie tun das bereitwillig und ohne alles Widerstreben.Schließlich sind auch sie an an der Erhaltung und am Gedeihen desrepublikanisch-städtischen Gemeinwesens interessiert, das ihnen ein un-ter monarchischen Verhältnissen unvorstellbares Maß an ökonomischerEigenständigkeit und an politischer Mitsprache, kurz, an bürgerlicherFreiheit, beschert. Und schließlich wissen auch sie, dass beides, die Erhal-tung und das Gedeihen des Gemeinwesens, entscheidend abhängig ist

von einer Unterstützung und Stärkung der den städtischen Freiraum kon-stituierenden kommerziellen Funktion, die gleichermaßen die Grundlagedes inneren Wohlergehens und das Faustpfand der äußeren Machtstel-lung bildet. Hinzu kommt, dass die auf die Stützung und Stärkung desHandelszentrums Rom gerichtete föderative Expansionspolitik, sowenig

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sie zwar, ihrer Zielsetzung gemäß, auf direkte Unterwerfung und einfa-

che Ausplünderung gerichtet ist, doch aber immer ein gewisses Maß anKriegsbeute und Reparationszahlungen mit sich bringt und insofern dem beteiligten einzelnen die Chance zur privaten Bereicherung bietet undpersönliche Vorteile bringt.

Allerdings steht, wie sich zeigt, der vorübergehende persönliche Vorteilund private Gewinn aus der militärischen Aktivität in keinem rechtenVerhältnis zu den langfristigen Nachteilen und Verlusten, die das ständigeKriegführen für die vielen einzelnen, die bäuerlichen Mittelständler alsGesamtheit, zu Hause, an der ökonomischen Basis ihrer kleinen Güterund bäuerlichen Besitzungen, zur Folge hat. Während die wehrfähigen

Bauern unter Führung ihrer patrizischen Oberschicht durch immer neuemilitärische Operationen draußen bei den Nachbarn und in einem zu-nehmend weiter gespannten Umkreis dem römischen Kommerz dendurch bundesgenossenschaftliche Verträge abgesicherten Boden bereitenund die neuen Märkte erschließen, nach denen es ihn – er weiß nicht,wieso – verlangt, tut er mit ebensoviel bewusstloser Zielstrebigkeit alles,um die in seinem Interesse solcherart Tätigen im heimischen Milieu fürihren Einsatz zu bestrafen und dort ökonomisch ins Hintertreffen ge-raten zu lassen. Erstens nämlich setzt die kommerzielle Akkumulationdie bereits aus der griechischen Polis bekannte Arbeitsteilung zwischen

städtisch-handwerklicher Güterproduktion und ländlich-agrarischer Le- bensmittelerzeugung allmählich auch für die römische Republik durchund bewirkt dank des mit dieser Arbeitsteilung verknüpften Produkti-vitätsgefälles, dass aus den umliegenden Territorialgebieten wachsendeKontingente billiger Agrarerzeugnisse nach Rom fließen und den Produk-ten der römischen Bauernschaft Konkurrenz machen. Und zweitens bietetdie kommerzielle Akkumulation nicht zwar den kleinen Landgütern undBauernhöfen, wohl aber den großen landwirtschaftlichen Betrieben, denpatrizischen Ländereien, dank der Absatzchancen für bestimmte Produk-te, die sie eröffnet, den Anreiz, sich entsprechend der Marktnachfrage

zu spezialisieren und im Zuge solcher Spezialisierung ihre Erzeugungzu rationalisieren, mit dem Ergebnis, dass auch diese patrizischen Nah-rungserzeuger mit ihrer rationalisierungsbedingt billigeren Produktionals machtvolle Konkurrenz auf dem Markte auftreten und ihrem eigenenAnhang, der Bauernschaft, das Leben schwer machen.

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Indem so also in einer nicht enden wollenden Folge von Kriegszügen

und militärischen Operationen der bäuerliche Mittelstand jene patrizischeExpansionsstrategie in die Tat umsetzt, die letztlich auf eine Stützung undFörderung des römischen Handelsplatzes, auf eine Entfaltung und Stär-kung der kommerziellen Funktion des Gemeinwesens abzielt, wirkt sichim Gemeinwesen selbst diese Stärkung der kommerziellen Funktion imSinne einer zunehmenden Schwächung der ökonomischen Stellung eben jenes ihr draußen die Stange haltenden und zu Reichtum und Einflussverhelfenden bäuerlichen Mittelstandes aus. Wo die als wehrfähige Freiedie Hauptlast der patrizischen Expansionspolitik tragenden kleinen undmittleren Landbesitzern traditionell gewohnt waren, mit den Erzeugnis-sen ihrer Höfe und Güter nicht allein eine in Nahrungsdingen halbwegsautarke Existenz zu führen, sondern mehr noch mit den Überschüssenihrer agrarischen Produktion eine relativ starke Präsenz auf dem Marktzu behaupten und sich durch die Beteiligung am kommerziellen Aus-tausch wenn auch nicht Reichtum, so doch einen gewissen Wohlstandoder jedenfalls ein gedeihliches Auskommen zu sichern, da entwertet nundie doppelte Konkurrenz der durch den Handel von draußen in die Stadtgeschleusten und der von den patrizischen landwirtschaftlichen Betrie- ben auf den Markt geworfenen Agrarerzeugnisse diese Überschüsse undraubt ihnen eben den Tauschwert, der sie zum Schlüssel und Unterpfandmittelständischen Wohlergehens machte.

Auch wenn sie dank der Bewirtschaftung ihres Landes eine relativeAutarkie behalten und jedenfalls nicht gleich vom Hungertod bedrohtsind, bringt sie doch die markterzeugte agrarische Billigkonkurrenz vondraußen und drinnen um jenen ökonomischen Spielraum, den ihre Pro-duktionsüberschüsse ihnen traditionell gewährten und der ihnen erlaub-te, als solventer Konsument auf dem Markt aufzutreten und sich mitHilfe des letzteren einen ebenso sehr durch die qualitative Vielfalt wiedie quantitative Fülle der Bedürfnisbefriedigungsmittel ausgezeichne-ten Lebensstandard zu sichern. Diesen Lebensstandard als einen quasiverbrieften Titel in Anspruch nehmend und ebenso wenig willens, die

konsumtiven Einschränkungen zu akzeptieren, die ihre nach Maßgabedes geringeren Tauschwerts ihres Produkts geminderte Kaufkraft ih-nen abverlangt, wie bereit, den sozialen Abstieg in Kauf zu nehmen,der mit den konsumtiven Einschränkungen Hand in Hand geht, fangendie Angehörigen der Mittelschicht an, über ihre Verhältnisse zu leben;

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das heißt, sie kaufen beim Markt auf Kredit, beschaffen sich die vom

Markt zur Verfügung gestellten Bedürfnisbefriedigungsmittel auf denBorg seiner Repräsentanten. Sind sie aber diesmal schon nicht in derLage, die Dinge, die sie zur Erhaltung ihres Lebensstandards vom Markte brauchen, mit den Produkten, die sie zu Markte tragen, zu vergüten,so werden sie es beim nächsten Mal noch weniger sein; was ihnen, derstarrsinnigen Logik des kommerziellen Akkumulationsprinzips folgend,die Repräsentanten des Marktes borgen, was ihnen die Handeltreibendenals Kredit vorschießen, ist ja nicht einfach allgemeines Äquivalent, derGeldeswert dessen, was sie auf dem Markt kaufen, sondern ist Kapital,der Geldeswert mit dem ihm eingefleischten Anspruch, sich zu verwer-

ten, Mehrwert zu bringen, Zins zu tragen; kommen sie also das nächsteMal auf den Markt, um zu kaufen, so fordern die Repräsentanten desMarktes von ihnen zusätzlich zu dem Produktwert, den sie für den neuenAustausch mitbringen müssen, die Rückzahlung des Kredits, das heißt,einen Gegenwert in Produktform, der nicht nur dem Wert der damals auf Borg gekauften Güter zuzüglich des beim Austausch zwischen Produzen-ten und Marktrepräsentanten den letzteren zu überlassenden Wertanteilsentspricht, sondern der auch noch den Wertzuwachs kompensiert, dendie Marktrepräsentanten, hätten sie damals nicht auf Kredit geliefert,sondern vom Produzenten ein dem Wert ihrer Lieferung gemäßes Äqui-

valent in Produktform erhalten, durch den weiteren Austausch diesesÄquivalents mittlerweile erwirtschaftet hätten.Das Ergebnis ist klar: Sie verschulden sich immer weiter, geraten immer

tiefer in die Kreide, bis sie zur Begleichung oder jedenfalls Minderungihrer Schulden gezwungen sind, sich an der natürlichen Quelle ihrerrelativen ökonomischen Autarkie und ihrer kollektiven politischen Auto-nomie, kurz, am Realfundament ihres spezifischen sozialen Bestehens, zuvergreifen und nämlich Grundbesitz zu verkaufen, statt der Erzeugnisseihres Landes Stücke von ihm selbst zu Markte zu tragen, mithin die prak-tische Probe auf die tauschprozessuale Veräußer- und Erwerbbarkeit von

Grund und Boden zu machen, die oben als der maßstäbliche Triumph deskommerziellen Reichtums und seiner Münze über den herrschaftlichenReichtum und seine Quelle vorgestellt wurde. Wie diese Landverkäufe,zu denen der Preisverfall ihrer Erzeugnisse den bäuerlichen Mittelstandtreibt, systematisch-real die Erhebung des Marktes zum allumfassenden

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Austauschmedium und seiner Münze, des Geldes, zum alles bestim-

menden Vergleichsmaßstab vollenden, so besiegeln sie empirisch-sozialden Aufstieg der Repräsentanten des Marktes, der Handeltreibenden,in die Reihen der Oberschicht, ihre unwiderrufliche Amalgamierungmit den Patriziern zu einer in bezug auf Lebensstil und gesellschaftlicheDistinktion einheitlichen Nobilität, weil mit dem sei’s direkt von den mit-telständischen Schuldnern übernommenen, sei’s über Dritte erworbenenund kraft kommerziellen Reichtums zu stattlichen Gütern zusammenge-kauften Land die Handeltreibenden auch das mit letzterem verknüpfteständische Ansehen und soziale Prestige erringen, das traditionell denBesitzern der großen Ländereien, den territorial fundierten patrizischenFamilien, vorbehalten war.

Und während so aber der Handel mit Landbesitz für die Käufer, dieals Repräsentanten des Marktes reich gewordenen Plebejer, den sozialenAufstieg, die Etablierung auf dem angestammten Grund und Boden derOberschicht, beinhaltet, bedeutet er für die Verkäufer, die als wehrfähigeFreie im Dienst an der Republik verarmenden Bauern und kleinen Guts- besitzer, zunehmende ökonomische Bedrängnis und fortschreitende so-ziale Deklassierung. Mit jedem Landverkauf, mit dem sie sich Entlastungvon ihren Schulden oder die für die Erhaltung ihres Lebensstandardsnötige Liquidität verschaffen, verkleinern sie noch die ohnehin schon zuschmale Basis ihrer ökonomischen Autarkie und vergrößern die Gefahr,

durch den völligen Verlust ihres Grundbesitzes des an ihn geknüpftensozialen Status verlustig zu gehen, aus dem Kollektiv des kraft der re-lativen ökonomischen Autarkie, die der Grundbesitz verleiht, politischeAutonomie beanspruchenden bäuerlichen Mittelstandes auszuscheidenund mitsamt ihren Familien ins gesellschaftlich Bodenlose einer durchkeine handwerklichen oder sonstigen marktspezifischen Fertigkeitensubsistenziell aufzufangenden Existenz abzustürzen. Wie könnte dieseEntwicklung verfehlen, die Betroffenen mit wachsender Erbitterung zuerfüllen? Wie sollte es wohl nicht ihr tiefes Ressentiment wecken, dass sieerleben müssen, wie jene Gruppe von Handel- und Gewerbetreibenden,

denen sie durch ihren militärischen Einsatz ein breites kommerziellesBetätigungsfeld und ungeahnte Bereicherungschancen erschließen, denauf diesem Wege neugewonnenen Reichtum dazu nutzt, sie, die kleinenLandbesitzer, in ihrer angestammten Marktposition zu unterminierenund in ökonomische Bedrängnis zu bringen, um dann auf ihre Kosten

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 beziehungsweise auf ihrem Rücken, nämlich durch Aneignung ihres

Grundes und Bodens, den eigenen endgültigen sozialen Aufstieg zuinszenieren?Die traditionelle Oberschicht, das Patriziat, sieht dieser kritischen Ent-

wicklung mit gemischten Gefühlen zu. Erfüllt die von Standesdenkenund Elitebewusstsein beherrschten alteingesessenen Patrizierfamilienschon mit Irritation und Abscheu, dass sich die neureichen Plebejer kraftEtablierung als Grundbesitzer und Territorialherren unaufhaltsam in ihreReihen drängen und unabweislich auf ihrem sozialen Niveau festsetzen,so bereitet es ihnen vollends Unbehagen und Sorge, dass jene Etablie-rung der neureichen Marktrepräsentanten auf Kosten und zu Lasten der bäuerlichen Mittelschicht, ihres natürlichen Anhangs, ihrer fraktionellenVerbündeten in der Volksversammlung, verläuft und dass so die Stär-kung der politischen Position der homines novi, der marktentsprungenenEmporkömmlinge, ihr unmittelbares Pendant in einer Zerrüttung undSchwächung der sozialen Basis und politischen Partei findet, auf die sie,die Patrizier selbst, sich stützen. Aber zugleich sind die Patrizier mit denplebejischen Marktrepräsentanten im Geschäft, sind sie sowohl durch dieAusrichtung ihrer agrarischen Produktion auf Absatzchancen, die derMarkt eröffnet, als auch durch ihren Lobbyismus und ihre beratendenFunktionen im Dienste des Marktes an den kommerziellen Aktivitäteninteressiert und beteiligt und können sie im Eigeninteresse und zwecks

weiterer Partizipation am lukrativen Kommerz gar nicht anders, als ihren Juniorpartnern die Stange zu halten. Sie steuern also einen Zickzackkurs,wie ihn etwa die Licinisch-Sextischen Gesetze aus der Mitte des 4. Jahr-hunderts beispielhaft vorführen: Einerseits sind sie ihren plebejischenPartnern, den reichen Handeltreibenden, zu Willen, indem sie diesennun auch den Zugang zum höchsten politischen Amt der Republik, zumKonsulat, eröffnen und damit deren politische Gleichberechtigung, proforma zumindest, besiegeln, während sie andererseits ihrem natürli-chen Anhang, dem vom Verlust ihres ökonomischen Fundaments, ihresGrundes und Bodens, bedrohten bäuerlichen Mittelstand, beizuspringen

 bemüht sind, indem sie einer – allerdings nur vorübergehend wirksamenund wegen der Unwiderstehlichkeit der ökonomischen Entwicklungauf Dauer gar nicht durchsetzbaren – Beschränkung des Erwerbs vonGrundbesitz ihre Zustimmung geben. Ökonomisches Eigeninteresse undsoziales Standesbewusstsein liegen bei ihnen im Streit miteinander und

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sorgen für ein langdauerndes Ringen um politische Veränderung und

ökonomische Stabilisierung – mit dem vorhersehbaren Ergebnis, dass daseine, die politische Veränderung – hier in Gestalt einer Gleichstellung derreichen Plebejer und ihrer Zulassung zu allen Staatsämtern –, erfolgt undfait accompli wird, während das andere, die ökonomische Stabilisierung– hier in Form einer Bewahrung des traditionellen Mittelstandes vorEnteignung und Deklassierung –, scheitert und von der Dynamik derökonomischen Entwicklung vereitelt wird.

Das wichtigste Vehikel des Patriziats, seine ambivalente Haltung indem zwischen kommerzieller Funktion und traditionellem Mittelstandaufgebrochenen Konflikt zum Tragen zu bringen, und zugleich das Me-dium, in dem die objektive Ungleichwertigkeit der beiden Rücksichten,die sich das Patriziat zu nehmen bemüht, am deutlichsten zutage tritt,ist die fortgesetzte militärische Expansionsstrategie der Republik. Sosehrdiese Strategie einerseits den Zweck erfüllt, der kommerziellen Funktionder Stadt neue Märkte und Betätigungsfelder zu erschließen und alsoden Reichtum und die Macht der plebejischen Marktrepräsentanten zumehren, sosehr dient sie andererseits auch der Absicht, den jene Strategietragenden wehrfähigen Bauernstand beschäftigt zu halten und mittelsKriegsgewinnen und staatlicher Entschädigungen über seine dank derEntfaltung der kommerziellen Funktion, der er den Weg bereitet, zuneh-mende ökonomische Notlage und soziale Bedrängnis hinwegzutrösten.

Und während aber das eine, der qua Stärkung der kommerziellen Funk-tion und Förderung des Handelsplatzes Rom verfolgte Zweck, realistischist und offenkundig verwirklicht wird, erweist sich das andere, die quaStützung und Begünstigung des bäuerlichen Mittelstandes gehegte Ab-sicht, als illusionär und geeignet, das genaue Gegenteil dessen, was ihrZiel ist, zu erreichen. Weil ja der Zweck, den die militärische Expansionverfolgt und verwirklicht, eine fortschreitende Entfaltung der Handels-funktion ist, die unter anderem eine immer umfänglichere Versorgungdes römischen Marktes mit Agrarerzeugnissen aus den Territorien derBundesgenossen und von den patrizischen Länderein mit sich bringt,

liegt auf der Hand, dass sich die Absicht einer kurzfristigen Verbesserungder Einkommensverhältnisse des Mittelstandes, die mit der militärischenExpansion gleichzeitig verknüpft ist, durch die langfristige Verschlech-terung der ökonomischen Existenzbedingungen eben dieses bäuerlichenMittelstandes konterkariert und in der Tat zunichte gemacht finden muss.

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Hinzu kommt, dass durch die aus dem ständigen kriegerischen Engage-

ment resultierende fortwährende Abwesenheit von Haus und Hof die bäuerlichen Wehrfähigen auch gar nicht dazu kommen, sich um ihrenagrarischen Betrieb und die Verbesserung seiner Wettbewerbsfähigkeit zukümmern und dass sie insofern nicht nur kollektiv-strukturell ins ökono-mische Hintertreffen geraten, sondern dass sie auch subjektiv-individuelldie kurzfristig spürbare Erhöhung ihrer Einkünfte durch den Kriegsdienstmit einer langfristig durchschlagenden Vernachlässigung ihrer zivilenAktivitäten teuer bezahlen müssen.

Während also im Blick auf die Entfaltung des Marktes und die För-derung der an ihn geknüpften plebejisch-kommerziellen und patrizisch-agrarischen Interessen die militärische Expansionsstrategie der Republikihren Zweck erfüllt, erweist sie sich hinsichtlich der mit ihr zugleichintendierten Stabilisierung der Lage des Mittelstandes als ein Palliativ,das die Leiden, die es ad hoc zu lindern dient, letztlich oder ad infinitumnur zu verschlimmern taugt. Die Strategie führt mit anderen Worten zueiner wachsenden Schicht von Unzufriedenen und halbwegs Empörten,die, ohne bereits im eigentlichen Sinne pauperisiert und in Mittellosigkeitgestürzt zu sein und noch weit entfernt davon, einen aus dem Funktions-zusammenhang ausgefällten Bodensatz, eine Pariaschicht, zu bilden, sichdoch aber hinlänglich ökonomisch bedrängt und sozial deklassiert finden,um eben jener Perspektive realer Mittellosigkeit und sozialer Funktions-

losigkeit als einer zwar vagen, aber wahrnehmbaren Bedrohung inneund um von zunehmendem Ressentiment gegen diejenigen erfüllt zusein, für die sie sich militärisch ins Zeug legen und die ihnen, währendsie selbst es zu Reichtum und Macht bringen, ihren Einsatz durch dieobjektiv-strukturellen Konsequenzen und die subjektiv-individuellen Im-plikationen, die er für sie hat, sprich, durch die bei all seiner kurzfristigenEntlastungsfunktion langfristig wachsende Not, in die er sie stürzt, derartübel lohnen.

Und dabei richtet sich das Ressentiment dieser tragenden Säule derexpansiven Entwicklung der Republik, die sich durch die expansive Ent-

wicklung selbst erschüttert und in ihrer Standfestigkeit unterminierterfährt, nicht etwa nur gegen die primären Profiteure der Expansion, diereichen Plebejer, die Repräsentanten des Marktes, sondern in zunehmen-dem Maße auch gegen die sekundären Nutznießer, die in der einen oderanderen Form mit dem Markt liierten Patrizier. Sosehr sich die letzteren

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anfangs noch kraft ihres sozialen Distinktionsanspruches und ständischen

Abgrenzungsbedürfnisses und dank der Tatsache, dass ihre ökonomischeMitwirkung im Marktgeschehen eher als passive Konsequenzziehereidenn als aktives Engagement erscheint, sowohl im eigenen Bewusstseinals auch in den Augen ihres traditionellen mittelständischen Anhangesgegenüber den Machenschaften der Handeltreibenden distanziert undin der Reserve einer an Ablehnung grenzenden Neutralität verhaltenzeigen, sosehr verliert sich doch aber in dem Maße, wie die patrizischeInvolvierung in die kommerziellen Geschäfte zunimmt und wie sichzugleich die Repräsentanten des Marktes in die patrizischen Reihen ein-kaufen und auf Basis erworbener Ländereien am sozialen Prestige undder ständischen Lebensform der traditionellen Oberschicht teilhaben, jene gewahrte Distanz und kultivierte Reserve der Patrizier und macht,wenn schon nicht in deren eigenem Bewusstsein, so jedenfalls aus Sichtihres hart geprüften mittelständischen Anhanges, dem Eindruck einesalle scheinbare Neutralität Lügen strafenden mafiosen Einvernehmens,eines die ganze ehrenwerte Gesellschaft beherrschenden konspirativenZusammenspiels zu Bereicherungszwecken Platz.

Um diesen Eindruck zu widerlegen oder wenigstens zu zerstreuen undum zu verhindern, dass er zum Kristallisationspunkt erklärter gesell-schaftlicher Opposition und offenen politischen Aufbegehrens wird, weißsich das mit den Marktrepräsentanten zusammenwachsende Patriziat,

weiß sich die zur Nobilität vereinheitlichte Oberschicht keinen besserenRat, als immer wieder zur Option Expansionsstrategie ihre Zuflucht zunehmen und sich den infolge der letzteren strukturell-systematisch Be-nachteiligten und Frustrierten nach Maßgabe der individuell-kompensa-torischen Erwerbsmöglichkeiten und Sanierungschancen, die sie ihnenzugleich doch eröffnet, immer wieder als Freund und Helfer, als im Grun-de ebenso wohlmeinende wie treusorgende politische Führung zu sug-gerieren. Der unüberbietbare Vorteil, den diese strategische Option hat, besteht darin, dass sie neben der sozialen Beschwichtigungs- und Kom-pensationsfunktion, die sie im Blick auf den bedrängten Mittelstand er-

füllt, auch den ökonomischen Interessen der Oberschicht selbst dient,und zwar den Interessen der patrizischen Etablierten nicht weniger alsdenen der plebejischen Neureichen, und dass also bei ihr alle meinenkönnen, auf ihre Kosten zu kommen, dass alle dem Anschein nach vonihr profitieren. Der unabwendbare Nachteil, der mit dieser strategischen

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Option verknüpft ist, liegt darin, dass sie am Grundtrend der politisch-

ökonomischen Entwicklung der Republik nicht etwa nur nichts ändert,sondern ihn vielmehr verstärkt und vorantreibt, dass sie mit anderenWorten, wie auf der einen Seite der Akkumulation von kommerziel-lem Reichtum und der damit Hand in Hand gehenden Durchsetzungneuer, arbeitsteilig bestimmter, externer Austauschbeziehung zwischender römischen Republik selbst und ihrer handelspolitischen Macht- undEinflusssphäre Vorschub leistet, so auf der anderen Seite die gemein-schaftsinterne Austauschsituation und Marktposition, sprich, die ökono-mische Lage, ausgerechnet derer, die jene Strategie tragen, immer weiterverschlechtert und eine immer größere Zahl von ihnen durch den Verlust

ihrer zivilen Subsistenzbasis, ihres Grundbesitzes, an den Rand ökonomi-scher Not und sozialer Deklassierung bringt.

Die notgedrungene Ausdehnung des vollen Bürgerrechts auf die latinischen Bun-desgenossen lässt den Mittelstand zu einer kritischen Masse werden, die in dem

 Maß, wie sie der ökonomischen Pauperisierung und sozialen Deklassierung un-terworfen ist und zum harten Kern der plebejischen Partei herabsinkt, die Forde-rung nach politischer Mitbestimmung erhebt und in Gestalt der Tributkomitienund des politisch aufgewerteten Tribunenamts auch durchsetzt. Dieser als Tribu-natspartei plebejischen Opposition geht es nicht um die Wiederherstellung alter

Grundsitzverhältnisse; vielmehr eint sie mit der senatorischen Partei der Nobili-tät die Grundüberzeugung, dass das Heil der Republik in einer Fortführung dermilitärischen Expansionsstrategie liegt.

Eine aus nachträglicher Perspektive als qualitativer Sprung erkennbaredramatische Wendung nimmt dieser ökonomische Enteignungs- und so-ziale Entwurzelungsprozess, dem sich die bäuerliche Mittelschicht durchdie mit Hilfe seiner Wehrkraft verfolgte Expansionsstrategie ausgesetztfindet, als die unmittelbaren latinischen Bundesgenossen endgültig genugdavon haben, als Hilfstruppen beim römischen Expansionswerk mitzu-

wirken und für die Vergrößerung der Republik personale und finanzielleOpfer zu bringen, gleichzeitig aber mangels vollem Bürgerrecht vomGenuss der ökonomischen Früchte und der politischen Privilegien, diemit dem Aufstieg der Stadt verknüpft sind, ausgeschlossen zu bleibenund jedenfalls nur sekundär oder marginal daran zu partizipieren. Die

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im Latinerbund zusammengeschlossenen unmittelbaren Nachbarn Roms

erheben sich also gegen die Republik, und in einer für den römischenPragmatismus, den römischen Sinn für ökonomische Lösungen typischenMischung aus militärischer Schlagkraft und politischer Weitsicht endetder Krieg wie einerseits mit der Niederlage der Bundesgenossen und derAuflösung ihres Bundes, so andererseits mit der Verleihung des Bürger-rechts an die Mehrzahl der latinischen Städte und ihrer vollen Integrationin die Republik.

Die handeltreibenden beziehungsweise landbesitzenden Oberschichtender in die Republik aufgenommenen Städte sind mit dieser Lösung zu-frieden: Sie stehen mit den führenden Schichten der Metropole schon lan-ge in fruchtbarem kommerziellem beziehungsweise sozialem Austausch,und in Harnisch hat sie nur die relative politische Diskriminierung undökonomische Benachteiligung gebracht, der sie durch ihren bundesge-nossenschaftlichen Status ausgesetzt waren und die ja nun ihr Ende hat.Ebenso können sich auch die Handwerker und Gewerbetreibenden, so-weit vorhanden und soweit nicht durch die kommerziell bedingte Ar- beitsteilung zwischen handwerklicher Stadt und landwirtschaftlicherProvinz auf eine quantité négligeable beschränkt, mit der Aufnahme indie Republik befreunden, weil ihnen diese einen direkten und ungehin-derten Zugang zum hauptstädtischen Markt beschert. Und schließlich istauch der bäuerliche Mittelstand Latiums, die breite Schicht aus kleinen

und mittleren Landbesitzer mit der vollen Aufnahme ihrer Gemeindenin die römische Republik einverstanden: Zwar haben sie dafür, dass sich bei ihnen eine ähnliche Sozialstruktur wie in Rom selbst herausgebil-det hat, dass mit anderen Worten einige vom römischen Handel undder Zusammenarbeit mit ihm profitieren und es zu Reichtum bringen,während sie selbst, die breite Mittelschicht, die militärische Zeche fürdas Wachstum des römischen Handels zu zahlen und zudem noch dieökonomischen Lasten des mit dem kommerziellen Wachstum Hand inHand gehenden Überangebots an landwirtschaftlichen Erzeugnissen undentsprechenden Verfalls der Agrarpreise zu tragen haben – zwar haben

sie dafür mit Recht den römischen Einfluß verantwortlich gemacht, undsind gemeinsam mit ihren unzufriedenen Führungsschichten gegen dieHegemonialmacht auf die Barrikaden gegangen. Aber nun, da der Kampf zu Ende ist und ihre Oberschichten sich durch die Verleihung des vollenBürgerrechts für die römische Sache haben vereinnahmen lassen, sind

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auch sie bereit, die Geschichte mit anderen Augen zu betrachten und

sich nämlich vom römischen Vollbürgertum eine direkte Teilhabe an denmateriellen Früchten und sozialen Privilegien zu erhoffen, die mit dermilitärischen Expansionsstrategie der Republik in Aussicht stehen, mithineben der Verheißung einer Verbesserung ihrer ökonomischen Lage undSicherung ihrer sozialen Stellung auf den Leim zu gehen, durch die sichauch die hauseigene bäuerliche Mittelschicht der Republik immer wiederködern und zur Mitwirkung bewegen lässt.

Indes, die Hoffnung auf eine ernstliche und dauerhafte Verbesserungihrer Situation durch eine qua Bürgerstatus garantierte volle militäri-sche und zivile Partizipation am Aufstieg der römischen Republik führtdie bäuerlich-latinischen Neubürger geradeso hinters Licht wie zuvorschon die eingesessene römische Bauernschaft. Zu gravierend sind diestrukturell-systematischen Benachteiligungen, die diesen Gruppen ausdem von ihnen tatkräftig mitbetriebenen Aufstieg der Republik, der Ex-pansion ihres Handelsnetzes und der Orientierung der gesellschaftlichenDistribution am Akkumulationsinteresse des Marktes, erwachsen, alsdass die individuell-kompensatorischen Erwerbsmöglichkeiten und Ge-winnchancen, die der Aufstieg diesen Gruppen immerhin eröffnet, anderszu Buche schlagen könnten als eben im Sinne einer Kompensation, einermehr schlechten als rechten Entschädigung für die in der Hauptsachezu ihren Ungunsten verlaufende politisch-ökonomische Entwicklung.

Aber wenn sich auch die Hoffnung der bäuerlichen Neubürger auf einemit dem Vollbürgerstatus verknüpfte ökonomische Sanierung und politi-sche Stabilisierung als Illusion erweist – was die Aufnahme dieser neuenGruppe in die Republik immerhin bewirkt, ist eine quantitative Ver-stärkung der ökonomisch bedrängten und sozial bedrohten bäuerlichenMittelschicht der Republik, die aus diesem einen qualitativ ernstzuneh-menden politischen Faktor macht, die ihn mit anderen Worten seiner bisherigen Rolle eines instrumentalen Objekts patrizischer Interessenund einer der Expansionsstrategie der Nobilität zur Verfügung stehen-den Manövriermasse überhebt und als ein mit Eigeninteresse begabtes

intentionales Subjekt, als eine über die Expansionsstrategie der NobilitätMitverfügung reklamierende kritische Masse in Erscheinung treten lässt.Durch die Kontingente aus den in der Hauptsache bäuerlichen Re-

gionen Latiums aufgerüstet und im Verhältnis zu den beiden anderenGruppen der Nobilität und der funktionell marktbezogenen Plebejer in

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eine numerisch überlegene Position gebracht, gleichzeitig aber durch die

ökonomische Entwicklung zunehmend aus seiner sozialen Mittelstellungvertrieben und mit der marktbezogenen plebejischen Unterschicht glei-chermaßen in Ansehung ihrer ökonomischen Lage egalisiert, wie im Blickauf ihre soziale Geltung homogenisiert, hört die bäuerliche Mittelschichtin eben dem Maße, wie sie ihre mittelständische Apartheit einbüßt undsich als Teil der Unterschicht wiederfindet, auf, das bloß passive Werk-zeug des Patriziats zu sein, das sie bis dahin war und das, seinem reinenWerkzeugcharakter gemäß, Einfluß auf das Tun des Patriziats auch nurin passiver Form, nämlich dadurch zu nehmen vermochte, dass es sich,von Zufriedenheit und Wohlbehagen beziehungsweise von Ressentimentund Unwillen über seine Behandlung erfüllt, mehr oder minder gut in dieHand seines Benutzers fügte, und verwandelt sich in einen aktiven Fak-tor, einen Agenten in dezidiert eigener Sache, der sich als eigenständigeKraft politisch artikuliert und der dem Patriziat beziehungsweise der ausPatrizieren und reichen Plebejern zur Nobilität zusammengewachsenenFührungsschicht nur unter der Bedingung zu Diensten ist, dass dieseihn mitbestimmen lässt und seinen Willensbekundungen ebensoviel Ver- bindlichkeit und Gesetzeskraft konzediert wie den eigenen senatorischenBeschlüssen und den Leges der von ihr dominierten Zenturiatskomitien.

Ausdruck und letzte Konsequenz dieser Wandlung zur selbstbewuss-ten sozialen Kraft und Formierung zur eigenständigen politischen Frak-

tion, die das plebejische Stratum unter dem Druck und Einfluß der zuihm herabsinkenden, landlos werdenden, verarmenden Bauernschaftdurchmacht, ist die zu Anfang des dritten Jahrhunderts vollzogene Kon-stituierung der Tributkomitien, einer rein plebejischen Volksversamm-lung, deren Plebiszite fortan als mit den Leges der Zenturiatskomitiengleichrangige Gesetzgebung gelten. Repräsentanten und Sprachrohre desWillens der Plebejer, Organisatoren und Vorsteher ihrer Versammlun-gen sowie Initiatoren und ausführendes Organ ihrer Beschlüsse sind dieVolkstribunen, ein Amt, das schon lange existiert und traditionell mitdem Schutz plebejischer Bürger vor patrizischen Übergriffen und Will-

kürakten, mit der Wahrung individueller Rechte und ziviler Ansprücheder Plebejer gegenüber der patrizisch dominierten Staatsmacht betrautist, das jetzt aber eine parteipolitische Neubestimmung erfährt und alsseine zentrale Funktion die Vertretung der kollektiven plebejischen Inter-essen, die Repräsentation der Plebejer als einer der Nobilität wenn schon

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nicht gleichrangigen, so jedenfalls doch gleichwertigen Gruppe, kurz, die

Aufgabe zugewiesen bekommt, gegenüber und in den beiden Gesetzge- bungsgremien der Republik, Senat und Zenturiatsversammlung, die quaTributsversammlung verfasste Unterschicht als ein ebenso konstitutiveswie eigenständiges Element der Republik, eine ebenso viel eigenes Recht beanspruchende wie politisches Gewicht besitzende Instanz zur Geltungzu bringen.

Dabei ist, dass den Volkstribunen Unverletzlichkeit, ein sakrosankterStatus, in Ausübung ihres Amtes zugestanden und dass ihnen mehrnoch ein Vetorecht gegenüber Beschlüssen des patrizischen Senats einge-räumt wird, Beweis dafür, wie sehr sie beziehungsweise die hinter ihnen

stehenden Plebejer neuer Formation von der herrschenden Nobilitätals politische Kraft ernst genommen und als eine quasi per ständigeIntervention mitwirkende Instanz in der Tat gelten gelassen werden.Ebenso sehr aber belegt auch, dass die Volkstribunen die starke Stel-lung, die ihnen in den politischen Entscheidungsprozessen der Republikkonzediert wird, zur effektiven Mitwirkung nutzen und nämlich alsAufforderung verstehen, positiv durch die Plebiszite und negativ durchdas Vetorecht bestimmenden Einfluß auf die militärisch-strategische Ori-entierung und die aufs engste damit verknüpfte politisch-ökonomischeEntwicklung der Republik zu nehmen, wie weit die als eigene Volks-

versammlung sich organisierende und im Volkstribunat artikulierendeplebejische Formation entfernt davon ist, eine bloße, in Widerstand undNeinsagerei sich erschöpfende Opposition, eine simple Vereinigung derdurch die Entwicklung der Republik Geschädigten und ihr deshalb feind-selig und voller Sabotagegelüst Gegenüberstehenden zu sein, und wiesehr sie von Hoffnung und Zuversicht erfüllt ist, diese ihr Schaden brin-gende Entwicklung vielmehr zum eigenen Vorteil wenden und durchEinflussnahme, durch interventionistische Mitwirkung ihre bislang ver-nachlässigten Interessen Berücksichtigung finden lassen und wahren zukönnen.

So gewiss die negativ treibende Kraft der politischen Bewegung derum bäuerliche Gruppen erweiterten und durch sie neuformierten Unter-schicht das Ressentiment, das Bewusstsein ihrer in der politisch-ökonom-ischen Entwicklung der Republik beschlossenen Benachteiligung undungerechten Behandlung ist, so gewiss ist das positiv bestimmende Motiv

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die Hoffnung, sich mit den aus der Entwicklung Profitierenden, den Herr-

schenden, so arrangieren zu können, dass allen, auch den bislang durchdie Entwicklung Benachteiligten, Vorteil aus ihr erwächst und Gerechtig-keit wird. Eben deshalb, weil die plebejische Opposition sich im Rahmender tragenden Intentionalität der Republik bewegt und an ihrem Grund-konsens teilhat, kann ja die durch ihr ständisches Gremium, den Senat,maßgebende und in der allgemeinen Volksversammlung tonangebendeOberschicht aus Patriziern und reichen Plebejern, wie immer auch wider-strebend, der aufmüpfigen Unterschicht gesetzeskräftige Verbindlichkeitfür ihre Plebiszite konzedieren und ihren tribunalen Repräsentantenein Vetorecht in bezug auf die eigenen Beschlüsse einräumen, ohne be-fürchten zu müssen, dass die Bevollmächtigten ihre Vollmachten nutzen,um entweder die öffentlichen Geschäfte zu sabotieren und die Republikregierungsunfähig zu machen oder aber die gesellschaftlichen Verhält-nisse zu revolutionieren und die Regierung des Patriziats durch eineDiktatur des Volkes zu ersetzen. Dass die plebejische Opposition ihre neu-errungene Macht in der einen oder der anderen Richtung missbraucht,muss mithin die herrschende Schicht nicht fürchten, zumal durch dieVervielfachung des Volkstribunats, durch die Vorkehrung, dass jeweilszehn Tribunen ins Amt gewählt werden, der bei Volksmengen, die nichtviel zu verlieren haben, um so mehr aber glauben, gewinnen zu können,immer vorhandenen Tendenz zur populistischen Radikalisierung ein

zusätzlicher Riegel vorgeschoben wird, weil die Herrschenden dadurchdie Möglichkeit erhalten, die Tribunen gegeneinander auszuspielen undin ihrer plebiszitären Durchsetzungskraft zu hemmen und so den durchsie vertretenen plebejischen Kontrahenten, den Gegenspieler, der sichdurchaus als Mitspieler versteht, wenn auch nicht zu bändigen und in einWerkzeug in patrizischer Hand zurückzuverwandeln, so jedenfalls dochzu zügeln und erforderlichenfalls zu manipulieren.

Der Grundkonsens, der die Tribunatspartei, die plebejische Opposition,die sich im Kristallisationspunkt einer ebenso politisch aktiven wie öko-nomisch gestressten Bauernschaft formiert hat, mit der Senatspartei, der

Nobilität, verbindet und der es möglich macht, ein interventionistischesModell wie das des bevollmächtigt mitwirkenden Volkstribunats, dasunter anderen Bedingungen zur Lähmung des politischen Lebens führenmüsste, zu institutionalisieren und sich als höchst effektiv bewähren zulassen – dieser Grundkonsens besteht in der Gewissheit, dass das Heil

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der Republik in einer konsequenten Fortführung der bereits verfolgten

politisch-militärischen Strategie liegt, dass also eine Fortsetzung der vonder Republik betriebenen spezifischen Expansionspolitik die letztlichallen Parteien bekömmlichste Perspektive darstellt und deshalb auch vonallen Parteien unterstützt und mitbetrieben werden muss. Der Grundkon-sens besteht mit anderen Worten in der Überzeugung aller Beteiligten,dass eben die Expansionsstrategie, die die Probleme schafft, indem sieeine politisch-ökonomische Entwicklung fundiert, die zur Pauperisierungund Deklassierung der jene Expansionsstrategie tragenden bäuerlichenMittelschicht führt, diese Probleme allein auch zu lösen imstande ist, in-dem sie zugleich die Möglichkeit zur Wiedergutmachung oder jedenfallsKompensation der der Mittelschicht kraft ihrer politisch-ökonomischenKonsequenzen aus ihr entstehenden Nachteile und Schäden eröffnet.

Eine Wiederherstellung alter Grundbesitzverhältnisse oder Stabili-sierung des aus dem Lot geratenen traditionellen Kräftegleichgewichtszwischen den Gruppen durch Beschränkung des Landbesitzes oder gareine auf die Restauration der bäuerlichen Mittelschicht zielende Umver-teilung von Grund und Boden, wie das im 4. Jahrhundert noch die stetsallerdings vereitelte Absicht war, führen die zum Volkstribunat verfass-ten Plebejer ebenso wenig im Schild wie die vom Senat repräsentierteNobilität dergleichen im Sinn hat. Zu sehr hat sich die ganz oder partiellum ihren Grund und Boden gekommene und, soziologisch-strukturell

genommen, ins Plebejertum abgesunkene bäuerliche Mittelschicht schonauf die expansionsstrategische Perspektive und ihre kompensatorischenVergünstigungen und Verheißungen eingelassen und eingestellt und zusehr gebunden an und motiviert durch eben die im Aufstieg der römi-schen Republik zur Handelsmacht bestehende politisch-ökonomischeEntwicklung, die die bäuerliche Mittelschicht um ihren Grund und Boden bringt und ins Plebejertum absinken lässt, ist aber jene expansionsstrate-gische Perspektive, als dass die neuen Plebejer imstande oder auch nurgeneigt dazu wären, dieser ihnen schädlichen Entwicklung in die Paradezu fahren oder gar Einhalt zu gebieten und damit denn auch die Durch-

kreuzung und den Verlust der durch sie motivierten und für die neuenPlebejer selbst allein noch verheißungsvollen Expansionsperspektive zuriskieren. Den partiell oder auch ganz aus ihrer bäuerlichen Existenz Ver-drängten und hinsichtlich ihrer Subsistenz, ihrer Selbsterhaltung, auf dieeinzige Fähigkeit, die ihnen noch verblieben ist, ihre Kriegstüchtigkeit,

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Angewiesenen ist die Taube in der Hand, die mit der Expansionsstrategie

der Republik immerhin verknüpfte Hoffnung auf Kriegsbeute und Kamp-feslohn, naturgemäß lieber oder jedenfalls näher als der Spatz auf demDach, das durch die kommerzielle Entwicklung, die kraft Expansionss-trategie die Republik nimmt, ohnehin zur Aussichtslosigkeit verurteilteStreben nach Rückgewinnung ihres Landbesitzes und Restauration derverlorenen bäuerlichen Existenz – zumal beim wahrscheinlichen Schei-tern ihrer restaurativen Bemühungen der Offenbarungseid drohte undsie nämlich damit rechnen müssten, auch noch der ihnen soziologisch-strukturell konzedierten Zugehörigkeit zum Plebejerstand verlustig zugehen und in der Bodenlosigkeit einer durch keine marktbezüglicheBestimmtheit, keine handwerkliche Fertigkeit, keine zirkulative Tätigkeitaufgehaltenen ökonomisch-funktionellen Deklassierung zu versinken.

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Dank der tribunizischen Mitbestimmung der verarmten Bauernschaft und des

von ihr geltend gemachten Landhungers nimmt die römische Expansionsstra-tegie eine okkupativ-kolonialistische Wendung und führt zur Einrichtung von Militärkolonien und Munizipien römischen Rechts bei den Bundesgenossen.Diese Entwicklung wird von der Senatspartei mitgetragen, weil sie die militär-strategischen, logistischen und machtpolitischen Probleme lösen hilft, vor die ihreexpandierende und bald schon das ganze mittlere und südliche Italien umfassen-de Machtsphäre die römische Republik stellt. Die neue Strategie verschiebt zwardas Gleichgewicht zwischen Kriegführenden und Handeltreibenden, aber damites zu einer Aufhebung der bis dahin herrschenden, im Föderalismus der frühenRepublik kodifizierten Funktionsteilung kommt, braucht es mehr als nur die

Versuchung zur direkten Ausbeutung, die in der Präsenz römischer Besatzungenauf bundesgenossenschaftlichem Boden impliziert ist.

Allerdings – und hier liegt der praktische Dissens, der bei allem stra-tegischen Grundkonsens Plebejer und Nobilität, Volkstribunat und Senattrennt und um den sich ihre politischen Auseinandersetzungen wesent-lich drehen – dringen die Plebejer, dringen die um ihr Land gebrach-ten, verarmten Bauern, die als die kritische Masse der als Tributkomitieorganisierten Plebejer firmieren, auf eine Revision der militärischen Ex-pansionsstrategie und Neubestimmung ihrer Zielsetzung, die aus ihr

auch und nicht zuletzt ein Instrument zur Landnahme, ein Vehikel ter-ritorialer Okkupation macht und so den verarmten Bauern eine reelleKompensation für ihre durch die politisch-ökonomische Entwicklungder Republik, zu der sie als Träger der Expansionsstrategie, als Kriegs-dienstleistende, selber den Grund legen, erlittenen Verluste gewährt.Die Expansionsstrategie in ihrer bis dahin praktizierten, bundesgenos-senschaftlich ausgerichteten Form, die nicht sowohl auf eine dauerhafteOkkupation und herrschaftliche Unterwerfung der eroberten Gebietemit dem Ziel ihrer definitiven politischen Annexion und finanziellenBesteuerung zielt, sondern auf eine haltbare Verfügung und vertragliche

Kontrolle über sie zum Zwecke ihrer ökonomischen Integration undkommerziellen Erschließung berechnet ist, bringt, wie den Repräsentan-ten des Marktes und den sie protegierenden beziehungsweise mit ihnenkollaborierenden patrizischen Feldherren Reichtum und Macht, ökono-mischen Gewinn und politischen Einfluß, so den bäuerlichen Truppen,

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die sie mit ihren Wurflanzen und Schwertern in die Tat umsetzen, finanzi-

elle Zuwendungen, Soldzahlungen, Beuteanteile und Reparationsgelder,die zwar den Betroffenen und ihren Angehörigen einen im Einzelfallsogar auskömmlichen Unterhalt sichern mögen, die aber am Grundübelihrer kollektiven ökonomischen Situation, an der auch und natürlichihrer sozialen Stellung verderblichen Enteignungsprozedur, der sie alslandbesitzende und landbestellende Mittelschicht ausgesetzt sind, nichtnur nichts ändern können, sondern die im Gegenteil mit der Fortsetzung jener expropriativen Entwicklung, für die ihr eigenes Wirken im Diensteder Strategie den Grund legt, teuer bezahlt sind.

Daran etwas zu ändern ist wesentlicher Programmpunkt der Tributko-mitien und des sie repräsentierenden Volkstribunats. Dem Grundkonsensgemäß, der plebejische Volksversammlung und Senat verbindet, wirddie militärische Expansionsstrategie beibehalten, aber sie erfährt einefolgenreiche Modifikation: Der bis dahin weitgehend geübte Verzichtauf dauerhafte Okkupationen und territoriale Eingriffe zugunsten einerrein bündnispolitischen Integration der eroberten Gebiete in den primärals kommerzielles System definierten Machtbereich der Republik wirdaufgegeben, und die eroberten Gebiete werden für eine von Staats wegenvorgenommene reale Kompensation der ökonomiebedingt erlittenenVerluste des bäuerlichen Mittelstands, sprich: für Landzuweisungen andie verarmte römische Bauernschaft genutzt, mit dem Ergebnis, dass auf 

den fremden Territorien römische Kolonien und dem römischen Staats-verband unmittelbar zugeordnete Gemeinden, Munizipien, entstehen.Die indirekte Herrschaft, die mittels militärisch erzwungener Handels-verträge und Beistandspakte die römische Republik bis dahin über densich immer mehr erweiternden Kreis der benachbarten Gebiete und andiese wiederum anschließenden Regionen praktiziert, bleibt also zwar imPrinzip erhalten, wird aber unter dem Druck und im Interesse der das mi-litärische Zwangsinstrument stellenden und für ihren Einsatz durch einelangfristig-strukturelle Verschlechterung ihrer ökonomischen Lage undsozialen Position übel belohnten bäuerlichen Gruppen um ein Moment

direkter Herrschaftsübung ergänzt, da ja die Beschlagnahme erobertenLandes, dessen Besiedlung mit römischen Bürgern beziehungsweise de-ren Verbündeten und die Etablierung dieser Kolonien oder Gemeinschaf-ten als Gemeinden eigenen römischen oder von Rom gesetzten Rechtsdarauf hinausläuft, die eroberten Gebiete vor Ort unter Kuratel zu stellen

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und in ihrer Souveränität nicht nur systematisch-vertraglich, sondern

mehr noch empirisch-handgreiflich einzuschränken und nämlich beimneuen Bundesgenossen Stützpunkte zu hinterlassen, die gleichermaßenals Überwachungs- und Kontrollstationen, als Alibi für Einmischungenund Eingriffe und gegebenenfalls als Operationsbasen für Strafexpeditio-nen herhalten können.

Sosehr der an ihre bündnispolitisch-indirekte Herrschaftspraxis ge-wöhnten und mit ihr bis dahin ja auch äußerst erfolgreichen Senatsparteidiese okkupativ-kolonialistische Wendung, die unter dem Druck derins Plebejertum abgesunkenen Mittelschicht die Expansionsstrategie derRepublik nimmt, widerstreben und sosehr sie deshalb anfangs mit dem

oppositionellen Volkstribunat im Dauerstreit liegen mag, die Vorteile dermodifizierten Strategie sind zu offenkundig, als dass die Senatsparteiumhin könnte, den Dissens letztlich bloß als Aufforderung zu begreifen,sich zum Standpunkt der Opposition zu bekehren und auf der Grundlageder neuen strategischen Vorgabe einen vollständigen und nach Maßga- be seiner Vollständigkeit ebenso durchschlagenden wie schlagkräftigenKonsens in Sachen Expansion zu erzielen. Nicht nur bietet nämlich dieneue Strategie eine willkommene und in praxi unentbehrliche Entlastungvom innenpolitisch wachsenden Druck, ein Ventil zur Abfuhr der sichdurch die wirtschaftliche Entwicklung und die Verarmung und Deklas-

sierung, die sie für Teile der Bevölkerung zur Folge hat, aufbauendensozialen Spannungen, sie liefert auch und mehr noch eine Lösung fürdie militärstrategischen, logistischen und machtpolitischen Probleme, dieder ständig wachsende Umfang der von Rom kontrollierten Sphäre undimmer größer werdende Entfernung der dem römischen Einflussbereichneu eingegliederten Gebiete mit sich bringen.

Wie soll mit einem rein bündnispolitischen Instrumentarium, das sich bestenfalls noch auf den Anreiz handelspolitischer Verbindungen stützenkann, die römische Republik ihren mit militärischen Mitteln errunge-nen Einfluß auf Bundesgenossen wahren, die weit entfernt und durch

etliche andere bundesgenossenschaftliche Gebiete von Rom getrenntleben und die, nachdem der Bundesschluss feierlich besiegelt und dasrömische Heer und seine Verbündeten abgezogen sind, bald schon dieZweischneidigkeit der mit Rom eingegangenen Handelsbeziehungenzu spüren bekommen und demgemäß mit zunehmendem Ressentiment

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den Verlust an politischer Autonomie und die Bürde militärischer Bei-

standsverpflichtungen betrachten, die der mit der expansiven Repu- blik geschlossene Vertrag bedeutet? Wie kann die Republik sicherstel-len, dass sie, aller wachsenden räumlichen Distanz und zunehmenden bündnispolitischen Beziehungsvielfalt zum Trotz, über die jeweilige Si-tuation vor Ort permanent im Bilde bleibt und die Möglichkeit glei-chermaßen zur nachrichtendienstlich-informativen Kontrolle über undzur propagandistisch-suggestiven Einwirkung auf die soziale Stimmungund politische Entwicklung bei den Bundesgenossen erhält? Und wiekann die Republik dafür sorgen, dass sie gegebenenfalls, will heißen: imFalle einer ihren Interessen zuwiderlaufenden oder gar direkt gegen sie

gerichteten Entwicklung bei einem der Bundesgenossen, über die Optionzum Eingreifen, mit anderen Worten über ein Alibi beziehungsweise dieOperationsbasis für korrektive Maßnahmen beziehungsweise militärischeStrafexpeditionen verfügt?

Keine Frage, dass sich im Blick auf das eine wie auf das andere, dieMöglichkeit aktiver Kontrolle und die Option korrektiver Eingriffe, dieAnsiedlung römischer Bürger vor Ort der bundesgenossenschaftlichenTerritorien und mithin die Schaffung eines die bündnispolitische Kon-stitution des römischen Machtbereichs unterfütternden Systems von alsKontrollposten und Stützpunkte fungierenden Kolonien und Munizipien

als praktisches Passepartout und regelrechte Patentlösung aufdrängt unddass also zur intern sozialpolitischen Opportunität dieser Modifizierungder Expansionsstrategie ihr extern machtpolitischer Sinn und Nutzen alsschwerwiegendes Argument hinzukommt. Tatsächlich geht der Einrich-tung der mit plebiszitärer Macht versehenen Tributsversammlungen unddes mit Vetorecht ausgestatteten Volkstribunats, mithin der Schaffungder politischen Bedingungen für die okkupativ-kolonialistische Wen-dung in der Expansionsstrategie, nicht von ungefähr ein umfangreicherExpansionsakt, nämlich die langwierige, aber zu guter Letzt siegreicheAuseinandersetzung mit den Samniten, die der römischen Republik den

Weg ins südliche Italien öffnet, unmittelbar voraus und lässt sich, sogenommen, die tribunatsverfasste Beteiligung der Plebejer an der politi-schen Macht ebenso wohl als indirektes Eingeständnis der patrizischenFührungsschicht verstehen, dass mit den neueroberten Gebieten in denAbruzzen und in Kampanien die alte, rein bündnispolitisch-föderalistisch

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 betriebene Expansionsstrategie die Grenzen ihrer Leistungskraft und

Haltbarkeit erreicht hat.Die okkupativ-kolonialistische Wendung der Strategie, die nun aberder institutionalisierte plebejische Interventionist in Verfolgung seinesInteresses an realer, in Grund und Boden sich niederschlagender Ent-schädigung für die Verluste, die der Aufstieg der Republik ihm beschert, bei der mehr und mehr von der Opportunität der Neuorientierung über-zeugten Senatspartei durchsetzt – diese Wendung hilft nicht nur diemilitärstrategischen, logistischen, kontrollpolitischen, kurz: herrschafts-systematischen Probleme lösen, mit der die bereits erreichte Größe undDiversität ihrer Machtsphäre die Republik konfrontiert, sie leistet durch

ihre Problemlösungskapazität zugleich auch einer weiteren kontrolliertenAusdehnung der Machtsphäre und organisierten Integration neuer Re-gionen kräftig Vorschub und erweist sich so als ein probates Mittel nichtnur zur Bewältigung innerer, sozialpolitischer Konflikte und nicht bloßzur Überwindung äußerer, machtpolitischer Schranken, sondern auchund sogar zur Beförderung und Eskalation der durch sie modifiziertenExpansionsstrategie selbst. Nachdem durch die Etablierung von Tribut-komitie und Volkstribunat als einer interventionistischen Macht im Staatedie politischen Rahmenbedingungen für die kolonialistisch-okkupativeWendung in der Expansionsstrategie geschaffen, sprich: die Weichen für

die Landnahme römischer Bürger auf den Territorien der Bundesgenos-sen und die damit beschlossene Gründung römischer Siedlungen undMunizipien, die Einrichtung von Stütz- und Kontrollpunkten der römi-schen Macht, gestellt sind, geht es mit der weiteren Expansion Schlag auf Schlag: bereits nach zwanzig Jahren befinden sich Mittel- und Süditalien bis zur Stiefelspitze unter römischer Herrschaft.

Nach wie vor ist diese Herrschaft durch den spezifischen Föderalismusgeprägt, den die römische Republik praktiziert, durch Verträge, Bun-desschlüsse mit den militärisch Unterworfenen, die den letzteren einerelative Autonomie belassen und ihnen bloß die beiden Verpflichtun-

gen auferlegen, sich dem von Rom beherrschten kommerziellen Systemeinzugliedern und der Republik im Kriegsfall militärischen Sukkurs zuleisten. So gesehen vollendet die rasche Eroberung Unteritaliens, zu deres infolge der kolonialistisch-okkupativ gewendeten römischen Expan-sionsstrategie kommt, nur das von dieser Expansionsstrategie in ihrer

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traditionellen Fassung angesteuerte föderalistische System, den bundes-

genossenschaftlichen Verein, den Bund der socii, den die politische Ideo-logie der Republik zur römisch-italischen Wehrgenossenschaft verklärt.Aber insofern die Strategie in ihrer revidierten Form die dem römischenMachtbereich angegliederten Territorien mit römischen Militärkolonienund Munizipien übersät und durchsetzt, degradiert sie die bundesge-nossenschaftliche Assoziationsweise ebenso sehr zum Formalismus underweist die Wehrgenossenschaft auf dem Höhepunkt ihrer Entfaltungauch bereits als ausgehöhlt und zum Feigenblatt und Vorwand eineraller föderalistischen Assoziation und wehrhaften GenossenschaftlichkeitHohn sprechenden hegemonialen Herrschaft geworden.

In der Tat lässt sich, wie in specie das System der römischen Militärko-lonien dem der athenischen Kleruchien, so in genere das Herrschaftssys-tem Roms vor den Punischen Kriegen dem Herrschaftssystem Athens vordem Peloponnesischen Krieg vergleichen. Wie die athenische Polis vorder Auseinandersetzung mit Sparta kraft einer Mischung aus Bündnis-politik und militärischer Schlagkraft eine hegemoniale Vormachtstellungim Raum des ägäischen Handelssystems erringt, so etabliert sich vor demZusammenstoß mit Karthago die römische Republik kraft Bündnispolitikund militärischer Präsenz als Hegemonialmacht im südlich der Apenni-nen gelegenen Teil der italischen Halbinsel. Allerdings – und hier endetdie Parallele – nutzt die römische Republik ihre hegemoniale Stellung

nicht wie die athenische Polis, um die Bundesgenossen zu schröpfenund ihnen unter dem Vorwand von Bündnisverpflichtungen und ge-meinsamen Verteidigungsinteressen Tribute abzupressen; vielmehr dientihr die hegemoniale Macht ausschließlich dazu, die Bundesgenossenpolitisch-militärisch unter Kontrolle und damit bei der Stange ihrer ein-gegangenen Bündnisverpflichtungen zu halten, sprich: sicherzustellen,dass die socii der Republik im Kriegsfalle Beistand leisten und Hilfstrup-pen stellen und vor allem aber, dass sie jederzeit für die kommerziellenAktivitäten Roms offen stehen und integraler Bestandteil des vom rö-mischen Handelsplatz aus entfalteten und gesteuerten Marktsystems

 bleiben. Was hätte denn auch die römische Republik von – wie immerals Beitragsleistungen kaschierten – Tributzahlungen der Bundesgenos-sen, da die letzteren ja nicht wie die Mitglieder des Attisch-DelischenSeebundes reiche, handeltreibende Städte und Gemeinschaften sind,deren kommerziell akkumuliertes Kapital man abschöpft, wenn man

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sie mit hegemonialherrschaftlichem Nachdruck zur Bundeskasse bittet,

sondern vielmehr eine kunterbunte Mischung aus Ackerbau treibendenterritorialen Stammesgruppen, agrarisch fundierten Marktflecken undkleineren Handelsplätzen griechischer Gründung entlang den Küsten,kurz, ein Vielerlei an Gemeinwesen, aus denen sich Gewinn außer durchterritorialherrschaftlich-frondienstliche Ausbeutung höchstens und nurdurch die kommerzielle Erschließung, die austauschförmige Aneignung,der kraft der Arbeit ihrer Bevölkerungen erzielten Produktionsüberschüs-se ziehen lässt und deren einziger anderer und auf kurze Sicht vielleichtsogar wesentlicherer Nutzen darin besteht, dass sich ihre Territorien undihre Wehrfähigen als militärische und logistische Operationsbasen und alsHilfstruppen für die weitere Expansion, die Eroberungen neuer, entfern-terer Gebiete, in Anspruch nehmen und nach Maßgabe der hegemonialausgeübten Kontrolle über sie tatsächlich auch mobilisieren lassen.

So gesehen, bedeutet also die mittels der Gründung römischer Militär-kolonien und Munizipien auf bundesgenossenschaftlichen Territorien imSinne einer direkten Kontrolle und systematischen Durchdringung desmittlerweile ganz Mittel- und Unteritalien umfassenden hegemonialenMachtbereiches der römischen Republik – anders als die hegemonialeHerrschaft, die mittels Attisch-Delischem Seebund die athenische Poliserrichtet – keine grundlegende Änderung der strategischen Zielsetzung,sondern nur deren neue Verortung und revidierte Verfolgung. Wäh-

rend sich die athenische Polis mittels hegemonialer Herrschaft aus ei-nem wasserwegig-zentralen Teilhaber am Ägäischen Handelssystems indessen wasserköpfig-metropolen Tributnehmer, aus einer mit anderenHandel treibenden Gemeinschaft in einen Ausbeuter dieser anderen han-deltreibenden Gemeinschaften verwandelt, dient der römischen Republikdie hegemoniale Herrschaft, die sie durch Militärkolonien und Munizipi-en begründet und untermauert, ausschließlich zur Konsolidierung undFortsetzung ihrer alten, mit militärischen Mitteln betriebenen Expansi-onsstrategie, deren maßgebendes Motiv die kommerzielle Erschließungder jeweils bündnispolitisch unter Kontrolle gebrachten Gebiete und ihre

Integration in das um Rom zentrierte römisch-italische Handelssystemist.Aber wenn auch die mit der Konsequenz einer hegemonialen Herr-

schaftsform modifizierte Strategie, die unter der ideologischen Camou-flage einer römisch-italischen Wehrgenossenschaft die römische Republik

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vollzieht, strategisch gesehen, will heißen: der praktischen Zielsetzung

und aktuellen Absicht nach, keine Neuorientierung bedeutet, impliziertsie doch, systematisch betrachtet, will heißen: der theoretischen Per-spektive oder den potenziellen Optionen nach, diese Neuorientierungdurchaus. Indem die römische Republik durch ihre pro domo des ver-armten bäuerlichen Mittelstandes praktizierte Landnahme oder kolonia-listische Präsenz vor Ort der Bundesgenossen den Fuß in deren Tür setztoder vielmehr festen Stand auf ihrem Territorium gewinnt, verschärftsie zwar im Prinzip oder de jure nur den militärstrategischen Druck beziehungsweise verstärkt den machtpolitischen Zwangsrahmen, unterdem beziehungsweise in dem die Bundesgenossen dann bereit sind, sich bündnispolitisch integrieren, sprich: in das kommerzielle System einbin-den zu lassen, um dessen Expansion es der Republik letztlich zu tun ist– und so gesehen, bleibt denn auch im Prinzip oder de jure alles beimalten. Aber gleichzeitig impliziert diese Verstärkung des machtpolitischenZwangsrahmens in der Praxis oder de facto eine unter Umständen fol-genschwere Verschiebung in der Kräftebalance und der Funktionsteilungzwischen den die Strategie als ganze entfaltenden beiden Gruppierun-gen, der den militärstrategischen Druck erzeugenden Nobilität mit ihren bäuerlichen Truppen einerseits und den das kommerzielle System zurGeltung bringenden plebejischen Handeltreibenden andererseits.

Sosehr, wie gezeigt, die beiden Gruppierungen systematisch-strukturell

miteinander verschränkt sind, sosehr einerseits die Aufnahme in dieNobilität und die Teilhabe an ihrem sozialen Prestige und ständischenLebensstil das letzte Ziel und die alles bestimmende Perspektive der kom-merziellen Reichtum akkumulierenden plebejischen Handeltreibenden bildet und andererseits die Protektion und Förderung der Handelsfunk-tion und der sie Wahrnehmenden für die jeweils bereits aus aristokrati-schen Patriziern und reichen Plebejern amalgamierte Nobilität die ebensowohl dem Eigeninteresse entspringende verbindliche Direktive wie demStaatswohl entsprechende höchste Aufgabe darstellt, sosehr bleiben die beiden Gruppierungen doch aber praktisch-funktionell unterschieden

und beschränkt sich im Rahmen dieser praktischen Funktionsteilungdie eine Gruppierung, die Nobilität, darauf, mit militärischen Mitteln,mit Mitteln direkter Zwangsausübung, den Gegner zu unterwerfen unddas heißt: zur Räson der von ihm zu übernehmenden Bündnisverpflich-tungen zu bringen, um es dann aber der anderen Gruppierung, den

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plebejischen Handeltreibenden, zu überlassen, mit den indirekten Mitteln

kommerziellen Austausches die Früchte dieser militärischen Unterwer-fung des Gegners zu ernten. Eben weil Unterwerfung nach römischemMuster wesentlich darin besteht, den militärischen Gegner zur Übernah-me von Bündnisverpflichtungen zu zwingen und dadurch zum Sozius,zum Bundesgenossen zu machen, und weil, abgesehen von dem militä-rischen Beistand, den der Bundesgenosse bei der Unterwerfung weitererGegner zu leisten hat, seine Bündnisverpflichtung im wesentlichen darin besteht, sich den kommerziellen Aktivitäten des römischen Handelsplat-zes zu öffnen und integrierender Bestandteil des durch diese Aktivitätengestifteten Austauschsystems zu werden, ist die Funktionsteilung zwi-

schen den die Expansionsstrategie der Republik verfolgenden beidenGruppierungen der Nobilität mit ihren bäuerlichen Kontingenten und derHandeltreibenden mit ihrem handwerklichen Anhang klar und kommensich beide nicht ins Gehege. Dass sie sich auch gar nicht ins Gehege kom-men können, dafür ist in einem die Funktionsteilung quasi prozesslogischuntermauernden Sinne gesorgt, solange die eine Gruppierung sich striktnur als Wegbereiter und Pionierkorps betätigt und nach Erfüllung ihresmilitärischen Auftrags das Feld räumt, um der anderen Gruppierung dieAufgabe zu überlassen, mit dem zum Sozius domestizierten Gegner zukontrahieren und handelseins zu werden.

Nun aber, da die okkupativ-kolonialistische Wendung der Expansi-onsstrategie dazu führt, dass die militärische Gruppierung dauerhaft beim Bundesgenossen Fuß fasst und sich also aus einem bloßen Wegbe-reiter und Pionierkorps mehr noch zu einem permanenten Platzhalterund Kontrollorgan mausert, gerät die prozesslogisch garantierte strengeFunktionsteilung zwischen ihr und der kommerziellen Gruppierungins Wanken: nicht nur erhält die letztere durch die Präsenz der ersterenein Einschüchterungs- und Pressionsmittel, das ihre Transaktionen mitdem Bundesgenossen in eine ihr gar nicht unbedingt genehme Rich-tung drängt und gegebenenfalls mit dem Stempel halbrequisitorischer

Zwangstauschveranstaltungen versieht, die militärkoloniale und muni-zipiale Gegenwart der ersteren stellt mehr noch die von der letzterenmittels kommerziellem Austausch praktizierte indirekte Form der Aus- beutung als ein ebenso umständliches, weil stets an die Befriedigunggenereller konsumtiver Bedürfnisse beim Kontrahenten geknüpftes, wie

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ineffektives, weil immer durch die Berücksichtigung partieller Profitinter-

essen beim Kontrahenten vermitteltes, Verfahren zur Aneignung fremdenReichtums grundsätzlich in Frage. Weil die kommerziell betriebene Aus- beutung stets bedeutet, dass die Ausgebeuteten mit konsumtiven Anrei-zen geködert und zur freiwilligen Mitwirkung an ihrer eigenen Schröp-fung bewogen werden, und weil sie beim Handel zwischen politischseparaten Gemeinschaften stets impliziert, dass Gruppen der anderen,ausgebeuteten Gemeinschaft als Mittelsleute oder Kontrahenten von derAusbeutung mit profitieren und einen Teil der Beute einheimsen, ist dierelative Zwanglosigkeit und Konsensfähigkeit dieser indirekten Form derAneignung fremden Reichtums, ihre in dem foedus, der mit der anderenGemeinschaft jeweils geschlossen wird, Ausdruck findende eigentüm-liche Verträglichkeit, immer durch Abstriche beim Beutemachen, durcheine Mäßigung der expropriativen Ansprüche erkauft. Was Wunder, dassdiejenigen, die durch die Ausübung militärischen Zwangs allererst denpolitischen Rahmen für jene im kommerziellen Austausch bestehendegemäßigt-indirekte Form der Ausbeutung geschaffen haben, nun, da sievor Ort präsent bleiben beziehungsweise über strategische Stützpunk-te im fremden Land verfügen, wenn schon nicht mit dem Gedankenspielen, so jedenfalls doch die objektive Möglichkeit verkörpern, ihr mi-litärisches Zwangsmittel, statt es nach Gebrauch wieder einzupackenund zugunsten der kommerziellen Wirkmechanismen zurückzunehmen,

vielmehr an der kommerziellen Funktion vorbei und ohne Rücksicht auf sie weiterzuverwenden, sprich: zur kompensationslos-direkten, effektiv-requisitorischen Aneignung fremden Reichtums einzusetzen.

So fest verankert in oder, besser gesagt, verwoben mit der republi-kanischen Tradition ist indes die Praxis einer unter dem Schirm föde-ralistischer Beziehungen betriebenen kommerziellen Ausbeutung dereroberten Gebiete und so sehr bewährt hat sich diese Praxis nicht nurals Basis der prospektiven ökonomischen Wohlfahrt der Republik undals Garantin ihrer relativen politischen Eintracht, sondern auch und vorallem als ein ebenso wohlfeiler wie kommoder Weg, eine das günstigste

Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag erzielende ideale Strategie,zur Ausdehnung des ökonomischen Einflusses und zur Erweiterung derpolitischen Macht der Republik, dass allein die okkupativ-kolonialistischeWendung, die teils zur Entlastung von innenpolitischen, in der Deklas-sierung des bäuerlichen Mittelstands begründeten Konflikten, teils zur

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Lösung militärisch-logistischer, aus dem Umfang des Herrschaftsgebiets

resultierender Probleme die Expansionsbewegung der Republik nimmt,schwerlich schon Motiv genug ist, jene bewährte Praxis aufzugeben unddie mit der okkupativ-kolonialistischen Wendung formell sich bieten-de Gelegenheit zur Ersetzung der kommerziell-indirekten Ausbeutungdurch eine tributär-direkte Aneignung von Reichtum beim Schopf zufassen. Normalerweise und solange nicht bei den in Angriff genommenenGebieten und Gemeinschaften besondere, von den bisherigen Gegeben-heiten abweichende Bedingungen vorliegen, gewährleistet die in derFrühgeschichte der Republik ausgebildete Mischung aus Anpassungs-fähigkeit und Habsucht, Herrschsucht und Kalkül, die als römischerPragmatismus firmiert, dass es bei jener bewährten Strategie einer unterdem Deckmantel föderalistischer Vertragsbereitschaft indirekt durchge-setzten, kommerziell vermittelten Bereicherung bleibt.

Solange mit anderen Worten bei den von der römischen Expansionerfassten Territorien und Populationen, wie in den mittel- und unterita-lischen Gebieten durchweg der Fall, weitgehende politische Eigenstän-digkeit und relative ökonomische Ungebundenheit die vorherrschendengesellschaftlichen Bedingungen sind, solange also bei den betroffenen Re-gionen eine autonome Struktur im Innern und eigene politische OrdnungHand in Hand mit disparaten ökonomischen Bindungen nach außen,mit fragmentarischen Handelsbeziehungen, gehen, liegt die Opportu-

nität einer Praxis, die das Bereicherungsinteresse der Republik in der bewährten Form kommerzieller Ausbeutung und durch die bewährteInstanz des Marktes und seiner Repräsentanten Genüge finden lässt,offen zutage. Weil die indirekte Form der Ausbeutung mittels Handelimmer auch Vorteile für die Ausgebeuteten birgt und teils in genere durchdie konsumtiven Befriedigungen, die sie ihnen verschafft, teils in speciedurch die Bereicherungschancen, die sie bestimmten, als kommerzielleMittelsleute fungierenden Gruppen unter ihnen eröffnet, höchst annehm-liche Seiten herauskehrt, ist das Ausbeutungsprinzip, das sie immerhindoch verkörpert, für die Betroffenen leichter akzeptabel und können die

letzteren, wenn sie erst militärisch zur Räson gebracht und hinlänglichverträglich gestimmt sind, eher dazu gebracht werden, sich der Prakti-zierung jener Ausbeutungsform per Bundesschluss zu fügen und dendafür erforderlichen Einschränkungen ihrer lokalen Autonomie und Mo-difikationen ihrer politischen Ordnung zuzustimmen. Die vormaligen

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Feinde und nunmehrigen Bundesgenossen lassen sich sogar zur Stellung

von Hilfstruppen bei künftigen kriegerischen Auseinandersetzungen, dasheißt, zur militärischen Beteiligung an der weiteren Expansion bewegen,wobei auch hier die Akzeptanz durch eine Balance aus Pro et Contra befördert wird und dem factum brutum der Zwangsrekrutierung und deserpressten Kriegsdienstes die Aussicht auf Kriegsbeute und Teilhabe anden ferneren Früchten der militärischen Eroberungen die Waage hält.

 Jeder Versuch der Republik, ihr Bereicherungsinteresse mit anderenals mit kommerziellen Mitteln und nämlich auf dem Wege einer direkterAusbeutung der Betroffenen zu befriedigen, müßte dagegen deren durchkein Pro et Contra, keinen Interessenkonflikt gebrochenen, eindeutigenund erbitterten Widerstand provozieren und müsste die zwar militä-risch Besiegten, aber deshalb noch lange nicht ihrer autonomen Strukturund ihrer eigenen politischen Ordnung Beraubten veranlassen, sich mitallen aus ihrer autonomen Struktur ihnen erwachsenden Kräften undmit allen durch ihre politische Ordnung ihnen gegebenen Mitteln demSieger und seinen Zumutungen zu widersetzen. Jeder Versuch einerdirekten Ausbeutung setzte mit anderen Worten die Zerschlagung jenerautonomen Struktur des besiegten Gemeinwesens und die Auflösungder ihm eigenen politischen Ordnung sowie die Ersetzung beider durcheine vom Sieger dem fremden Gemeinwesen oktroyierte Reorganisation,ein vom Sieger etabliertes heteronomes Regiment voraus. Und diese

für eine direkte, tributäre oder requisitive Ausbeutung des betreffendenGemeinwesens unabdingbare Zerstörung seiner angestammten poli-tischen Konstitution und Errichtung einer ihm als Ersatzstruktur undalternative Ordnung aufgezwungenen Fremdherrschaft wäre nun aller-dings undenkbar ohne eine ständige massive militärische Präsenz desSiegers, ohne dass mithin auf längere, wo nicht unabsehbare Zeit in demGebiet Besatzungstruppen stationiert und die Gemeinschaft in einenBelagerungszustand versetzt würde.

Ob aber das Mehr an fremdem Reichtum, das die tributär oder re-quisitiv direkte Ausbeutung möglicherweise erbrächte, diesen militä-

rischen Einsatz, diesen Aufwand an Menschen und Material zu kom-pensieren und wettzumachen oder gar zu belohnen und gewinnträch-tig zu gestalten vermöchte, erscheint mehr als fraglich. Im Zweifels-fall wäre der Wechsel in der Ausbeutungsform, der Übergang von derBereicherung durch kommerziellen Austausch zur Bereicherung durch

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habituelle Enteignung, jedenfalls ökonomisch gesehen, ein Verlustge-

schäft. Solange bei den von der römischen Expansion Betroffenen diepolitisch-ökonomischen Bedingungen also die geschilderten sind, solange bei ihnen politische Eigenständigkeit Hand in Hand mit ökonomischerUngebundenheit geht, eine autonome Gesellschaftsstruktur mit dispara-ten Handelsbeziehungen gepaart erscheint, spricht nicht nur historischeGewohnheit, der Konservativismus der lange bewährten Praxis, sondernebenso sehr auch ökonomische Vernunft, das sich stets neu bewähren-de Kalkül des Eigeninteresses dafür, die indirekte, auf der Grundlageföderalistischer Bindungen mit Mitteln des kommerziellen Austauschs betriebene Form der Ausbeutung beizubehalten und sich auch nichtdurch die in Gestalt von Militärkolonien und Munizipien formell bereitsgeschaffene strategisch-logistische Voraussetzung für einen Wechsel imAusbeutungsparadigma in Versuchung führen oder gar motivieren zulassen.

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. Das karthagische Vexierbild

Indem die Römische Republik im Zuge ihrer Expansion mit dem karthagischen

 Machtbereich in Kontakt kommt, stößt sie erstmals auf Gebiete, die weder po-litisch autonom, noch ökonomisch disparat sind, sondern einer der römischen Hegemonie und Inanspruchnahme vergleichbaren Herrschaft und Nutzungunterliegen. So sehr das karthagische Gemeinwesen im stadtstaatlichen Prinzipdem römischen ähnelt, so wenig ist es doch die außenpolitischen Konfliktenund innenpolitischen Spannungen ausgesetzt, die dem letzteren seine territo-riale Einbettung und seine soziale Zusammensetzung bescheren. Trotz seinerspannungsarmen Genese bleiben aber auch dem von den Karthagern entlangder Küste des westlichen Mittelmeers ins Leben gerufenen Reich militärischeKonflikte nicht erspart: Es muss sich gegen die räuberischen Stammesherr-schaften Nordafrikas behaupten und gegen die griechischen Kolonien Magna

Graecias durchsetzen und fühlt sich durch diese doppelte Anforderung mangelsautochthoner militärischer Rekrutierungsbasis überfordert.

Durch jene strategisch-logistische Voraussetzung in Versuchung geführtund vielmehr wie durch einen unwiderstehlichen Impuls zum Para-digmenwechsel motiviert findet sich die Republik erst, als sie, nach-dem das ganze mittel- und süditalische Festland bis hinunter zur Spitzedes Stiefels, nach Rhegion, unter Kontrolle gebracht und der römischen,“wehrgenossenschaftlich” organisierten Machtsphäre einverleibt ist, ih-ren begehrlichen Blick auf die Inseln richtet und damit aber Gebiete ins

Auge fasst, die in der Tat ganz anderen als den bis dahin gewohntenpolitisch-ökonomischen Bedingungen unterliegen. Weder sind die sizi-lianischen, sardischen und korsischen Gebiete politisch autonom, nochsind sie ökonomisch disparat. Vielmehr gehören sie zum MachtbereichKarthagos, haben dort ihr politisches Organisationszentrum, und sind

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in das von Karthago betriebene und beherrschte Handelssystem inte-

griert, stehen im Austausch mit den Küsten Vorderasiens ebenso wie mitdem ganzen westlichen Mittelmeer. Diese Gebiete mit der Aussicht auf weiträumige wirtschaftliche Beziehungen und systematischen kommer-ziellen Austausch ködern und zum föderalen Anschluss, zur vertraglich besiegelten politischen Unterordnung bewegen zu wollen, wäre verge- bene Liebesmüh: Was Rom diesen Gebieten bringt, die Integration inein umfassenderes kommerzielles Austauschsystem, besitzen sie bereits,und sie besitzen es dank einer überregionalen militärischen Macht undpolitischen Herrschaft, die so weit entfernt davon ist, die ökonomischeIntegrationsofferte Roms als reizvolles Angebot zu betrachten und garals Köder zu schlucken, dass sie darin im Gegenteil nur den unsittlichenAntrag erkennen kann, ihr bestehendes, eigenes System kommerziell betriebener indirekter Ausbeutung zurückzunehmen und zuzulassen,dass es durch ein kongeniales anderes, eben das römische, verdrängt undersetzt wird.

In der Tat ist es das Besondere und Neue an den Gebieten, die imZuge ihrer Expansion die römische Republik nunmehr erreicht, dasssie, weit entfernt davon, über eine autonome politische Struktur undüber disparate ökonomische Beziehungen zu verfügen, vielmehr inte-grierender Bestandteil eines ökonomischen Systems sind, das von einerfremden politischen Macht organisiert und beherrscht wird, und dass

mit anderen Worten in effigie dieser Gebiete der römischen Republikein Vexierbild ihrer selbst entgegentritt. Und zwar ist die karthagischeMacht ein Vexierbild der römischen in dem strengen Sinne, dass sie beialler grundsätzlichen intentionale Ähnlichkeit und Übereinstimmung,die sie mit letzterer hat, doch zugleich charakteristische operationale Un-terschiede und Eigentümlichkeiten aufweist und deshalb der römischenMacht einen Spiegel vorhält, der dieser erlaubt, sich darin ebenso sehrzu gewahren und nämlich als ihresgleichen, als Konkurrenten, auszu-machen, wie nicht zur Kenntnis zu nehmen und nämlich als den ganzanderen, Fremden abzutun. Die grundsätzlichste Ähnlichkeit besteht

dabei in der prinzipiellen Intention selbst, in der für das Gemeinwesenrichtungweisenden Absicht nämlich, sich durch das indirekte Aneig-nungsmittel kommerziellen Austausches an anderen Gemeinschaften zu bereichern. Während aber im römischen Zusammenhang diese Grundin-tention eher die Rolle eines treibenden Motivs spielt, als die Bedeutung

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eines grundlegenden Konstitutivs beansprucht und eingebettet erscheint

in ein ihr vorausgesetztes und sie tragendes Milieu aristokratisch ver-fasster, bäuerlich-territorialer Sesshaftigkeit, stellt sie im Falle Karthagosin der Tat das umfassende Existenzprinzip, den ausschließlichen Seins-grund dar: die karthagische Republik entsteht und entfaltet sich als Han-delsrepublik, als mit der kommerziellen Erschließung und Ausbeutungseiner näheren und zunehmend ferneren Umgebung befasster städtischerMarkt.

Von einem Handelsvolk am Ostrand des Mittelmeeres, den Phöniziern,als Vorposten und Stützpunkt für den kommerziellen Austausch mit demwestlichen Mittelmeer gegründet, entwickelt sich Karthago rasch zu ei-nem wichtigen Umschlagshafen und Handelszentrum, erringt gegenüberder Mutterstadt Tyros ökonomische und politische Selbständigkeit undschwingt sich zur Schutzmacht der anderen phönizischen Kolonien inder Region auf beziehungsweise beginnt seinerseits mit der Gründungvon Handelsstädten und kommerziellen Stützpunkten auf den Inselnund entlang der nordafrikanischen Küste. Auf Basis einer strategischgünstigen Lage, einer agrarisch fruchtbaren Umgebung und eines hervor-ragenden Hafens schafft sich Karthago ein Handelsimperium, das bis auf die römisch-italische Handelssphäre in der Tat den gesamten westlichenMittelmeerraum umfasst und mit dem östlichen verknüpft und ins kom-merzielle Verhältnis setzt. Dabei geht das imperiale Ausgreifen der Stadt

sehr viel leichter und rascher vor sich als die hegemoniale ExpansionRoms. Anders als die römische Ausbreitung hat die karthagische nicht dieForm territorialen Vordringens, sondern vollzieht sich übers Meer und berührt die Territorien, die mittels Expansion kommerziell erschlossenwerden, auch nur peripher, nur an den Küsten, wo Handelsniederlas-sungen und Faktoreien gegründet werden, die dann für den geregeltenZugang zu den betreffenden Territorien und ihren Reichtümern und fürden regelmäßigen, gewinnträchtigen Austausch mit ihnen Sorge tragen.Weil so die Expansion fast ohne militärische Konfrontation und praktischohne Eingriffe in die autonomen Strukturen und politischen Ordnungen

der erschlossenen Gebiete und ihrer lokalen Gemeinschaften vor sichgeht, haben die letzteren noch weniger Grund als die von der römischenRepublik Assoziierten, das Moment von indirekter Ausbeutung undobjektivierter Expropriation zur Kenntnis zu nehmen, das im kommer-ziellen Austausch beschlossen liegt; sie gewahren unmittelbar nichts als

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die allgemeinen, marktgesellschaftlichen Verbesserungen des Konsums

und die besonderen gruppenspezifischen Chancen zur Bereicherung,die der Austausch mit der fremden Macht mit sich bringt, und nehmenan deren zwecks regelmäßigem Austausch durchgesetzter periphererkolonialistischer Anwesenheit und exterritorialer Behauptung vor Ortkaum oder gar keinen Anstoß.

Und wie den Karthagern expansionsstrategisch oder nach außen dieharten Konfrontationen der römischen Frühgeschichte erspart bleiben,so bleiben sie auch gesellschaftspolitisch oder im Innern von den tiefenVerwerfungslinien und Konflikten verschont, mit denen die römische Re-publik leben muss. In der römischen Republik wächst die kommerzielleFunktion und gedeihen ihre Repräsentanten im Schoße einer territorialfundierten Aristokratie, die zusammen mit den übrigen, als wehrfähigeFreie firmierenden, kleinen und mittleren Landbesitzern ein etabliertesSozialgefüge bildet, das für die kommerzielle Expansion die Rolle desmilitärischen Wegbereiters und Bestandsgaranten übernimmt und zudem die kommerziell Tätigen im Zuge ihrer Karriere und nach Maßgabeder teils negativen, teils positiven Auswirkungen dieser Karriere auf es,das vorausgesetzte Sozialgefüge selbst, ein ebenso spannungs- und kon-fliktreiches wie komplexes und intim verwobenes Verhältnis ausbilden.Im karthagischen Stadtstaat hingegen sind die kommerziell Tätigen undihr marktbezogener Anhang aus Handwerkern und Gewerbetreibenden

von Anfang an unter sich. So gewiss die Stadt insgesamt eine kommer-zielle Stiftung ist und ihr Entstehen einem Kolonisationsakt verdankt,dessen von Haus aus einziger Zweck die Einrichtung eines Stützpunk-tes und einer Versorgungsbasis für den phönizischen Fernhandel ist, sogewiss fehlt hier das für die römische Entwicklung wesentliche Elementeines der kommerziellen Funktion vorausgesetzten und ebenso bäuerlich- bodenständig verhaltenen wie herrschaftlich-aristokratisch verfasstenGemeinwesens. Was die Karthager aus der alten Heimat an hierarchischerOrdnung und aristokratischer Besonderung mitbringen, sogar von einemanfänglichen Königtum ist die Rede, verliert hier seine reale Existenzbasis

und seinen haltgebenden sozialen Kontext und wird in die Revisioneiner rein kommerziell fundierten Reichtumsbildung und Konzentrationsozialer Macht geschickt. Das heißt, tradierter hierarchischer Rang undmitgebrachter sozialer Status finden nur in dem Maße Bestätigung bezie-hungsweise erfahren eine Neubegründung, wie sie sich aus den in den

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Austauschakten des Handels angelegten Akkumulations- und Expropria-

tionsmechanismen ergeben, wie sie mit anderen Worten Resultat des inder kommerziellen Funktion beschlossenen Sortierverfahrens sind, dasdie Gesellschaft wie von Natur in Reich und Arm auseinanderlegt.

Was auf dem Wege dieses ausschließlich durch kommerziellen Aus-tausch determinierten katalytischen Prozesses entsteht, ist ein städtischesGemeinwesen, das in der Tat dem römischen einen vexierbildlichen Spie-gel vorhält: Auch Karthago ist eine Adelsrepublik, nur dass hier nichtwie in Rom die Führungsschicht eine aus alteingesessenen Patriziernund neureichen Plebejern, Grundbesitzern und Marktrepräsentanten,Adel und Geld zusammengewachsene Gentryschicht darstellt, sonderneinen vergleichsweise homogenen, als Geldadel aus dem Marktgeschehenherausprozessierten Kaufherrenstand bildet, und dass es hier anders alsdort keine Armen gibt, die in dem Sinne Opfer des Marktes sind, dass siesich durch das kommerzielle Geschehen aus ihrer früheren marktunab-hängigen Stellung verdrängt und dem Schicksal der Pauperisierung undDeklassierung ausgesetzt finden, sondern dass vielmehr die Armen ins-gesamt im Kontinuum einer marktabhängigen Unterschicht stehen, dievon Anfang an der expropriativen Logik kommerziellen Austausches un-terworfen ist und als Geschöpf des Marktes das Schicksal, das dieser ihr bereitet, als eine ebenso naturgesetzlich gegebene wie durch ihr eigenesZutun gewirkte Fatalität begreift. Dass das karthagische Handelspatriziat

im Unterschied zur römischen Nobilität so homogen und in Intentionund Lebensstil uniform ist, kommt unter normalen Umständen seinerResolution und Handlungsbereitschaft zugute, mindert in Krisenzeitenallerdings auch seine Anpassungs- und Kompromissfähigkeit, sein Ver-mögen, Zielsetzungen zu verändern und Strategien zu wechseln. Unddass die karthagische Unterschicht anders als zumindest der aus dem bäuerlichen Mittelstand sich rekrutierende dynamische Kern der römi-schen Plebs so fügsam und bereit ist, seine Lage, wie bedrängt sie auchimmer sein mag, als selbstgewirktes Schicksal hinzunehmen, bewahrt dieStadt vor internem Konfliktstoff, bringt sie allerdings auch um die Chance

einer Dynamisierung und Neuorientierung ihrer Entwicklung unter denDruck aufbegehrender Gruppen.So vergleichsweise spannungsarm der politisch-ökonomische Aufstieg

Karthagos aber auch verläuft und so relativ gewaltlos die kommerzielleExpansion der Stadt vor sich geht, ganz und gar ohne Widerstand und

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ohne die Notwendigkeit, diesem Widerstand militärisch zu begegnen,

ihn mit Waffengewalt zu überwinden, lässt sich das karthagische Impe-rium denn doch nicht ins Werk setzen. Zwei Gruppierungen vor allemkommen den karthagischen Bestrebungen, im westlichen Mittelmeer einebenso umfassendes wie geschlossenes Handelssystem zu errichten, indie Quere. Zum einen sind das die nomadisierenden und traditionell auf räuberische Einfälle in die Küstenregionen spezialisierten Stämme imnordafrikanischen Landesinnern: Sie blicken begehrlich auf die reichenHandelsniederlassungen an der Küste, zu denen sie höchstens sporadi-sche Austauschbeziehungen unterhalten und an deren Reichtümer siedeshalb nur mit Gewalt zu gelangen vermöchten, und müssen militärischin Schach gehalten werden. Zum anderen und wichtiger noch machenden Karthagern das italische Handelssystem und die griechischen Grün-dungen in Unteritalien und auf Sizilien zu schaffen.

Während sich das von Rom kontrollierte und in allmählicher Ausdeh-nung begriffene latinisch-italische System vorläufig noch außerhalb oderam Rande des von den Karthagern beanspruchten Entfaltungsraumes befindet und sich das Verhältnis zu ihm deshalb durch eine Aufteilungder Interessensphären vertraglich-friedlich regeln lässt, liegen die griechi-schen Städte Magna Graecias mitten in der von Karthago beanspruchtenEinflusssphäre, machen dank ihres hohen handwerklich-technischenEntwicklungsstandes und ihrer regelmäßigen Handelskontakte ins östli-

che Mittelmeer den Karthagern eine nicht zu verachtende kommerzielleKonkurrenz und stellen mit anderen Worten ernstliche Hemm- und Stol-persteine auf dem Wege der karthagischen Expansion dar. Die Folge sindwiederkehrende beziehungsweise anhaltende militärische Auseinander-setzungen, für die das karthagische Gemeinwesen von Haus aus schlechtgerüstet ist. Nicht, dass die Bürger Karthagos allesamt kriegsuntüchtige,wehrlose Handel- und Gewerbetreibende wären, die nur in friedlichenGeschäften bewandert sind und sich aufs Kämpfen nicht verstehen. Diesemoderne Vorstellung vom unkriegerischen Kaufmann und Handwerker,die sich in voll entwickelter Arbeitsteilung ihren militärischen Schutz

kaufen oder auf anderen Wegen beschaffen müssen, hat in der Anti-ke nichts verloren. In einer Zeit ohne zentralstaatlich durchgesetztenLandfrieden und ohne zuverlässige internationale Konventionen müssenauch und gerade die im kommerziellen Zusammenhang Tätigen sichund ihre Produkte oder Waren gegen die stets gegenwärtige Tendenz

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ihrer potentiellen Kunden, den Austausch kurzzuschließen und als Raub

abzuwickeln, zur Wehr setzen und militärisch behaupten können. Sowohl bei der Gründung der Kolonie als auch bei der Selbstbehauptung in demfremden, libyschen Umfeld beweist die Handelsrepublik zur Genüge,dass sie imstande ist, sich erfolgreich zur Wehr zu setzen.

 Jetzt aber überfordern die mit der Expansion des Handelssystems sichergebenden militärischen Herausforderungen die Kräfte der Stadt. Wäh-rend ihre Gegner, insonderheit die griechischen Städte auf Sizilien, man-gels weiterreichender Ambitionen ihre Kräfte auf die Wahrung regionalerInteressen konzentrieren können, muss die karthagische Republik animmer mehr Punkten ihres expandierenden Handelsreiches militärischpräsent sein. Was ihr, der eingewanderten Handelskompanie und ange-landeten Faktorei, jetzt fehlt, ist eine territoriale Einbettung, wie sie dierömische Republik ihrem Kommerz bietet, sind jene unter landbesitzend-aristokratischer Führung mobilisierbaren bäuerlich-bodenständigen, mit-telständisch-wehrhaften Gruppen im eigenen Gemeinwesen wie dannauch bei den bundesgenossenschaftlich assoziierten Nachbarn und um-gebenden Völkerschaften, die als unabhängig von der kommerziellenFunktion vorausgesetzte soziale Verbände und politisch-ökonomischeStrukturen doch aber an letzterer interessiert genug sind und von ihrhinlänglich profitieren, um sich mit ihr zu verbünden, sie mit allen Kon-sequenzen einer allmählichen Umkrempelung und Reorganisation dergesamten Gemeinschaft immer ausschlaggebendere Bedeutung für diegesellschaftliche Reproduktion gewinnen zu lassen und ihrem Bedürfnisnach systematischer Entfaltung, ihrem Expansionsdrang, sich sogar unterInkaufnahme der ökonomischen Nachteile, die ihnen, den bäuerlich-mittelständischen Gruppen selbst, aus solcher Expansion erwachsen, alsstrategische Wegbereiter und militärische Schützenhelfer zur Verfügungzu stellen. Dieses historisch gegebene, quasinatürliche Fundament alsoeines agrarisch fundierten streitbaren Sozialkörpers, einer ineins als Nähr-und als Wehrstand firmierenden aristokratisch geführten Bauernschaftfehlt der karthagischen Handelsgesellschaft, und eben deshalb bringen

sie die mit der imperialen Expansion verknüpften Anforderungen an ihrestrategische Präsenz und militärische Stärke in arge Verlegenheit.

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 Mangels hauseigener Rekrutierungsbasis befriedigt das karthagische Gemeinwe-

sen seinen Bedarf an militärischem Personal mittels angeworbener und entlohn-ter fremder Soldaten, kurz, Söldner. Die Stadt kann das, weil sie über genügendGeld verfügt, zu dem sie nicht nur eine organisatorisch-instrumentelle, sondernmehr noch eine akquisitorisch-intentionale Beziehung unterhält: Sie firmiertnämlich als wichtige Geldbeschafferin für die Märkte des östlichen Mittelmeers,deren strukturbedingte Liquiditätsprobleme sie mittels ihrer speziellen Handels-beziehungen zu lösen hilft.

Was indes der karthagischen Handelsmacht historisch, und das heißt:aus Gründen einer ihrer Entfaltung vorausgesetzten autochthonen po-litischen Organisation, nicht in die Wiege gelegt ist, dafür schafft siesich systematisch, und nämlich auf Grund des ihrem Wirken entsprin-genden autogenen ökonomischen Potentials, Kompensation. Sie nutztmit anderen Worten den Reichtum, den sie durch ihre kommerziellenAktivitäten akkumuliert, um sich auf dem Markt zu kaufen, was dieGeschichte ihr versagt hat: sie rekrutiert Menschengruppen, die für denLohn, den sie ihnen zahlt, den Sold, den sie erhalten, die benötigtenmilitärisch-strategischen Leistungen erbringen. Sie wirbt bei den un-mittelbaren Nachbarn und in den an ihre imperialen Gründungen imwestlichen Mittelmeer angrenzenden Gebieten ein Söldnerheer, dem siegegen Beteiligung an ihrem kommerziell akkumulierten Reichtum die

militärischen Offensiv- und Defensivaufgaben, die ihre Expansion mitsich bringt, als seine besondere Zuständigkeit, eben als Kriegshandwerk,überlässt. Weil die natürlich gewachsenen, historisch gegebenen Leben-sumstände Karthagos für keine militärische Schlagkraft im mittlerweileerforderlichen Ausmaß zu sorgen vermögen, zaubert die Handelsstadtdas Fehlende aus dem Hut jener kommerziellen Transaktion, auf die siesich wie keine andere Gemeinschaft versteht und der sie gleichermaßenihre ökonomische Stärke und ihre politische Stellung verdankt, machtsie also die Beschaffung militärischer Stärke zu einem Handelsgeschäftder üblichen Art, indem sie gegen Anrechte auf ihren Markt, Ansprüche

auf die dort versammelten Güter, Dienstleistungen eintauscht, die diesenihren Bedarf an militärischer Schlagkraft zu decken taugen.Sosehr sich indes die soldvermittelte Rekrutierung von Soldaten formell-

funktionell im Rahmen normaler kommerzieller Transaktionen bewegt,sosehr fällt sie inhaltlich-strukturell aus eben diesem Rahmen heraus.

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Schließlich zeichnen sich kommerzielle Transaktionen im eigentlichen

Sinne, wie bereits an früherer Stellen mehrfach ausgeführt, dadurch aus,dass markteigene Güter, Waren, gegen marktgängige sächliche oder per-sönliche Leistungen, effektive Produkte oder zirkulative Dienste, ausge-tauscht werden – und zwar unter der für allen Markt konstitutiven, demkapitalen Akkumulationsprinzip genügenden Bedingung, dass der Wertder im Austausch neu auf den Markt gelangenden Produkte den Wert derWaren, die für sie und die dazugehörigen zirkulativen Leistungen vomMarkt zur Verfügung gestellt werden, um die als Mehrwertrate habituellvom Markt beanspruchte Proportion übersteigt. Von einer solchen nor-malen kommerziellen Transaktion aber kann im Falle der Besoldung vonSpezialisten fürs Kriegshandwerk keine Rede sein. Was die Handelsre-publik für die Ansprüche an den Markt, die sie den Söldnern einräumt,als Gegenleistung erhält, sind Dienste, die weder die Akkumulationsbe-dingung erfüllen, weder also im Vergleich mit dem gezahlten Sold einMehr an Wert darstellen, noch überhaupt einen Beitrag zum Markt, einein irgendeinem Sinne marktgängige sächliche oder persönliche Leistungverkörpern. Marktrelevanz beweisen die Dienste der mittels Beteiligungan den kommerziellen Segnungen der Handelsrepublik gekauften Söld-ner nicht etwa in der Bedeutung, dass letztere durch handwerklicheTatkraft und Arbeit am materiellen Bestand und funktionellen Betrieb desMarktes mitwirkten, sondern höchstens und nur in dem Verstand, dass

sie mit handgreiflicher Schlagkraft und Gewalt für dessen kontextuellesBestehen, seine konditionelle Behauptung sorgen. Stellen demnach aberdie Söldnerdienste einen Beitrag nicht zur tatsächlichen Reproduktionund Entfaltung, sondern nur zur grundsätzlichen Reaffirmation und Er-haltung des Marktzusammenhanges dar, so erfüllen die für sie gezahltenVergütungen eher den Charakter eines gezollten Tributs oder exaktivenSchutzgelds als den eines reziproken Lohnes und transaktiven Entgeltsund ist, wofür sie einstehen, eigentlich gar kein kommerzieller Austausch,sondern ein existenzielles Opfer, kein zur Wirklichkeit des Marktes selbstgehörendes Verhältnis auf Gegenseitigkeit, sondern eine dem Markt zur

Sicherstellung seiner Möglichkeit oktroyierte Zwangsabgabe.Damit dieses in Form von Sold geleistete Opfer, das die karthagischeHandelsrepublik bringt und durch das sie sich, was ihr an naturgegebe-ner, historisch gewachsener Wehrkraft fehlt, mittels ihres kommerziellakkumulierten Reichtums beschafft – damit also dieses Opfer nicht als

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erratisch-fremdbürtige, quasiherrschaftliche Abschöpfung von Reichtum,

als mit Mitteln des Marktes vollzogene Dotierung marktfremder Gruppenheraussticht und sich vielmehr den für die karthagische Gesellschaftmaßgebenden kommerziellen Prozessen integriert, sprich, das Anse-hen einer normalen Transaktion, eines regulären Austauschvorgangesgewinnt, braucht es jene als allgemeines Äquivalent, Geld, bestimmteökonomische Einrichtung, die der Dynamik des Marktes selbst entspringtund ohne die keine entwickelte Marktwirtschaft denkbar ist. Wie anfrüherer Stelle – nämlich bei der Darstellung des ökonomischen Auf-stiegs der griechischen Polis – gezeigt, ist es das allgemeine Äquivalent,das, indem es seine ursprüngliche Rolle als analytisches Zirkulativ, als

symbolischer Repräsentant sächlicher Werte, transzendiert und beginnt,die in den sächlichen Werten ihren objektiven Niederschlag findendenunterschiedlichen Arbeitsleistungen epiphanisch zu vertreten, sie alsihr unmittelbar objektiver Ausdruck zu verkörpern, die Aufgabe über-nimmt, die aus jenen unterschiedlichen Arbeitsleistungen resultierendenAnsprüche an den Markt höchsteigen abzugleichen und im Mediumseiner selbst zu regulieren, kurz, als synthetisches Konstitutiv, als Geldim eigentlichen Sinne zu firmieren. Und wie dort ebenfalls gezeigt, ist esdiese wertkonstitutive Funktion, diese allen kommerziellen Austauschreorganisierende generalbevollmächtigte Prokura oder mittlertümliche

Stellvertretung, die das Geld qua Geld übernimmt, was die Möglichkeitschafft, in den Austausch zwischen marktbezüglichen Arbeitsleistungenund auf dem Markt versammelten Gütern auch Leistungen einzubezie-hen, die überhaupt keine oder jedenfalls keine marktrelevanten sind unddenen einfach nur dadurch, dass sie mit Geld vergütet, durch den epipha-nischen Generalvertreter der wertbildenden Substanz Arbeit gutgesagtwerden, die Marktrelevanz bescheinigt wird.

Um eine solche, zwar vielleicht für das konditionelle Bestehen desMarktes unabdingbare, nicht hingegen für seinen funktionellen Bestandrelevante Leistung handelt es sich aber offenbar bei den kriegshandwerk-

lichen Diensten, die sich die Handelsrepublik mangels eigenen Potentials bei fremden Gruppen besorgen muss; und damit die Vergütung dieserkeinen materiellen oder strukturellen Beitrag zum Markte bildendenDienste, die Honorierung dieser keinen systematischen Bestandteil desAustauschsystems ausmachenden Leistung, sprich, die Beteiligung der

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fremden Gruppen an den Segnungen des handelsrepublikanischen Mark-

tes, nicht ihren Charakter eines das kommerzielle System wenn schonnicht sprengenden, so immerhin doch erratisierenden außerkommerziel-len Tribut- und Opferverhältnisses hervorkehrt und sich vielmehr ihrerDarstellungsform und Verfahrensweise nach den als Norm firmierendenAustauschprozessen angleichen und eingliedern kann, braucht es dasallgemeine Äquivalent in seiner entfalteten Funktion als synthetischesWertkonstitutiv, braucht es mit anderen Worten die Voraussetzung einerentwickelten Geldwirtschaft. Diese Voraussetzung erfüllt die karthagi-sche Republik, ja, sie erfüllt sie sogar in ganz besonderem Maße. Sieverfügt über ein voll entwickeltes geldwirtschaftliches System und mussdarüber verfügen, weil sie ihre komplizierten, durch zahlreiche Stationenund viele Metamorphosen hindurch verfolgten, räumlich weitgespanntenund zeitlich langwierigen Austauschgeschäfte ohne Geld gar nicht abwi-ckeln könnte und weil sie die vielfältigen, als Hersteller und Dienstleistermitwirkenden Gruppen, die Vielzahl von Beteiligten, die der Seehandelund die ihm zuarbeitenden Gewerbe ins Spiel bringen, ohne Geld garnicht kalkulatorisch erfassen und zu einem Ganzen aus nachweisbarenLeistungen und Ansprüchen, zu einem Gesamtgeschäft, synthetisierenkönnte.

Aber damit nicht genug, hat sie auch noch ein ganz eigenes Interesseam Geld und unterhält nämlich zu ihm nicht nur eine organisatorisch-

instrumentelle Beziehung, sondern mehr noch einen akquisitorisch-inten-tionalen Bezug, betrachtet es nicht nur als operatives Medium, sondernebenso wohl als effektives Objekt. In der Tat verdankt die karthagischeHandelsniederlassung ihre Existenz wesentlich dem wachsenden Bedarf des östlichen Mittelmeerraumes an den als allgemeines Wertäquivalent brauchbaren Edelmetallen, die das westliche Mittelmeer dank der reichenLagerstätten in Spanien und entlang der nordafrikanischen Küste bietet.Neben den normalen Warenaustauschgeschäften, die Karthago mit denwestlichen Mittelmeerküsten betreibt und durch die es zur wichtigenSchalt- und Verbindungsstelle für das nicht zuletzt dank seiner Aktivitä-

ten in Entfaltung begriffene kommerzielle Gesamtsystem des Mittelmeer-raumes avanciert, dient die Republik von Anfang an als Stützpunkt fürden Handel mit dem Gold, Silber und Zinn, über das der Westen verfügtund das in den kommerziellen Systemen des Ostens als die Münze desMarktes, als Geld, benötigt wird. Sie hat es mit anderen Worten auf das

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Geld als Ware eigener Art abgesehen und fungiert als Geldbeschafferin

für die östlichen Märkte, indem sie das dort kommerziell erzielte Mehr-produkt gegen das im Westen vorhandene Edelmetall austauscht, und dasheißt: als Mehrwert realisiert, aber nicht, um es sogleich vor Ort gegen an-dere Produkte einzutauschen und diese mit dem Ziel einer Realisierungdes in ihnen steckenden mehrwertigen Werts auf die östlichen Märkte zuschaffen und dort zu verkaufen, nicht also, um der die Wertvermehrungim Osten bestätigenden Wertrealisierung im Westen eben dort einenneuen Wertvermehrungsakt folgen zu lassen, der wiederum nach seinerBestätigung mittels Wertrealisierung im Osten verlangt, sondern umvielmehr das Edelmetall selbst und mithin das in ihm seine materiale

Gestalt findende Geld als solches in den Osten zurückzubringen und auf die eine oder andere Weise in dessen kommerziellen Zusammenhangeinzuspeisen.

Mit dieser ihrer als veritabler Geldhandel firmierenden und aus demwirtschaftlich unentwickelten Westen in den wirtschaftlich hochentwic-kelten Osten verlaufenden Edelmetallzufuhr hilft die karthagische Han-delsniederlassung ein systematisches Problem lösen, vor das die östlichenMärkte der wachsende Umfang ihrer kommerziellen Aktivitäten unddas entsprechend zunehmende Wertvolumen der zirkulierenden Warenstellt: das Problem, für die auf dem Markt sich sammelnden Waren ein

ausreichendes allgemeines Äquivalent zu beschaffen, sprich, dafür zusorgen, dass die verfügbare Geldmenge im Einklang mit der in den Warenverkörperten steigenden Wertmenge bleibt. Mit jedem Austauschaktzwischen Marktrepräsentanten und Güterproduzenten vergrößert sich ja,da die ersteren den letzteren nur einen Teil des Werts ihrer Produkte inGeldform vergüten und den Rest als ihren Anteil, den Mehrwert, einbe-halten, die auf dem Markt in Produktform vorhandene Wertmenge, unddie Marktrepräsentanten müssen, um diesen vorhanden Produktwertals Wert zu realisieren, will heißen, zurück in die Geldform zu überfüh-ren, beim Verkauf der Waren mehr Geld eintreiben, als sie vorher für

den Kauf der Produkte ausgegeben haben. Sie können sich mit anderenWorten nicht damit begnügen, im einfachen Bäumchen-wechsel-dich dieProduzenten als Konsumenten in Anspruch zu nehmen und ihnen dieWaren, die sie ihnen vorher gegen Geld abgekauft haben, nun für dasgleiche Geld wieder zu verkaufen, vielmehr sind sie mit systematischer

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Unentrinnbarkeit gezwungen, zwecks vollständiger Realisierung des

Werts ihrer Waren nach weiteren, neuen Konsumenten Ausschau halten.In der Tat ist ja eben die Ausdehnung der östlichen Märkte ins westlicheMittelmeer, ist die Gründung von Karthago selbst als eines vorgescho- benen Stützpunkts und Außenpostens der handeltreibenden PhönizierAusdruck nicht zuletzt dieser systemeigenen und insofern logischenNotwendigkeit, für die geldförmige Realisierung des jeweiligen Wert-zuwachses in Warenform neue Konsumenten aufzutun und in das Aus-tauschsystem einzubeziehen. Vollzieht sich diese Einbeziehung nun aberin den Formen des vollentwickelten Warenaustauschverhältnisses und benutzen mit anderen Worten die Marktrepräsentanten jene neuen Kon-sumenten, kaum dass sie sie gefunden und als Wertrealisierer in Dienstgenommen haben, wiederum als Produzenten, denen sie für das Geld,das sie von ihnen bekommen haben, zu den marktüblichen, gewinn- bringenden Konditionen andere, neue Waren abkaufen, um diese mitzurück auf die Märkte im Osten zu nehmen und dort zwecks Realisierungdes in ihnen steckenden Gewinnes feilzubieten, so konterkarieren sie,systematisch betrachtet, die Entlastungsfunktion, die hinsichtlich derRealisierung des im Osten in Warenform akkumulierten Werts die westli-chen Konsumenten erfüllen, indem sie am Ende das östliche Marktsystemmit einer gemäß den lukrativen Einkäufen, die sie im Westen gemachthaben, sogar noch größeren und entsprechend schwerer zu realisierenden

Wertmenge in Warenform konfrontieren.Historisch-empirisch allerdings – um den eventuell erzeugten irre-

führenden Eindruck einer ökonomischen Bilderbuchkonstellation undquasimathematischen Modellhaftigkeit gleich wieder zu zerstreuen! –stellt sich die Situation auf den östlichen Märkten keineswegs so dra-matisch und nämlich durch jeden zusätzlichen, vollständigen Waren-austausch mit der Außenwelt tiefer ins ausweglose Dilemma gestürztdar, wie die rein systematisch-logische Betrachtung suggerieren möch-te. Schließlich sind die östlichen Märkte kein geschlossenes, zwischengütererzeugenden Produzenten und geldbesitzenden Handeltreiben-

den zirkulär sich verlaufendes System, sondern haben von Anfang anGruppen von Konsumenten im eigenen Haus oder jedenfalls auf derRechnung, die aus systemfremden Quellen, aus Bergwerken, Kriegsbeu-te, Tributen, über Edelmetall verfügen und deshalb als Abnehmer fürdas Mehrprodukt, das die Handeltreibenden auf kommerziellem Wege

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erwerben, zur Verfügung stehen. Diese Konsumentengruppen, die durch

ihr Edelmetall den im Mehrprodukt steckenden Mehrwert als solchenund nämlich in Geldform zu realisieren helfen und also durch Erfüllungder in der Wertakkumulation bestehenden Grundbedingung aller kom-merziellen Aktivität entscheidend zur Aufrechterhaltung und Entfaltungdes Marktsystems beitragen, sind im wesentlichen identisch mit denterritorialherrschaftlichen Führungsschichten, denen die kommerzielleFunktion, wie an früherer Stelle gezeigt, überhaupt ihr Entstehen ver-dankt und mit deren fronwirtschaftlich erzielten Produktionsüberschüs-sen nämlich die Handeltreibenden zuerst als bloße Kommissionäre unddann in zunehmendem Maße als eigenständige Zwischenhändler eine

ursprüngliche handelskapitale Akkumulation ins Werk setzen, in derenKonsequenz die kommerzielle Funktion im handeltreibenden Stadtstaatihre eigene, politisch unabhängige Heimstatt und mehr noch ihre ei-genen, in den als Handwerker und Bauern tätigen Bürgern der Stadt bestehenden Produktionsquellen gewinnt, sprich, sich als Marktsystem,als ein aus Produzenten für den Markt und Repräsentanten des Markteskomponierter Zusammenhang etabliert, in dem die ersteren zugleichals Konsumenten ihrer eigenen arbeitsteiligen Produkte fungieren, wäh-rend die letzteren die für solchen Wechsel zwischen Produzenten- undKonsumentenstatus vorausgesetzte Aufgabe übernehmen, die Produkte

vom Ort ihrer Produktion in die für ihre Konsumtion geeigneten Händegelangen, kurz, sie als Waren zirkulieren zu lassen.Wie die territorialherrschaftlichen Gruppen für die Entstehung und

Bildung des handelsstädtischen Marktsystems von ausschlaggebenderBedeutung sind und in der Tat durch ihre fronwirtschaftlich erzeugtenÜberschüsse eine existenzstiftend-geburtshelferische Funktion erfüllen,so spielen sie nun aber auch bei dessen Fortbestand und weiterer Ent-faltung eine zentrale und schlechterdings unverzichtbare Rolle. Weitentfernt davon, dass das städtische Marktsystem, nachdem es ins Le- ben getreten ist und sich als politisch eigenständiges Gebilde etabliert

hat, ein in splendid isolation funktionierendes geschlossenes System,einen autarken Organismus darstellte, bleibt es auf seine Geburtshelfer,die umgebenden Territorialherrschaften, bezogen und angewiesen undfindet in ihnen Austauschpartner, die für die Entwicklung und das Ge-deihen seiner eigenen, vornehmlich handwerklichen Produktionsquellen

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ebenso unentbehrlich wie dank der Arbeitsteilung zwischen städtisch-

handwerklicher und agrarisch-frondienstlicher Produktion, die sich imZuge des Austausches herstellt, und dank des mit dieser ArbeitsteilungHand in Hand gehenden Produktivitätsgefälles für die Mehrung seineskommerziell akkumulierten Reichtums von entscheidender Bedeutungsind.

Aber nicht nur für den qualitativen Bestand und die quantitative Ent-faltung des städtisch organisierten kommerziellen Systems sind und bleiben die territorialherrschaftlichen Handelspartner von zentraler Be-deutung, auch für die Befriedigung des Geldbedürfnisses des Systems,für seine Versorgung mit dem allgemeinen Wertäquivalent, das im Zugeder wachsenden Komplexität und Synthesisleistung des Systems immerstärker die Funktion des als synthetisches Konstitutiv wirksamen unddas heißt: alle Waren als seine Erscheinung, weil allen Warenwert alsseine Setzung bestimmenden Wertkörpers übernimmt und das in dieserneuen Eigenschaft der mit der Expansion des Marktes zunehmendenWertmenge in Warenform quantitativ immer neu angepasst werden muss– auch also für die Befriedigung des Bedürfnisses nach einer in Korre-spondenz zur Erweiterung des Marktes wachsenden Geldmenge sind die benachbarten Territorialherrschaften unentbehrlich. Teils aufgrund desProduktivitätsgefälles zwischen vornehmlich handwerklich-städtischerund hauptsächlich frondienstlich-agrarischer Produktion, das den städ-

tischen Handeltreibenden ermöglicht, ihre Produkte bei den territorialenHandelspartnern mit unverhältnismäßig hohem Gewinn loszuschlagen,teils dadurch, dass die territorialen Herrschaften vielfach als reine Konsu-menten, als Abnehmer von Waren ohne korrespondierende Anbieterfunk-tion, auftreten, erweist sich der Handel mit den territorialherrschaftlichenGebieten auch und nicht zuletzt als ein Goldesel- und Geldbeschaffungs-unternehmen, das dank der in den Händen der territorialen Herrschaftenin Form von Ärarien, Tempelschätzen und persönlichen Wertsachen an-gehäuften Edelmetallreserven dazu taugt, den expandierenden Marktim östlichen Mittelmeer mit dem jeweils erforderlichen Quantum an

allgemeinem Wertäquivalent zu versorgen.Das östliche Handelssystem verfügt also durchaus über hausgemachte,ihm die Expansion aus eigenen Stücken ermöglichende Geldquellen, undvon daher gesehen mag die kommerzielle Ausdehnung nach Westen un-mittelbar nur als Moment und Konsequenz der Expansion des östlichen

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Systems selbst erscheinen, das heißt, als eine territoriale Erweiterung und

materiale Vermehrung des Warenverkehrs, die bloß darauf zielt, neue undandere Befriedigungsmittel für neue und andere Bedürfnisse beizuschaf-fen, um so jene Geldquellen in territorialherrschaftlicher Hand besser an-zapfen zu können und stärker zum Fließen zu bringen.

Was indes, allen hauseigenen monetären Ressourcen des östlichenSystems zum Trotz, dem Handel mit dem westlichen Mittelmeer nebenseiner unzweifelhaften Rolle, die Warenpalette zu erweitern und denHandel im Osten zu beleben und an Volumen gewinnen zu lassen, vonAnfang an auch und ebenso sehr die Aufgabe einer für die hinläng-liche Ausstattung des östlichen Marktes mit allgemeinem Äquivalentunentbehrlichen Veranstaltung zur Realisierung des dort geschaffenen

Mehrwerts, sprich, eines für das Gedeihen und die Funktionsfähigkeitdes östlichen kommerziellen Systems wesentlichen Geldbeschaffungsun-ternehmens zuweist, ist eine Verknappung der hauseigenen monetärenRessourcen des Ostens, die ihren Grund weniger in deren faktischemBestand und quantitativem Umfang als vielmehr in ihrer systematischenVerteilung und relativen Verfügbarkeit hat. Nicht, dass zuwenig Edel-metall im östlichen System existiert und der expandierende Markt imZuge der Befriedigung seines Bedarfs an allgemeinem Äquivalent dievorhandenen Reserven erschöpft, sondern dass sich die vorhandenenReserven in den falschen Händen befinden und ihre soziale Verteilung

eine kontinuierliche, ungehinderte Inanspruchnahme durch den expan-dierenden Markt vereitelt, bildet mit anderen Worten das Problem. Sogewiss das dank Bergbau, Kriegsbeute und Tributen in in den Händender Territorialherren und ihrer Gefolgschaften versammelte Edelmetallden letzteren im Blick auf die Entstehung und Entwicklung des auf derGrundlage unabhängiger Handelsstädte organisierten kommerziellenSystems eine geburtshelferische Rolle und lebenserhaltende Funktionzuweist, so gewiss bedeutet doch aber die Tatsache, dass sich das Edel-metall in territorialherrschaftlicher Verfügungsgewalt befindet, eine nachMaßgabe der Entfaltung des Systems zunehmende Beeinträchtigung undBeschränkung dieser vom System benötigten maieutischen Leistung und

Entwicklungshilfe.Zu sehr nämlich ist das Edelmetall in territorialherrschaftlicher Hand

eingebunden in die fronwirtschaftlich-königsherrschaftliche Machtstruk-turen der territorialen Gesellschaften, ausgerichtet auf ihre theokratisch-opferkultlichen Legitimationsprozeduren und in Anspruch genommen

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von ihren hierarchisch-lebensartlichen Darstellungsformen, zu sehr ist

es mit anderen Worten präokkupiert durch repräsentative Symbolfunk-tionen, rituelle Verwendungsformen und Zwecke demonstrativen Kon-sums, als dass es jene freie Zugänglichkeit und umfassende Verfügbar-keit beweisen könnte, die der expandierende Markt von ihm erwartet.Geradeso, wie die auf die Konsumbedürfnisse der Oberschicht abge-stellte Beteiligung der theokratisch-fronwirtschaftlichen beziehungsweisehierarchisch-ständegesellschaftlichen Territorialstaaten am stadtstaatlichorganisierten Warenaustausch geknüpft bleibt an die einschränkendeBedingung einer quasi naturwüchsigen Überschussproduktion der Ter-ritorialherrschaften, unbeschadet aller Tendenzen der Territorialherren,im Interesse ihres Konsums die Überschussproduktion am Markt zu ori-entieren und der bloßen Naturwüchsigkeit zu entreißen, bleibt auch derterritorialstaatliche Beitrag zum Geldhandel abhängig von den Restriktio-nen, denen das Edelmetall in theokratischen oder ständehierarchischenHerrschaftssystemen unterliegt, das heißt, er bleibt konditioniert durchden nichtkommerziellen Gebrauch, der in jenen Systemen vom Edel-metall gemacht wird, beschränkt durch die quasi naturwüchsigen, weilhistorisch gewachsenen rituellen, repräsentativen und demonstrativenFunktionen, die es um den Preis seiner Aktualisierbarkeit als Geldstoff dort erfüllen muss.

Die herrschaftssystemspezifischen Restriktionen, denen der in den

Händen der territorialherrschaftlichen Führungsschichten konzentrierteGeldstoff unterliegt, die nicht sowohl quantitativen Knappheitstendenzenals vielmehr qualitativen Unverfügbarkeitsaspekte, die er hervorkehrt– sie also sind es, was dem stadtstaatlich organisierten kommerziellenSystem im Zuge seiner Entwicklung als ein nicht nur seine Dynamik läh-mendes, sondern mehr noch seine Funktionsfähigkeit in Frage stellendesHemmnis in die Quere kommt. Um den Hemmschuh zu beseitigen undden weniger empirisch-materiell als systematisch-strukturell bedingtenMangel an Geldstoff zu beheben, kann das kommerzielle System, wieder athenische Griff nach Thrakien und der Kampf um die Goldinsel

Thasos illustriert, danach streben, Lagerstätten des begehrten Edelme-talls unter seine direkte Kontrolle zu bringen und deren Ausbeute einerdurch keine territorialherrschaftlichen Ansprüche und Vorbehalte restrin-gierten Nutzung zugänglich zu machen. Indes sind solche nicht schonin territorialherrschaftlichem Besitz befindliche Lagerstätten rar, und

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ihre militärische Okkupation und politische Behauptung setzen außer-

dem eine einschneidende Reorientierung des handelsrepublikanischenGemeinwesens voraus, sprich, seine Hinwendung zu jener imperialenExpansions- und hegemonialen Machtstrategie, die nach den Perserkrie-gen die athenische Polis vollzieht.

Weniger einschneidend und zudem auch leichter gangbar und lang-fristig erfolgversprechender mutet demgegenüber der Versuch des kom-merziellen Systems an, seine Liquiditätsschwierigkeiten im Rahmen undmit Mitteln seines spezifischen kommerziellen Handlungsrepertoires zuüberwinden und nämlich durch Austauschprozesse zu bewältigen, diekeine kommerzielle Aktivität im ganzen Umfange, kein Warenaustausch-vorgang in voller Konsequenz sind, weil sie nicht auf eine möglichstlückenlose Verschränkung von Werterwerb und Wertrealisierung, nichtalso darauf zielen, in möglichst ununterbrochener Folge mehrwertigenWarenwert in die Geldform zu überführen, um dann die Geldform so-gleich wieder in neuen, mehrwertigen Warenwert zu verwandeln und mitdiesem zum Zwecke seiner Realisierung in Geldform zu den Erzeugerndes früheren Warenwerts zurückzukehren, sondern weil ihr maßgeblicherSinn und primärer Nutzen sich darauf beschränkt, nach der Überführungdes auf dem Markt versammelten mehrwertigen Warenwerts in die Geld-form stante pede auf den Markt zurückzukehren und mit dem realisiertenWert, dem Geld, die Erzeuger des früheren mehrwertigen Warenwerts

in die Lage zu versetzen, im gleichen oder größeren Umfang weiterenmehrwertigen Warenwert zu produzieren, kurz, sich darin erschöpft, dieim Verhältnis zum Quantum des mittlerweile vorhandenen Warenwertsfehlende Menge an allgemeinem Äquivalent herbeizuschaffen. Um denauf dem Markt eingetretenen relativen Mangel an Geld zu beheben, brau-chen dieser Strategie zufolge die Handeltreibenden Geschäftspartner, diesie nur als geldbesitzende Konsumenten, als wertrealisierende Abnehmerihrer Waren, nicht hingegen auch als werterzeugende Produzenten, alsden Erwerb von Mehrwert ermöglichende Lieferanten neuer Waren inAnspruch nehmen, das heißt, sie bemühen sich um Geschäfte, bei denen

sie darauf verzichten können, den vollen Ware-Geld-Ware-Zyklus zuabsolvieren, und von denen sie deshalb, statt mit neuen mehrwertigenWaren auf den Markt zurückzukehren, deren Realisierung die hauseigeneKnappheit an Wertrealisierungsmitteln, die die Handeltreibenden auf der Suche nach neuen Geschäftspartnern ja hinaustreibt, höchstens zu

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verschlimmern taugt, vielmehr nichts zurückbringen als eben das, woran

Mangel herrscht: Wertrealisierungsmittel, Geld.Und es sind genau diese im kommerziellen Rahmen entfalteten spezi-fischen Bemühungen um die Behebung des weniger empirisch-materiellals systematisch-strukturell bedingten Liquiditätsproblems im eigenenHaus des östlichen Marktzusammenhanges, für die sich nun in der Tatder Handel mit dem westlichen Mittelmeer als ideales Aktionsfeld an- bietet. Nur zu offenkundig entsprechen die dort siedelnden Gruppendem Profil eines geeigneten Geschäftspartners für jenen zwecks Beschaf-fung von Geldstoff unvollständig absolvierten Austauschzyklus. Nichtnur verfügen die das Gebiet bevölkernden Stämme und kleinen Ge-meinschaften dank verbreiteter und leicht abbaubarer Fundstätten überreichliche Mengen an Edelmetall, sie weisen außerdem auch dank ihrerökonomischen Rückständigkeit, sozialen Undifferenziertheit und politi-schen Zersplitterung Organisationsstrukturen auf, die das vorhandeneEdelmetall weit weniger in rituelle, repräsentative oder demonstrativeMachtkontexte einbinden und viel unmittelbarer und freier für kon-sumtive Zwecke verfügbar sein lassen als in den östlichen Theokratien beziehungsweise ständehierarchischen Gesellschaften. Und zu allemÜberfluss lässt sie ihre ökonomische Rückständigkeit den entwickeltenKonsumgütern und vielfältigen Bedürfnisbefriedigungsmitteln aus demOsten mit besonderer Faszination und förmlichem Heißhunger begegnen

und sorgt gleichzeitig dafür, dass sie gar nicht über die erforderlicheeigene Produktion für einen regulären Warenaustausch verfügen undals Äquivalent für die begehrten Güter aus dem Osten gar nicht vielmehr anzubieten haben als eben das Edelmetall, mit dem ihre natürlicheUmgebung sie versieht. Nimmt man noch hinzu, dass ihre ökonomischeUnbedarftheit und ihr politischer Partikularismus sie halbwegs in diePosition von Primitiven, von Stammeswilden, drängen, die eine breiteAngriffsfläche für ökonomische Übervorteilung und politische Manipula-tion bieten, so ist nicht weiter verwunderlich, dass die beiden wichtigstenhandeltreibenden Gruppen aus dem Osten, Griechen und Karthager, hier

ihr gefundenes Fressen wittern und auf der Jagd nach der MangelwareGeld kolonisierend und Handelsniederlassungen gründend ins westlicheMittelmeer, ins Eldorado der Antike, vordringen.

Dabei ist die Tatsache, dass die Karthager schließlich bei diesem Wett-lauf die Oberhand behalten und den Löwenanteil der Region unter ihre

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Kontrolle bringen, nicht sowohl dem zeitlichen Vorsprung, den sie da-

 bei haben, oder der strategisch ungemein günstigen Lage ihrer Stadtund seines Hafens gedankt als vielmehr ihrer stärker kommerziellenAusrichtung, mit anderen Worten der Tatsache, dass sie sich bei ihrerKolonisationstätigkeit weit weniger als die Griechen auf ein begleiten-des Stratum aristokratisch-bäuerlicher Landnehmer stützen, dass ihreGründungen keine einem Bündnis zwischen Markt und Oikos, zwischenHandel, Handwerk und Landbau entspringende Städte sind, sonderndass sie eine relativ reine Form von handwerksgestütztem Handelsunter-nehmen darstellen, dass ihre Niederlassungen Faktoreien bleiben, die sichdem jeweiligen Milieu, in dem sie sich etablieren, relativ fremdkörperhaftaufpfropfen und als wesentlich kommerzielle Standorte oder Stützpunktenicht ernsthaft Fuß in ihm fassen, keine nennenswerten agrarisch fundier-ten Wurzeln in ihm schlagen. In der direkten Konfrontation zwar, dort,wo die Konkurrenten einander ins Gehege kommen, in Sizilien, wirktsich diese der rückhaltloser kommerziellen Ausrichtung entsprechendegeringere Bodenhaftung des karthagischen Gemeinwesens, sein Verzichtauf die sozistrukturelle Zweibeinigkeit der griechischen Siedlungen, eherzum Nachteil Karthagos aus; das heißt, sie verschafft den griechischenStädten in der umkämpften Region leichte militärisch-strategische Vortei-le, die ihnen ermöglichen, den karthagischen Einfluß zurückzudrängenund auf den westlichen Teil Siziliens beziehungsweise auf das unwirtliche

Landesinnere zu beschränken.Eben das aber, was sie militärisch-strategisch ins Hintertreffen bringt,

ihre durch die Konzentration auf den Handel bedingte geringere loka-le Verankerung und Standfestigkeit oder, positiv ausgedrückt, größereBeweglichkeit und Flexibilität, erlaubt den Karthagern nun, aus ihrerrelativen Unterlegenheit und defensiven Stellung in Sizilien Kapital zuschlagen und nämlich die offensive Konsequenz eines raschen und man-gels ernstzunehmender Konkurrenz unaufhaltsamen Ausgreifens nachWesten zu ziehen. Weil das karthagische Gemeinwesen bei seiner Aus- breitung nach Unteritalien und Sizilien auf die schwer überwindlichen

Schranken der griechischen Konkurrenz stößt, vollzieht es mit der Leich-tigkeit seiner relativ rein kommerziellen Lebensweise, seines Denkensin raumübergreifenden Beziehungen und zwischen fremden Gemein-schaften geknüpften Verbindungen, eine Umorientierung und schweift– anders als die griechischen Gemeinden, die nach der anfänglichen,

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vom Mutterland ausgehenden und im Extremfall bis zur Rhonemün-

dung reichenden Kolonisation höchstens noch in der näheren Umge- bung der entstandenen Siedlungen Tochterkolonien gründen – weit nachWesten aus, etabliert sich auf den übrigen Inseln, entlang der gesam-ten nordafrikanischen Küste und in Spanien und errichtet ein Netz vonHandelsstützpunkten und Häfen, durch die es sich die Kontrolle überdie Gewässer und Küsten fast des ganzen, westlich von Sardinien undKorsika gelegenen Mittelmeerabschnittes sichert.

Und indem sich Karthago so im äußersten Westen als führende kom-merzielle Macht in Szene setzt und quasi ein Handelsmonopol erringt,sichert es sich zugleich den Zugang zu dem Edelmetall, über das der Wes-ten reichlich verfügt und das die dort lebenden unterentwickelten Stäm-me und Gemeinschaften bereitwillig nutzen, um trotz aller ökonomischenRückständigkeit ein dem Entwicklungsstand im Osten halbwegs entspre-chendes Konsumniveau zu erreichen, während die östlichen Märkte esdringend brauchen, um über ein der Wertmenge in Warenform, die sichauf ihnen sammelt, entsprechendes und deren Wachstum immer wiederanzupassendes Quantum an allgemeinem Äquivalent zu verfügen. Mitanderen Worten, die Karthager werden dank ihres Handelsmonopols imWesten zu Hauptagenten jenes mit Hilfe auswärtiger Konsumenten absol-vierten verkürzten Austauschzyklus, auf den das östliche kommerzielleSystem angewiesen ist, will es die weniger aus empirisch-materiellenals aus strukturell-systematischen Gründen stockende Wertrealisierungmit dem florierenden Werterwerb zur Deckung bringen, die vorhandene,die Ansprüche der Produzenten auf Konsumtion, auf den Verzehr derWaren, repräsentierende Geldmenge mit der wachsenden, den Anspruchdes Marktes auf Akkumulation, auf Mehrprodukt, verkörpernden Wa-renmenge Schritt halten lassen – kurz, sie werden im Kontext eines dankihrer Aktivitäten den ganzen Mittelmeerraum umfassenden kommerziel-len Systems zu Geldbeschaffern, Geldhändlern vom Dienst.

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So sehr die Söldner Leistungen erbringen, die einen konstitutiv existenziellen,

systemerhaltenden Faktor darstellen, so sehr wird, weil es sich dabei um keinen positiv materiellen Beitrag zum Markt handelt, weil also, rein ökonomischebetrachtet, die Söldner nichts als Konsumenten sind, die Vergütung für diesoldatischen Leistungen als Tribut, als ein Opfer erfahren. Solange die mili-tärischen Ausgaben die Gewinne des Handelssystems nur schmälern, nichtin Frage stellen, wird das Opfer hingenommen. In dem Maße aber, wie die

 Militärausgaben den kommerziellen Wertzuwachs aufzufressen drohen, wächstdie Neigung, das Söldnerheer zur nichtkommerziellen Reichtumsbeschaffung zunutzen und selber für seinen Unterhalt Sorge tragen zu lassen. In diesem Punktähnelt die Entwicklung der karthagischen Handelsstadt der Entwicklung Athenszur ägäisch-peloponnesischen Hegemonialmacht.

Und dieses Geld nun, das die Karthager quasi im Auftrage des Os-tens im Westen erhandeln und das durch ihre Hände auf die nach ihmdürstenden östlichen Märkte gelangt: es macht sie nicht nur reich, weiles ihnen ermöglicht, bei jedem Warenkauf im Osten sei’s direkt, durchden Produzenten in Rechnung gestellte Handelsspannen, sei’s indirekt,durch Beteiligung an den Handelsspannen der östlichen Handeltreiben-den, Werterwerb zu betreiben, der sich dann bei den Konsumenten imWesten in klingender Münze realisieren lässt – es erlaubt ihnen auch undmehr noch die Lösung des militärisch-strategischen Problems, vor das

die ihnen die Rolle von Geldlieferanten für den Osten bescherende unddadurch zu Reichtum verhelfende Ausdehnung nach Westen sie stellt. Jene militärische Wehrhaftigkeit und Schlagkraft, die ihr ausgedehntesHandelsimperium von den Karthagern erheischt und die sie aus eigenerKraft, aus den beschränkten Ressourcen ihrer im wesentlichen auf kom-merzielle und handwerkliche Tätigkeiten ausgerichteten Bevölkerungnicht aufzubringen vermögen – sie lässt sich mittels des Geldes ohneMühe besorgen: in Gestalt nämlich von bezahlten Kriegshandwerkern, besoldeten Fachleuten fürs Militärische, kurz, Soldaten, die als Gegenleis-tung für den Sold, den sie empfangen, die zur Erhaltung des Imperiums

nötigen Angriffs- und Verteidigungsfunktionen erfüllen. Was die Naturihrer Gründungs- und Kolonisationsgeschichte der Handelsstadt versagthat, wehrhafte bäuerlich-aristokratische Gruppen, die um der generellenkonsumtiven Vorteile und der speziellen Beuteaussichten willen für dasGemeinwesen ins Feld ziehen, das verschafft ihr kompensatorisch das

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Geld, indem sie es als Sold gebraucht, es, statt es in die östlichen Märkte

nutzbringend einzuspeisen und nämlich für den Kauf produktiver Leis-tungen in Gestalt neuer Waren zu verwenden, vielmehr anderen Gruppenzuwendet und nämlich für den Erwerb der nichtproduktiven, aber den-noch beileibe nicht unnützen und für den Erhalt des Imperiums in der Tatunabdingbaren Leistungen gemieteter Kriegshandwerker opfert.

Dabei soll der mit der Rede von nutzbringender Verwendung einerseitsund Zum-Opfer-bringen andererseits suggerierte schroffe Gegensatz imGebrauch des Geldes mitnichten den Eindruck vermitteln, als sei daseine und das andere, der für den Kauf von Waren gezahlte Preis undder für den Kauf von Soldaten gezahlte Sold, etwas toto coelo Verschie-denes und als handele es sich bei den Soldzahlungen um eine völligeAbweichung vom kommerziellen Tugendpfad der Einspeisung von Wert-mitteln, allgemeinem Äquivalent in den Markt, als übten mit anderenWorten die Karthager, wenn sie ihr Geld benutzen, sich Truppen zu mie-ten, regelrecht Verrat an der ihnen im kommerziellen System zufallendenAufgabe der Geldbeschaffung für die östlichen Märkte. Ihr Geldbeschaf-fungsgeschäft verrichten sie vielmehr so oder so – egal, ob sie das imWesten erhandelte Edelmetall für den Kauf neuer Waren oder für dieBesoldung von Soldaten ausgeben. Schließlich tragen die Söldner ihrals Sold empfangenes Geld zu Markte, um sich Subsistenzmittel undKonsumgüter dafür zu kaufen, und speisen es somit in das kommerzielle

System ein. Der Unterschied ist einzig und allein, dass es in diesem Fallenicht nutzbringend eingespeist, dass es nicht dazu verwendet wird, Pro-duzenten gegen ein Wertäquivalent, bei dem der Anteil des Marktes, dieHandelsspanne, in Abschlag gebracht ist, Waren abzukaufen, um diesedann zum vollen Wert weiterzuverkaufen und mit dem dergestalt ver-mehrten Wertäquivalent neue Waren einzukaufen, sondern dass es denHandeltreibenden nur dazu dient, bereits vorhandene, in ihren Händen befindliche Waren den mit ihm besoldeten Kriegshandwerkern zukom-men zu lassen und diese nämlich in die Lage zu versetzen, mit ihm alsvollem Wertäquivalent jene von ihnen als Bedürfnisbefriedigungsmittel

 benötigten Waren auf dem Markte einzutauschen.Die von der Handelsstadt dotierten Söldner speisen also mittels ihrerKonsumtätigkeit das empfangende Geld sehr wohl in den Zirkulati-onszusammenhang des Marktes ein und entsprechen, so gesehen, demfür die Erhaltung des Marktes grundlegenden Erfordernis, die auf dem

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Markte fehlenden und durch den Handel mit systemfremden Konsumen-

ten beschafften Wertmittel zur Wiederherstellung eines Gleichgewichtszwischen allgemeinem Äquivalent und Warenkontingent, zwischen dervorhandenen Geldmenge und der in Warenform akkumulierten Wert-menge zu verwenden, aber sie tun das, ohne der normalerweise vonden Handeltreibenden erhobenen und mit dem Geld quasi automatischverknüpften Forderung nach einem der konsumtiven Wertrealisierung,die das Gleichgewicht herstellt, korrespondierenden produktiven Wertzu-wachs, der es gleich wieder aufhebt, zu genügen, ohne dass also die durchAnpassung des Geldmenge an die Menge des Warenwerts sichergestellteErhaltung des Marktes mit einer im Anpassungsakt beschlossenen neu-erlichen relativen Vergrößerung der Wertmenge in Warenform, kurz, miteiner weiteren Entfaltung des Marktes einherginge. Mit anderen Wor-ten, die mit dem Geld aus den Handelsgeschäften im Westen dotiertenSöldner treten nur in der Eigenschaft von Konsumenten, nicht auch inder normalerweise mit dem Konsumentenstatus janusköpfig verknüpftenFunktion von Produzenten auf, liefern nicht uno actu des Anspruchs auf ein Quantum Warenwert, den sie kraft des empfangenen Geldes erheben,neuen vermehrten Warenwert, mit dem sie den Empfang des Geldesvergelten.

Nicht, dass sie überhaupt nichts lieferten, nicht als Gegenleistung fürden empfangenen Sold eine im Kriegsdienst bestehende Arbeit verrich-

teten, die sich, gemessen an der für sie verausgabten Lebenskraft undaufgewendeten Lebenszeit, den materiellen oder strukturellen Leistungender anderen, direkt oder indirekt an der Warenproduktion beteiligtenKonsumenten durchaus vergleichen lässt. Nur schlägt diese Leistungnicht auf der Habenseite des Marktes selbst zu Buche, ist keinerlei Beitragzu dem qua Markt entfalteten System der mittels Produktion, Zirkulationund Distribution organisierten Versorgung des Sozialcorpus mit Subsis-tenzmitteln, sondern hat ausschließlich Relevanz für das Sein des Systemsselbst, beschränkt sich darauf, zur Erhaltung der Marktinstitution alssolcher beizutragen. Und weil nun aber die Gegenleistung der Söldner

nicht als positiv materieller oder struktureller Beitrag zum Markt zuBuche schlägt, weil sie bloß die Funktion eines konstitutiv existentiel-len, systemerhaltenden Faktors erfüllt, geht der Sold, der für sie bezahltwird, nolens volens zu Lasten des Systems selbst und laufen nämlich dieAnsprüche auf Leistungen des Marktes, die dieser Sold verkörpert, auf 

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eine Teilhabe an den materiellen und strukturellen Beiträgen der anderen,

zugleich als Produzenten dem Markt zuarbeitenden Konsumenten hinaus– genauer gesagt, sie beziehen sich, da ja die anderen, als Produzentenfür den Markt tätigen Konsumenten den Teil ihrer Beiträge zum Markt,auf den der dafür erhaltene Lohn ihnen einen Anspruch verleiht, mitBeschlag belegen und konsumieren, auf jenen als Mehrwert geschaffenenTeil der Beiträge, den der Markt als seinen Anteil, seinen Gewinn amAustauschgeschäft mit den anderen, den Produzenten, akquiriert undden er, um ihn seiner Warenhülle zu entkleiden und als Wert zu reali-sieren, an Konsumenten verkaufen muss, die nicht zur Schar der demMarkt zuarbeitenden und von ihm für ihre Beiträge Geldlohn empfan-genden Produzenten gehören, die vielmehr ihr Geld aus fremden, vonder Geldmenge, die als allgemeines Äquivalent auf dem Markt zirkuliert,unterschiedenen Quellen schöpfen.

Die Rolle dieser Konsumenten, die nicht zugleich Produzenten sind,aber über Geld aus anderen Quellen verfügen und deshalb die Realisie-rung des im Mehrprodukt der Produzenten, im Warenanteil des Marktes,steckenden Mehrwerts übernehmen können, spielen also die Söldner;nur, dass das Geld, über das sie verfügen, ja nicht aus fremden Quel-len, sondern vom Markt selbst stammt, eben der Sold ist, den ihnen dieBetreiberin des Marktes, die Handelsstadt, für ihre soldatische Tätig-keit zahlt. Dieses Geld hat der Markt, haben seine Repräsentanten, die

karthagischen Handeltreibenden, zuvor bei Konsumenten im Westenim Austausch gegen Waren aus dem Osten beschafft; aber statt es nunin neue Waren aus dem Osten investieren und das heißt, darauf sehenzu können, dass es, wie einerseits zur nötigen Anpassung der auf denöstlichen Märkten zirkulierenden Menge allgemeinen Äquivalents andie in Warenform vorhandene Wertmenge, so andererseits aber gleichauch wieder zur Vermehrung eben jener in Warenform vorhandenenWertmenge genutzt wird – statt also zusehen zu können, dass das Geldder aus der kommerziellen Perspektive mit ihm verknüpften simultanenAufgabe oder janusköpfigen Funktion von Wertrealisierung und Wert-

erwerb gerecht wird, müssen sie, die karthagischen Handeltreibenden,zulassen oder besser eigenhändig dafür sorgen, dass es in die Händevon Gruppen gelangt, die dafür keinerlei produktiv-materiellen oderzirkulativ-strukturellen Beitrag zu der qua Markt vorhandenen Waren-sammlung leisten, sondern nichts weiter damit anfangen, als sich aus

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der vorhandenen Warensammlung zu bedienen und an ihr schadlos

zu halten, und die also, weil sie sich ja nolens volens nur an dem Teilder vorhandenen Warensammlung schadlos zu halten vermögen, denderen Produzenten mit dem ihnen als Entgelt für ihre Arbeitsleistunggezahlten Geld nicht in Anspruch nehmen können und der vielmehr denHandeltreibenden als ihr Gewinn, ihr Anteil verbleibt, kompensationslosaufzehren und als kostspielige Kostgänger verbrauchen, was die Handel-treibenden per Marktmechanismus akkumulieren und um dessentwillensie das Geschäft des Marktes überhaupt nur betreiben.

So betrachtet, lässt sich durchaus von einem Opfer sprechen, das dieHandelsrepublik um ihrer politisch-militärischen Selbstbehauptung wil-len bringen, von einem Tribut, den sie in Form des an ihre Mietstruppengezahlten Soldes entrichten muss. Sosehr es für sie naheliegt, zur Be-wältigung der mit ihrer Expansion entstehenden militärisch-politischenAufgaben den spezifischen Reichtum, den sie im Handel mit dem Westenakkumuliert, zu nutzen, und sosehr die Beschaffenheit dieses Reichtums,seine Geldform, die Form der Aufgabenlösung, die Schaffung einer ausSöldnern, aus Kriegshandwerkern, die Geldlohn empfangen, bestehen-den Streitmacht prädisponiert, sosehr empfindet sie es doch als Ärgernis,dass sie ihr gutes Geld für solch unproduktiven Zweck ausgeben, das Ka-pital, mit dem sie wuchern, mehr Kapital in Warenform anhäufen könnte, bloß für die Realisierung bereits angehäuften Kapitals, seine Überführung

in die Geldform verschwenden muss, sosehr bleibt es mit anderen Wortenaus ihrer Sicht ein Stein des Anstoßes, dass sie zwecks Erhaltung ihresMarktes und der Bereicherungschancen oder Akkumulationsraten, dieer bietet, auf einen Teil dieser Bereicherungschancen verzichten, bei denAkkumulationsraten Abstriche machen müssen. Mag der finanzielle Auf-wand für das Söldnerheer politisch-militärisch noch so zwingend gebotensein – ökonomisch-kalkulatorisch betrachtet, widerstreitet er nicht nurprinzipiell der Funktion des Geldes, das als allgemeines Äquivalent derauf dem Markt versammelten Werte unfehlbar den Mehrwertanspruchdieser Werte vertritt, er bedeutet auch ganz reell eine Beeinträchtigung

des Wachstums und Gedeihens eben der kommerziellen Institution, umderen Bestehen und Wohlergehen willen die Republik ihn doch geradetreibt.

Solange sich diese Beeinträchtigung des kommerziellen Wachstums,mit der die Handelsrepublik die Sicherung ihrer Existenz erkauft, in

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Grenzen hält, solange mit anderen Worten der finanzielle Aufwand für

das Söldnerheer den Wertzuwachs aus den kommerziellen Transaktio-nen nicht übersteigt, die Handelsgewinne, die mit dem nicht als Soldverwendeten Geld die Republik auf den östlichen Märkten erzielt, nichtaufzehrt, sondern vielmehr noch Raum lässt für eine wenn auch ge-schmälerte Akkumulation, mag das schließliche Ergebnis den Tributnoch zu verlohnen, der Gewinn das Opfer noch wert scheinen. Je weiterindes Karthago seine Expansion vorantreibt, um so prekärer wird dieBilanz zwischen den kommerziellen Bereicherungsmöglichkeiten, diesich der Handelsstadt durch neuerschlossene Gebiete eröffnen, und demmilitärischen Aufwand, den sie treiben muss, um diese Gebiete ihremHandelssystem einzugliedern und ihre Präsenz vor Ort strategisch undlogistisch abzusichern. Je größer die Entfernungen zu den Grenzregio-nen werden und je mehr der Umfang des kontrollierten Gesamtgebietswächst, um so stärker tendieren tatsächlich die Aufwendungen für denMilitärapparat, die Ausgaben für die Einrichtung von Stützpunkten undGrenzbefestigungen, für den Bau und die Ausrüstung von Kriegsschiffen,für die Ausstattung des Waffenarsenals, aus dem Ruder zu laufen undsich über die für das handelsstädtische Gesamtunternehmen konstitutiveRücksicht auf kommerzielle Rentabilität hinwegzusetzen.

Und je mehr aber die Gefahr wächst, dass die Militärausgaben den mit-tels Handelskapital erzielten Wertzuwachs auffressen und am Kapital als

solchem zu zehren beginnen, um so größer wird nun die Versuchung undum so unwiderstehlicher in der Tat der Zwang, auf die nur uneigentlichso zu nennende Produktivkraft, die besondere Kapazität zur Beschaffungvon Reichtum zurückzugreifen, die im Söldnerheer selbst steckt, undalso die besoldete Streitmacht mit den ihr eigenen, kriegshandwerklichenMitteln exaktiver Gewalt und expropriativer Besitzergreifung für dieKompensation der durch sie verursachten Unkosten, die Reparation desfür sie aufgewendeten Soldes sorgen zu lassen. Ganz ähnlich wie die grie-chische Polis gelangt so auch die karthagische Republik schließlich dazu,die Flotte und das Heer, die sie sich aus militärisch-strategischen Gründen

zugelegt hat, für ökonomisch-ärarische Zwecke einzusetzen und nämlichzu benutzen, um auf anderem als kommerziellem Wege Reichtum zu beschaffen und Ersatz für die Unkosten zu leisten, die mit der kommerzi-ellen Entwicklung und Ausbreitung des Gemeinwesens verknüpft sind.Allerdings sind nach ihrer Herkunft und Bestimmung diese Unkosten in

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den beiden Fällen höchst verschieden: Bei der Polis Athen sind sie eher

eine interne Affäre und primär in der Notwendigkeit begründet, die deninneren Frieden bedrohende Armut zu bekämpfen, in die sich Teile derPolisbevölkerung durch den Expansions- und Akkumulationsprozess derkommerziellen Funktion und der ihr zuarbeitenden Gewerbe gestürzt fin-den; während im Falle der karthagischen Republik die Unkosten eher einexternes Phänomen bilden und sich dem Zwang zur Bewältigung der dieäußere Stabilität in Frage stellenden strategischen, organisatorischen undlogistischen Probleme verdanken, mit denen eben jener Expansions- undAkkumulationsprozess der kommerziellen Funktion das Gemeinwesenkonfrontiert.

In der auf einer Kombination aus bäuerlich-aristokratischen und hand-werklich-kommerziellen Gruppen basierenden griechischen Republiksind mit anderen Worten die in Form von Rüstungsausgaben und Sold-zahlungen entstehenden und zu Lasten der kommerziellen Funktiongehenden Unkosten Resultat der negativen Auswirkungen auf die Sozi-alstruktur, die das expansive Tun und akkumulative Treiben der kom-merziellen Funktion hat; dass die Unkosten die Form von militärischenAufwendungen annehmen, ist dabei weniger der systematischen Konse-quenz der kommerziellen Expansion selbst, als dem historischen Zufalleiner auswärtigen Aggression geschuldet. Als die persische Bedrohunggebannt ist, hat sich aus militärpolitischer Sicht diese Form von Auf-

wendungen eigentlich erledigt und könnte wieder abgeschafft werden;sozialpolitisch betrachtet indes hat sie sich bewährt und dringt auf Bei- behaltung. Beibehalten werden aber soll das als Streitmacht installiertesozialpolitische Instrument nach Möglichkeit nicht auf Kosten der kom-merziellen Funktion; es liegt in der innersten Logik des auf eine hoheAkkumulationsrate und niedrige Betriebskosten, kurz auf eine Maxi-mierung des Profits, abgestellten Marktsystems, die Unkosten für seinFunktionieren, soweit irgend gangbar, auf andere als die Repräsentan-ten der kommerziellen Funktion abzuwälzen, und dies um so mehr, alsim Falle der griechischen Polis die Unkosten ja nicht einmal in einem

positiven und direkten, betriebsfunktionellen Zusammenhang mit demkommerziellen Treiben stehen, sondern sich bloß aus den negativen undindirekten, sozialstrukturellen Folgen jenes Treibens ergeben.

Und hier bietet sich denn als geeignetes Instrument für das Abwälzender Unkosten, die das qua Streitmacht ins Leben gerufene sozialpolitische

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Instrument macht, eben es selbst, die Streitmacht an: Sie soll mit dem ihr

eigenen Wirkmechanismus, nämlich mit Gewalt oder der Androhung vonGewalt, aus anderen herauspressen, was sonst ihr eigenes Gemeinwesenfür sie aufbringen müsste, soll sich ihren Unterhalt, der ineins sie alssozialpolitisches Instrument und als Instrument und als Selbsterhaltungs-instrument unterhält, von anderen bezahlen lassen. Als diese anderenaber bieten sich nach Maßgabe der geographischen Lage, strategischenAusrichtung und ökonomischen Einbettung der Polis Athen zuerst undvor allem die dem ägäischen System zugehörigen Handelsstädte undInselrepubliken an. Der unter dem Vorwand einer fortdauernden mili-tärischen Bedrohung der Ägäis geschlossene und von der überlegenenathenischen Streitmacht beherrschte Attisch-Delische Seebund ist derinstitutionelle Rahmen, in dem Athen die Bundesgenossen zur Kasse bittet und aus ihnen herauspresst, was es für die Aufrechterhaltung,sprich, für den Unterhalt seiner überlegenen Streitmacht und des in dieserimplizierten sozialpolitischen Instruments benötigt.

Systematisch gesehen, und das heißt, aus der Perspektive des gesamtenägäischen Handelssystems betrachtet, bleibt allerdings diese durch dieUmfunktionierung der Streitmacht in einen Reichtumsbeschaffungsappa-rat erreichte Entlastung der kommerziellen Funktion von den Kosten fürsie und Abwälzung dieser Kosten auf andere eine Spiegelfechterei. Wenndie bundesgenossenschaftlichen Handelsstädte unter dem Druck und

Diktat der überlegenen athenischen Streitmacht die Zeche für eben diese,von der athenischen Polis bei Gelegenheit der persischen Aggression alssozialpolitisches Instrument installierte Streitmacht zahlen, dann ist es,aufs Ganze gesehen, nach wie vor die kommerzielle Funktion, die dieRechnung begleichen muss; nur hat sie sich quasi aufgespalten, in diekommerzielle Funktion der Polis Athen und in die des übrigen Handels-systems auseinanderdividiert und kann so eine als Aneignung fremdenReichtums erscheinende Selbstausbeutung betreiben. Das zum Hegemonund Wasserkopf mutierte dynamischen Zentrum des Handelssystemsschröpft seine Handelspartner und finanziert mit deren Tribut seinen

internen Sozialausgleich; aber aller Aufspaltung und verfremdendenPerspektive zum Trotz bleiben die Handelspartner doch mit dem He-gemon systematisch verknüpft, bleiben tragende Säulen seines eigenenWohlstandes, und indem er sie tributär ausbeutet, finanziell entkräftet,unterminiert der Hegemon seine eigene Stärke und Stellung und erhält

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im Peloponnesischen Krieg die Quittung für seinen untauglichen Ver-

such, sich die Aufwendungen für sein ihn, den Kopf des Organismus, betreffendes Sanierungsprogramm aus den eigenen Rippen der zumFremdcorpus deklarierten übrigen Organe zu schneiden.

In der karthagischen Republik ist die Streitmacht nicht wie in der griechischenPolis sozialpolitisch motiviert, sondern rein vom positiven Interesse an der kom-merziellen Expansion diktiert. Dennoch empfindet auch die karthagische Re-

 publik die militärischen Unkosten als Belastung und sucht sie anderen aufzu-bürden. Die Umfunktionierung der Streitmacht in ein Instrument zur aktivenReichtumsbeschaffung, die in der unter staatlicher Kontrolle betriebenen Aus-

beutung von Bodenschätzen und Bewirtschaftung von Frongütern resultiert,verschiebt das Machtverhältnis zwischen den Vertretern der Handelsfunktionund den militärischen Befehlshabern zugunsten der letzteren. Dass es nichtzu einer Machtübernahme durch die Heerführer kommt, ist einmal mehr derrelativen sozialen Konfliktfreiheit geschuldet, die das karthagische Gemeinwesenim Unterschied zur athenischen Polis und zur Römischen Republik auszeichnet.

Anders als in der athenischen Polis bringt in der karthagischen Re-publik die Entfaltung der kommerziellen Funktion die Sozialstrukturnicht oder jedenfalls wesentlich weniger in Unordnung und lässt des-

halb auch eine als sozialpolitisches Instrument, als Brotgeber für diestädtischen Armen, funktionierende Streitmacht nicht oder jedenfallsnicht zwingend erforderlich werden. Als eine den ländlich-agrarischenRegionen, in denen sie sich niederlässt, abstrakt aufgesetzte, unvermitteltoktroyierte, relativ homogene Gemeinschaft aus Handeltreibenden undHandwerkern, verfügt die karthagische Republik über keine bäuerlichenSchichten, die verarmen und zur zentralen Belastung für den sozialenFrieden in der Stadt werden könnten. Wie die Führungsschicht keineökonomisch anders fundierte und mit den Handeltreibenden bloß pak-tierende Aristokratie, sondern eben nur die als Patriziat sich etablierende

Gruppe der Handeltreibenden selbst ist, so gleicht auch die Bürgerschaftnicht dem für die Polis charakteristischen, aus bäuerlicher Mittelschichtund handwerklicher Unterschicht zusammengesetzten, zwieschlächtigenGebilde, das die elektrisierende Kraft der kommerziellen Funktion einemKatalyseprozess unterwirft, an dessen Ende beide Schichten zur neuen

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sprengkräftigen Konstellation aus vielen Armen und wenigen Reichen

sortiert erscheinen.Wenn es zu Verarmungsphänomenen kommt, dann im weiteren Um-feld der Handelskolonie, wo die nicht zur Bürgerschaft zählende einhei-mische Bevölkerung einerseits als Zulieferer landwirtschaftlicher Produk-te in ökonomische Abhängigkeit von der Stadt gerät und andererseitsdurch billige Lebensmittelimporte, für die der Seehandel sorgt, unterPreisdruck gesetzt wird, und an den Rändern der Kolonie, wo sich Ab-wanderer aus dieser verarmenden Landbevölkerung und Zuzügler ausden benachbarten Territorien auf der Suche nach Arbeit und Brot nie-derlassen und durch die Konkurrenz, die sie sich auf dem städtischenArbeitsmarkt gegenseitig machen, ein ad libitum ausbeutbares Fremd-arbeiterheer bilden. Da diese durch die Handelsstadt evozierten Armenkeinen Bürgerstatus besitzen und in einer ganz marginalen Stellung zurStadt situiert sind, braucht sich das Gemeinwesen in keiner Weise verant-wortlich für sie zu fühlen und kann auf jene sozialpolitischen Maßnamen,zu denen sich unter gleichen oder ähnlichen Umständen die athenischePolis gedrängt sieht, verzichten; solange die Fremden ordnungspoli-tisch unter Kontrolle zu halten sind und nicht durch ihre schiere Zahlund Bedürftigkeit zur Bedrohung des Stadtfriedens werden, kann nichtsdie Bürgerschaft davon abhalten, rücksichts- und gewissenlos von ihrerwohlfeilen Arbeit zu profitieren beziehungsweise ihnen gegebenenfalls

andere für das Wohlergehen des Gemeinwesens nötige Leistungen ab-zuverlangen. Eine solche andere Leistung aber ist der Söldnerdienst,für den die Expansion der kommerziellen Funktion nicht etwa indirektund negativ, durch innerstädtische sozialstrukturelle Konsequenzen, son-dern direkt und positiv, durch imperiumsspezifische militärstrategischeImplikationen, Bedarf schafft.

Anders als bei der griechischen Polis erweist sich bei der karthagi-schen Republik der militärische Faktor bald schon als integrierendesMoment der kommerziellen Expansion selbst. Die athenische Polis hates bei ihrer kommerziellen Entfaltung teils mit ihresgleichen, nämlich

mit den übrigen im ägäischen System einbegriffenen griechischen Han-delsstädten, teils mit starken, gut organisierten Territorialherrschaften zutun. In der einen wie in der anderen Hinsicht kann sie mit militärischerUnterstützung von Haus aus wenig anfangen. Auf die zum beiderseitigenVorteil unterhaltenen Austauschbeziehungen mit ihresgleichen kann sich

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militärische Gewalt im Normalfall nur nachteilig auswirken, während bei

den territorialstaatlichen Handelspartnern die Polis mit militärischen Mit-teln ohnehin nichts ausrichten kann, weshalb sie ebenso sehr auf derenInteresse an friedlichen und stabilen Austauschbeziehungen angewiesenwie in ihren Expansionsmöglichkeiten auf die peripheren Kontaktstellen beschränkt bleibt, die ihr jene auf ihrem Territorium jeweils einräumen.Die karthagische Republik hingegen steht teils in von kriegerischer Feind-seligkeit geprägter Konkurrenz mit den handeltreibenden griechischenKolonien vor ihrer Haustür, teils stößt sie, da sie sich dieser Konkurrenz,mit der sie mehr schlecht als recht zurande kommt, in Richtung Wes-ten entzieht, in Gebiete vor, die ihr zwar dank des geringen politischen

Organisationsgrades der sie besiedelnden Völkerschaften eine relativungehinderte Expansion erlauben und ihr ermöglichen, sich mit Hilfevon Koloniegründungen und Handelsstützpunkten in vergleichswei-se kurzer Zeit ein ansehnliches Küstenreich zu schaffen, die sie aberauch durch ihre geographische Weitläufigkeit, ihre politisch-ökonomischeZusammenhanglosigkeit und ihre ethnisch-kulturelle Vielfalt vor die besagten strategischen, ordnungspolitischen und logistischen Problemestellen – zumal die ihr Küstenreich umlagernden Volksgruppen, mitdenen sie Handel treibt, zwar dank ihrer ökonomischen Partikularitätund ökonomischen Rückständigkeit einerseits als Gegenmacht wenig

zu fürchten und als Handelspartner leicht zu handhaben, andererseitsaber auch zu unkontrollierten Übergriffen und räuberischen Überfällengeneigt und als Vertragspartner wenig vertrauenswürdig sind.

Während sich also die athenische Polis, den Zufall der äußeren Bedro-hung nutzend, aus wesentlich sozialpolitischen Gründen, die indirekteKonsequenz der kommerziellen Expansion sind, eine Streitmacht zulegt,tut dies die karthagische Republik direkt aus dem Grund und im posi-tiven Interesse der kommerziellen Expansion selbst; und die Rekrutenfür diese Streitmacht, die Kriegshandwerker, die sie gegen Sold anwirbt, bezieht sie aus jenem das Gemeinwesen umlagernden Fundus von Ar-

men und Deklassierten, der hier wie dort Produkt der kommerziellenExpansion ist und der aber, während er dort, in Athen, die Sozialstruktur belastet und um des inneren Friedens willen nach Lösungsanstrengungenund Kompensationsleistungen verlangt, hier, in Karthago, ein die Sozial-struktur gar nicht berührendes Reservoir billiger Fremdarbeiter darstellt,

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das für die Lösung anderer, äußerer Konflikte und für die Kompensation

expansionsstruktureller Defizite zur Verfügung steht.Obwohl aber demnach die Aufrüstung Karthagos eine originäre Folgeund authentische Implikation des Aufbaues eines Handelsimperiumsist und obwohl sie von daher gar nicht im Verdacht steht, tote Kosten,sprich, den Preis darzustellen, den die kommerzielle Funktion für diesozialen Schäden zahlen muss, die sie im Zuge ihrer Expansion im Innerndes Gemeinwesens anrichtet, sondern vielmehr beanspruchen kann, einenotwendige Investition, sprich, der Preis zu sein, den die kommerzielleFunktion für ihre weitere Expansion zahlen muss und den die von ihmim Umkreis des Gemeinwesens angerichteten Schäden höchstens und

nur gering zu halten dienen, weil sie unter anderem in der Bereitstel-lung wohlfeiler Söldner resultieren – obwohl das so ist, widerstrebt esder kommerziellen Funktion in der karthagischen Republik um kein Jota weniger als ihrer Kollegin in der athenischen Polis, diese in derSchlussbilanz als unproduktive Ausgaben, als den Gewinn schmälernde,die Akkumulation beeinträchtigende Unkosten zu Buche schlagendenAufwendungen für die Rüstung zu tragen und aus der eigenen Tasche zu bestreiten. So zwingend ist das mit der Kapitalakkumulation verknüpfteProfitmaximierungsgebot, so verpflichtend das Prinzip, den im kom-merziellen Austausch erzielten Gewinn nach Möglichkeit ungeschmälert

in neue gewinnträchtige Austauschprozesse zu stecken, dass selbst diegrundlegendste, für den Erhalt des Systems unabdingbarste Investition,soweit sie nicht ihrerseits wieder Gewinn abwirft, von der kommerzi-ellen Funktion als Belastung erfahren, als ein Opfer, ein schmerzlicherTribut empfunden und letzterer deshalb zum Anstoß wird, sie, wennirgend machbar, von anderen tragen zu lassen, die Kosten für sie anderenaufzubürden.

Und das aber ist nun bei dieser im karthagischen Söldnerheer bestehen-den systemerhaltenden, weil für den strategischen, ordnungspolitischenund logistischen Zusammenhalt des karthagischen Handelsimperiums

unentbehrlichen Investition ein Leichtes und weit einfacher zu bewerk-stelligen als im Falle der athenischen Polis. Während in Athen die Ab-wälzung der Unkosten für die qua Streitmacht getätigte Investition auf andere, das heißt, die Umfunktionierung der Streitmacht in ein sich selbsttragendes, direktes Reichtumsbeschaffungsinstrument, nur durch einen

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Trick gelingt und nämlich in der Weise verwirklicht wird, dass die kom-

merzielle Funktion der athenischen Polis sich selbst in der entfremdetenGestalt der kommerziellen Funktion der Bundesgenossen melkt undschröpft, dass mit anderen Worten die Polis Athen kraft ihrer Streit-macht bei ihresgleichen, den übrigen Poleis, abkassiert und schmarotzt,erscheint in Karthago die Reichtumsbeschaffung durchs Militär, die Ver-wandlung der Streitmacht in eine Art Produktionsapparat, der für seineneigenen Unterhalt sorgt, eine ohne weiteres praktikable Perspektive undzur Akkumulation durch kommerzielle Aktivitäten echte Alternative.Im Unterschied zu Athen, das durch seine Einbettung ins ägäische Han-delssystem beim Versuch, sich auf anderen als kommerziell-transaktiven

Wegen und nämlich mit militärisch-exaktiven Mitteln Reichtum zu be-schaffen, zwangsläufig erst einmal auf seinesgleichen, die übrigen Han-delsrepubliken, stößt und das, soweit andere, nicht schon dem Marktintegrierte, sondern ihm entweder überhaupt fernstehende oder aber alsreine Produzenten beziehungsweise Konsumenten äußerlich attachierteGruppen als Reichtumslieferanten wider Willen in Betracht kommen,diese vornehmlich in der integralen Gestalt gut organisierter, wehrhafterTerritorialherrschaften antrifft – im Unterschied also zum eingekreistenAthen bekommt es Karthago bei seiner ins Blaue des mittelmeerischenWilden Westens vorgetragenen Expansion fast durchweg mit solchen,

nicht als kommerzielle Funktionäre dem Markte eingegliederten, sondernihm bloß in der Rolle von Produzenten beziehungsweise Konsumentenzuarbeitenden Gruppen zu tun, die sich zudem aufgrund ihres politi-schen Partikularismus und ihres geringen Grades an Organisation undWehrkraft als Kandidaten für eine unfreiwillige Übernahme der von derkommerziellen Funktion gescheuten Unterhaltskosten fürs Söldnerheergeradezu anbieten: So gewiss der Reichtum, über den diese Gruppenverfügen, kein bereits durch Zirkulation herausprozessierter, durch kom-merzielle Austauschprozesse akkumulierter, sondern ein vor allem Marktaus Natur, Arbeit, Tausch, Raub hervorgegangener Reichtum und so ge-

wiss es ein vergleichsweise Leichtes ist, sich mit den nichtkommerziellenMitteln militärischer Gewalt Teile davon anzueignen, so gewiss drängtsich hier das karthagische Söldnerheer als ein passendes Instrument auf,die eigenen Gestehungskosten auf andere, eben jene fremden Gruppen,abzuwälzen und so die kommerzielle Funktion der Handelsrepublik und

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den durch sie akkumulierten Reichtum von der Bürde dieser Kosten zu

 befreien.Dabei sorgt die ökonomische Rückständigkeit der betroffenen Grup-pen dafür, dass die mittels Streitmacht ins Werk gesetzte Strategie einerzwangsweise-direkten, nichtkommerziell-expropriativen Reichtumsbe-schaffung vornehmlich zwei Richtungen einschlägt und nämlich auf die beiden wertvollen Rohstoffe zielt, die der westliche Mittelmeerraumzu bieten hat: Edelmetall, das auf den östlichen Märkten als allgemei-nes Wertäquivalent, als Geld, benötigt wird, und Menschen, die sich alsArbeitskräfte, als Wertschöpfer, einsetzen lassen. Zum einen dient ihrSöldnerheer der karthagischen Republik dazu, sich durch territoriale

Eroberungen in den Besitz von Silber-, Zinn- und Goldgruben zu bringenund deren Ausbeutung in die eigene Hand zu nehmen. Zum anderennutzt die karthagische Republik das militärische Zwangsinstrument da-zu, auf den fremden Territorien landwirtschaftliche Betriebe in Form vonStaatsgütern einzurichten, das heißt, Land zu beschlagnahmen und vonZwangsarbeitern, die aus den umgebenden Gruppen rekrutiert werden, bewirtschaften zu lassen.

So lukrativ diese beiden Methoden einer gewaltsam-direkten Reich-tumsbeschaffung sein mögen und so sehr sie sich in der Tat geeignetzeigen, die Unkosten für das als Steigbügelhalter und Flankenschutz der

kommerziellen Funktion aufgestellte Söldnerheer ohne Rekurs auf diefinanziellen Mittel der letzteren zu decken beziehungsweise mehr alswettzumachen, ihre Auswirkungen auf die ökonomische Struktur derRepublik und die auf ihr aufbauenden politischen Machtverhältnisse sindeinschneidend! Wenngleich es stimmt, dass die Reichtumsbeschaffung,zu der die Streitmacht das Instrument und die Handhabe bietet, zu Lastender fremden Gruppen geht und also die kommerzielle Funktion derRepublik nicht im Sinne einer unmittelbaren Belastung tangiert, stimmtes doch auch, dass die fremden Gruppen ein und dieselben sind, mitdenen die kommerzielle Funktion Handel treibt und an denen sie sich

mittels kommerziellen Austausches bereichert, und dass, so gesehen, dieexaktiv-direkte Reichtumsbeschaffung durch die Ausübung von Gewaltmit der kontraktiv-indirekten Reichtumsbeschaffung durch Handelsaus-tausch in Konkurrenz tritt und mittelbar das konkurrierende Verfahrenebenso sehr in seinem Procedere stört wie in seinen Erfolgsaussichten

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 beeinträchtigt. So gewiss die zwangsweise Aneignung fremden Reich-

tums durch eine unter staatlicher Regie praktizierte Ausbeutung vonBodenschätzen und Bewirtschaftung von Frongütern die gleichen Volks-gruppen und Gemeinschaften trifft, mit denen der karthagische Handelseine der Beschaffung von Edelmetall für die östlichen Märkte und vonNahrungsmitteln für die Stadt selbst dienlichen Geschäfte treibt, so ge-wiss kommt die neue, exaktive Reichtumsbeschaffungsmethode der alten,kontraktiven ins Gehege und etabliert sich auf ihre Kosten oder schränkt jedenfalls ihre Entfaltungsmöglichkeiten und Akkumulationsaussichtenein.

Nicht, dass dies, ökonomisch betrachtet, ein Einwand gegen die zwei-

gleisige Bereicherungsstrategie sein könnte, die nunmehr die kartha-gische Republik verfolgt. Mögen auch die Formen einer gewaltsamenAneignung fremden Reichtums, die das ins Beschaffungsinstrument ver-wandelte militärische Korps praktiziert, die von der kommerziellen Funk-tion geübte konventionell-austauschförmige Aneignungsmethode ein-schränken und zum Teil sogar ersetzen, dank der Effektivität der unterdirekter militärischer Kontrolle geübten Ausbeutung der Bodenschätzeund Arbeitskräfte und der kompensationslosen Einseitigkeit des auf diese Weise getätigten Reichtumstransfers erweist sich die ökonomischeBilanz als positiv und kommt unter dem Strich mehr heraus, als ein

rein kommerzielles Procedere zu erbringen vermöchte. Politisch gesehenallerdings verändert die zweigleisige Bereicherungsstrategie das Gesichtder karthagischen Republik nachhaltig. In dem Maße, wie die kartha-gische Streitmacht ebenso sehr als extraktionsökonomisches Instrumentwie als expansionsstrategisches Vehikel an Bedeutung gewinnt, nimmtnolens volens auch der politische Einfluß zu, den sie beziehungsweiseihre militärische Führung auf die Staatsgeschäfte ausübt. Der patrizischenBürgerschaft entstammend, mausern sich die Feldherren der aus Bürgernund immer größeren Söldnerkontingenten gemischten Streitkräfte, zueiner politischen Fraktion, die kraft der zunehmend wichtigeren Rolle,

die im Blick auf die Wahrung nicht nur der Sicherheit und Integrität,sondern mehr noch des Wohlstands und der Prosperität der Republik denStreitkräften zufällt, als ein bestimmender Machtfaktor der als patrizischeOberschicht regierenden Kaufmannschaft, wie man will, stützend zurSeite oder konkurrierend gegenüber tritt.

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Das politische Gewicht der Heerführer wird noch zusätzlich dadurch

gestärkt, dass eben das Söldnerheer, dessen für die Integrität und Pro-sperität der Handelsstadt und ihres Imperiums segensreichem Wirkensie ihre machtfaktorelle Stellung verdanken, zu Aktivitäten tendiert, dieder Handelsstadt und ihrem Imperium im Gegenteil verderblich zu wer-den drohen, und nämlich dazu neigt, Meutereien anzuzetteln und sichgegen den eigenen Arbeitgeber zu erheben, sei’s, um Solderhöhungen zuerzwingen, sei’s, um eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu errei-chen, sei’s, um sich verhasster militärischer Disziplin zu entziehen, sei’s,um freie Hand zum Plündern und Brandschatzen zu bekommen, unddass deshalb die Heerführer die doppelte Aufgabe erfüllen müssen, einer-

seits das Söldnerheer als Sicherheitsdienst und Bereicherungsinstrumentfür die Republik verfügbar zu halten und zum Einsatz zu bringen undandererseits aber auch die Republik gegen die Gefahren und Schreckenzu schützen, die das Söldnerheer in sich birgt und die es gegebenenfallszu einem Unsicherheitsfaktor ersten Ranges, zu einer Räuberhorde übels-ter Sorte mutieren lassen. Weil die angeworbenen Kriegshandwerkernur ein Soldverhältnis, ein Arbeitsvertrag an die Republik bindet, weilsie keine familiären Bande, keine kulturellen, traditionellen, habituellenLebensumstände mit dem karthagischen Gemeinwesen verknüpfen, be-steht immer die Gefahr, dass sie den Vertrag aufkündigen, brechen, ins

Gegenteil feindseliger Übergriffe umschlagen lassen und gewähren sieder Republik Sicherheit beziehungsweise verschaffen ihr Reichtum nurunter der Bedingung, dass es gelingt, sie bei der Stange ihrer vertraglicheingegangenen Verpflichtungen zu halten, dass mit anderen Worten dieje-nigen, die sie als als Instrument handhaben, ihre karthagischen Führer, siedavon abhalten können, abstrakte militärische Disziplin in ihr implizitesNegativ, in zügelloses Marodieren, beziehungsweise bezahlte Dienstbar-keit gegenüber dem Gemeinwesen in ihr unwillkürliches Gegenbild, inasoziale Selbstbedienung, umschlagen zu lassen.

Die karthagischen Heerführer erfüllen also die doppelte Aufgabe, ei-

nerseits die Vorteile wahrzunehmen, die das als Reichtumsbeschaffungs-instrument einsetzbare Söldnerheer bietet, und andererseits die Gefahrenzu bannen, die in dem solcherart instrumentalisierten Söldnerheer lauern.Dass sie die ungeheure politische Macht, die ihnen diese doppelte Funk-tion verleiht, nicht nutzen, um diktatorische Vollmachten zu erlangen

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und sich zu Herren über die Stadt aufzuwerfen, mithin der republikani-

schen Verfassung der Handelsstadt den Garaus zu machen, wirft nocheinmal ein Schlaglicht auf die relative sozialstrukturelle Homogenitätund politisch-ökonomische Übereinstimmung, durch die sich, anders alsRom, Karthago auszeichnet. Weil die sich als Faktorei und kommerziellerUmschlagsplatz an der nordafrikanischen Küste etablierende KolonieKarthago kein Mischgebilde aus ländlich-agrarischer Subsistenz undstädtisch-gewerblicher Performanz, aus bäuerlich-aristokratisch fundier-ten Schichten und handwerklich-kommerziell orientierten Gruppen ist,sondern eine bei allen Unterschieden in Kompetenz und Vermögen, beialler Differenzierung zwischen Patriziern und Bürgern vergleichsweiseeinheitliche Bevölkerung von Handel- und Gewerbetreibenden umfasst,kommt es im Verlauf der politisch-ökonomischen Karriere der Stadt auchnicht zu der für die Entwicklung Athens oder Roms charakteristischenEntstehung benachteiligter Gruppen und Ausbildung sozialen Konflikt-stoffs, kraft deren ein politisches Kräfteungleichgewicht wie das zwischenpatrizischem Rat und militärischer Macht, Suffeten und Feldherrn, zumAnlass eines Umsturzes der Verfassung und einer der Kaufherrenrepu- blik ein Ende machenden institutionellen Neuordnung werden könnte.Sosehr das gleichermaßen als Reichtumsbeschaffer und als Ordnungs-faktor ins Gewicht fallende Söldnerheer seinen Befehlshabern Machtverleihen und zu einer Vorrangstellung im Kreis der patrizischen Füh-rungsschicht verhelfen mag, diese Vorrangstellung in eine diktatorischePosition, ein Alleinherrschaftssystem zu überführen besteht kein äußererAnlass, kein mittels sozialstruktureller Verwerfungen und Spannungengegebener Anreiz; so gewiss Heer und Handel beide auf die Mehrung desReichtums der Stadt gerichtet, beide auf zum Teil alternativen, insgesamtaber komplementären Wegen mit der Ausbeutung des im westlichenMittelmeer geschaffenen Reiches befasst sind, so gewiss halten beide,das karthagische Patriziat einerseits und die Hamilkars, Hasdrubals undHannibals andererseits, an der in der merkwürdigen Schieflage ihrermilitärstaatlichen Unterfütterung arretierten und, wenn man so will,

stabilisierten handelsrepublikanischen Konstitution der Stadt fest.

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. Das Provinzialsystem

In der langdauernden Auseinandersetzung zwischen Rom und Karthago siegt

das Bauernheer über die Söldnerarmee. Die durch den Sieg über Karthago neu-eroberten Regionen drängen den Römern andere, direktere Herrschafts- und Aneignungsformen auf, als sie bis dahin im Rahmen bundesgenossenschaftlicher Hegemonie praktiziert wurden.

Und es ist nun also diese in ihrer doppelten Bereicherungsstrategie, ihrerKombination aus kommerziellem Austausch und zwangswirtschaftlicherAneignung ebenso stabile wie schief gewickelte Handelsrepublik, derdie römische Republik ins Gehege kommt, als sie die Eroberung Un-teritaliens beendet hat und ihr begehrliches Auge auf Sizilien und dieanderen Inseln richtet. Die Karthagische Republik ist es, die durch ihre

dominante Präsenz die bis dahin von der Römischen Republik verfolgteExpansionsstrategie eines die Forderung nach völliger ökonomischerIntegration mit der Gewährung relativer politischer Autonomie verknüp-fenden Föderalismus durchkreuzt oder jedenfalls suspendiert und Romzwingt, sich in strategischer Hinsicht gänzlich neu zu orientieren oder, besser gesagt, das ganze Problem der strategischen Orientierung bis nachBeendigung der kritischen Konfrontation mit der konkurrierenden Machtzu vertagen. Was nach traditioneller Vorgehensweise Rom den neuenGebieten, in die es sich anschickt einzudringen, ökonomisch antragenwürde, nämlich ihre Einbindung in ein umfassendes kommerzielles Aus-

tauschsystem, bedeutet diesen nichts, weil sie in Form der Zugehörigkeitzum System der karthagischen Handelsrepublik bereits eingebundensind. Und was nach jener Vorgehensweise Rom diesen neuen Gebieten,in denen es sich als Hegemonialmacht etablieren möchte, politisch bietenkönnte, nämlich eine relative föderale Autonomie, die Stellung eines

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Sozius der Römischen Republik, damit können sie nichts anfangen, weil

sie gar keine unabhängigen politischen Gebilde mehr darstellen, sondernterritorialer Bestandteil des karthagischen Imperiums sind. So gewissden Römern in den Gebieten, auf die sie ein Auge geworfen haben, mitKarthago eine als ihr eigenes Vexierbild erscheinende überregionale, umnicht zu sagen imperiale, militärisch gerüstete und kommerziell orga-nisierte Macht engegentritt, so gewiss ist jeder römische Versuch, mitden Gebieten nach gewohntem Schema zu kontrahieren, ein Affront glei-chermaßen gegen die Wirklichkeit und die Ansprüche jenes Gegenüberund muss zwangsläufig zu kriegerischen Auseinandersetzungen darumführen, wer als hegemoniale oder imperiale Macht das Feld behaup-ten und ebenso sehr seine Herrschaftsstrategien zur Geltung wie seineBereicherungsmechanismen zum Tragen bringen kann.

Die Langwierigkeit und wiederholungsträchtig-phasenförmige Ver-laufsform der Kämpfe, ihre über ein Jahrhundert sich hinziehende Insis-tenz lässt dabei deutlich werden, wie vexierbildlich ähnlich und eben- bürtig die Gegner einander sind und wie kategorisch ihre vom Expansi-onsbedürfnis geprägte Existenz sich wechselseitig ausschließt. Dass dieRömische Republik letztlich über die Karthagische triumphiert, dürftedabei in der Hauptsache der beschriebenen verschiedenartigen sozialenKonstitution und ökonomischen Fundierung ihrer beiden Streitmächte,das heißt, dem Gegensatz zwischen Bauernheer und Söldnerarmee, so-

wie der mit diesem Gegensatz eng verknüpften Unterschiedlichkeit destaktischen Konzepts und expeditorischen Elans geschuldet sein. Zwarin der ersten Phase des Konflikts, dem vor Ort des unmittelbaren Streit-objekts Sizilien ausgefochtenen Ersten Punischen Krieg, ist es noch eherein äußerer Umstand, die Unterstützung, die Rom bei den alten Konkur-renten Karthagos, den griechischen Kolonien auf der Insel, findet, wasdie italische Hegemonialmacht das Übergewicht über die afrikanischeImperialmacht erlangen lässt. Aber indem nun die aus Sizilien vertrie- benen Karthager die gleiche Flexibilität und Mobilität beweisen, die sieauch schon bei ihren früheren Auseinandersetzungen mit den griechi-

schen Kolonien an den Tag gelegt haben, und nach Westen, nach Spanien,ausweichen, um dort in aller Eile Kompensation für die erlittenen Ge- bietsverluste zu suchen und mit den Mitteln ihrer Söldnerarmee weitereEroberungen zu machen und neue Reichtumsquellen zu erschließen, wirddeutlich, wie sehr sich die disponiblen, zu weiträumigen Expeditionen

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auf Flottenbasis fähigen Vollzeitkrieger Karthagos von den schwerfäl-

ligen, auf territoriale Feldzüge in Kampagneform geeichten römischenBauernsoldaten unterscheiden.Vollends eklatant wird der Unterschied, als Hannibal das landgewin-

nende Ausweichmanöver Karthagos in eine revanchesuchende Zangen- bewegung überführt und den Römern ins Haus fällt, bis an die ToreRoms vorrückt. Die mit all ihrer Mobilität und kriegshandwerklichenProfessionalität einen Überraschungsangriff führenden karthagischenTruppen spielen auf italischem Boden ihre ganze militärische Schlagkraftund taktische Überlegenheit aus und fügen den Römern die verheerends-ten und schmerzlichsten Niederlagen ihrer Geschichte bei. Aber wie derZweite Punische Krieg die Stärke der karthagischen Streitmacht unterBeweis stellt, so lässt er auch ihre am Ende kriegsentscheidende Schwächedeutlich werden. Stark ist diese Streitmacht nur, solange ihre Besoldungstimmt und solange genügend Geld für die Flotte, das weitgespannte Sys-tem von Stützpunkten und die Logistik da ist, die allein der Streitmachtihre Mobilität und Schlagkraft verleihen. In dem Maße aber, wie der Kriegin Italien andauert und die karthagische Überlegenheit sich nicht in einkriegsentscheidendes Übergewicht umsetzen lässt, geht den Karthagerndas Geld für ihre Unternehmung aus und beginnt es, mit der Flottenun-terstützung, dem Nachschub, der Loyalität der auf ihren Sold wartendenTruppen zu hapern. Und dies um so rascher, als die Streitmacht ja eben

wegen des zu führenden Krieges in ihrer Rolle als Reichtumsbeschaffer,als Requisiteur und Ausbeuter von Naturschätzen und Arbeitskräften,ausfällt und weder für eine ertragreiche Bewirtschaftung der Staatsgüternoch für eine effektive Verwertung der Zinn- und Silberminen Sorgetragen kann.

In einer Situation der Mittelknappheit aber kann die Römische Re-publik militärisch besser überleben als die Karthagische. Anders als dierömischen Truppen, die sich durch Rückgriff auf die eigene bäuerlicheBevölkerung und durch Inanspruchnahme bundesgenossenschaftlicherKontingentierungsverpflichtungen immer wieder auffüllen lassen und

die zudem der Republik eine über die Liebe zum Geld hinausgehendeLoyalität beweisen, weil sie selber Teil des republikanischen Gemein-wesens sind, hat das karthagische Söldnerheer in der Liebe zum Geldund der Aussicht auf Kriegsbeute den einzigen Grund, der es zur Loya-lität gegenüber der Republik Karthago verhält; bleibt der Sold aus und

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verflüchtigt sich die Aussicht auf Beute, so entfällt mit dem Loyalitäts-

grund zugleich auch die Basis für die Wiederauffüllung des Heeres durchRekrutierung neuer Soldaten. Das heißt, die karthagische Söldnerar-mee erlebt aufgrund ihrer sozialen Fremdbürtigkeit und ökonomischausschließlichen Fundierung im Geld einen Auflösungs- und Austrock-nungsprozess, sobald der Republik die Geldmittel ausgehen, währenddas römische Bundesheer dank seiner sozialen Homogenität mit demGemeinwesen, dem es dient, und seiner wie sehr auch bescheidendenund gefährdeten Teilhabe am sächlichen Besitzstand des Gemeinwesensüber die Zahlungsfähigkeit der Republik hinaus seine Stellung hält. Allihrer militärischen Mobilität und taktischen Überlegenheit zum Trotzunterliegen am Ende eines wegen der kräftemäßigen Ebenbürtigkeit derGegner lang hingezogenen Ringens die auf Basis eines rein finanziellenKontrakts, auf Soldbasis, operierenden fremdbürtigen KriegshandwerkerKarthagos den durch Sozialkontrakt, durch das Versprechen konkreterökonomischer Kompensation, aus den Reihen des Gemeinwesens rekru-tierten Bauernsoldaten Roms und machen so den Weg dafür frei, dassnach einer weiteren halbhundertjährigen Schlussdemontage der im Prin-zip bereits geschlagenen Karthagischem Republik die Römische Republikals alleinige Hegemonialmacht das mittelmeerische Feld behauptet.

Vom imperialen Konkurrenten vor Ort befreit, können nun also dieRömer in den Gebieten, auf die sie ein begehrliches Auge geworfen und

die sie bereits beim ersten militärischen Anlauf den Karthagern entrissenhaben, auf Sizilien und den anderen Inseln, ihre hegemonialen Ansprü-che durchsetzen und ihre damit verknüpften Bereicherungsabsichtenverwirklichen. Nachdem sie die Karthagische Republik, die diese Ge- biete bislang in ihrem imperial untermauerten kommerziellen Systemverhielt, aus dem Feld geschlagen hat, kann die Römische Republik nunihrerseits diese Gebiete dem eigenen kommerziellen Zusammenhang ein-gliedern und dessen Expropriationsmechanismen unterwerfen. Auf diegewohnte Weise eines die Forderung nach voller ökonomische Integrati-on mit der Gewährung relativer politischer Autonomie verknüpfenden

 bundesgenossenschaftlichen Anschlusses ihrer Neuerwerbungen an denrömischen Staatsverband kann sie allerdings nicht verfahren. Was dieKarthager den Römern hinterlassen, sind keine aus sich heraus organi-sierten Gemeinwesen, keine politisch selbsttragenden sozialen Gebilde,sondern Bevölkerungen, die an die Unterwerfung unter eine ihnen von

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außen oktroyierte Herrschaft gewöhnt und mit deren zentralistischen

Organisations-, Mobilisierungs- und Vereinnahmungsmechanismen ver-traut sind. So gewiss die Römer die als karthagische Fremdherrschaftvorgefundene politische Ordnung und soziale Organisationsstruktur zer-stören und aus diesen Gebieten vertreiben, so gewiss müssen sie nun andie Stelle der Karthager treten, müssen eine Ordnung eigener Provenienz,eine von ihnen selbst geübte Fremdherrschaft in diesen Gebieten errich-ten. Eine eingeborene soziale Ordnung und autonome organisatorischeMacht, mit der die Sieger kontrahieren und deren Gegebenheiten siemittels foedus, mittels Bundesschluss, als politische Rahmenbedingungenfür ihre ökonomische Integrationstätigkeit gelten lassen könnten, gibt es

in den von Karthago geräumten Regionen nicht. Die Römische Republikselbst muss die organisatorischen Rahmenbedingungen für das Übergrei-fen des römisch-italischen Austauschsystems schaffen, muss als politischeOrdnungsmacht dafür sorgen, dass die relativ integrierte, kommerzi-ell orientierte Ökonomie der italisch-römischen Wehrgenossenschaft indiesen Regionen einen neuen Entfaltungsraum findet.

Tritt so aber die Römische Republik das Erbe der Karthagischen an,ersetzt sie die letztere in der Rolle der politisch organisierenden Machtund zentralistisch strukturierenden Herrschaft, so schafft sie zwar in derTat die Rahmenbedingungen für das als kommerzielle Austauschtätigkeit

gewohnte ökonomische Wirken und dessen Bereicherungsmechanismen– nur sind dann diese Rahmenbedingungen gar nicht mehr eindeutig auf ein kommerzielles Austauschsystem gemünzt, gar nicht mehr unbedingtdarauf angelegt, der gewohnten Akkumulation von Reichtum durchHandel einen Entfaltungsraum zu bieten, sondern lassen sich ebensowohl als politische Voraussetzungen für andere, direktere und zugleicheffektivere Bereicherungstechniken in Anspruch nehmen. Die bis dahinvon den Römern in den jeweils neuen Gebieten entfaltete kommerzielleAktivität ist ja Antwort auf das dort angetroffene Zugleich von autono-mer politischer Struktur und disparaten ökonomischen Beziehungen, von

intaktem Sozialorganismus und fragmentarischen Handelskontakten.Dafür, dass die neuen Gebiete der Republik erlauben, sie ins römischeHandelssystem zu integrieren, belassen die Römer den neuen Gebietenihre eigene politische Ordnung und schließen einen bundesgenossen-schaftlichen Vertrag mit ihnen, statt sie vollständig zu unterwerfen und

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zu treten, über die Stellung einer bloßen, militärisch erfolgreichen Streit-

und Okkupationsmacht hinauszugelangen und sich als Befriedungs- undOrdnungsmacht dauerhaft zu etablieren, eine fundierte, institutionellgesicherte bürokratische Herrschaft über die neuen Gebiete zu errichten.

Und dass ihr dies tatsächlich gelingt, das gewährleistet die bereitsin Süditalien ausgebildete und als gleichermaßen Konfliktlösungs- undHerrschaftssicherungsverfahren praktizierte Landnahmestrategie, dieAnsiedlung römischer und bundesgenossenschaftlicher Bürger und dieGründung von Munizipien und Kolonien in den jeweils neu erobertenGebieten. Wie diese Strategie der breiten Volksmasse, den Plebejern, gele-gen kommt, weil sie den durch die wirtschaftliche Entwicklungsdynamikverarmten und als Hefe im Sauerteig der Republik für Gärung sorgenden bäuerlichen Gruppen Kompensation bietet und eine Wiederherstellungim Landbebauerstatus ermöglicht, so kommt sie auch und ebensosehrder Nobilität, den Patriziern, zupass, weil sie in einem System von rö-mischen Stütz- und Kontrollpunkten resultiert, das, ohne das Konzeptder römisch-italischen Wehrgenossenschaft explizit aufzukündigen undad acta zu legen, doch aber implizit die rein bundesgenossenschaftlich-vertraglich geregelte Beziehung zu den in Abhängigkeit von der Römi-schen Republik gebrachten Regionen in eine neue, hegemonialherrschaft-lich fundierte Form überführt, die der zunehmenden Größe und Un-überschaubarkeit des von Rom kontrollierten Herrschaftsgebiets durch

die verbesserten Überwachungs-, Einfluß- und PressionsmöglichkeitenRechnung trägt, die jene als Kolonisten angesiedelten römischen Bürger, jene auf dem fremden Territorium stationierten fünften Kolonnen derRepublik verschaffen.

Indem nun aber diese vom Gesamtwillen beförderte und von der Zu-stimmung aller getragene Landnahmestrategie auch auf den von Kartha-go übernommenen Inseln Anwendung findet, verändert sie dort nolensvolens ihre Bedeutung und Funktion und lässt ihre oben bereits erwähnteEignung als Basis einer direkten politischen Herrschaft und Vorausset-zung einer unmittelbaren ökonomischen Expropriation aktuell werden.

Solange die römische Landnahmestrategie noch unter Bedingungen einerintakten politischen Selbstorganisation und Eigenherrschaft der betroffe-nen Gebiete vonstatten geht, bleibt das Herrschaftsfundierungspotentialder ihr entspringenden munizipialen und kolonialen Siedlungsstruktur bloßes Potential und bleibt die Funktion der römischen Munizipien und

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Kolonien darauf beschränkt, die bestehende föderale Autonomie und

politische Selbstverwaltung der Gebiete zu kontrollieren, im Zaum zuhalten und mit den Interessen und Ansprüchen der römischen Herr-schaft abzustimmen. Nun aber, da bei den neu eroberten Gebieten vonpolitischer Eigenbestimmtheit und Selbstverwaltung keine Rede seinkann und die römische Okkupationsmacht sich durch die vorgefunde-nen Verhältnisse geradezu gedrängt sieht, als fremde Herrschaft undzentralistische Verweserin in die Fußstapfen ihrer Vorgängerin, der Kar-thagischen Republik, zu treten, nehmen die römischen Gründungen indiesen Gebieten, die Munizipien und Kolonien, die Bedeutung von expli-ziten Stützpfeilern und Trägern eben dieser römischen Herrschaft an. Aus

Garanten römischen Einflusses werden Fundamente römischer Präsenz,aus indirekten Steuerungsinstrumenten werden direkte Kontrollorgane,aus Stützpunkten, die der fremden Herrschaft ihre Grenzen stecken undihren Spielraum vorzeichnen, werden Einrichtungen, die der eigenenStaatsmacht ein Fundament bieten und Manövrierfähigkeit verleihen.

Die Umstellung der römischen Aneignungspraxis von einem indirekt-kom-merziellen Verfahren auf den direkt-kontributiven Zugriff liegt im Interesseder Nobilität, von der die finanzielle Hauptlast der Expansionspolitik getragenwird. Da mit wachsender Ausdehnung des Herrschaftsgebiets die Lasten immer

 größer und die finanziellen Kompensationen immer ungewisser werden, erweistsich das im Heer vorhandene zwangsherrschaftliche Instrumentarium zusam-men mit dem von den Karthagern in ihren ehemaligen Gebieten hinterlasseneBesteuerungs- und Staatsgütersystem als unwiderstehliche Versuchung, zurPraxis einer direkten Kontribution und Ausbeutung überzugehen.

Ebenso sehr also dank der institutionellen Hinterlassenschaft der Kar-thager wie aufgrund der eigenen, sie über den Status einer militärischenOkkupationsmacht hinaus als bürokratische Fremdherrschaft etablie-renden strategischen Landnahme und territorialen Verankerung ist die

Römische Republik in der Lage, in den neugewonnenen insularen Gebie-ten andere, direktere Formen der Aneignung von Reichtum als die bislangkultivierten indirekt-kommerziellen in die Tat umzusetzen. Sosehr dieRepublik aber auch dazu in der Lage und so groß die Versuchung, dieLage zu nutzen, angesichts der Leichtigkeit und Gewinnträchtigkeit, mit

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der unter den gegebenen Bedingungen die direkte Aneignungspraxis

winkt, für sie sein mag – damit es wirklich dazu kommt, braucht es einegesellschaftliche Gruppe und Partei, die gleichermaßen die Fähigkeit undden Willen, die Macht und das Interesse hat, die Initiative zu ergreifenund die neue Praxis gegenüber dem bewährten kommerziellen Verfahrenzur Geltung zu bringen. Es liegt auf der Hand, dass dies nicht die Gruppeder Handeltreibenden sein kann, die sich, nachdem die kriegführendeNobilität ihr Eroberungs- und Landnahmewerk vollendet hat, anschickt,aus dem Hintergrund hervorzutreten und in bewährter Weise ihre kom-merziellen Aktivitäten zu entfalten, und die von den sich ihr dadurcheröffnenden Bereicherungschancen so erfüllt ist, dass ihr ein solcher Pa-radigmenwechel in Sachen Aneignung fremden Reichtums denkbar fern

liegt.Nicht weniger auf der Hand allerdings liegt auch, dass sich bei der

kriegführenden Nobilität selbst, der als Senatspartei firmierenden grund-herrlichen Oberschicht, die Situation wesentlich anders darstellt! DieseGruppe entwickelt durchaus ein Interesse an möglichen neuen Formeneiner nicht erst durch Kommerz vermittelten, direkteren Aneignung vonReichtum. Sie ist es ja, die durch die militärischen Leistungen, die siemit Hilfe der aus der römischen und bundesgenossenschaftlichen Bau-ernschaft rekrutierten Kontingente erbringt, die Rahmenbedingungenfür die römische Expansion und Hegemonialherrschaft und die daraus

folgenden kommerziellen Akkumulationsperspektiven allererst schafft.Praktisch bedeutet das aber auch, dass sie es ist, die die für jene militäri-schen Leistungen erforderlichen finanziellen Vorleistungen erbringen unddafür sorgen muss, dass die für die Ausrüstung der Feldzüge, für die Ver-pflegung und Besoldung der ausgehobenen Truppen, für strategische undlogistische Dienstleistungen nötigen Gelder zur Verfügung stehen. Das istzwar nicht mehr, wie vielleicht in den frühesten Anfängen der Republiknoch, eine Frage privater Zuwendungen und persönlicher Opferbereit-schaft, kurz, individuell-familiärer Verpflichtung, sondern ist längst zueiner Sache der öffentlichen Hand und der staatlichen Aufwendungen,kurz, der zivil-kollektiven Verantwortung geworden. Längst besorgt die

Republik ihre öffentlichen Angelegenheiten und staatlichen Geschäfte auf der Grundlage eines regelmäßigen und geordneten Steueraufkommens,und längst bildet der diesem Steueraufkommen entspringende Staats-schatz, das Ärar, den Fundus, aus dem auch und nicht zuletzt die imKriegsfall erforderlichen Ausgaben bestritten werden.

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Schaut man sich allerdings das Besteuerungssystem der Republik ge-

nauer an und sieht, wie die wesentlich als Kriegskasse firmierende Staats-kasse aus dem Steueraufkommen hervorgeht, so zeigt sich, dass, wennschon nicht im Sinne persönlich-individueller Haftung, so jedenfalls dochin der Form ständisch-korporativer Zuständigkeit die Nobilität, die land- besitzende Oberschicht, die finanzielle Hauptlast des Staates zu tragenhat. Wie sie es ist, die durch die Einteilung der Bürgerschaft in Vermö-gensklassen und durch die nach Maßgabe dieser Vermögensklassen ge-wichtete Besetzung der politischen Gremien der Republik eine politischeVorrangstellung behauptet und in den Entscheidungsprozessen der Re-publik eine ausschlaggebende, wenngleich durch die tribunizischen In-terventionen zunehmend beeinflusste und zur Rücksicht auf plebejischeAnsprüche verhaltene Rolle spielt, so ist sie es aber auch, der eben jenesVermögensklassensystem den Großteil der Steuerlast aufbürdet und diemit anderen Worten ihre politischen Privilegien, ihre die Besorgung derRes publica betreffenden Vollmachten, mit ökonomischen Opfern, mitentsprechenden finanziellen Aufwendungen für den Staat bezahlen muss.

Nicht, dass diese steuerlichen Belastungen der Oberschicht letztlichzum Schaden gereichten! Nicht, dass sie eine definitiv zu zahlende finan-zielle Zeche, ein eindeutiges ökonomisches Verlustgeschäft für sie wären.Schließlich winkt die territoriale Expansion, die die Oberschicht ebensosehr fiskalisch ermöglicht wie militärisch befehligt, teils unmittelbar mit

der Beute und Tributen, die der besiegte Gegner den Siegern für seine fö-derale Anerkennung, seine Aufnahme als Bundesgenosse, zu überlassen bereit ist, teils und vor allem mittelbar mit den kommerziellen Bereiche-rungschancen, die der in das römisch-italische Handelssystem integrierteneue Bundesgenosse der römischen Hegemonialmacht jeweils eröffnet.Wesentliches Motiv der spezifischen römischen Expansionsstrategie ist ja diese kommerzielle Entfaltungsperspektive, in die sich die Nobili-tät in vielfacher Form und nämlich teils als Herr über Ländereien undagrarwirtschaftlicher Großproduzent, teils als mehr oder minder stillerTeilhaber und finanziell Interessierter an den Geschäften der Handeltrei-

 benden, teils als gut dotierter politischer Beschützer, juridischer Beraterund lobbyistischer Förderer der letztern eingebunden findet. So gesehen,sind die fiskalischen Beiträge und finanziellen Opfer, die die Oberschichterbringt und durch die sie den als Kriegskasse fungierenden Staatsschatzwesentlich alimentiert, eher als Vorschussleistung, als Investition, denn

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und an allen nur denkbaren Schauplätzen geführten totalen Krieges an-

nehmen und wie zugleich diese Auseinandersetzungen den gewohntenzeitlichen Rahmen sprengen und sich, selbst wenn sie nach wie vor inder durch Waffenstillstände und friedliche Phasen unterbrochenen, inter-mittierenden Form von Feldzügen und einzelnen Kampagnen ausgetra-gen werden, doch aber als Gesamtaktion über Jahre oder gar Jahrzehnteerstrecken und die scheinbare Unabschließbarkeit eines im Kräftepattarretierten Ringens beweisen – in dem Maße also, wie die räumlichenund zeitlichen Schranken der militärischen Unternehmungen fallen unddiese sich zu ebenso unüberschaubaren wie unabsehbaren Groß- undLangzeitveranstaltungen auswachsen, ufern auch die Kosten für sie aus

und sieht sich die als Hauptbeiträgerin in die Steuerpflicht genommeneNobilität immer gravierenderen finanziellen Belastungen ausgesetzt. Unddiese Belastungen geraten zudem immer mehr außer Zusammenhangmit den Belohnungen, die dafür winken, verlieren immer mehr den ur-sprünglichen Charakter spezifischer Vorschüsse, konkreter Investitionen,und werden zu unbestimmten, zu zwar formell oder dem abstraktenAnspruch nach äußerst aussichtsreichen, im Blick auf ihren materiellenUmfang und den präzisen Zeitraum ihrer Einlösung aber auch höchstungewissen Wechsel auf eine Zukunft, die vorderhand durch immerweitere Aufwendungen herbeigeführt, durch immer neue Opfer erkauft

sein will.Denn auch wenn die militärischen Aufgaben im engeren Sinne gelöst,die gegnerischen Streitkräfte endlich geschlagen und vertrieben, die neu-en Gebiete erfolgreich erobert sind und also die fruchtbringende, denLohn für den geleisteten Einsatz beischaffende indirekte Ausbeutungdurch Kommerz eigentlich beginnen könnte, bringen es doch mittlerweilegleichermaßen der territoriale Umfang und die politische Beschaffenheitder unter die Herrschaft der Römischen Republik gebrachten Gebiete mitsich, dass an ein Ende der staatlichen Leistungen, an eine Entlastung deröffentlichen Hand, des Ärars, von allen Aufwendungen für die letzteren

gar nicht zu denken ist. So gewiss die militärisch-strategische Kontrol-le und verkehrstechnisch-logistische Vernetzung dieser umfangreichenGebiete die ständige Bereitstellung von Heeres- und Flottenverbändenerforderlich machen und so gewiss die andere politische Beschaffen-heit der Gebiete, ihr Mangel an autonomen Strukturen, die Republik

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dazu zwingen, von der gewohnten Praxis ihrer bundesgenossenschaftli-

chen Integration und föderalistischen Anordnung Abstand zu nehmenund einen Apparat zur direkten Ausübung ordnungspolitischer undverwaltungstechnischer Funktionen in ihnen einzurichten und zu un-terhalten, so gewiss gehen die finanziellen Aufwendungen auch nachdem erfolgreichen Abschluss der militärischen Auseinandersetzungenziemlich unvermindert weiter und belasten, wie in genere die Staatskasse,so in specie deren Hauptbeiträger, die Nobilität, die zunehmend dieaktuellen Leistungen, die sie erbringt, und die potentiellen Vergütungen,die sie dafür erhält, außer Relation geraten und die Investitionen, diesie tätigt und die ihren Besitz nachgerade aufs ärgste strapazieren, wenn

schon nicht den Charakter von definitiv verlorenen Kosten, so jedenfallsdoch das Aussehen von ad infinitum unvergoltenen Opfern annehmensieht.

Was Wunder, dass für die kriegführende Nobilität die Möglichkeit,die Staatskasse auf anderem Wege als dem einer nach Vermögensklas-sen abgestuften Besteuerung der römischen Bürgerschaft zu füllen, eineschier unwiderstehliche Verführungskraft gewinnt und in der Tat zumzwingenden Handlungsmotiv wird. In dem Maße, wie es gelingt, dieneu eroberten Gebiete für Zahlungen an die Staatskasse heranzuziehen,können diese finanziellen Mittel die Beiträge der Bürgerschaft ersetzen

und sieht sich speziell die Hauptbeiträgerin, die Nobilität, von der ihrVermögen nachhaltig in Mitleidenschaft ziehenden dauernden Steuer-last befreit. Auf ebenso wundersame wie trickreiche Weise verwandelnsich die neueroberten Gebiete aus einer schweren Bürde, bei der höchstungewiss ist, ob sich rentieren wird, dass die Römische Republik sieauf sich nimmt, in ein schwereloses Angebinde, von dem die Republikgarantiert profitiert, weil es vorweg die Kosten für die eigene Eroberungund Anbindung beisteuert, aus Investitionen, bei denen sich erst nochzeigen muss, ob der Ertrag sie rechtfertigt, in selbsttragende Institutionen, bei denen jeder Ertrag, der sich aus ihnen ziehen lässt, ein Reingewinn ist.

Indem das, was an finanziellen Mitteln aus der römischen Staatskassefür die Unterwerfung und Besetzung der jeweiligen Gebiete aufgewendetwerden muss, aus eben diesen Gebieten unmittelbar in die Staatskas-se zurückfließt, erweisen sich die letzteren als Finanziers ihrer eigenenmilitärischen Okkupation und bürokratischen Kontrolle. Oder vielmehr

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 beschränkt sich, da sie ja zu dem Zeitpunkt, zu dem sie ihre Eigenfi-

nanzierungsrolle, ihre Funktion als selbsttragende Einrichtung überneh-men, bereits erobert sind, das reflexive Verhältnis, der Eigenbezug, auf die bürokratische Kontrolle, während sich die militärische Okkupati-on, die sie mit ihren finanziellen Leistungen ermöglichen, je schon alsobjektive Beziehung, als der Zugriff auf andere und weitere Gebiete,kurz, als Wiederaufnahme und Fortsetzung des Eroberungsprozessesdarstellt. Uno actu ihrer Leistungen an das römische Ärar gestatten sieso, den Besitz ihrer selbst für die Römische Republik frei von Unkostenzu stellen und die Inbesitznahme weiterer Territorien zu einem quasieigenfinanzierten, weil nämlich als Kostenträger für den Fortgang desExpansionsprozesses das jeweilige Resultat des Prozesses rekrutierendenUnternehmen zu machen. Den bis dahin geltenden und zunehmendproblematisch werdenden Zusammenhang zwischen öffentlichen Leis-tungen und privaten Vergütungen, zwischen staatlichen Investitionenund kommerziellen Erträgen löst diese neue exaktiv-unmittelbare Formder Mittelbeschaffung also auf, indem sie die für die territorialen Erobe-rungen zu erbringenden finanziellen Leistungen in Eigenleistungen dereroberten Territorien verwandelt, aus den der Expansion vorausgesetztenInvestitionen Kontributionen werden lässt, die der Expansion als sol-cher entspringen, und auf diese Weise, wie einerseits der Republik dieöffentlich-staatlichen Leistungen erspart, so andererseits den Bürgern der

Republik die kommerziell-privaten Vergütungen als reinen Gewinn undungeschmälertes Gut, weil befreit von aller kalkulatorischen Rücksichtauf jene Leistungen und kompensatorischen Bindung an sie zukommenlässt.

Wie könnte die Nobilität, die als gleichermaßen Hauptträgerin der öf-fentlichen Leistungen und primäre Nutznießerin der privaten Vergütun-gen am meisten auf jenen Zusammenhang angewiesen und von seinemProblematischwerden, seiner Dysfunktionalisierung, deshalb auch amstärksten betroffen ist, verfehlen, diese seine als profitable Lösung er-scheinende Auflösung, seine Erledigung zugunsten einer das Sollmoment

in ihm ebenso liquidierenden, wie seine Habenseite konservierendengründlichen Neuordnung des ganzen Expansions- und Bereicherungs-prozesses als Ausweg aus ihrem Dilemma zu begrüßen? Wie sollte ihr,der Nobilität, solche Neuregelung der Expansion, die ihr die Last derfinanziellen Besteuerung von den Schultern nimmt, ohne ihr deshalb die

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Chancen zur kommerziellen Bereicherung zu verschlagen, kein Motiv

sein, die dafür grundlegende kontributiv-direkte Mittelbeschaffung inden von der Expansion erfassten Gebieten zu forcieren und auf ganzerLinie zu praktizieren?

Und nicht nur über ein starkes Motiv, den Staatschatz durch direkteKontributionen aus den eroberten Gebieten aufzufüllen, sondern ebenauch über das dafür erforderliche effektive Instrumentarium verfügtdie Nobilität – in Gestalt nämlich zum einen der Streitkräfte, mit denensie die Gebiete erobert hat und mangels des üblichen bundesgenossen-schaftlichen Friedensschlusses beziehungsweise mit Rücksicht auf diefortdauernden kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem imperia-len Gegner weiterhin besetzt hält, zum anderen des Herrschafts- undVerwaltungsapparats, den sie in den Gebieten wegen deren fehlenderautogener politischer Struktur nolens volens aufbauen muss, und zumdritten schließlich der römischen Kolonien und Munizipien, die sie in denGebieten gründet und die ebenso sehr dem vor Ort entstehenden Bedarf an strategisch-logistischen Stütz- und Bezugspunkten wie dem Bedürfnisnach Entlastungsventilen und Entschärfungsmechanismen für den zuHause schwelenden Sozialkonflikt Rechnung zu tragen dienen. Dies drei-fältige Instrumentarium also ermöglicht es der Nobilität, ihrem starkenMotiv zur Befreiung von Steuerlasten durch eine exaktiv-zugreifenden,kontributiv-direkte Beschaffung von Finanzmitteln stattzugeben und dieGelegenheit beim Schopf zu fassen, die sich in den eroberten Gebietendank der karthagischen Hinterlassenschaft dazu bietet. In der Tat istes dies, was die Umstellung von einer indirekt-kommerziellen zu einerdirekt-kontributiven Kompensation für die von der Republik und ihrenSteuerbürgern in die römische Expansionspolitik investierten Gelder zueiner unwiderstehlichen Versuchung macht: dass zu solcher Umstellungneben dem bestehenden finanziellen Motiv und gegebenen zwangsherr-schaftlichen Instrument dank karthagischer Vorarbeit auch die objektiveGelegenheit vorhanden ist und die Römer also auf den eroberten Inselnnichts weiter zu tun brauchen, als das von den Karthagern etablierte

allgemeine Besteuerungssystem und die von ihnen entwickelten Formender Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und natürlicher Ressourcenzu übernehmen und in den Dienst einer Auffüllung des wesentlich alsKriegskasse fungierenden römischen Ärars zu stellen.

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Die Art und Weise der Ausbeutung der neu eroberten Gebiete überlässt die

tribunizisch organisierte Bürgerschaft der senatorisch verfassten Nobilität, vor-ausgesetzt, es entstehen dadurch für die erstere keine weiteren finanziellen Belas-tungen. Im Wesentlichen wird das Ausbeutungsgeschäft auf kontributive Weise,nämlich durch Aufrechterhaltung des Kriegszustandes, des feldherrlichen impe-riums, betrieben, das ein Vertreter des kriegführenden Konsuls oder Prätors, einProkonsul oder Proprätor, wahrnimmt. Dient dessen Mittelbeschaffung in ersterLinie der Aufrechterhaltung der Herrschaft in dem kontributiv ausgebeutetenGebiet, so in zweiter Linie der Fortsetzung der militärischen Expansion durchdie neuen Konsuln oder Prätoren. Diese doppelte Funktion des unterworfenenGebiets spiegelt sich im Namen provincia programmtisch wider.

Wenn die Nobilität, die senatorisch verfasste Patrizierschicht, als mo-tivational treibende Kraft und instrumentell handelndes Subjekt die Fi-nanzierung der römischen Expansionspolitik umstellt und das bis dahinfür diese Finanzierung grundlegende interne Besteuerungsverfahrendurch ein externes Kontributionssystem ersetzt, so kann sie dabei nichtzwar unbedingt mit der initiativen Mitwirkung oder affirmativen An-teilnahme, ganz gewiss aber mit der suggestiven Unterstützung oderkonspirativen Duldung des Volkes, der tribunizisch organisierten ple- bejischen Gruppen, rechnen. Deren mittels Tribunatsversammlung undtribunizischen Interventionen durchgesetzter politischer Anspruch zielt

auf eine Fortsetzung der Expansionspolitik, die gleichermaßen durch dieAussicht auf Wehrgelder und Kriegsbeute und durch das Versprechen derOkkupation und Zuteilung von Ackerland besticht, mit anderen Worten,ein Antidot gegen, wo nicht gar ein Heilmittel für die mit den kom-merziellen Reichtumsbildungsprozessen in der Stadt einhergehendenEnteignungs- und Verarmungsprozesse und die daraus hervorgehendenSozialkonflikte verheißt. Wie und auf welchem Wege diese Expansions-politik, für die sie als eine Art kollaborative Opposition eintritt, finanziertwird, ist der plebejischen Partei ziemlich gleichgültig. Auch wenn, ob- jektiv gesehen, die tribunizisch organisierte plebejische Bürgerschaft für

die Expansionspolitik und die dadurch unterstützten beziehungsweiseausgelösten ökonomischen Entwicklungen durchaus bezahlen und näm-lich den geschilderten, in der Enteignung und Verarmung, sprich, derPlebejisierung, bäuerlich-mittelständischer Gruppen bestehenden Preisentrichten muss, überlässt sie doch die aktive Finanzierung, strategische

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Planung und praktische Durchführung dieser Expansionspolitik weit-

gehend den aktuell oder virtuell mit der Nobilität deckungsgleichenoberen Vermögensklassen, die durch ihre höheren Steuerbeiträge tra-gende Beschaffer und Hauptgaranten des staatlichen Vermögens, des alsKriegskasse firmierenden Arärs, sind.

Und wie es nun aber die tribunizisch organisierten Plebejer den sena-torisch verfassten Patriziern überlassen, die römische Expansionspolitikzu finanzieren, zu dirigieren und in die Tat umzusetzen, so überlassensie ihnen auch und natürlich die Entscheidung über eventuelle Neuori-entierungen und Veränderungen in Finanzierungsmodus, strategischerVorgehensweise und praktischen Maßnahmen. Kommt die Senatsparteizu dem Ergebnis, dass ihr die per Beiträge zur Staatskasse eigenhändigeFinanzierung der Expansionspolitik zu teuer und in den Vergütungen, diesie für die Oberschicht bereithält, zu unkalkulierbar und ungewiss wird,und bemüht sie sich demzufolge, andere, im Zuge der Expansion selbsterschließbare Finanzierungsquellen aufzutun, so ist das ihre Sache, unddie tribunizische Seite hat nichts dagegen einzuwenden, vorausgesetzt,die Erschließung der neuen Geldquellen und die daraus resultierendefinanzielle Entlastung der Oberschicht impliziert keine weiteren ökono-mischen Belastungen für den bäuerlichen Mittelstand und die plebejischeUnterschicht, und vorausgesetzt vor allem, sie geht ohne Beeinträchti-gung und Behinderung der Expansionspolitik selbst vonstatten. Da das

neue Reichtumsbeschaffungsverfahren, das die Senatspartei in Anwen-dung bringt, den tribunizischen Gruppen erst einmal keinen ökonomi-schen Schaden zufügt, sondern im Gegenteil durch den neuen Reichtum,der in die Stadt fließt, indirekt Vorteile bringt und da es mehr noch nichtnur keine Beeinträchtigung, sondern vielmehr eine Perfektionierung derExpansionspolitik darstellt, weil es diese in eine tendenziell sich selbsterhaltende Veranstaltung, einen quasi selbstreproduktiven Automatismusüberführt, kann die Senatspartei in der Tat bei ihrer Rekonstruktion derfinanziellen Grundlagen der Republik mit der von aktiver Mitwirkungkaum mehr unterscheidbaren definitiven Unterstützung der tribunizi-

schen Gruppen rechnen und hat sie mit anderen Worten freie Hand, dieeroberten Gebiete zur Kasse zu bitten.Die Art und Weise, wie sie das tut, ist dabei gleichermaßen durch

den gegebenen Kontext und die spezifische Perspektive ihres Handelns bestimmt. Der Kontext ist die gerade beendete, mit der Eroberung und

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Unterwerfung des betreffenden Gebietes abgeschlossene militärische

Expedition. Aber vielmehr erweist sich die militärische Unternehmungals mitnichten schon abgeschlossen, weil sich in ihrem Kontext die vonder Senatspartei betriebene exaktiv-direkte Mittelbeschaffung als pla-ne Fortsetzung des militärischen Procedere artikuliert. Statt den been-deten Krieg ad acta zu legen und die römischen Beziehungen zu demgegnerischen Territorium sei’s im traditionellen Sinne bundesgenossen-schaftlicher Verträglichkeit, sei’s in der veränderten Bedeutung einerfremdherrschaftlich etablierten Zivilverwaltung zu normalisieren, richtetdie Senatspartei dort eine auf Truppengarnisonen einerseits und kolonialeund munizipiale Gründungen andererseits gestützte Militärverwaltungein, die nicht primär dem Zweck dient, die Rahmenbedingungen für eineWiederaufnahme ziviler Geschäfte und kommerzieller Aktivitäten zuschaffen, sondern die in der Hauptsache dazu bestimmt ist, Kontribu-tionsleistungen für die Staatskasse zu erpressen beziehungsweise zumWohle der letzteren menschliche und natürliche Ressourcen zu verwer-ten. Wenn man so will, führt sie den Krieg mit gleichen Mitteln, aberanderer Zielsetzung fort: Nicht der militärischen Unterwerfung, son-dern der ökonomischen Ausbeutung, nicht der aggressiven Rekrutierungfremder Reichtumsproduzenten für das römische Austauschsystem undkommerzielle Gewinnstreben, sondern der expropriativen Aneignungfremdproduzierten Reichtums ohne jeden Austausch und frei von aller

das Gewinnstreben vermittelnden kommerziellen Verfahrensform dientnunmehr die Kriegsrüstung und Gewaltübung.

Die Kontinuität der kriegerischen Vorgehensweise findet dabei sinn- bildlichen Ausdruck in der Person des Anführers der Operation, desobersten Militärs. Wie er es ist, der als ranghöchster exekutiver Beamterder Republik, als Konsul oder Prätor, die Rolle des Feldherrn spielt undden in der territorialen Eroberung resultierenden Kriegszug befehligt,so ist er es nun aber auch, der nach abgelaufener Amtszeit als quasiStellvertreter seiner selbst, als für seinen Nachfolger im Amte agierenderSubstitut, sprich, pro consule oder pro praetore, in dem mittels Kriegs-

zug eroberten Gebiet die Stellung hält. Nach beendeter konsularischeroder prätorischer Amtszeit vom Senat zum Statthalter des erobertenGebiets bestimmt, vertritt der Prokonsul oder Proprätor als Vorgängerseinen Nachfolger, den Konsul oder Prätor, der mittlerweile bereits ananderen Fronten kämpft und Eroberungskriege führt. Was Konsul oder

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Prätor erobert und unterworfen haben, das erhalten ihre Stellvertreter

und Statthalter, Prokonsul und Proprätor, im Zustand der Unterwerfung, behaupten sie als römische Besitzung, und sie tun das kraft imperium,kraft ein und derselben militärischen Vollmacht und Befehlsgewalt, dieauch Konsul und Prätor ausüben.

Nichts beweist schlagender die Kontinuität der kriegszuständlichenHerrschaft und Militärverwaltung, die seit den punischen Kriegen dieRömische Republik in den von ihr eroberten Gebieten praktiziert, alseben die Tatsache, dass der dort amtierende Statthalter über dieselbekriegsfallspezifische oder notstandsbedingte persönliche Befehlsgewaltund durch keine institutionellen Schranken beeinträchtigte Vollmacht

verfügt wie der Kriegsführer und Feldherr, der er zuvor war und den er jetzt, da dieser sich neuen Schlachtfeldern und Streitobjekten zugewandthat, an der früheren, mittlerweile befriedeten, aber nach wie vor als quasiKriegsschauplatz und militärisches Sperrgebiet festgehaltenen Kampfes-stätte vertritt. Und nichts lässt den streng militärischen Charakter desdem Statthalter über das Territorium verliehenen imperiums deutlicherhervortreten, als der Umstand, dass er jene imperiale Befehlsgewalt zu-erst und vor allem für den eigenen Unterhalt, für die Versorgung undsubsistenzielle Aufrechterhaltung seines Herrschaftsapparates einsetztund dass er dies, allem mittlerweile eingetretenen Friedenszustand zum

Trotz, auf die gleiche Weise tut, wie das im Feld stehende Heer das zu tunpflegt: durch Requisition, durch direkte Inanspruch- und Beschlagnahmevon Gütern, Geld und Dienstleistungen des eroberten und unterworfenenGebiets selbst.

Statt den Umweg über die römische Staatskasse zu nehmen, statt alsoetwa in dem Gebiet eine Besteuerung im Namen und zugunsten des Ärareinzuführen, um dann aus den Steuerträgen die für die Beherrschung undVerwaltung des Gebietes erforderlichen Mittel abzuzweigen oder bessernoch sich vom Römischen Senat bewilligen zu lassen, nutzt der Statthalterdie im Gebiet vorgefunden Besteuerungssysteme und Mechanismen der

Ausbeutung natürlicher und menschlicher Ressourcen unmittelbar prodomo seiner politisch-bürokratischen Selbstbehauptung und treibt mitihrer Hilfe kraft imperium, kraft militärischer Befehlsgewalt, die teils fürdie eigene Hofhaltung, teils für die ordnungspolitische und infrastruk-turelle Instandhaltung seines Territoriums nötigen Finanzmittel ein. Der

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Gattungsname, mit dem das so behandelt Gebiet belegt wird, ist Pro-

gramm. Das Gebiet ist provincia, ein Territorium, das der Statthalter dasimperium hat, pro consule aut pro praetore vincere, das also durch denStatthalter pronominal, stellvertretend für den abwesenden Kriegsherren,sprich, prokonsularisch oder proprätorisch, im Zustand militärischerUnterwerfung erhalten und das in altbewährter Kriegsführungs- undEroberungsmanier per Requisitionsverfahren für den Unterhalt des seineUnterwerfung besorgenden und sicherstellenden Militärapparats heran-gezogen, kurz, zur Finanzierung seines eigenen Unterwerfungszustandesin Anspruch genommen wird.

Kontextspezifisch gesehen, wird also die im Zustand pronominaler mi-litärischer Unterwerfung gehaltene Provinz zur Kasse gebeten, um eben

 jenen Unterwerfungszustand beizubehalten. Dass dies nun aber nichtschon die ganze Wahrheit ist und dass sich mit anderen Worten das Ver-hältnis von provinzialer Herrschaft und direkter Ausbeutung der Provinznicht in schierer Zirkelhaftigkeit erschöpft, das garantiert die dem Kon-text eingeschriebene Perspektive, das dem Pränominalen eigene Momentvon Finalität, die im Selbstzweck steckende wirkliche Zweckhaftigkeit.Schließlich ist es pro consule oder pro praetore, dass der gewesene Konsuloder Prätor die Provinz in quasimilitärischer Unterwerfung hält, undwenn er sie in quasimilitärischer Manier, nämlich per Requisitionsverfah-ren, zur Finanzierung solcher Unterwerfung heranzieht, dann tut er das

gleichfalls pro consule oder pro praetore, nämlich nicht nur im zirkulär-reflexiven Sinne einer Erhaltung des erreichten expansiven Status quo,sondern ebenso sehr und vor allem in der zielgerichtet-objektiven Be-deutung einer Beförderung weiterer Expansionsprojekte. Provinz ist mitanderen Worten das unterworfene Gebiet auch und nicht zuletzt mit derImplikation, dass es im Zustande der Unterwerfung dem Zweck dient,für die neuen Kriegszüge, die Konsuln oder Prätoren unterdes in anderenGebieten unternehmen, für die weiteren Eroberungen, die sie mittlerweileandernorts machen, da zu sein, sprich, die nötigen finanziellen Mittel bereitzustellen.

So gewiss im logischen Einklang mit der Tatsache, dass die römische

Staatskasse, das Ärar der Republik, wesentlich als Kriegskasse firmiert,den Kernpunkt des Konsuln- und Prätorenamtes kriegerische Erobe-rungszüge, militärische Expansionsanstrengungen bilden, so gewiss er-füllt die zur Entlastung der Staatskasse eingeführte exaktiv-direkte Mit-telbeschaffung, die der Statthalter, der Stellvertreter des Konsuls oder

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Prätors bei den Unterworfenen betreibt, nicht nur die relativ-pronominale

Funktion, den im Konsuln- oder Prätorenamt verkörperten Status quoder römischen Herrschaft zu alimentieren, sondern auch und vor allemdie offensiv-finale Aufgabe, das für das Konsuln- oder Prätorenamt be-stimmende Primum movens einer Expansion der römischen Herrschaftzu subventionieren. Erst dies, dass sie auch und vor allem die Aufgabehat, zu der von der Senatspartei und ihren amtlichen Vertretern, denKonsuln und Prätoren, vorangetriebenen römischen Eroberungspolitik beizutragen, beizusteuern, verleiht der requisitorisch-direkten Mittelbe-schaffung des als quasi Militärgouverneur mit imperativer Vollmachtherrschenden Prokonsuls oder Proprätors Perspektive; erst kraft dieserkontributiven Leistung, die es erbringt, bekommt das Regiment des rö-mischen Statthalters in den Provinzen Hand und Fuß, einen über dierespektiv-pronominale Selbstbehauptung hinausgehenden prospektiv-intentionalen Gehalt, ein den Zirkel einer Herrschaft, die gewaltsam diefür ihre Aufrechterhaltung nötigen Mittel beschafft und die sich um dergewaltsamen Mittelbeschaffung willen aufrechterhält, transzendierendesZiel. In der Tat sind es die den Provinzen abgepressten Kontributionen,die uno actu der mit ihnen erreichten Entlastung des römischen Ärars dermilitärischen Expansion der Römischen Republik den Charakter einersich selbst erhaltenden Veranstaltung, eines quasi selbstreproduktivenAutomatismus verleihen und damit die exaktiv-direkte Ausbeutung derProvinzen vom Verdacht eines perspektivlos bloßen Aktes militärherr-schaftlicher Selbstbehauptung befreien und ihr vielmehr den guten Sinnund konstruktiven Verstand eines Beitrags und Bausteins zu der von denrömischen Heeren unter Führung ihrer konsularischen und prätorischenFeldherren vielleicht zwar nicht zielstrebig, ganz gewiss aber hartnäckig betriebenen Errichtung eines die mittelmeerischen Gebiete umfassendenImperiums vindizieren.

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Die Kontributionspraxis treibt die Expansionspolitik in ein intentionales Di-

lemma, weil sie die kommerzielle Zielsetzung der Expansion nicht zwar ersetzt,wohl aber ad infinitum des sich selbst tragenden Eroberungsprozesses hinter-treibt. Dass dies nicht als Bruch in der politisch-ökonomischen Ausrichtung derRepublik erfahren wird, dafür sorgt nicht zuletzt die Tatsache, dass auch dieKontributionszahlungen der heimischen kommerziellen Aktivität zugute kom-men. Allerdings schlagen sie vornehmlich auf der Seite der Rüstungsproduktionzu Buche, die dadurch ein immer größeres Gewicht erlangt, während sich dieBefriedigung ziviler Bedürfnisse immer stärker an fremde Märkte verwiesen

 findet.

Ob damit, dass sich die unterworfenen Gebiete, die Provinzen, durch

die Kontributionen, die sie leisten, als Beiträger zur weiteren römischenExpansion in Anspruch genommen und in die imperiale Prozession derRömischen Republik eingereiht zeigen – ob damit also die prokonsula-rische oder proprätorische Zwangsverwaltung und militärherrschaftlichdirekte Ausbeutung der Provinzen bereits als effektiv vom Vorwurf derZirkelhaftigkeit und zwecklosen Selbsterhaltung exkulpiert gelten kann,das erscheint bei näherem Zusehen mehr als zweifelhaft. Vielmehr scheintsich bei genauerem Hinsehen die Zirkelschlüssigkeit, von der ihr kon-tributiver Beitrag zur fortgeführten römischen Expansionspolitik diemilitärherrschaftlich direkte Ausbeutung der einzelnen Provinzen durch

den mit imperium ausgestatteten prokonsularischen oder proprätori-schen Statthalter freispricht, auf der Ebene der kraft konsularischemoder prätorischem imperium betriebenen römischen Expansionspolitikals ganzer zu reproduzieren. Deren – historisch gesehen – erster und –strategisch genommen – letzter Zweck ist ja die Integration der Gebiete,die sie der römischen Hegemonie oder Herrschaft unterwirft, in dasitalisch-römische Handelssystem und seine indirekt-kommerziellen Aus- beutungsmechanismen. In dem Maße aber, wie sie sich nun im Interesseeiner finanziellen Entlastung des Ärars und der zu ihm beitragleisten-den römischen Steuerbürger durch eine direkt-requisitorische Schatzungund Ausplünderung der unterworfenen Gebiete zu finanzieren beginnt,

kommt diese Expansionspolitik ihrem gleichermaßen historisch verbürg-ten und strategisch erklärten eigenen Zweck offenkundig in die Quere.

Und zwar widerstreitet sie ihm gleich in zweifacher Hinsicht diametral.Institutionell schlägt sie ihm dadurch ins Gesicht, dass sie die als pro-konsularische Kontributoren, als Beiträger zur weiteren Kriegsrüstung

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Effektivität und Kontinuität willen, pro forma also, um ihrem Zweck

einer Entfaltung des italisch-römischen Handelssystems und der mit ihmsich bietenden Bereicherungschancen zu weitestgehender Realisierung zuverhelfen, verschafft sich diese militärische Expansionspolitik eine eigeneFinanzierungsquelle und ökonomische Basis und manövriert sich promateria dieser ihrer Selbstfinanzierung in ein Ausschließungsverhältniszu den politischen und ökonomischen Bedingungen eines gedeihlichenkommerziellen Treibens, in dem sie jenen Zweck einer Entfaltung desHandelssystems, dem sie formell die Stange hält, ad infinitum ihrer ei-genen, als Selbstläufer verfolgten Effektivität und qua Automatismusgewahrten Kontinuität hintertreibt.

Wohlgemerkt, sie hintertreibt ihn nur, sorgt unwillkürlich-repetitivfür seine Durchkreuzung, gibt ihm nicht etwa den Laufpass, legt ihnnicht etwa absichtlich-definitiv ad acta! Pro forma ihrer Gesamtperspek-tive bleibt vielmehr die römische Expansionspolitik der ursprünglichenZielsetzung treu. Wenn sie in den einzelnen Provinzen der Entfaltungnormaler kommerzieller Aktivitäten in die Quere kommt und durchihre kontributiv-direkten, militärherrschaftlichen Ausplünderungsmaß-nahmen der transaktiv-indirekten marktwirtschaftlichen Ausbeutungs-technik in der Tat den Boden entzieht, so nicht etwa, weil sie jene ur-sprüngliche Zielsetzung abdanken, sondern im Gegenteil, weil sie solcheZielvorgabe am Ende auf breitester Basis und in systemgemäß umfas-

sendster Form realisierbar werden lassen will. Die römische Expansi-onspolitik verwandelt sich also in ein ihren unmittelbar-eigentlichenZweck kommerzieller Entfaltung empirisch vereitelndes Selbstzweckun-ternehmen in der besten Absicht einer als mittelbar-letztliche Perspektivegewahrten hingebungsvollen Zweckdienlichkeit, sie nimmt die Bedeu-tung eines reflexiv-zirkulären Automatismus quasi im vollen Ornat ih-rer sich unverändert behauptenden objektiv-funktionellen Bestimmtheitan. Dass die Expansionspolitik in dem Maße, wie sie sich selbst finan-ziert und die Züge eines Unternehmens mit Eigenantrieb annimmt, einekontraproduktive Dynamik entwickelt und nämlich zu ihrer ursprüng-

lichen Zweckbestimmung in ein Konkurrenz- und Verdrängungsver-hältnis tritt, stellt demnach politisch-ideologisch keinen spektakulär-entschiedenen Richtungswechsel und Kontinuitätsbruch, sondern ehereine umständebedingt-unwillkürliche Abweichung vom Kurs und amEnde gar rentable Verzögerung der Zielankunft dar und kann sich dem

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öffentlichen Bewusstsein der Republik ohne weiteres unter der Camou-

flage einer im Prinzip gewahrten Stetigkeit der Zielsetzung präsentieren.Noch schwerer aber wiegt, dass auch ökonomisch-praktisch diese sichselbsttätig finanzierende und damit der kommerziellen Entfaltung, der sieeigentlich Vorschub leisten soll, vielmehr in die Parade fahrende Expan-sionspolitik keinen gar so großen Unterschied macht. Schließlich fließendie militärherrschaftlich – durch direkte Enteignung – erpressten Kontri- butionen geradeso nach Rom, wie das die handelssystematisch – durchindirekte Aneignung – erzielten Gewinne täten, die der kontributivenPraxis zum Opfer fallen, und zeitigen dort mehr noch eine ganz ähnlicheWirkung wie die letzteren, wenn es sie denn gäbe. Zwar kommen diese

provinziellen Tribute anders als die durch sie verhinderten kommerzi-ellen Profite nicht einfach dem zivilen Konsum zugute, gelangen alsonicht kurzerhand an Produzenten und Dienstleistende, die sich dafür,dass sie den Profiteuren, den Handeltreibenden, sei’s bei der weiterenWertakkumulation, sei’s beim Erwerb von gesellschaftlichem Status zurHand gehen, mit einer mehr oder minder verbesserten Subsistenz, einerHebung ihres Lebensstandards belohnt finden, sondern diese Tribute ausder Provinz werden in der Hauptsache für neue Feldzüge und Eroberun-gen gebraucht, werden in Kriegrüstungen und Unterhaltszahlungen fürdie Truppen gesteckt. Insofern indes Kriegsrüstungen bedeuten, dass die

Dienste von Schmieden, Gerbern, Tuchmachern, Schiffsbauern, kurz, vonHandwerkern aller Profession in Anspruch genommen werden und dassihre erforderliche Verproviantierung die Truppen zu einem Großabneh-mer für die Landwirtschaft machen und insofern Unterhaltszahlungenan die Soldaten darauf hinauslaufen, dass minderbemittelte Gruppen derBevölkerung finanziell unterstützt und in die Lage versetzt werden, sichals Konsumenten besser zur Geltung zu bringen, wirken sich die provin-ziellen Tribute letztlich gar nicht soviel anders aus als die kommerziellenProfite und spielen wie die letzteren eine definitiv konsumförderndeRolle, erfüllen eine erkennbar wirtschaftsbelebende Funktion.

Der Unterschied besteht einzig und allein in der Besonderheit desBedarfs, den die Kontributionsgelder repräsentieren und im dementspre-chend speziellen Charakter der Güter, die sie kommandieren, mit anderenWorten darin, dass diese Gelder auf dem Waren- und Arbeitsmarkt derRepublik, sprich durch kommerziellen Austausch, Kauf, in Produkte

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umgesetzt werden, die ihrerseits nicht wiederum für den kommerziel-

len Austausch bestimmt, das heißt, darauf abgestellt sind, sich mittelsaustauschförmiger Transaktionen in mehrwertiges Geld zurückzuver-wandeln, besser gesagt, den mehrwertigen Wert, den sie aufgrund derersten Transaktion verkörpern, in der Geldform, der Form von sanktio-nierten Ansprüchen an den Markt, zu realisieren, sondern deren Funktiones ist, dieses Geld, diese qua Münze des Marktes sanktionierten Ansprü-che an den Markt, auf andere Weise als auf dem Wege kommerziellenAustauschs, nämlich ohne Transaktion, durch unmittelbare Exaktion,durch mehr oder minder gewaltsame Enteignung, einen entschädigungs-los erpressten Tribut, zu beschaffen. So gewiss die mit Gewalt einge-triebenen Kontributionen auf dem Wege ganz normalen kommerziellenAustausches in Kriegsrüstung gesteckt, das heißt, für die Anschaffungvon Waffen, Transportmitteln und Verpflegung sowie für die Entlohnungkriegshandwerklicher Arbeitskraft ausgegeben werden, so gewiss dienendie mittels Kontributionen auf dem Binnenmarkt der Republik entfaltetenund beförderten kommerziellen Aktivitäten einem nichtkommerziel-len, markttranszendenten Zweck, nämlich der nach außen gerichteten,auf die Märkte der römischen Provinzen und der Gebiete, die noch dermilitärischen Unterwerfung harren, gezielten Außerkraftsetzung des aus-tauschförmigen Äquivalenzprinzips und der Beschaffung von Reichtum,Marktanteilen durch eine mit Waffengewalt geübte Expropriation.

Der aus den Kontributionen sich speisende Kommerz ist also im Unter-schied zu dem durch sein eigenes Produkt, durch Profite, angetriebenenAustausch ein ebenso beschränktes wie fremdbestimmtes Unterfangenund übt, systematisch betrachtet, Selbstverrat, straft sich Lügen, indemer in Diensten eines nichtkommerziellen, austauschwidrigen Interessesan der militärisch organisierten Plünderung fremder Märkte agiert, in-dem er mit anderen Worten sein eigenes, handelsfunktionelles Gedeihenauf das Unglück der Handelsfunktion in den Provinzen und neuero- berten Gebieten gründet – auch wenn zuzugebendermaßen diese seineFremdbestimmtheit nicht weniger vom Eigeninteresse diktiert als vom

Selbstverrat gezeichnet ist und sich ebenso existenzsichernd wie identi-tätsverwirrend für ihn auswirkt, weil in der Tat jene nichtkommerziell-kontributive Aneignung von Reichtum, der seine AustauschprozesseVorschub leisten und in der sie ihren heteronomen Zweck finden, wieder-um auf ihn als Rüstkammer und Versorgungsdepot angewiesen ist und

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zurückgreift und also ihm in seiner rüstungsindustriellen Spezialisierung,

seiner Beschränktheit auf kriegsrelevante Güter und Gewerbe Gedeihenund Vorteil bringt.Diese seine industrielle und soziale Beschränkung auf Rüstungsauf-

gaben, seine Ausrichtung auf den Krieg, scheint demnach die einzigeernsthafte Beeinträchtigung, die den Handel und Wandel der Republikdie von der Aristokratie eingeführte provinzielle Militärverwaltung unddie damit Hand in Hand gehende Einführung der Kontributionspraxis,das heißt, Umstellung der Staatsfinanzierung von einer der Besteuerungunterworfenen indirekt-kommerziellen auf eine als Beschlagnahmungexekutierte direkt-kontributive Reichtumsbeschaffung in Kauf zu neh-men zwingt. Ansonsten scheint sich die kontributive Bereicherungspraxismit der kommerziellen Akkumulationstätigkeit, die sie suspendiert undaußenwirtschaftlich für die unbestimmte Zeit ihres selbstreproduktivenAutomatismus in der Tat ersetzt, ebenso sehr ökonomisch-praktisch zuvertragen und nämlich im binnenwirtschaftlichen Rahmen zu einemZweckbündnis zusammenzufinden, wie sie sich politisch-ideologisch mitihr vereinbar zeigt und nämlich gesamtperspektivisch unverändert auf sie gemünzt behauptet. Allerdings muss die besagte Beeinträchtigung,die die im Automatismus des Eroberungsprozesses, den sie speist, sichreproduzierende Kontributionspraxis für Handel und Gewerbe mit sich bringt, muss die Deformation und Schieflage, die solche extern geübte

Kontributionspraxis dem intern auf ihrer Grundlage sich entwickelndenkommerziellen System vindiziert, auf die lange Sicht, die eben jenerAutomatismus, jener kontributive Selbstfinanzierungsmechanismus desEroberungsprozesses, garantiert, höchst bedenklich anmuten.

Dass dank der Kontributionen Rüstungsgüter und Kriegsleistungenderart bevorzugt nachgefragt und ins Zentrum des gewerblichen Tunsund kommerziellen Treibens gerückt werden, scheint auf lange Sichtzwangsläufig zu einer Benachteiligung und Verkümmerung der für denzivilen Konsum, für die Befriedigung friedenszeitspezifischer Bedürfnissezuständigen Sparten des Wirtschaftslebens führen und mithin zu einer

Aufspaltung der marktförmig organisierten Produktionsgemeinschaft derRepublik in eine Zweiklassengesellschaft aus wohlhabenden Kriegsge-winnlern und unbemittelten Friedensgewerblern resultieren zu müssen.Zwar fließt, da die Begünstigten dieses mittels Kontributionen aufge-legten Wirtschaftsbelebungsprogramms, die Rüstungsproduzenten und

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Kriegführenden, ja ihrerseits Subsistenz-, Konsum und Luxusbedürfnisse

haben, ein Teil der Kontributionszahlungen letztlich auch in die zivilenGewerbe, kommt indirekt also auch den konsumindustriellen Spartenzugute, aber erstens bestätigt sich damit nur die systematische Abhängig-keit und sekundäre Stellung, in die letztere gedrängt werden, bestätigtsich also dies, dass unter den durch die Kontributionen verändertenVerhältnissen die zivilen Gewerbe nicht mehr vollgültige Beteiligte an ei-nem voll entfalteten kommerziellen System, sondern nurmehr Zuarbeiterund Ausgehaltene einer Eroberungspolitik sind, deren Existenzprinzipnicht akkumulativer Äquivalententausch, sondern reiterativ-gewaltsamerRaub ist, und zweitens fließen die Kontributionszahlungen eben auchnur zum Teil den zivilen Gewerben der Republik zu, entweder weil siein sächlicher Form erscheinen, beschlagnahmte Güter sind, und in die-ser Gestalt den zivilen Gewerben der Republik nicht nur nicht zugutegekommen, sondern im Gegenteil den von diesen produzierten GüternKonkurrenz machen, oder weil sie, soweit sie denn Geldform haben, denprimären Begünstigten des Kontributionssystems, den Rüstungsprodu-zenten und Kriegführenden, je ermöglichen, ihre Subsistenz-, Konsum-und Luxusbedürfnisse auch auf anderen Märkten als denen der Republik,nämlich über den Handel mit den Provinzen oder den von Rom unab-hängigen Gebieten zu befriedigen – was wiederum bedeutet, dass sich inder Römischen Republik auf lange Sicht die Wohlstandsschere zwischen

der durch die Kontributionen primär begünstigten Rüstungsindustrieund Kriegsmaschinerie und der sekundär an den Kontributionen partizi-pierenden Konsumindustrie und zivilen Produktion immer weiter öffnenmuss.

Will die zivile Produktion verhindern, dass sie immer mehr ins Hin-tertreffen gerät und von der kontributiv vorangetriebenen Wohlstands-entwicklung zunehmend abgehängt wird, so scheint ihr nichts anderesübrig zu bleiben, als die Sparte zu wechseln und sich ihrerseits den lu-krativeren Produktionsaufgaben und Dienstleistungen zu verschreiben,zu denen eine von Kontributionen getragene militärische Expansionspo-

litik die Bürgerschaft antreibt. Der einzige Weg, dem aus Abhängigkeitund Benachteiligung gemischten Schicksal zu entrinnen, das den zivilenGewerben aus solcher kontributionsfinanzierten Expansion erwächst, besteht mit anderen Worten in einer zunehmenden Ausrichtung auch die-ser Gewerbe auf die Rüstungsproduktion und den Kriegsdienst, mithin

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in einer immer stärkeren Spezialisierung aller ökonomischen Kräfte der

Republik auf die Erzeugung der für die Beschaffung weiterer Kontributio-nen erforderlichen Mittel und Bedingungen, kurz, in einer zunehmendenMilitarisierung des gesamten Wirtschaftssystems der Republik. Diese De-sertion der zivilen Gewerbe ins rüstungsindustrielle und kriegführendeLager aber wiederum hat zur Folge, dass die für die KriegsmaschinerieTätigen die Kontributionsgelder, mit denen sie für ihre Tätigkeit entlohntwerden, immer weniger Gelegenheit finden, auf dem Binnenmarkt derRepublik in die von ihnen benötigten Subsistenzmittel und Konsumgüterumzuwandeln und sich zur Befriedigung ihrer subsistentiellen Bedürf-nisse und konsumtiven Ansprüche immer mehr an fremde Märkte imallgemeinen und die Märkte der Provinzen im besonderen verwiesen

finden.

 Auf lange Sicht scheinen die Kontributionszahlungen der Provinzen und neu-eroberten Gebiete die römische Republik in eine ökonomische Schieflage hinein-zutreiben, die in dem Maß, wie sie auf eine perverse Arbeitsteilung zwischen dernichts als Gewaltmittel für die Aneignung fremder Lebensmittel produzierendenRepublik und den nichts als Lebensmittel für die fremden Expropriateure produ-zierenden Provinzen hinausläuft, gar nicht umhin zu können scheint, das ganzerömische Herrschaftsprojekt ad absurdum zu führen.

Die Kontributionszahlungen und das Bestreben, an ihnen direkt undprofitabel zu partizipieren, begünstigen, so gesehen, eine Arbeitsteilung,in deren Konsequenz die Römische Republik am Ende all ihre produkti-ven Anstrengungen auf die Schaffung eines militärischen Zwangsappa-rats richtet, mit dessen Hilfe sie fremde Gebiete unterwerfen und ihnenweitere Kontributionen, sprich, Marktanteile in Form von Gütern undGeld abpressen kann, während die produktiven Bemühungen der unter-worfenen Gebiete der Erzeugung der per Markt versammelten Subsis-tenzmittel und Konsumgüter gilt, an denen sich die Republik durch ihrmittels Kontributionen ins Leben gerufenes Gewaltpotential immer neue,

sei’s unmittelbar-naturale, sei’s mittelbar-pekuniäre Anteile verschafft.Diese Arbeitsteilung aber, die den Provinzen die Arbeit der gesellschaftli-chen Reproduktion überlässt, während sie die Arbeit der Republik darauf abstellt, das für eine schmarotzende Teilhabe an jener Reproduktion er-forderliche Zwangsinstrumentarium zu schaffen, ist ebenso pervers und

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schädlich wie letztlich zum Scheitern verurteilt. Pervers ist sie, weil sie

auf Seiten der Republik gesellschaftliche Arbeit in ihrem Sinn verdrehtund aus einer produktiv-sozialen Tätigkeit in eine asozial-reduktive Ak-tivität, aus einem Verfahren zur Sicherung der eigenen Subsistenz durchkooperativ-gewerbliche Mehrung der gesellschaftlichen Subsistenzmittelin eine Veranstaltung zur komplizenschaftlich-gewaltsamen Entwendunggesellschaftlicher Subsistenzmittel zwecks Sicherung der eigenen Sub-sistenz verkehrt. Schädlich ist sie, weil sie das Ensemble menschlicherFähigkeiten und Fertigkeiten willkürlich aufspaltet und auseinanderreißtund eine Vereinseitigung, um nicht zu sagen Bornierung, der produktivenAnstrengung impliziert, die langfristig hier wie dort, in der Republikund in den Provinzen, eine Verkümmerung der Produktivkräfte undStagnation der wirtschaftlichen Entwicklung nach sich ziehen muss.

Vor allem aber scheint diese Arbeitsteilung zum Scheitern verurteilt,weil sie darauf angelegt ist, den quasilogischen Widerspruch, in densich die exaktiv-direkte Expropriation der Provinzen durch eine Strate-gie requisitorischer Beschlagnahmung und kontributiver Besteuerungunausweichlich verstrickt, zum eklatanten und systemsprengenden Ziel-konflikt zu steigern. Anders als das transaktiv-indirekte Verfahren ei-ner akkumulativ-kommerziellen Aneignung von Reichtum erwirbt jeneexaktiv-direkte Enteignungsprozedur Anteile an den Provinzialmärktenund Ansprüche an sie, ohne entsprechende Gegenleistungen zu erbrin-

gen, ohne mit anderen Worten für eine Zufuhr und Zuwendung äquiva-lenter Güter und Dienstleistungen zu sorgen. So genommen, verwickeltsich diese kompensationslose Zwangsenteignung automatisch in denWiderspruch, dass sie das System, von dem sie profitiert, in actu ihresProfitierens schädigt, dass sie die Milchkuh, die sie melkt, in der unmit-telbaren Konsequenz des Melkens immer auch ein bisschen schlachtet,dass sie, weniger metaphorisch gefasst, der Äquivalenz von Leistungund Gegenleistung, dem Lebensprinzip des Marktes, zuwiderhandeltund dies aber nur kann, solange das Lebensprinzip des Marktes in Kraftund Geltung, der Äquivalententausch, von dem sie nichts wissen will,

herrschendes Paradigma bleibt. Solange sie dabei im Rahmen der mitdem Äquivalententausch untrennbar verknüpften Gewinnperspektive bleibt, solange sie also nicht mehr als die Überschüsse abschöpft, anderen Erzielung der Markt den von ihm veranstalteten Äquivalenten-tausch und die dadurch ermöglichte Güterdistribution knüpft, behält

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der Widerspruch noch eher einen latent-logischen Charakter, als dass er

virulent-empirische Bedeutung gewinnt, bleibt er mit anderen Wortenpraktisch folgenlos und fällt dem Marktsystem eher permanent zur Last,als ihm kurzerhand den Garaus zu machen.

Ob die per Requisition und Kontribution gewaltsam angeeignetenMarktanteile die vom Markt erwirtschafteten Überschüsse, den als derZins des Marktes aus dem Äquivalententausch fließenden Mehrwert,übersteigen und die Substanz des Marktes, sein in der jeweils für einenneuen mehrwertigen Austausch verfügbares Kapital, angreifen und obalso der Widerspruch die Fasson eines auf die Demontage des Systems,das kontributiv geschröpft wird, hinauslaufenden Zielkonflikts gewinnt,ist allerdings – und damit sind wir beim spezifischen Problem im vorlie-genden Fall – eine Frage nicht einfach nur des quantitativen Umfanges,sondern ebenso sehr und primär der qualitativen Verwendung jenerexaktiv erbeuteten statt transaktiv erworbenen Marktanteile, hängt alsonicht einfach nur arithmetisch davon ab, ob die Summe der vom Markterpressten Kontributionen die Summe der durch den Markt erwirtschaf-teten Überschüsse unter- oder überschreitet, sondern ist ebenso sehrsystematisch darauf bezogen, was die Erpresser mit den Kontributionenanfangen oder wo sie sie einsetzen.

Tatsächlich wirken sich die den Provinzialmärkten abgepressten Markt-anteile ja wiederum nur zum Teil, zu jenem Teil nämlich, der für die

Besatzungsmacht requiriert wird und in den Unterhalt ihrer vor Ort sta-tionierten Truppen und etablierten Verwaltungseinrichtungen fließt, imSinne einer kompensationslosen Enteignung des Marktes aus, haben alsonur die Requisitionen den unmittelbaren Effekt, dass dem Markt Güterohne Gegenleistung entzogen werden und er also sächliche Einbußen,reale Verluste an Volumen und Verfügungsmasse erleidet. Die Kontribu-tionen hingegen, jener Teil, den das prokonsularische oder proprätorischeRegime eintreibt, damit die konsularischen oder prätorischen Heere inanderen Regionen die römische Kriegspolitik und Expansionsstrategiefortsetzen können – er wird ja, jedenfalls soweit er Geldform hat, gar nicht

auf dem jeweiligen Provinzialmarkt eingelöst und realisiert, sondernnach Rom geschafft und dort gegenüber dem römischen Binnenmarktgeltend gemacht, als an letzterem erworbener Anteil ins ökonomischeSpiel gebracht. Statt durch ihre Einlösung vor Ort die jeweiligen Pro-vinzialmärkte zu schädigen und nämlich zu kompensationslosen, quasi

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auf eigene Rechnung abgewickelten Warenlieferungen zu zwingen, wer-

den mit anderen Worten die als geldförmige Kontributionszahlungenerpressten Marktanteile auf den Markt der Römischen Republik selbsttransferiert und erfüllen dort als Repräsentanz neu aufgetauchter, vondraußen unvermittelt hereingeschneiter Konsumansprüche die beschrie- bene nachfragebelebende, wirtschaftsankurbelnde Funktion.

Statt die kommerzielle Tätigkeit in den Provinzen zu belasten oder garzu lähmen, wirken also die als Tribut, als Beitrag zur römischen Erobe-rungsstrategie bei den Unterworfenen eingetriebenen Gelder durch ihrenTransfer nach Rom anregend und motivierend auf die Wirtschaft derRepublik selbst – nur dass entsprechend dem vorzugsweise militärisch-

expansionsstrategischen Zweck, dem sie dienen, die Produktion, zu dersie anregen, die Investitionstätigkeit, zu der sie das Motiv liefern, einseitigist und in der Hauptsache die rüstungsindustriellen und kriegshand-werklichen Sparten begünstigt, während sie den zivilen Gewerben unddem Konsumgüterbereich bloß sekundär, bloß in der indirekten Konse-quenz der konsumtiven Bedürfnisse derer, die von den Kontributionenprimär profitieren, zugute kommt – und dass den zivilen Gewerben dieseMischung aus Benachteiligung und Abhängigkeit, der sie sich durchdie Kontributionen in ihrer Eigenschaft als Produktionsfaktor und In-vestitionsprogramm ausgesetzt finden, wiederum zum Ansporn wird,

ihr ziviles Geschäft an den Nagel zu hängen, umzurüsten und zu denlukrativeren, kriegsorientierten Produktionssparten überzulaufen – mitdem beschriebenen Effekt einer immer ausschließlicheren Ausrichtungder römischen Wirtschaft aufs Militärische und einer zwangsläufig da-mit verknüpften zunehmenden Arbeitsteilung, derzufolge die durch dieKontributionen zur Schaffung immer neuer Kapazitäten zwecks Beschaf-fung immer neuer Kontributionen angeregten römischen Produzentenund Kriegshandwerker ihre zivilen Bedürfnisse, da es auf dem heimi-schen, durch die Kriegsproduktion okkupierten Markt am entsprechen-den Angebot fehlt, in wachsendem Maße auf den Märkten der Provinz

 befriedigen müssen.Und indem so denn aber die Provinzialmärkte den arbeitsteiligen Parteines zivilen Versorgers und Lieferanten für die mittels der Kontribu-tionen in eine immer stärkere kriegswirtschaftliche Schieflage hinein-manövrierte Republik übernehmen, ist es aus mit der oben genährten

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Illusion, dass die den Provinzen in Form von monetären Kontributio-

nen abgepressten Marktanteile nicht deren eigene Märkte belasten undzum Opfer eines kompensationslosen Raubbaues, eines allem Äquiva-lententausch ins Gesicht schlagenden parasitären Güterabflusses werdenlassen, sondern in ihrer Wirksamkeit auf den Markt der Republik selbstgemünzt sind und diesen nicht etwa belasten, sondern im Gegenteil bele- ben, zu neuer Aktivität anregen: So gewiss die Belebung in der besagtenArbeitsteilung zwischen der Republik und ihren Provinzen resultiert,so gewiss kehren die Kontributionen auf dem Umweg über die durchsie in der Republik angeregte Kriegswirtschaft an ihren Herkunftsort,in die Provinzen, zurück und entfalten dort als Forderungen an denSubsistenzmittel- und Konsumgütermarkt eben die verheerend parasitäreund im Verein mit dem Effekt der Requisitionen vor Ort zum irreparablenSubstanzverlust durchschlagende Wirkung, die auf den ersten Blick denProvinzialmärkten erspart zu bleiben schien und die nun in der Tat denlatenten Widerspruch eines den Ast, auf dem es aufsitzt, absägendenKontributionssystems in offenen Konflikt ausarten lässt.

Die obige Behauptung, dass die uno actu der Einrichtung von Provin-zen vollzogene vorläufige Suspendierung und vielmehr unabsehbare Er-setzung der transaktiv-indirekten Bereicherung mittels Kommerz durcheine exaktiv-direkte Aneignung von Reichtum mittels Kontributionennicht nur politisch-ideologisch von der Römischen Republik nicht als Pa-

radigmenwechsel, als entscheidender Bruch in der bislang verfolgten Ex-pansionsstrategie, verstanden wird, sondern auch praktisch-ökonomischfür sie keine große Umstellung, keinen wesentlichen Einschnitt in den bis dahin kultivierten Formen gesellschaftlicher Reproduktion bedeu-tet – diese Behauptung scheint also durch die weitere Entwicklung desProvinzialsystems zwangsläufig ad absurdum geführt zu werden. Zwarübernehmen die Kontributionsgelder quasi die Funktion eines Inves-titionsprogramms und wirken sich insofern ähnlich wie kommerzielleProfite belebend auf die wirtschaftlichen Aktivitäten des Empfängers aus,aber weil sie nach Maßgabe der mit ihnen verknüpften Zwecksetzung an-

ders als kommerzielle Profite nur oder vorzugsweise bestimmte, auf dieEintreibung weiterer und vermehrter Kontributionen abgestellte Bereichedes Wirtschaftslebens fördern, bringen sie letzteres in eine Schieflage, dieam Ende und unvermeidlich in einer vollendeten Arbeitsteilung zwi-schen dem Empfänger und den Gebern der Kontributionsleistungen

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resultieren zu müssen scheint – einer Arbeitsteilung, die sich nur in iro-

nischer Absicht so bezeichnen lässt, weil sie, weit entfernt davon, eineAufteilung der für die Subsistenz der Gesamtheit erforderlichen pro-duktiven Anstrengungen unter den beteiligten Gruppen zu bedeuten,vielmehr bloß darin besteht, der einen Gruppe, den Kontributionsgebern,die Produktion der Lebensmittel aufzuhalsen, während die andere Grup-pe, die Gruppe der Kontributionsnehmer, ihren in Kontributionsformebenso kompensationslos wie gewaltsam angeeigneten Anspruch auf die von ersterer produzierten Lebensmittel in den Dienst ganz eigenerproduktiver Bemühungen stellt und nämlich ausschließlich zur Erzeu-gung und Reproduktion ihrer Fähigkeit nutzt, sich auch weiterhin undin immer größerem Umfang die von ersterer produzierten Lebensmittel

kompensationslos-gewaltsam anzueignen – einer Arbeitsteilung mit-hin, die, weil sie auf eine progressive Zweckentfremdung produktiverKapazitäten und auf deren Perversion in ein Potential zur parasitärenPartizipation an dem, was ihresgleichen produziert, hinausläuft, garnicht anders kann, als früher oder später und eher früher als später jenedurch die eigene perverse Abart parasitär genutzten produktiven Kapa-zitäten zu überfordern und, wie die als Produzenten von Lebensmitteln,als universale Versorger, fungierende Gruppe der Kontributionsgeberin den Ruin zu treiben, so die als Produzenten von Mitteln zur Aneig-nung der Lebensmittel, als parasitäre Beschaffer, firmierende Gruppe der

Kontributionsnehmer in diesen Ruin mit hinabzureißen.Auf lange Sicht betrachtet und in der Eigendynamik gewürdigt, die esentfaltet, scheint also das Kontributionsverfahren den Wahrspruch, dassunrecht Gut nicht gedeihet, nur bekräftigen, scheint es nur bestätigenzu können, dass ein nicht auf wechselseitige produktive Leistungen undderen Austausch gegründetes kommerzielles System, dass ein System, bei dem der eine Austauschpartner produktive Leistungen erbringt, wäh-rend der andere seine produktiven Anstrengungen vorzugsweise darauf richtet, an diesen Leistungen des anderen ohne Gegenleistung, durchgewaltsame Expropriation, zu partizipieren – dass ein solches System einePerversions- und Degenerationsform, eine Abweichung vom Tugendpfad

subsistenzdienlich produktiver Arbeit darstellt, die in dem Maß, wie siedank ihrer Eigendynamik manichäische Totalität, die Allverbindlichkeiteiner zur dichotomischen Grundstruktur entfalteten Arbeitsteilung ge-winnt, gar nicht umhin kann, sich ad absurdum ruinösen Selbstverzehrszu führen.

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Der drohenden ökonomischen Schieflage der Republik wirkt das die exaktiv-

staatliche Kontributionspraxis begleitende privativ-persönliche Konfiskationss-treben der Provinzstatthalter entgegen, die ihre gegenüber den eigenen Besit-zungen geübte grundherrschaftliche Despotie auf das Verhältnis zu den vonihnen im Auftrag der Republik prokonsularisch oder proprätorisch verwaltetenGebiete übertragen. Diese persönliche Bereicherungssucht der Statthalter kommtder heimischen zivilen Wirtschaft der Republik zugute, weshalb der römischeSenat sie toleriert, obwohl sie doch eigentlich der von ihm korporativ vertretenenExpansionspolitik Abbruch tut.

Tatsache indes ist, dass das auf Provinzialbasis praktizierte römische

Kontributionssystem, obwohl es alle Züge einer solchen, das kommerziel-le System, das es suspendiert, ebenso zweckentfremdet reproduzierendenwie vexierbildlich umfunktionierenden Perversions- und Degenerati-onsform aufweist, obwohl es also ohne Frage einer hypertrophen Ent-wicklung der rüstungsindustriellen und kriegshandwerklichen GewerbeVorschub leistet und damit ein gerüttelt Maß produktive Anstrengungauf die parasitäre Aneignung der Früchte der produktiven Anstrengungder römischen Provinzen und der im Zuge der römischen Expansionneu zu erobernden Gebiete verwendet – dass es also dennoch nicht indie fatal vollendete “Arbeitsteilung” zwischen der Republik und ihren

Provinzen hineingleitet, die mit der degenerativen Schieflage, in die sichdie Ökonomie der Republik gebracht sieht, eigentlich vorprogrammiertist, und mithin auch nicht oder jedenfalls nicht sogleich und nicht inder skizzierten Form den allgemeinen Ruin heraufbeschwört, auf denwiederum jene “Arbeitsteilung” zwangsläufig hinausläuft. Verantwort-lich für solch heilsame Inkonsequenz, solche Bewahrung des römischenKontributionssystems vor den an sich in ihm angelegten letzten undschlimmsten ökonomischen Auswirkungen, ist eine Eigentümlichkeit desKontributionsmechanismus, die geeignet ist, die Einseitigkeit und hyper-trophe Fehlentwicklung, in die im Unterschied zu austauschvermittelt-

kommerziellen Gewinnen die gewaltbedingt-kontributiven Beutegelderdie Wirtschaft hineintreiben, zu kompensieren und quasi Ersatz für diedirekte Förderung und Dotierung zu schaffen, die im Zuge eines freifunktionierenden kommerziellen Systems auch und nicht zuletzt denzivilen Gewerben und Konsumgütersparten zuteil wird.

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Diese Eigentümlichkeit des Kontributionsmechanismus aber ist die

politisch-rechtliche Form, in der die Kontributionen eingetrieben wer-den, ist mit anderen Worten das imperium, mit dem der Eintreiber, derStatthalter der Republik, ausgestattet wird und kraft dessen er über dieProvinz seine Herrschaft ausübt. Das imperium ist ihm von der Römi-schen Republik, besser gesagt, von deren senatorisch-politischer Führung,kurz, von seinesgleichen, seinen Peers, verliehen, damit er es pro con-sule oder pro praetore, als Prokonsul oder Proprätor, als Statthalter derim Zweifelsfall andernorts mit neuer kriegerischer Expansion, mit wei-teren Eroberungen befaßten höchsten Exekutivbeamten der Republik,ausübt und das bereits unterworfene Gebiet, das er stellvertretend für

 jene verwaltet, als Provinz, als zum Zwecke solch weiterer konsulari-scher oder prätorischer Eroberungen beherrschtes Territorium realisiert,sprich, diesem Gebiet die für die Finanzierung der weiteren Expansionerforderlichen Mittel in der Form von Kontributionen abpresst. Von densenatorisch-republikanischen Auftraggebern her betrachtet, ist also dieimperiale Herrschaft, die Befehlsgewalt, die der Prokonsul oder Proprätorüber seine Provinz ausübt, nicht nur ein zeitlich determiniertes, sondernvor allem auch ein funktionell definiertes Amt und weit entfernt von derUnbeschränktheit und Absolutheit, die es qua imperium behauptet.

Gleichzeitig aber behauptet die imperiale Befehlsgewalt des Statthal-

ters der Provinz diesen qua imperium ausgesprochenen Charakter derUnbeschränktheit und Absolutheit ihrer inhaltlichen Zielsetzung undrealen Beschaffenheit nach zu Recht: Weil wegen des expansionsstrate-gischen Zweckes, dem das Provinzialsystem primär dient, wegen derTatsache also, dass die einzelne Provinz im Sinne des Wortes, in dervollen Zirkelbedeutung des vincere pro vincere, unterworfen wird und bis auf unabsehbar weiteres unterworfen bleibt, um für die Unterwerfungweiterer, als Provinzen zu vereinnahmender Gebiete den nötigen materi-ellen Rückhalt zu bieten, sprich, die erforderliche finanzielle Grundlagezu schaffen – weil wegen dieses finalen Zusammenhanges politische

Beauftragung synonym mit militärischer Bevollmächtigung ist und diezivile Herrschaft über das eroberte Gebiet einer Fortsetzung des Kriegesmit bürokratischen Mitteln, die Normalität des Okkupationsverhältnissesder Aufrechterhaltung eines von Beschlagnahmung und Enteignunggeprägten Ausnahmezustands gleichkommt, erweist sich die imperiale

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Befehlsgewalt ebensowohl als unbeschränkte Prokura, absolute Verfü-

gungsmacht, und verhilft dem Prokonsul oder Proprätor, der sie ausübt,in der Tat zu einer unanfechtbar diktatorischen Position, einer jeder Kon-trolle und Appellation entzogenen despotischen Letztinstanzlichkeit.Während so der Statthalter der Provinz seinem funktionell-formalenAuftrag nach relativer Amtsträger, kommissarisch Tätiger ist, ist er kraftder inhaltlich-reellen Aufgabe, mit deren Erfüllung er beauftragt ist,ebenso wohl absoluter Machthaber, autokratisch Wirkender, während ereinerseits ausgesandt ist, um im Dienste des Senats und der von diesemgeleiteten Republik über die Provinz zu herrschen, bringen es anderer-seits die besondere, in der kontributiven Ausplünderung der Provinz be-

stehende Aufgabenstellung des Dienstes, den er der Republik leistet, undder kriegsrechtlich-okkupatorische Stil und militärisch-requisitorischeDuktus, in dem diese Ausplünderung vonstatten geht, mit sich, dassder Diener der Republik sich der Provinz selbst als unbeschränkter Herrpräsentiert, dass er als jeder unmittelbaren Rechenschaftspflicht enthobe-ner Gewaltherrscher in ihr nach Gutdünken schalten und walten kann.Die Besonderheit seines prokonsularisch oder proprätorisch ausgeübtenund wesentlich auf die kriegsrechtliche Eintreibung kriegsdienlicherKontributionen abgestellten Amtes führt mit anderen Worten dazu, dassder Statthalter die Provinz als seine despotisch beherrschte Domäne ok-

kupiert, dass er sie quasi als sein persönliches Eigentum verwaltet, siewie ein privates Landgut behandelt.Diese funktionelle Parallele oder suggestive Analogie aber ist folgen-

reich: Sie hat nämlich zur Konsequenz, dass der Statthalter mit der ihmübertragenen Provinz die gleichen Erwartungen verknüpft wie mit seineneigenen Ländereien, dass er an seine Amtsdomäne die gleichen Ansprü-che stellt wie an seinen Privatbesitz. Er erwartet mit anderen Worten, dassdie Provinz etwas abwirft, dass sie ihm Einkünfte bringt, erhebt den An-spruch, sich persönlich an ihr zu bereichern, sein Privatvermögen mit ih-rer Hilfe zu vergrößern. Sosehr der Statthalter auftragsgemäß oder seiner

staatlich sanktionierten Funktion nach damit befasst ist, Kontributionenzum Nutz und Frommen der expandierenden Republik einzutreiben, so-sehr ist er aber auch von Anfang an situationsgemäß oder seiner amtlichimplizierten Position nach damit zugange, Selbstbedienung zu treibenund Konfiskationen zu seinem eigenen Vorteil und im Interesse seiner

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persönlichen Bereicherung durchzuführen. Weil das militärherrschaftlich-

 besatzungsmächtige imperium, das zwecks Fortsetzung der römischenExpansionspolitik und Finanzierung der mit ihr verbundenen Kriegeder Prokonsul oder Proprätor über das zum Pro-vincere-Vehikel, zurProvinz, erklärte unterworfene und befriedete Gebiet ausübt, de facto sei-nes feldherrlichen Charakters alle Züge einer grundherrlichen Diktatur,einer patrimonialen Despotie, aufweist, fühlt sich, unschwer verständ-lich, der dies imperium Ausübende ebenso sehr berechtigt wie gedrängt,neben den Kontributionen, die er von Staats wegen eintreibt, dem Ge- biet die von territorialem Privateigentum zu erwartenden Leistungenabzuverlangen, ihm die Abgaben abzupressen, auf die ein als territoria-

ler Machthaber, autokratischer Landesfürst schaltender und waltenderGrund- und Gutsherr Anspruch hat. Von Anbeginn des römischen Pro-vinzialsystems betrachten deshalb die Provinzstatthalter mit der ganzenSelbstverständlichkeit ihrer despotisch-imperialen Position die Funktion,die sie versehen, ebenso sehr als Gelegenheit, sich persönlich zu berei-chern, als Aufforderung, eine natürliche Pfründe privatim auszubeuten,wie als Verpflichtung, die Staatskasse aufzufüllen, als Auftrag, pro domoder Republik eine strategische Hilfsquelle zu erschließen.

Bleibt bei aller Leichtverständlichkeit der subjektiven Motivation desprokonsularischen und proprätorischen Verhaltens allerdings zu erklä-

ren, warum die Republik beziehungsweise ihre politische Führungs-schicht, die qua Senat korporativ organisierte kriegführende Nobilität,die das Provinzialsystem kreiert und betreibt, dieses schamlos priva-tive Verhalten ihrer Mitglieder und Abgeordneten, dieses unverhoh-len grundherrschaftliche Selbstbedienungsgebaren der durch Senatsbe-schluss als Territorialfürsten auf Zeit in die Provinz delegierten Statt-halter nicht nur toleriert, sondern durch die imperiale Vollmacht, diesie ihnen verleiht, quasi selber herausfordert. Die Erklärung hierfür immafios-komplizenschaftlichen Charakter der Führungsschicht, mit an-deren Worten, darin zu suchen, dass alle qua Senat versammelten An-

gehörigen der Nobilität darauf hoffen können, im Zuge ihrer Karriereals Staatsbeamte irgendwann in den Genuss eines solchen Provinzstatt-halteramtes und der mit ihm verknüpften Pfründe zu gelangen, unddass sie dann auf die gleiche Nachsicht und passive Beihilfe von seitenihrer senatorischen Kollegen angewiesen sind, die sie zuvor und danach

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deren provinzialer Amtsführung haben angedeihen lassen – dieser Er-

klärungsversuch mag zwar naheliegend scheinen, krankt aber daran,dass er mit seiner Reduktion des Führungsgremiums der Republik auf einen mafiosen Selbstbedienungsverein dessen andere, für seinen Bestandnicht minder konstitutive Seite unter den Tisch fallen lässt – die Tatsachenämlich, dass das senatorische Gremium als nicht in der subjektiven Vor-teilsnahme seiner Mitglieder aufgehendes kollektiv-korporatives Gebildemit eigener, quasi objektiver Zielsetzung firmiert, die ihren funktionellenAusdruck in der mit kontributionssystematischen Mitteln zum selbsttra-genden Automatismus entfalteten römischen Expansionspolitik findet.Objektive Zielsetzung dieser vom römischen Senat als korporativem Ge- bilde betriebenen Expansionspolitik ist, wie gesehen, die Erweiterung desrömisch-italischen Handelssystems mitsamt den indirekt-transaktiven,kurz, kommerziellen Bereicherungschancen, die sich der Republik da-durch eröffnen. Dass das prokonsularische oder proprätorische Regiment,das die Republik in den zu Provinzen erklärten unterworfenen Gebieteneinführt, durch seine direkt-exaktive Expropriationspraxis, sein Kontribu-tionssystem, allen indirekt-transaktiven, kommerziellen Bereicherungs-absichten zuvorkommt und sie bis auf unabsehbar weiteres vereitelt,ändert im Prinzip an jener objektiven Zielsetzung nichts, suspendiertund verschiebt sie vielmehr nur und macht sie aus einer prozessualen, jeweils vor Ort und ad hoc wahrnehmbaren Chance zu einer finalen, am

Ende überall Wirklichkeit werdenden Perspektive. Was aufgrund der Da-zwischenkunft des direkt-exaktiven, requisitorisch-kontributiven Aneig-nungsmechanismus die objektive Zielvorgabe einer indirekt-transaktiven,kompensatorisch-kommerziellen Bereicherungsprozedur an Aktualität,an hier und jetzt einklagbarer Präsenz einbüßt, das gewinnt sie kraftder mittels jenes Aneignungsmechanismus finanzierten Eroberungs- undExpansionsstrategie an Potentialität, an zu guter Letzt einholbarer Allge-genwart zurück.

Das persönliche Bereicherungsstreben, das dem in die Provinz ge-schickten Statthalter seine imperiale Vollmacht eingibt, das privativ-kon-

fiskatorische Treiben, zu dem ihn seine grundherrschaftlich-despotischeStellung einlädt, tritt nun aber nolens volens in Konkurrenz zu der ihmübertragenen offiziellen Aufgabe, Kontributionen einzutreiben, und gerätin der Tat in Konflikt mit dieser seiner staatlichen Beschlagnahmungs-funktion, weil es ja ein und derselbe Fundus, ein und dieselbe provinzielle

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Reichtumsmasse ist, woraus sich beide Expropriationsansprüche, der

privat-konfiskatorische ebenso wie der publik-kontributive bedienenmüssen und weil sich deshalb der eine jeweils nur zu Lasten des anderenGenüge tun, nur um den Preis einer funktionellen Vernachlässigung undquantitativen Schmälerung des anderen befriedigen kann. Mit anderenWorten, die im persönlichen Interesse betriebene konfiskatorische Tä-tigkeit des Statthalters tut, weil sie seine in amtlicher Funktion geübtekontributive Praxis stört und hintertreibt, der mittels Kontributionenfinanzierten Expansionspolitik der Republik Abbruch und steht insofernauch im Widerspruch zu der mit der Expansionspolitik verfolgten und fürsie maßgebenden objektiven Zielsetzung einer Entfaltung des römisch-

italischen Handelssystems. So gesehen, müsste nun aber die private Kon-fiskationspraxis des Provinzstatthalters bei seinem republikanischen Auf-traggeber, dem Römischen Senat, der ja seinen politisch-strategischenBestimmungsgrund in jener objektiven Zielvorgabe findet und seinekollektiv-korporative, jenseits der bloßen Summe individuell-partikularerInteressen perennierende Identität in sie setzt, auf entschiedene politi-sche Ablehnung stoßen und effektive disziplinarische Gegenmaßnahmenprovozieren. Oder zumindest müsste, wenn man einmal das persönlicheBereicherungsinteresse der Senatsmitglieder und ihre sie zu kompli-zenschaftlicher Toleranz disponierende Hoffnung auf beziehungsweise

Erinnerung an die Bekleidung ähnlich lukrativer Ämter als ebenfalls einstarkes Motiv unterstellt, das senatorische Gremium sich im permanenteninneren Widerstreit befinden und im Blick auf den quasi von Amts we-gen praktizierten Unterschleif in den Provinzen ständig zwischen einerdem individuell-subjektiven Befinden seiner Mitglieder entsprechendenLaissez-faire-Haltung und einem seiner eigenen kollektiv-korporativenVerfassung gemäßen drakonischen Verfolgungsanspruch hin und herschwanken.

Tatsächlich aber ist weder das eine noch das andere der Fall und be-gegnet vielmehr das maßgebende politische Gremium der Republik jener

persönlich-konfiskatorischen Bereicherungspraxis, der sich von Anfangdes Provinzialsystems an die prokonsularischen und proprätorischenBeamten der Republik verschreiben, von Anfang an auch mit größtmög-licher Nachsicht und von stillschweigender Zustimmung praktisch nichtzu unterscheidender Indifferenz. Damit der Senat seine quasi genuine

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Toleranz gegenüber der persönlichen Bereicherungspraxis der Provinz-

statthalter aufgibt und sie als Versündigung gegen das Staatsinteresseahndet, muss diese schon ungeheure Auswüchse annehmen und dieForm einer pathologischen Raffgier und abnormen Habsucht annehmen,oder sie muss, wie später geschieht, als Alibi und Prügelknabe für andere,aus ihr zwar hervorgehende, aber sie an Brisanz und Folgenschwere weitübertreffende und eben wegen ihrer Wirkmächtigkeit als solche nicht aufsKorn zu nehmende Mechanismen der Anhäufung on Reichtum herhalten.

Für die im Prinzip und von Anbeginn vorhandene senatorische Bereit-schaft indes, jene prokonsularische oder propätorische Bereicherungspra-xis zu tolerieren und das heißt, faktisch zu unterstützen, obwohl sie dochdem Kontributionssystem und der durch es finanzierten Expansionspo-litik in die Quere kommt und Abbruch tut, sprich, der vom Senat alskollektiv-korporativem Organ mit der Expansionspolitik verfolgten ob- jektiven Zielsetzung widerstreitet – dafür kann es eigentlich nur einen zu-reichenden Grund, nur eine vernünftige Erklärung geben: Die persönlicheBereicherungspraxis der Statthalter muss, aller privativ-störfaktorellenVirulenz, die sie im Blick auf das staatliche Kontributionssystem be-hauptet, zum Trotz, eine Funktion erfüllen und eine Wirkung zeitigen,die es mit der objektiven, für das Kontributionssystem maßgebendenexpansionspolitischen Zielvorgabe wenn nicht an Perspektive und Ver- bindlichkeit, so doch an Dringlichkeit und Konsequenz aufnehmen kann

oder die sich gar, entgegen allem Anschein von Konflikt, im Einklangmit der kontributionssystematisch-oberflächlich durch sie gestörten Ex-pansionspolitik befindet beziehungsweise positive Bedeutung für sie hatund ihr konstruktiv zur Seite steht. Diese als objektiver Bestimmungs-grund firmierende positive Bedeutung und konstruktive Funktion fürdie römisch-republikanische Expansionspolitik aber, die der persönlichenBereicherungspraxis der Provinzstatthalter die stillschweigende Duldungoder komplizenschaftlichen Zustimmung des senatorischen Kollektivssichert – sie hält nach dem bereits registrierten Mangel, den die auf Basisdes Kontributionssystems betriebene Expansionspolitik aufweist oder

vielmehr hervortreibt, nicht schwer zu entdecken. Die konstruktive Funk-tion der persönlichen Bereicherungspraxis ist mit anderen Worten darinzu sehen, dass letztere dazu taugt, der kriegswirtschaftlichen Schieflageder Republik und der daraus letztlich resultierenden fatalen “Arbeitstei-lung” zwischen der Republik und ihren Provinzen entgegenzuwirken, zu

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der eine rein auf Basis von Kontributionen betriebene Expansionspolitik

zwangsläufig führt.Der Schieflage und ihren schließlichen Konsequenzen entgegenwir-ken kann die persönliche Bereicherungspraxis der Provinzstatthalter,weil ihr bei aller asozial-privativen Intention doch aber eine kommunal-gemeinnützige Implikation eignet oder weil, anders gesagt, das Per-sönliche an ihr im Sinne der weiter oben erläuterten persona-Rolle, diedie Statthalter als Angehörige der Oberschicht spielen, zutiefst gesell-schaftlich dimensioniert ist und eine wirkungsvoll öffentliche Dimension besitzt. Wenn die Statthalter als Mitglieder der auf Grundbesitzbasis mitdem Handelskapital zur Nobilität konkreszierten führenden Familien

ihre ihnen kraft imperium übertragenen Provinzen quasi als persönlichesEigentum, als privates Landgut übernehmen, wenn sie ihr Gouverneur-samt nach Art einer grundherrlichen Diktatur, einer patrimonialen Des-potie versehen, so hat diese ihre grundherrschaftlich-despotische Stellung ja nicht nur zur Folge, dass sie von ihren Provinzen die in maßstäblicherEntsprechung gleichen Einkünfte und Erträge erwarten, die sie aus ihreneigenen Domänen, ihren Ländereien zuhause, beziehen, und dass siedeshalb wie selbstverständlich neben den Kontributionen, die sie vonAmts oder Staats wegen eintreiben, eine rege konfiskatorische Aktivitätentfalten, die ihrer privaten Bereicherung dient, ihnen persönlich die

Taschen füllt, sondern dieses in das staatliche imperium eingewirkteMoment von grundherrschaftlicher Despotie bedeutet auch, dass dieStatthalter ihre persönliche Bereicherung zu den von zuhause gewohn-ten, von ihren eigenen Besitzungen her eingefleischten Bedingungenpraktizieren, sprich, nach den oben explizierten Konditionen, denen dieÜberführung territorialherrschaftlich-opferkultlichen Reichtums in denmarktförmig-austauschbestimmten Freiraum der Stadt unterliegt.

Um die politisch ausschlachtbaren Konnotationen sakrilegischer Zweck-entfremdung, die mit dieser Überführung einhergehen, zu entkräften,setzt, wie gezeigt, die römische Aristokratie der auf den opferkultlichen

Reichtum eignerschaftlichen Anspruch erhebenden Göttermacht einevergleichbar kultische, den Göttern Paroli zu bieten geeignete Macht, dieder Ahnen, entgegen. Entbindung von den opferkultlichen Verpflichtun-gen, die ihnen ihr territorialherrschaftlicher Reichtum auferlegt, und freieVerfügung über diesen Reichtum im Kontext städtisch-kommerzieller

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Austauschverhältnisse erlangen mithin die in die Stadt übergesiedel-

ten aristokratischen Grundherren nur um den Preis, dass sie als Patres,Oberhäupter ihrer Sippen, und als Personae, Repräsentanten der dieSubstanz der Sippe bildenden Ahnen, ein den götterkultlichen Anspruchauf den Reichtum abzulösen bestimmtes totenkultliches Vorrecht gel-tend machen und sich zu den aus ihm resultierenden Verbindlichkeiten bekennen. Diese Verbindlichkeiten schließen allerdings in letzter Kon-sequenz einen zwanghaft katabolischen Reichtumstransfer in ein alsSitz der wahren Reichtumseigner, eben der Ahnen, firmierendes un-terweltliches Jenseits ein, der die freie Verfügung über den Reichtum,den die Aristokratie mit Hilfe der Ahnen erringt, ad absurdum einerhaltlos-permanenten, reflexhaft-umfassenden Überweisung von Reich-

tum in die Unverfügbarkeit der Grabkammer führen müsste. Um solchletzter Konsequenz zu entrinnen, macht sich die Aristokratie die ent-scheidende Bedeutung und grundlegende Stellung zunutze, die im Blickauf ihre habituell-reaffirmierte Fortsetzung beziehungsweise funktionell-revidierte Wiederaufnahme des Kults um die Ahnen dem städtischenHandelsplatz zukommt, und erklärt zum primären Adressaten ihrertotenkultlichen Zuwendungen dieses als irdische Wohnstätte und dies-seitige Hochburg der Ahnen geltend gemachte kommerziell-städtischeMilieu.

Sie bildet mit anderen Worten jene als Pietas definierte Grundhaltung

aus, die ihr erlaubt, den Kult der Ahnen, mit dem sie ihre Befreiungaus götterkultlicher Botmäßigkeit bezahlt, in ein Loyalitäts- und Pfleg-schaftsverhältnis zu der als Vater- und Mutterstadt den Ahnen empirischeBehaftbarkeit und phänomenale Existenz verleihenden Urbs Romanaumzumünzen, und die damit zugleich eine ingeniöse Methode darstellt,die innerstädtisch freie Verfügung, die die Aristokratie über den ihrenterritorialen Besitzungen entspringenden Reichtum erringt und im Sinnegleichermaßen einer Tilgung opferkultlicher Hypotheken und Dispensati-on von totenkultlichen Verbindlichkeiten behauptet, quasi wie von selbstin eine nicht etwa nur negativ sozialverträgliche, sondern mehr nochpositiv von Sozialverpflichtung geprägte Verwendung zu überführen

und im Interesse einer nach Möglichkeit reibungslosen Integration desder doktrinellen Idee der Repräsentanz entzogenen sakralen Reichtumsin das vom kommerziellen Prinzip der Äquivalenz bestimmte kommu-nale Marktsystem zu relativieren. Dabei nimmt diese in Pietas grün-dende integrative Verfügung über den von draußen hereingebrachten

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Reichtum, diese seine Verwendung zum Wohle der als Sitz der Ahnen

hochgehaltenen Stadt gemäß der doppelten Funktion der Aristokratenals patriarchische Oberhäupter ihrer Sippen und senatorische Führungs-kräfte des Gemeinwesens zwei Hauptformen an. Zum einen wird derterritorialherrschaftlich-fremdbürtige Reichtum dadurch direkt in diestädtische Gemeinschaft integriert, dass sich die Aristokratie die realeVerbesserung und phänomenale Verschönerung der irdischen Wohn-und kultischen Opferstätte der Ahnen zur Aufgabe macht, dass sie dieFinanzierung öffentlicher Bauten und Werke und die Ausrichtung gesell-schaftlicher Veranstaltungen und Festlichkeiten übernimmt. Und zumanderen findet sich der Reichtum dadurch indirekt in den städtischenZusammenhang eingeschleust, dass die Patres ihrer patriarchalen Rollegerecht werden und die Familie, die mehr oder minder große Schar ausSippenangehörigen und Klienten, Freunden und Schutzbefohlenen derFamilie, an ihrem Reichtum teilhaben lassen und ihn so unter die Leute bringen.

Diese als Pietas definierte Grundhaltung behält die aus Aristokratieund Handelskapital auf Grundbesitzbasis konkreszierte römische Nobi-lität auch unter Bedingungen des Provinzialsystems und der in seinemRahmen ihr zufallenden neuen propkonsularischen oder proprätorischenHerrschafts- und Verwaltungsaufgaben bei. So gewiss die Statthalter derProvinzen ihr imperiales Amt nach dem Vorbild der auf ihren eigenen

Gütern geübten grundherrschaftlichen Despotie ausüben und so gewissdiese Analogie sie motiviert, in eigener Sache tätig zu werden und inihren Provinzen neben den Kontributionen, die sie von Staats wegen ein-treiben, Konfiskationen vorzunehmen, die der persönlichen Bereicherungdienen und in maßstäblicher Korrespondenz zu den Einkünften stehen,die ihre Privatgüter zuhause abwerfen, so gewiss führen sie nun auch denin den Provinzen privativ-konfiskatorisch erworbenen Reichtum auf diegleiche Weise in die Vater- und Mutterstadt ein wie den auf den priva-ten Gütern frondienstlich erwirtschafteten Gewinn, nämlich in jener alsPietas charakterisierten Form, die dafür sorgt, dass er teils direkt, durch

öffentliche Leistungen, teils indirekt, durch persönliche Verpflichtungen,in die Hände breiterer Schichten des Gemeinwesens überwechselt. Unddas aber wiederum bedeutet, dass die Konfiskationsgelder im großenund ganzen der Friedenswirtschaft der Stadt, den zivilen Handwerkenund Konsumgüterbereichen, zugute kommen und dass sie damit ein

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Gegengewicht zu den Kontributionszahlungen darstellen, die ja haupt-

sächlich und vor allem für kriegswirtschaftliche Belange Verwendungfinden und nämlich in die Rüstungsindustrie und den Unterhalt vonStreitkräften gesteckt werden. Eben die Deformation und Schieflage mitanderen Worten, in die das Kontributionssystem durch seine einseitigeBegünstigung der für Zwecke einer weiteren militärischen Expansionerforderlichen Produktions- und Dienstleistungssparten die römischeVolkswirtschaft hineinmanövriert – sie dient die privativ-konfiksatorischeBereicherungspraxis der Provinzstatthalter auszugleichen, dieweil dankder als Pietas firmierenden urbanen Grundhaltung der die Statthalterstellenden Nobilität dieser in den Provinzen privatim angeeignete Reich-tum in der römischen Republik zu relativ breit gestreuter Verteilung und

auf dem Weg über seine vielen Nutznießer in die Kassen der die sozialenund individuellen Susbsistenz- und Konsumbedürfnisse dieser vielen befriedigenden zivilen Gewerbe gelangt.

Und indem so der konfiszierte Reichtum den durch das Kontributions-system und seine Zielsetzung benachteiligten und von Verkümmerung bedrohten zivilen Gewerben der Republik aufhilft, hilft er zugleich dieoben skizzierte weitere Entwicklung zu verhindern, in die ansonsten diedurch die Kontributionen bewirkte ökonomische Schieflage zwangsläufighineinführt. Will heißen, er hilft zu verhindern, dass sich die römischeWirtschaft aufgrund der Kontributionen zu einer reinen Kriegsökono-

mie mausert, die mit eben der Ausschließlichkeit, mit der sie sich derBeschaffung immer neuer Kontributionen verschreibt, zur Befriedigungder subsistenziellen und konsumtiven Bedürfnisse der an ihr Beteiligtenauf die produktive Leistung eben der Gebiete angewiesen ist, die siekontributiv schröpft, und dass es also in der Tat zu einer nur uneigentlichso zu nennenden Arbeitsteilung und vielmehr ebenso perversen wieperfekten parasitären Beziehung zwischen der römischen Republik undihren Provinzen kommt, in deren Rahmen die letzteren sämtliche für dieReproduktion des Gesamtsystems erforderlichen Arbeiten verrichten,während die erstere ihre produktiven Anstrengungen darauf konzentriertund beschränkt, den für ihre eigene Reproduktion beanspruchten An-

teil am provinziellen Produkt auf die beschriebene exaktiv-kontributiveWeise in den Provinzen zu beschlagnahmen und einzutreiben, um ihnanschließend dann auf gewohntem transaktiv-kommerziellem Wege da-selbst einzulösen und abzuholen. Dieser Entwicklung zum reinen Pa-rasitismus und zum schließlichen Zusammenbruch des Systems, den

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die darin vorprogrammierte ökonomische Überforderung der Provinzen

heraufbeschwört, wirken die Konfiskationen entgegen, weil der in ihnen bestehende Teil des den Provinzen abgepressten Geldes eben nicht wie-der wie der durch die Kontributionen gebildete Teil in neue Mittel zurparasitären Zwangsenteignung der Provinzen investiert wird, sondernvielmehr vor Ort der römischen Republik in die zivile Güterproduktion,in die Erzeugung von Mitteln zur kollektiven und individuellen Bedürf-nisbefriedigung wandert und also, statt mangels ziviler Gütererzeugungin einer ganz auf die Produktion von parasitären Zwangsenteignungs-mitteln abgestellten heimischen Industrie als monetärer Anteil an denMärkten der Provinz in toto auf diese zurückzuschlagen und ihnen imvollen Umfang des durch ihn verkörperten konsumtiven Anspruchszur Last zu fallen, im Gegenteil unwiderruflich aus den Märkten derProvinzen auf den Markt der Republik überwechselt, um dort als im tra-ditionellen Sinne wirtschaftsbelebende Funktion, als die Subsistenzmittel-und Konsumgütererzeugung, kurz, die materielle Reproduktion der Ge-sellschaft, fördernde Investition zum Tragen zu kommen.

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. Extraktionswirtschaft

Die Kombination aus staatlichen Kontributionen und persönlichen Konfiskatio-

nen versetzt dem normalen kommerziellen Austausch mit den Provinzen denTodesstoß. Dennoch gibt es für die kommerzielle Funktion ein Leben nach demTod: Sie überlebt als Kollaborateur und Erfüllungsgehilfe der kompensationslos-requisitorischen Aneignungspraxis, der die römische Nobilität die Provinzenunterwirft.

Wenn man so will, dienen die Konfiskationen dazu, jene im eigenenBeitrag zum Markt bestehende Gegenleistung halbwegs zu kompen-sieren und quasi in Surrogatform darzustellen, die jeder kommerzielleZusammenhang ganz selbstverständlich und kraft schierer Systemlo-

gik sicherstellt und die hingegen das Kontributionssystem nur in derparasitär-perversen Form einer Verbesserung der Kapazität zur ohneGegenleistung erzwungenen Teilhabe an den produktiven Leistungenanderer erbringt. Zwar sind auch die konfiszierten, vom Statthalter in dieeigene Tasche gewirtschafteten Gelder Resultat einer auf Basis militäri-scher Gewalt exekutierten entschädigungslosen Enteignung und insofernformell ein ohne Gegenleistung, ohne eigenen Beitrag zum provinziellenMarkt, erhobener monetär verkörperter Anspruch auf einen Teil derauf dem provinziellen Markt versammelten Güter, aber weil sie andersals die kontribuierten, in die staatliche Kriegskasse wandernden Gelder

nicht der immer wieder nur als Instrument zum gewaltsamen Zugriff auf provinzielle Märkte und zur entschädigungslosen Selbstbedienung auf diesen Märkten tauglichen Rüstung zugute kommen, sondern direkt oderindirekt in die heimische Subsistenzmittel- und Konsumgüterproduktionfließen, bleiben die provinziellen Märkte von dem in diesen Geldern

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verkörperten materiellen Anspruch verschont und hat dessen Materia-

lisierung vielmehr Selbstversorgungsanstrengungen im eigenen Haus,kurz, die Belebung und Förderung der heimischen zivilen Handwerkeund Dienstleistungen zur Folge. Wenn also auch die privativ vorgenom-menen Konfiskationen der Statthalter keinem realen Beitrag Roms zurVersorgung seiner Provinzen entspringen und insofern alles andere alsAusdruck eines funktionierenden, im do ut des materiellen Güteraus-tauschs bestehenden kommerziellen Zusammenhangs sind, resultierensie doch immerhin in einem Beitrag zur Selbstversorgung, haben mitanderen Worten den Effekt, die im gesamten Marktsystem vorhandeneMenge an materiellen Gütern zu vergrößern, und wirken insofern derdurch die Kontributionen begünstigten fatalen Entwicklung entgegen,derzufolge die römische Wirtschaft ihre produktiven Anstrengungen im-mer ausschließlicher auf die Vergrößerung ihrer Kapazität konzentriert,sich mit Gewalt und ohne Gegenleistung Anteile an der Güterproduktionder Provinzen zu sichern, und deshalb die Wirtschaft der Provinzenimmer stärker mit der Aufgabe, für die materielle Reproduktion nichtnur der eigenen Bevölkerungen, sondern auch der gesamten römischenGesellschaft zu sorgen, belastet und in der Tat am Ende überfordert.

Diese entlastende, eine andernfalls zwangsläufige Entwicklung, die dasKontributionssystem provoziert, wenn schon nicht völlig unterbindende,so immerhin doch entschärfende und auf die lange Bank schiebende

Funktion also ist der objektive Grund, warum die privativ-konfiskatori-sche Selbstbereicherung der Provinzstatthalter vom Führungscorpus derRepublik, vom Senat, stillschweigend toleriert, um nicht zu sagen, gut-geheißen wird. Weil die persönlich und im Eigeninteresse geübte Kon-fiskationspraxis der Prokonsuln und Proprätoren dem staatlich und imöffentlichen Auftrag von ihnen praktizierten Kontributionssystem halb-wegs den Stachel seiner die heimische Wirtschaft betreffenden deforma-tiven Tendenzen zieht, weil sie nicht zwar einen vollgültigen Ausgleich,immerhin aber eine Art Surrogat für die belebende Wirkung schafft, dieder normale kommerzielle Austausch auf die heimische Güterproduktion

hat und die das Kontributionssystem zugunsten einer immer stärkerenKonzentration auf schieren Parasitismus unterbindet, können die Kolle-gen der Prokonsuln und Proprätoren, die korporativ organisierten Patres,gar nicht anders, als in dieser Konfiskationspraxis einen die Verhältnissein der Republik stabilisierenden und dem Kontributionssystem, dem sich

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die letztere bis auf unbestimmt weiteres verschrieben hat, allererst Be-

stand verleihenden Faktor, wenn nicht bewusst zu erkennen, so jedenfallsfaktisch gelten zu lassen.Dass der von den Statthaltern ad personam konfiszierte Reichtum

durch seine zivile Verwendung einen Ausgleich für die ökonomischeSchieflage schafft, die der per officium kontribuierte Reichtum dadurch,dass er in die Rüstung und ins Militär fließt, bewirkt, dass also dieserprivatim konfiszierte Reichtum halbwegs und wenigstens in seiner Kon-sequenz den Effekt zeitigt, der auf der ganzen Linie und nämlich auchschon im Prinzip mit kommerziellem Reichtum verknüpft ist und dassdurch diese seine Simulation der Wirkweise kommerziellen Reichtumsder konfiszierte Reichtum dem römischen Kontributionssystem eine Le- benskraft vindiziert, die es andernfalls nie und nimmer bewiese – diesversetzt nun allerdings der kommerziellen Funktion selbst und den tra-ditionellen Formen, in denen sie sich entfaltet, beziehungsweise denhabituellen Aktivitäten, mittels deren sie ihrem Akkumulationszweckdient, den Todesstoß. Und zwar den Todesstoß nicht bloß im oben ex-plizierten systematisch-theoretischen Sinne, nämlich in dem Sinne, dasssie sich durch die römische Expansionspolitik und deren finanzielle Fun-dierung in einem System Kontributionen leistender Provinzen aus einempartiellen Haben in ein totalisiertes Soll, aus einem aktuellen Normalfallin ein finales Idealbild überführt sieht, dass sie sich mit anderen Wor-

ten durch die mittels Kontributionen finanzierte Expansionspolitik derRepublik aus der Stellung einer hier und jetzt herrschenden, paradigma-tischen Reichtumsbeschaffungspraxis verdrängt und in die enigmatischeFerne eines am Ende der Reichtumsbeschaffung mit anderen Mitteln,die das expansive Treiben der Republik erheischt, auf welthistorischerweiterter Bühne wieder Geltung erlangenden, universalen Bereiche-rungsmodus, wie man will, entrückt oder abgeschoben zeigt. Vielmehr isthier die Rede vom Todesstoß auch und mehr noch empirisch-praktisch zuverstehen, nämlich so, dass die kommerzielle Funktion mit ihren traditio-nellen Erscheinungsformen als die gesellschaftliche Wirklichkeit, die sie

seit alters darstellt, und als die politisch-ökonomische Macht, die sie bisdahin verkörpert, durch die kombinierte Konkurrenz aus staatlichen Kon-tributionsmaßnahmen und persönlichen Konfiskationsanstrengungenregelrecht dysfunktionalisiert und erdrückt wird und das heißt, sich nicht bloß qualitativ der Ersetzbarkeit und folglich Entbehrlichkeit überführt,

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sondern erst einmal und vor allem quantitativ um ihre Manövriermasse,

ihren Handlungsstoff gebracht findet.In der Tat sind es die konfiskatorischen Selbstbereicherungsanstren-gungen der Provinzstatthalter, die das Maß ihrer pro domo der Republikgeübten kontributiven Besteuerungsaktivitäten voll machen und die inden Provinzen die auf exaktiv-direktem Wege beschlagnahmte und ent-eignete Wertmasse ein Volumen erreichen lassen, das jeder transaktiv-indirekten Aneignungspraxis im metaphorischen Doppelsinn das Wasserabgraben und den Boden entziehen, sprich, jede Akkumulation durchkommerziellen Austausch im buchstäblichen Sinne zur Gegenstands-losigkeit verurteilen. Von ihren prokonsularischen und proprätorischenVerwaltern auf zweifache Weise, amtlich und persönlich, pro publico etpro persona, zur Ader gelassen, haben die Provinzen gar nicht genugWirtschaftskraft, um der kommerziellen Funktion der Römischen Repu- blik daneben noch die üblichen Absatzmärkte und mithin die erste undoberste Voraussetzung für die gewohnte Akkumulationsstrategie durchäquivalenten Warenaustausch bieten zu können. Und gleichzeitig ist esaber auch jene konfiskatorische Selbstbereicherung der Provinzstatthalter,die auf dem heimischen Markt für ein Mehr an subsistenzieller Nachfrageund konsumtivem Anspruch sorgt, die damit eine binnenwirtschaftlich belebende Rolle spielt und den außenwirtschaftlichen Ausfall der kom-merziellen Funktion und des von letzterer ausgehenden Antriebs für

die zivile Güterproduktion wenn schon nicht aufwiegt und wettmacht,so jedenfalls doch halbwegs kompensiert und in seinen Konsequenzenentschärft, und die so zur relativen Stabilisierung der Gesamtwirtschaft beiträgt und der auf längere Sicht fatalen Schieflage entgegenwirkt, indie das Kontributionssystem dank seiner Begünstigung rüstungsindus-trieller und militärdienstlicher Leistungen eben jene Gesamtwirtschaftunweigerlich hineintreibt.

Indem die konfiskatorische Selbstbereicherungspraxis demnach aber beides tut, indem sie einerseits als der Tropfen, der das Fass zum Überlau-fen bringt, oder, besser gesagt, als das Quantum, das die Masse ins Maß

umschlagen lässt, wesentlich dabei mithilft, die kommerzielle Funktionauszuhebeln und gegenstandslos werden zu lassen, und andererseits abersicherstellt, dass die mit nichtkommerziellen Mitteln geübte Bereiche-rungsstrategie der Republik deren Wirtschaft nicht auf die schiefe Bahneiner kriegswirtschaftlichen Spezialisierung geraten lässt, die auf eine

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letztlich unhaltbare “Arbeitsteilung” zwischen der Republik und ihren

Provinzen hinausläuft – indem sie mit anderen Worten maßgeblich daranmitwirkt, die Handelstätigkeit zwischen Rom und seinen Provinzen ihresLebenselixiers, der in Geldform zirkulierenden, als Kapital den Austauschantreibenden und vermittelnden Wertmasse, zu berauben, und gleich-zeitig entscheidend dazu beiträgt, dass dieser durch sie mitverschuldeteMangel an Handelstätigkeit nicht vernichtend auf die zivile Güterpro-duktion Roms zurückschlägt und das wirtschaftliche Verhältnis zwischender Stadt und ihren Provinzen nicht katastrophal aus dem Lot bringt, besiegelt sie, wie gesagt, das Schicksal der als Garant des Zugriffs auf die bundesgenossenschaftlichen Märkte und als Agent des außenwirt-

schaftlichen Reichtumserwerbs bis dahin unentbehrlichen kommerziellenFunktion und versetzt ihr als einer selbsttätigen politisch-ökonomischenEinrichtung und selbständigen gesellschaftlichen Macht in der Tat denTodesstoß.

Wohlgemerkt, in ihrer bisherigen Erscheinung und vollständigen Ge-stalt als selbständige Vermittlungsagentur und selbsttätiges Austausch-verfahren, nicht hingegen in ihrer bleibenden Bedeutung und rudimentä-ren Form als abhängiges Vollzugsorgan und dienendes Transformations-instrument, wird der kommerziellen Funktion durch die aus amtlichenKontributionen und persönlichen Konfiskationen kombinierte statthalter-

schaftliche Enteignungsstrategie der Todesstoß versetzt. Nicht zwar fürdie kommerzielle Funktion in ihrer vollen zyklischen Verlaufsform einesGeldwert auf dem heimischen Markt in mehrwertige Ware, diese Wareauf anderen Märkten in äquivalentes Geld, das Geld auf den anderenMärkten in abermals mehrwertige Ware und die Ware schließlich auf dem heimischen Markt in wiederum äquivalentes, aber im Vergleichmit dem Ausgangswert doppelt mehrwertiges Geld überführenden Me-chanismus – nicht also zwar für die solcherart voll entfaltete kommer-zielle Funktion, wohl aber für sie in ihren elementaren Bestandteilen,den abstrakten Grundformen einer wechselweise-wandlungsmächtigen

Umsetzung besonderer Wertverkörperungen in die allgemeine Wertformund der allgemeinen Wertform in besondere Wertverkörperungen, dasheißt, für sie als in ihrer elementaren Struktur, in abstracto, allein vomÄquivalenzprinzip bestimmte Technik der Vertauschung von Waren mitGeld und von Geld mit Waren, gibt es durchaus ein Leben nach dem

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Tod, den die aus staatlichen Kontributionen und persönlichen Konfis-

kationen kombinierte Bereicherungspraxis der Statthalter ihr bereitet.Schließlich haben, wenn sich die Römische Republik in persona ihrer se-natorisch verfassten, noblen Führungsschicht durch gewaltsam-direktenmilitärischen Zugriff, durch die besitzgierige Requisition von Werten,statt durch listig-indirekten kommerziellen Austausch, durch die ge-winnträchtige Transaktion von Waren, Marktanteile in den Provinzen,eine Teilhabe an deren gesammeltem Reichtum, verschafft, diese Anteileunmittelbar die Form von allgemeinem Äquivalent, die als Passepartoutder Warentotalität auf dem Markt firmierende Geldform, und müssenalso auch erst einmal zur Geltung gebracht, realisiert, als der materielleReichtum eingelöst werden, auf den der gewaltsam genommene Anteilam Markt letztlich zielt. Und wer böte sich für die Erledigung dieser,durch die reine Wertkörperlichkeit, in der auf dem Markt der materielleReichtum unmittelbar erscheint, erforderlich werdende Einlösungs- undRealisierungsaufgabe wohl eher an als die kommerzielle Funktion, die jaim Zuge ihres normalen Funktionierens und nämlich in einem als Phasewiederkehrenden Moment ihres vollständigen Zyklus mit der Einlösungkonsumtiver Ansprüche an den Markt, das heißt, mit dem Austausch vonauf dem Markt befindlichen Waren gegen an den Markt herangetragenesGeld, routinemäßig befasst und professionell darin geübt ist?

Gleichgültig, ob die in Gestalt von allgemeinem Äquivalent, in Geld-

form, zwangsweise angeeigneten Marktanteile der kontributionsspezifi-schen Zweckbindung gemäß als neue Mittel zur zwangsweisen Requi-sition weiterer Marktanteile, mithin als Rüstungsgüter, realisiert oderob sie auf dem indirekten Weg der Ausgaben für militärisches Perso-nal und in der direkten Konsequenz der konfiskatorisch-privaten Be-reicherungspraxis der Statthalter im Bereich der Subsistenzmittel undder Konsumgüter geltend gemacht werden – in jedem Fall ist es die denMarkt konstituierende kommerzielle Funktion beziehungsweise ist esdie diese Funktion wahrnehmende Gruppe der Handeltreibenden, derdie Aufgabe einer Realisierung der Gebrauchswerte, die im Geldwert

stecken, quasi von Natur und nämlich kraft des zur gesellschaftlichenGrundstruktur eingefleischten und zwischen Anspruch und Wirklichkeit,Soll und Haben, Leistung und Vergütung vermittelnden geldförmig-distributiven Mechanismus zufällt. Die kommerzielle Funktion der Repu- blik ist also unverändert als die zwischen gesellschaftlichen Produzenten

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 beziehungsweise deren territorialer Herrschaft im allgemeinen und zwi-

schen römischem Markt und auswärtigen Märkten im besonderen denWarenaustausch makelnde Mittlerinstanz gefragt und im Geschäft. Ver-ändert hat sich nur, dass im auswärtigen Handel, im Austausch mit denfremden Märkten, jetzt ein nichtkommerzieller Faktor Geltung erlangthat und eine ebenso wohl als Bruch im zirkulativen Kontinuum wie alsGeschäftspartnerwechsel beschreibbare Zäsur bewirkt, dass mit ande-ren Worten aufgrund der ineins amtlich-kontributionssystematischenund persönlich-konfiskationspraktischen Intervention der römischenProvinzialverwaltung jetzt die eigene römische Nobilität und Führungs-schicht, teils in staatlicher, senatorisch-kollektiver Form, teils in privater,prokonsularisch-individueller Gestalt, zum wichtigsten Warenabnehmerund kapitalen Geldgeber für den römischen Handel avanciert ist und dieHerrschaften und Handeltreibenden der eroberten Gebiete aus der Rollevon Hauptgeschäftspartnern für den römischen Außenhandel, die sie bisdahin spielten, in der Tat verdrängt hat.

Indem die politisch-militärische Führung der Römischen Republikeinen substanziellen Teil der in den Provinzen zirkulierenden geldför-migen Wertmasse teils im Dienste des Staates, teils in Selbstbedienungan sich bringt und mit Mitteln exaktiver Gewalt und kompensationslo-ser Beschlagnahmung den provinziellen Eignern entwendet, sieht sichder auf eben jene Wertmasse als auf das für den Absatz seiner Waren

erforderliche Äquivalent angewiesene römische Handel gezwungen,den Austauschpartner oder kommerziellen Kontrahenten zu wechselnund die benötigte Wertmasse dort zu reklamieren und gegen ein ent-sprechendes Warenangebot auszulösen, wo sie sich nunmehr befindet,nämlich in der staatlich-öffentlichen Hand und der persönlich-privatenVerfügung der eigenen politisch-militärischen Führungsschicht, statt siedort aufzusuchen und einzutauschen, wo sie sich bis dahin aufhielt: inder herrschaftlichen Verwahrung und im bürgerlichen Besitz der frem-den Gemeinschaften und ihrer Märkte. Will der römische Handel sei-ne kommerziellen Aktivitäten wie gewohnt fortsetzen, so muss er sich

umorientieren, muss sich nach der Decke der neuen Macht- und Besitz-verhältnisse strecken, muss zur Kenntnis nehmen und zum Maßstabseines Handelns, seines Selbstseins, werden lassen, dass die Geldanbieterund Warenabnehmer, die er für seine kommerziellen Beziehungen nachdraußen braucht, nicht mehr dort zu finden sind, sondern ihm aus den

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Reihen des eigenen Gemeinwesens, in Gestalt der die Römische Republik

politisch-militärisch führenden Nobilität entgegentritt. Und indem ersich mit der solcherart veränderten Situation arrangiert, macht sich nunaber der römische Handel nolens volens zum Erfüllungsgehilfen für diewesentlich nichtkommerzielle, gewaltsam-exaktive, kompensationslos-requisitorische Aneignungspraxis, der sich die römische Nobilität mittelsProvinzialsystem verschreibt und der sie fortan sowohl ihren staatlich-öffentlichen als auch ihren persönlich-privaten Reichtum, die Wertmasse,auf die der Handel angewiesen ist, maßgeblich verdankt.

Im Interesse der Aufrechterhaltung seiner gewohnten kommerziellenGeschäftigkeit, der Fortsetzung seiner normalen, im Äquivalententausch,im zyklischen Austausch von Ware gegen Geld und Geld gegen Ware bestehenden Aktivität, kollaboriert also der römische Handel mit ei-ner politisch-militärischen Macht, die eben dies für alle kommerzielleFunktion grundlegende Prinzip des Äquivalententauschs außer Kraftsetzt. Und zwar außer Kraft setzt nicht sowohl in dem prinzipeigenen,systemkompatiblen Sinne, in dem die kommerzielle Funktion das selbertut und in dem die Außerkraftsetzung ihres Prinzips eine conditio sinequa non ihres Bestehens ist, in dem Sinne nämlich, dass überall da, womonetäre Ansprüche an den Markt zugeteilt und materiale Leistungenfür den Markt erbracht, wo also Geld, die symbolische Repräsentanz derauf dem Markt versammelten Waren, gegen Nützliches, die reale Präsenz

der zu Markte getragenen Güter, ausgetauscht wird, der Markt seinenAnteil fordert und im Interesse seiner eigenen Existenz und EntfaltungAkkumulation betreibt, sprich, mehr Wert in Form der ihm zugetragenenGüter nimmt, als er in der den Zuträgern überlassenen Geldform gibtund insofern also Nichtäquivalenz zum unverbrüchlichen Moment desÄquivalententauschs werden lässt. Außer Kraft gesetzt wird vielmehrdas Äquivalenzprinzip in dem ebenso radikalen wie systemsprengendenVerstand, dass bei der Realisierung des Werts der zu Markte getragenenGüter, das heißt da, wo die von den Zuträgern zum Markt erworbenengeldförmigen Ansprüche an den Markt gegen das als Produkt jener Leis-

tungen auf dem Markt befindliche Nützliche eingelöst, gegen die auf demMarkt zirkulierenden Waren eingetauscht, werden, die Zuträger beileibenicht den Warenwert erhalten, auf den die von ihnen gelieferten Güterund erbrachten Leistungen einen Anspruch begründen, weil unterdeseine dritte Instanz, die im Mittelmeerraum kriegerische Eroberungen

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machende und das römische Provinzialsystem stiftende senatorische

Führungsschicht der Republik, ihnen mit militärherrschaftlicher Gewaltund kraft provinzialbürokratischer Verfügung einen Teil ihres geldförmigexistierenden Anspruchs abgeknöpft hat und diesen Teil nun als eigenenAnspruch auf dem Markt geltend macht, mit ihm zu Lasten der um ihnGeprellten einen Anteil an dem Warenwert erwirbt, den die von ihm re-präsentierten beziehungsweise in ihm verkörperten Arbeitsleistungen derGeprellten geschaffen haben. So gewiss die von den prokonsularischenoder proprätorischen Verwaltungen als Kontributionen von Amts wegen beschlagnahmten und als Konfiskationen in eigener Regie vereinnahmtenGelder Teil der Wertmasse sind, die im Austausch von marktgängigerMünze und marktbezüglichen Leistungen als Gegenleistung in die Händeder Leistungen für den Markt Erbringenden gelangt, um deren Ansprü-che an den Markt universal zu vertreten und ubiquitär einlösbar werdenzu lassen, so gewiss bedeutet jene staatliche Beschlagnahmungs- und per-sönliche Vereinnahmungspraxis, dass durch die gewaltsam-expropriativeIntervention der römischen Enteigner die cum grano salis bis dahin herr-schende kommerzielle Äquivalenzbeziehung ausgehebelt und mit demResultat einer offenkundigen Benachteiligung derer verdrängt wird, diedas Gesamt der Leistungen für den Markt erbringen und aber nur jenenTeil der dadurch erworbenen geldförmigen Ansprüche an den Marktgeltend machen können, den die römischen Enteigner ihnen lassen.

Zwar scheint diese Beeinträchtigung und in der Tat Aussetzung desÄquivalenzprinzips, da sie ja mit nichtkommerziellen Mitteln bewirktwird und quasi im Zwischenraum zwischen den das kommerzielle Ge-schehen konstituierenden beiden Handlungsphasen, im Niemandslandzwischen wertakkumulierendem Kauf von Leistungen und wertrealisie-rendem Verkauf von Waren statthat, erst einmal gar kein kommerziellesProblem zu sein und den römischen Handel als solchen gar nicht inMitleidenschaft ziehen zu können. Was kann der römische Handel dafür,dass die Führungsschicht der Republik mittels ausbeuterischem Pro-vinzialsystem seinen Handelspartnern, den Provinzmärkten und deren

Zuträgern und Kunden, geldförmige Ansprüche an den Markt, die sichdiese durch ihre Güter und Dienstleistungen erworben haben, zwangs-weise abknöpft und mit dem gewaltsam angeeigneten Geld nun ihrerseitsAnsprüche an den Markt geltend macht? Und auch dass es der Markt, derauf Geldbasis funktionierende kommerzielle Austauschzusammenhang,

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ist, der die strukturelle Grundlage für die exaktiv-direkte Enteignungs-

strategie der römischen Nobilität bietet, dass mit anderen Worten ohnedie Dazwischenkunft des Geldes als ineins das Mittel zur Akkumula-tion von Wert in Warenform und zur wertrealisierenden Distributionder die Warenform materialisierenden Gebrauchsgüter jene kontributiv beziehungsweise konfiskatorisch geübte Reichtumsaneignungspraxis derrömischen Nobilität kaum oder gar nicht durchführbar wäre – auch diesscheint den römischen Handel sowenig kompromittieren zu müssen, wiedie bloße Möglichkeit zum Missbrauch denjenigen, der sie durch sein Tuneröffnet, schon zum wirklichen Missetäter macht.

Was allerdings die kommerzielle Funktion der Republik beziehungs-

weise sein empirisches Dasein, den römischen Handel, in der Tat zutiefstkompromittiert und mit einem Schlage zum Komplizen, zum aktivenErfüllungsgehilfen der nichtkommerziellen, das Äquivalenzprinzip mitFüßen tretenden Macht werden lässt, die in das Marktsystem einbricht, istdies, dass er die intervenierende Macht umstandslos als neuen Geschäfts-partner akzeptiert, dass er sie ungeachtet ihres kommerzfeindlichen, auf Kosten der alten Handelspartner durchgesetzten und nämlich mit derenMitteln bestrittenen Einstiegs in das Austauschsystem als normalen Kon-trahenten und vielmehr zentralen Faktor des Systems gelten lässt. Kaummacht sich die römische Nobilität im außenwirtschaftlichen Bereich der

Republik breit und eignet sich mitttels der militärischen Gewalt und des bürokratischen Zwangs des Provinzialsystems einen Teil der dort ver-handelten Wertmasse in Geldform an, schon beeilt sich die kommerzielleFunktion der Republik, dem räuberischen Eindringling in ihre Gerechtsa-me die Honneurs zu machen und ihn als neuen Mitspieler, als dank derUnwiderstehlichkeit seiner Aneignungsstrategie sichere Bank und festeGröße in das Austauschsystem einzubeziehen, steht mit anderen Wortender römische Handel bereit, durch sein Handeln jene kompensationslos-gewaltsame Umverteilung und expropriativ-zwangsweise Anteilnahmeder römischen Nobilität, die allem kommerziellen Austausch und al-

ler für ihn maßgebenden Äquivalenz ins Gesicht schlägt, als reguläreErscheinung und in der Tat konstitutiven Bestandteil des Systems zusanktionieren.

Um durch die Todsünde wider den Geist äquivalenter Austauschbezie-hungen, die die Bereicherungspraxis der römischen Kolonialverwaltung

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darstellt, nicht der Dysfunktionalisierung überantwortet und zugrunde-

gerichtet zu werden und ihr Akkumulationsgeschäft wie gehabt weiter-treiben zu können, lässt die kommerzielle Funktion der Republik diesenichtkommerzielle Bereicherungspraxis als normales Moment des kom-merziellen Prozesses durchgehen, nimmt die Sünder in Gnaden in ihrenunversehrt sich behauptenden Wirkungskreis auf und breitet den kaschie-renden Mantel egal-transaktiver Beziehungen über ihr inegal-exaktivesTun. So gewiss sie die patrizisch-senatorischen Kontributionsnehmerund Konfiskateure unter Abstraktion vom irregulären Charakter ihresEinstiegs in das kommerzielle Austauschsystem wie gewöhnliche Aus-tauschpartner traktiert, so gewiss integriert die kommerzielle Funktionder Republik auf funktionellem Wege in das System, was das Systemaus struktureller Perspektive eigentlich sprengt, und sichert, indem sieden Pfahl im Fleisch der Ökonomie der Provinzen in ein Füllhorn fürsich selbst, den auf den fremdem Märkten schadenstiftenden Fremd-körper in ein eigenes lebenspendendes Organ verwandelt, ihrem DaseinKontinuität und gedeihliche Präsenz.

Wie bei jeder als Pakt mit dem Teufel beschreibbaren Umfunktionie-rung liefert sich die kommerzielle Funktion allerdings auch hier demins eigene Organ verwandelten Fremdkörper aus, begibt sich in unwi-derrufliche Abhängigkeit von ihm, unterwirft sich seiner fremdbürtigenDynamik. Eben weil der römische Handel mit der Kraft und Konsistenz

des kommerziellen Zusammenhanges die nichtkommerzielle Interven-tion, sprich, die austauschwidrig gewaltsame Expropriationspraxis derrömischen Nobilität kaschiert und integrativ bewältigt, wird nun die-se integrierte Praxis zum wesentlichen Faktor und konstitutiven Mo-ment seines eigenen Funktionierens und zwingt ihm die Progressionund explosive Entwicklung, die sie im Zuge der durch sie ermöglich-ten militärischen Expansionsstrategie der Republik nimmt, als eine ihnebensosehr von Grund auf verändernde wie im Kern berührende Ver-laufsform auf. Je mehr diese Exppropriationspraxis dank der durch sieermöglichten Expansion der Republik an Volumen und ubiqutärer Gel-

tung gewinnt, um so mehr findet sich die kommerzielle Funktion in derTat aus ihrer eigenständigen Position als Organisatorin eines auf Äqui-valenz, auf Gegenseitigkeit der Leistungen, basierenden Austauschesverdrängt und zum Handlanger und Erfüllungsgehilfen jenes in Gestaltder römischen Nobilität intervenierenden nichtkommerziell-exaktiven,

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kompensationslos-appropriativen Teilhabers am Markt degradiert, mit

Rücksicht auf den sich ihre funktionell scheinbar unveränderte Aus-tauschtätigkeit auf ein Umverteilungsgeschäft reduziert und nämlichdarauf beschränkt, die materiellen Güter, für die die geldförmige Wert-masse einsteht, die sich die römische Nobilität mittels Kontributionenund Konfiskationen angeeignet hat, unter der Camouflage eines regulä-ren Austausches denen, die sich den Anspruch darauf erworben haben,vorzuenthalten und statt dessen in die Hände der Kontributionsnehmerund Konfiskateure gelangen zu lassen.

An dieser zunehmenden Entmündigung des römischen Handels, seinerunaufhaltsamen Verwandlung in einen Kollaborateur beim nichtkommer-ziellen Enteignungsgeschäft und Umverteiler in Diensten der römischenNobilität kann auch nichts die oben vermerkte Tatsache ändern, dassnicht die ganze, dem kolonialen Austauschzusammenhang mit exaktiverGewalt entzogene geldförmige Wertmasse auf den kolonialen Märktenals Anspruch geltend gemacht und in Gestalt von materiellen Güterneingelöst, sprich, zu Umverteilungszwecken genutzt wird, sondern dassdiese Wertmasse vom römischen Handel hauptsächlich auf den heimi-schen Markt der Republik transferiert und dort als wirtschaftsfördernde,weil nachfragebelebende Konsumkraft zum Einsatz kommt. So gewissnämlich Hauptnutznießer der in den internen Austauschzusammenhangder Republik eingespeisten kolonialen Kontributionen Rüstungsindustrie

und Kriegsdienstleistende sind und also Hauptzweck der Entfaltung desrömischen Marktes immer wieder nur die Ausdehnung und Intensivie-rung der militärisch-kolonialsystematischen Expropriationspraxis derrömischen Führungsschicht ist, so gewiss dient jene scheinbar andere,vermeintlich auf eine binnenwirtschaftliche Belebung statt auf die außen-wirtschaftliche Ausbeutung gerichtete Verwendung der kontribuiertenGelder nur dazu, die militärisch-exaktive Umverteilung auf eine stetserweiterte Grundlage zu stellen und in jeweils größerem Maßstab zupraktizieren.

Und auch der Umstand, dass der in privativen Konfiskationen statt in

staatlichen Kontributionen bestehende Teil der gewaltsam-angeeignetenWertmasse tatsächlich der zivilen Nachfrage auf dem heimischen Marktzugute kommt und sich also im Sinne einer Belebung des normalen, auf die Befriedigung subsistenzieller und konsumtiver Bedürfnisse abgestell-ten Güteraustauschs auswirkt, vermag an der neuen Handlangerrolle des

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römischen Handels. seiner ihn auf Umverteilungsaufgaben im Dienste

der römischen Nobilität und ihrer Expropriationspraxis reduzierendenstrukturellen Abhängigkeit nichts Wesentliches zu ändern, da ja, rebussic stantibus, dieses Moment von kommerzieller Normalfunktion höchs-tens dazu taugt, eine ansonsten drohende fatale Arbeitsteilung zwischennichts als Militärkraft für die Ausplünderung der Provinzen zu produ-zieren bestrebter römischer Wirtschaft und demgemäß die Gesamtheitder Konsumgüter für die Erhaltung Roms zu erzeugen gezwungenerkolonialer Wirtschaft zu verhindern oder jedenfalls auf die lange Bank zuschieben, sprich, durch die Gewährleistung eines Rests von Ausgewogen-heit in der zivilen Güterproduktion jene Überbelastung der kolonialenÖkonomien zu verhindern, die zum Bankrott des ganzen kommerzi-

ellen Systems und also auch der dem kommerziellen System parasitäraufgepfropften und mit seiner Hilfe funktionsfähig gemachten nichtkom-merziellen Ausbeutungsstrategie führen müsste.

So sehr ihre komplizenschaftliche Unterstützung der militärisch-exaktiven Ex- propriationspraxis der Nobilität ideell einem Selbstverrat der kommerziellenFunktion gleichkommt, so sehr zieht letztere doch materiellen Nutzen aus ihrerKollaboration, da ihr die in jener Expropriation implizierte Außerkraftsetzungdes Äquivalenzprinzips exorbitante Gewinnspannen ermöglicht, die wiederumzu einer außerordentlichen Beschleunigung der die Marktrepräsentanten in dieNobilität integrierenden Gentryfizierung zur Folge haben.

Dass sich demnach der römische Handel unabwendbar zum Kom-plizen und Erfüllungsgehilfen der in seinem indirekt-transaktiven Aus-tauschzusammenhang raumgreifenden direkt-exaktiven Aneignungs-praxis der römischen Nobilität degradiert findet, bedeutet zwar ideelloder dem qua Äquivalenz ausgesprochenen strukturellen Prinzip nach,dass er als autonomer Kontrahent und frei makelnde Instanz den Geistaufgibt und aus seinem spirituellen Tode nur als das täuschend echteVexierbild seiner selbst, als sein eigener, fremdbestimmter Wiedergänger

wiederaufersteht. Materiell allerdings oder dem in Akkumulation be-stehenden funktionellen Resultat nach vollzieht sich diese seine ihn vonGrund auf umkrempelnde und in der falschen Sichselbstgleichheit einerunter der funktionell identischen Oberfläche völlig differenten Struk-tur kontinuierende Reanimation keineswegs zu seinem Schaden und

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wird ihm im Gegenteil durch eine außerordentliche Steigerung seines

Gewinnanteils am scheinbar unverändert getätigten Austauschgeschäftversüßt. Nicht nämlich bloß, dass die geldförmige Wertmenge, die sichdie römische Nobilität in den Kolonien auf dem direkt-exaktivem Wegestaatlicher Kontributionen und persönlicher Konfiskationen aneignet unddie im Zuge ihrer Umwandlung in materielle Güter in den Händen derHandeltreibenden landet, den letzteren den üblichen Gewinnanteil ver-schafft, weil dieser als Einlösung geldförmiger Ansprüche an den Markt begreiflichen Transaktion ja eine die Ansprüche begründende Reihe vonsächlichen und persönlichen Leistungen für den Markt vorausgeht, derenwarenförmiger Gesamtwert nach dem Usus des Marktes den Wert derfür sie gezahlten Geldmenge um den Anteil der Handeltreibenden über-steigt und weil mit anderen Worten die Einlösung der durch Leistungenerworbenen geldförmigen Ansprüche an den Markt die Repräsentantendes Marktes mit einem uneingelösten Mehr an warenförmiger Leistungzurücklässt, das sie anderweitig einlösen und als den Mehrwert, ihrenAnteil, verbuchen können. Zu diesem normalen, vom Markt für seinedistributive Tätigkeit reklamierten und ihm von den fron- oder markt-wirtschaftlichen Erzeugern jeweils bereits vor deren Schröpfung durchdie kontributive und konfiskatorische Praxis der römischen Expropria-teure überlassenen Anteil kommen vielmehr noch die außerordentlichenGewinne hinzu, die den römischen Handeltreibenden aus eben dieser

Kontributions- und Konfiskationspraxis wegen der für sie konstitutivenAußerkraftsetzung des kommerziellen Äquivalenzprinzips zufließen.

Weil die kraft Kontributionen und Konfiskationen erworbenen geldför-migen Ansprüche an den Markt nicht Resultat einer austauschförmigenÄquivalenzrechnung, einer im Wert korrespondierenden und cum granosalis, sprich, vorbehaltlich des Marktanteils, kompensatorischen mate-riellen oder strukturellen Leistung für den Markt, sondern statt dessenunvermittelte Konsequenz einer korrespondenzlosen Gewaltübung undaller kompensatorischen Absicht unverdächtigen Enteignungshandlungsind, weil mit anderen Worten die römischen Expropriateure keine am

äquivalenzbestimmten Austausch von marktgängigen Leistungen gegenmarkteigene Münze mitwirkenden Geschäftspartner, sondern in diesenAustauschzusammenhang einbrechende und umstandslos an seinem Re-sultat, der für die Leistungen gezahlten Münze, partizipierende Abzockersind, bleibt nun auch der auf den Markt gezogene Wechsel, den in Gestalt

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der den Leistungserbringern entwendeten Münze die Expropriateure

präsentieren, bleibt die Einlösung der qua Münze geltend gemachtenAnsprüche an den Markt relativ abstrakt und markant indifferent gegen-über der Äquivalenzrücksicht, die ursprünglich maßgebend und für denErwerb der geldförmigen Ansprüche durch persönliche oder sächlicheLeistungen bestimmend war. So gewiss die römischen Expropriateure beiihrer gewaltsam-exaktiven Aneignung von Tauschwert das Grundgesetzallen kommerziellen Austausches, das Äquivalenzprinzip, außer Kraftsetzen, so gewiss spielt das Prinzip nun auch keine, oder jedenfalls keinemaßgebende Rolle, wenn sie zu Markte gehen, um auf kommerziellemWege den Tauschwert in Gebrauchswert zu überführen. Die Folge ist,

dass die Repräsentanten des Marktes, die römischen Handeltreibenden, bei ihren Geschäften mit der Nobilität sei’s in der korporativen Form desmit Kontributionen gefütterten römischen Staates, sei’s in der individuel-len Gestalt seiner durch Konfiskationen fett werdenden Beamten Profiteerzielen, die weit über die Gewinnspanne hinausgehen, die ihnen dankdes Anteils, den sie am Wert einer jeden zu Markte getragenen Leistung beanspruchen können, aller kommerzielle Austausch ohnehin einträgt.

Indem der mittels Markt betriebene Werterwerb, der kommerzielleAustausch von allgemeinem Wertäquivalent, Geld, gegen mehrwerti-ge materielle Güter und strukturelle Leistungen, gefolgt ist von einer

nichtkommerziellen, außerhalb des Marktes vor sich gehenden Wertex-propriation, einer kompensationslos-zwangsweisen Entwendung jenesallgemeinen Äquivalents durch die als Besatzungsmacht in den Kolonienschaltende und waltende römische Nobilität und indem nun aber dieseExpropriation die bis dahin maßgebende Äquivalenzbeziehung zerstörtund das allgemeine Äquivalent quasi absolut setzt, es statt als Beleg fürerbrachte Leistungen, vielmehr nur abstrakt als Wechsel auf beanspruchteGüter vorstellig werden lässt, bleibt in den weiten Grenzen, die gewohntePreiserwartungen und Billigkeitsrücksichten stecken, die Entscheidungdarüber, wie viel Wertquantum in Gestalt besonderer Waren das allge-

meine Wertäquivalent in Geldform kommandiert, den Repräsentantendes Marktes überlassen und wird so der Akt, der eigentlich nur der Wer-trealisierung dient, der Verkauf von Waren an Geldbesitzer, zu einerWerterwerbsgelegenheit sui generis, einer weiteren, außerordentlichenBereicherungsquelle, für den römischen Handel.

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Durch exorbitante Profitspannen mehr als entschädigt und im Übermaß

materiell belohnt findet sich demnach der römische Handel für seinenstrukturellen Selbstverrat, seine Preisgabe der zwischen produzieren-den Konsumenten und konsumierenden Produzenten bislang von ihmeingenommenen eigenständigen Mittlerrolle und auf eigene Rechnungwahrgenommenen Distributionsaufgabe zugunsten einer zwischen ex-propriativen Konsumenten und expropriierten Produzenten nunmehrvon ihm erfüllten abhängigen Handlangerfunktion, sprich, im Diensteder römischen Nobilität geübten Umverteilungspraxis! Die Frage ist aller-dings, was er mit seinem unverhältnismäßigen Zugewinn, seinem plötz-lich neuen Reichtum anfangen soll. Ihn als Handelskapital zu verwenden,das heißt, in den Kauf weiterer mehrwertiger und abermals mit Gewinnzu verkaufender Waren zu stecken, kurz, zur Erweiterung der kommer-ziellen Aktivitäten, zu Akkumulationszwecken, zu nutzen, erscheintwenig aussichtsreich, da ja eben das, was der kommerziellen Funktionden außerordentlichen Zugewinn und die darin liegenden neuen Ge-winnmöglichkeiten verschafft, die kolonialsystematisch-expropriativeIntervention der römischen Nobilität, das normale Handelsleben lähmtund durchkreuzt und da also in einer Art Unschärferelation der durchTransaktionen mit den römischen Expropriateuren erzielte Profit zu Las-ten der gewohnten gewinnbringenden Austauschbeziehungen mit denausgebeuteten Kolonien geht: Weder kann der römische Handel hoffen,

ein rasch wachsendes Kontingent heimischer Waren in den durch Kontri- butionen und Konfiskationen geschröpften Kolonien in klingende Münzezu verwandeln, noch kann er erwarten, dass eine koloniale Wirtschaft,die für jede Initiative, die sie entfaltet, und für jedes Wachstum, das ihrgelingt, ihren Obolus an die militärisch-bürokratische Fremdherrschaftentrichten muss, genug Lebendigkeit und Dynamik beweist, um ihm dasfür die Verwertung seiner außerordentlichen Gewinne nötige vergrößerteWarenkontingent zur Verfügung stellen zu können.

So gesehen, scheint dem römischen Handel beziehungsweise seinenVertretern, den Repräsentanten des Marktes, gar nichts anderes übrig

zu bleiben, als den neuerworbenen Reichtum auf jene in der RömischenRepublik fest etablierte andere Art zu verwenden, die das römische Ge-meinwesen als Gentrygesellschaft zu klassifizieren erlaubt, und nämlichden neuen Reichtum zu gebrauchen, um sich durch den Erwerb vonLandbesitz in die Oberschicht einzukaufen, sich aus einem homo novus,

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einem geldbesitzenden Neureichen, in einen gutsbesitzenden Patrizier,

einen eingesessenen Angehörigen der senatorisch verfassten Nobilität,zu transformieren. Die markant gesteigerten Profite, die den Marktre-präsentanten ihre Rolle als Handlanger und Erfüllungsgehilfen der vonder Nobilität verfolgten gewaltsam-exaktiven Bereicherungsstrategieeinträgt, scheinen ihnen also weder neue kommerzielle Perspektiveneröffnen zu können, noch scheinen sie dazu angetan, an dem gewohnten juniorpartnerschaftlichen Verhältnis etwas zu ändern, in dem sie sichgegenüber dem landbesitzenden Patriziat arretiert finden und das, wieeinerseits ihnen den patrizischen Status als höchstes anzustrebendes Zielihrer kommerziellen Akkumulationsbemühungen vor Augen stellt, soandererseits der patrizischen Elite sie als soziale Nachschubbasis und alspersonales Auffüllreservoir zur Verfügung hält.

Das einzige, wozu jene exorbitanten Profite taugen, ist, den sozialenAufstieg der Profiteure zu beschleunigen, das Umschlagstempo ihrerGentryfizierung, ihrer Eingliederung in die senatorische Führungsschicht,zu erhöhen. Dafür, dass die römischen Handeltreibenden als an der kolo-nialsystematischen Ausbeutungsstrategie der römischen Nobilität passivBeteiligte ihres Amtes walten und nämlich für die kommerzielle Um-setzung des mit nichtkommerziellen, militärisch-bürokratischen Mittelnerpressten geldförmig-virtuellen Reichtums in güterförmig-aktuelle Rüs-tung und Konsumtion Sorge tragen, finden sie sich durch eine immerraschere Aufnahme in eben jene senatorische Führungsschicht kraft Er-werbs des für letztere grundlegenden territorialeigentümlich-gutsherr-schaftlichen Status und also durch eine immer stärkere Einbindung ih-res kommerziellen Interesses in die kriegerisch-expansive Karriere undnichtkommerziell-expropriative Perspektive ihres Seniorpartners, der ausihren Reihen sich rekrutierenden, mit ihrer Hilfe die dynamische Stabi-lität einer regenerationsfähigen sozialen Kaste gewinnenden Nobilität belohnt.

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Dass sich die römische Nobilität bei der Ausbeutung der Provinzen mangels

Wertmitteln in Geldform zunehmend auf die Aneignung von Sachgütern undvor allem Wertquellen verlegen muss, eröffnet den mit ihr juniorpartnerschaft-lich kollaborierenden Marktrepräsentanten ganz neue Betätigungsfelder undBereicherungschancen. Sie verwandeln sich aus rein kommerziellen Maklern inquasiindustrielle Unternehmer, aus für die Zirkulation zuständigen Agentenin Organisatoren von Produktion und lösen so mit einem Schlage das Problem,dass eine durch die römische Expropriationspraxis gelähmte koloniale Wirtschaftder profitablen Verwendung der gewaltigen Wertzuwächse, die ihnen ihre Funk-tion von Wertrealisierern im Dienste der Nobilität beschert, unüberwindbareSchranken zu setzen droht.

Wenn aber auch die außerordentlichen Profite, die dem römischenHandel das Kontributionssystem und die Konfiskationspraxis der kolo-nialistisch expandierenden senatorischen Führungsschicht beschert, andem zwischen ihm und der Führungsschicht etablierten Grundverhält-nis, der ihm gegenüber der Führungsschicht zugewiesenen Rolle eines Juniorpartners und komplizenschaftlichen Erfüllungsgehilfen nichts än-dern und wenn ihm also auch mit anderen Worten diese Profite keineneuen kommerziellen Spielräume, keine eigenständigen, vom militärisch- bürokratischen Ausbeutungssystem des römischen Kolonialismus unab-hängigen Betätigungsfelder erschließen, so eröffnen sie ihm doch aber im

Rahmen des partnerschaftlichen Verhältnisses neue Formen des Engage-ments und neue Kompetenzen, die tatsächlich so einschneidend und sofolgenreich sind, dass sie das Verhältnis selbst von innen heraus reorgani-sieren und von Grund auf neu gewichten und, wie die Handeltreibendendefinitiv aus passiv Beteiligten in aktiv Mitwirkende am kolonialsys-tematischen Ausbeutungsgeschäft verwandeln, so ihnen schließlich zueinem dem Senatorenstand ebenbürtigen Status, einem Adel eigenenRechts, nämlich zur Position einer dem Patriziat zwar formell nachge-ordneten, funktionell aber gleichgestellten Ritterschaft verhelfen. DieMöglichkeit, sich in neuen Formen zu engagieren und seinen Kompetenz-

 bereich auszudehnen, bietet dabei dem römischen Handel der Umstand,dass entgegen der oben behaupteten Geldförmigkeit der von der rö-mischen Verwaltung erhobenen Kontributionen und durchgeführtenKonfiskationen ein zunehmend größerer Teil der einzutreibenden Werteund zu beschlagnahmenden Reichtümer in der Gestalt von beweglichen

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und unbeweglichen Sachgütern, von handwerklichen Produkten, land-

wirtschaftlichen Erzeugnissen, Naturschätzen, Anlagen, Liegenschaftenerscheint.In dem Maße wie ihre Ausbeutungspraxis die öffentlichen Geldre-

serven der Kolonien und die Ersparnisse der Kolonialbevölkerungenerschöpft, sehen sich die fremden Zwingherren, die prokonsularischenund proprätorischen Beamten aus den Reihen der römischen Nobilität,zur Befriedigung ihrer Kontributionsforderungen und konfiskatorischenAnsprüche an die sächlichen Werte verwiesen, sprich, genötigt, sich di-rekt aus dem in Waren, Produktionsmitteln, Rohstoffen, Realitäten beste-henden Fonds kolonialen Reichtums zu bedienen. Weit entfernt davon,dass den römischen Expropriateuren unmittelbar nichts als allgemei-nes Äquivalent in die Hände fiele, das sie bloß auf dem Markt gegenBrauchbares und Benötigtes, Rüstung und Konsum, eintauschen müss-ten, sehen sie sich mit ihrem Expropriationsanspruch in wachsendemMaße dem sächlichen Reichtum der Kolonien in all seiner Sperrigkeit,Unbeweglichkeit und Unerschlossenheit konfrontiert und mithin vor dieAufgabe gestellt, den so beschaffenen Reichtum erst einmal in jene Formubiquitärer Konvertibilität und allgemeiner Äquivalenz zu überführen, inder er sich dann nach Bedarf und Gelegenheit auf dem Markt in materialeGüter und personale Leistungen umsetzen lässt. Und wie schon dieseUmsetzung von allgemeinem Äquivalent in auf dem Markt zirkulierende

Güter und Leistungen, von Geld in Handelsware, den Fachleuten fürkommerzielle Transaktionen, den als Erfüllungsgehilfen der Nobilitätrekrutierten römischen Kaufleuten als Aufgabe zufällt, so bieten sich diegleichen Kaufleute nun auch als Helfershelfer an, wenn es darum geht,die gegenteilige kommerzielle Transaktion zu vollziehen und nämlichsächliche Produkte und persönliche Leistungen zu Markte zu tragen undin allgemeines Äquivalent zu verwandeln, marktgängige Güter in dieMünze des Marktes, in Geld, zu transformieren und dadurch Warenformgewinnen zu lassen.

Solange sich die Nobilität bei ihrer Ausbeutung der kolonialen Ökono-

mien den fremden Reichtum noch in der scheinbaren Unmittelbarkeit derGeldform anzueignen vermag, kommt sie mit dem Markt nur als Konsu-mentin in Berührung und bemüht sie die Repräsentanten des Marktes nurals Verkäufer von Waren, als ehrliche Makler, die im Äquivalententauschihren geldförmigen Anspruch auf Waren des Marktes realisieren. Dass

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ihrem konsumtiven Akt eine kommerzielle Transaktion vorausgeht, in

deren Konsequenz die Gebrauchsgegenständlichkeit, auf die sie kraftGeldes Anspruch erhebt, allererst auf den Markt gelangt, und das Geld,das ihren Anspruch verkörpert, umgekehrt vom Markt in die Händederer wechselt, die als Produzenten jene Gebrauchsgegenständlichkeitliefern, dass also der Markt, um Güter an Konsumenten distribuieren zukönnen, sie erst einmal von den Produzenten beziehen, sie in seinem Rah-men und nach seinen Konditionen akkumulieren muss – all das brauchtdie römische Nobilität nicht zu interessieren, solange sie sich mit ihrenKontributionsforderungen und konfiskatorischen Zugriffen erst dort inden kommerziellen Prozess einschaltet, wo die Produzenten ihre Güter bereits zu Markte getragen haben und mittels geldförmiger Vergütung inWaren haben verwandeln lassen und wo sie nun aufgrund des als Ge-genleistung für ihre Güter empfangenen Geldes die Produzentenfunktionablegen und in der Rolle des Konsumenten auf den Markt zurückkehrenkönnen oder besser gesagt könnten, wäre da nicht die römische Nobilität,die ihnen just an diesem Punkte in den Weg tritt, sie mit exaktiver Gewaltum einen mehr der minder großen Teil des Geldes erleichtert und ihnen,soweit es diesen Teil betrifft, die Konsumentenrolle abnimmt, an ihrerStelle zu Markte geht.

Interessieren muss die Nobilität jene kommerzielle Vorgeschichte ihrermit nichtkommerziellen Mitteln übernommenen Konsumentenrolle erst

in dem Maße, wie bei den kontributiv und konfiskatorisch geschröpftenkolonialen Produzenten das geldförmig allgemeine Äquivalent des Reich-tums, das Passepartout zu den Gütern und Leistungen, die der Markt zu bieten hat, knapp wird und sie sich deshalb genötigt sieht, zur Befriedi-gung ihrer expropriativen Forderungen auf das unmittelbare Eigentumder Produzenten, ihre materialen Ressourcen, ihre Produkte, unbewegli-che Habe, Produktionsmittel, Rohstoffe, Naturschätze zurückzugreifen.Indem die Nobilität anfängt, sich aus diesem Fundus zu bedienen, findetsie sich quasi in der Produzentenrolle wieder und also gehalten, das, wassie sich mit der exaktiven Gewalt militärischer und bürokratischer Requi-

sitionen aneignet, zu Markte zu tragen, um es dort durch Verkauf seinermaterialen Schwerfälligkeit und partikularen Wertgestalt entkleiden undüberhaupt erst jene Form von allgemeiner Äquivalenz und beliebigerAustauschbarkeit, kurz, jene Geldförmigkeit gewinnen zu lassen, dieihr dann ermöglicht, in die Konsumentenrolle zu schlüpfen und ihren

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Anspruch auf Güter und Leistungen des Marktes in die als Kaufakt be-

stimmte Tat umzusetzen. Die Nobilität findet sich mit anderen Worten andie Repräsentanten des Marktes nicht in ihrer Eigenschaft als Lieferantenvon Waren, sondern in ihrer Funktion als Abnehmer von Produkten ver-wiesen, sie kontrahiert mit den Handeltreibenden nicht als mit den Wertihrer Waren durch deren Verkauf realisierenden Distributoren, sondernals mit durch den Kauf von Gütern Wert erwerbenden Akkumulatoren.Das heißt, sie findet sich nun natürlich auch jener Grundkondition deskommerziellen Treibens unterworfen, derzufolge alle Güter, die zu Mark-te gehen, in actu ihrer Transformation in allgemeines Äquivalent, dieMünze des Marktes, Geld unfehlbar einen Wertabschlag in Kauf nehmenmüssen, der den Tribut an die kommerzielle Institution selbst, den vonden Handeltreibenden für ihre Maklertätigkeit beanspruchten Anteildarstellt und zwischen dem in Güterform vom Markt eingetauschten unddem in Geldform vom Markt ausgetauschten Wert eine als Quellpunktallen Werterwerbs und aller Wertakkumulation firmierende Nichtäquiva-lenz stiftet.

Nicht, dass dieser Wertabschlag, dieser institutionsspezifische Zoll,den von ihr wie von allen Produzenten der Markt erhebt, der NobilitätKopfzerbrechen bereitete. Erstens ist sie in ihrer Unvertrautheit mit denGesetzen kommerziellen Austauschs und in ihrer Präokkupation mitKriegführen und Politik froh und dankbar, Fachleute an der Hand zu

haben, die ihr das kommerzielle Geschäft einer Verwandlung der vonihr beschlagnahmten Sachwerte in Geldwert abnehmen, und ist gern bereit, dafür den vom Markt verlangten Zoll zu entrichten. Und zweitensgilt natürlich auch für die mit militärischer Gewalt und bürokratischemZwang beschlagnahmten Sachgüter, was oben bereits für die auf gleicheWeise angeeigneten Wertmittel geltend gemacht wurde, dass nämlicheben der Modus des Erwerbs dieser Güter, die Tatsache ihrer kompen-sationslosen, von aller Äquivalenzrücksicht befreiten Aneignung, dasökonomische Wertbewusstsein der Nobilität beeinträchtigt und ihr einerelative Gleichgültigkeit gegenüber dem marktspezifischen Geldwert des

in Besitz genommenen sächlichen Reichtums eingibt. Wie die Nobilitätschon keinen Anstand nimmt, die kontributiv vereinnahmten oder kon-fiszierten Barmittel weit unter ihrem tatsächlichen Kauf- oder Sachwertauszugeben, so trägt sie erst recht kein Bedenken, die mangels Barmittelals Kontributionen oder Konfiskationen von ihr in Zahlung genommenen

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Sachgüter, um sie baldmöglichst in die Geldform zu überführen, weit

unter ihrem wirklichen Markt- oder Geldwert zu verschleudern.Noch bereitwilliger aber, als die Nobilität ihren neuen Status von Qua-siproduzenten und die damit verknüpften Verbindlichkeiten gegenüberdem Markt in Kauf nimmt, übernimmt natürlich der Markt selbst bezie-hungsweise übernehmen seine Repräsentanten, die Handeltreibenden,die Aufgabe, die ihnen durch diese herrschaftlichen Quasiproduzentenzugeschoben wird – die Aufgabe nämlich, jene Sachgüter gegen Barmit-tel einzutauschen und als Waren dem Markt einzuverleiben. Und ihreBereitwilligkeit rührt dabei nicht nur von der eben erwähnten Tatsa-che her, dass die herrschaftlichen Produzenten dem Marktwert der vonihnen beschlagnahmten Sachgüter relativ indifferent gegenüberstehenund deshalb deren Verkauf zu Konditionen zustimmen, die den Han-deltreibenden immense Gewinnspannen bescheren. Vielmehr liegt ihreBereitwilligkeit, in das neue Geschäft mit der Nobilität einzusteigen, auchund vor allem darin begründet, dass die von diesen herrschaftlichen Qua-siproduzenten beschlagnahmten Sachgüter ja nur zum geringsten Teilaktuelle Werterscheinungen, fertige, warenförmige Produkte sind unddass es sich bei ihnen in der Hauptsache um potentielle Wertquellen, umProduktions- und Extraktionsstätten zur Bildung und Amassierung vonWert, um Steuerpachten, landwirtschaftliche Betriebe, Handelsmonopole,Schürfstätten handelt. Indem die Nobilität den Handeltreibenden diese

Art von Sachgütern verkauft, überlässt sie ihnen nicht einfach nur einin seinem Wert vorab bestimmtes Gut, dessen Verwertung sich für dieletzteren darin erschöpft, es als Wert sans phrase, als Geldwert, zu reali-sieren und dabei den beim Kauf den herrschaftlichen Quasiproduzentenin Rechnung gestellten Wertabschlag einzuheimsen; vielmehr erhaltendie Handeltreibenden ein Gut, das sich als nur erst ein Wertpotentialdarbietet, dessen Wert mit anderen Worten in seinen wertschöpferischenoder wertakkumulativen Eigenschaften besteht, und das deshalb seineKäufer vor die Aufgabe stellt, ihm auf dem Wege seiner intensiven Be-wirtschaftung, produktiven Ausbeutung, spekulativen Verwendung oder

extraktiven Nutzung allererst jene Sachwerte zu entreißen, die sich dannauf dem Markt in klingende Münze verwandeln lassen. Weil es nicht festeWerte, fertige Produkte, sondern liquide Wertquellen, Produktionspo-tentiale sind, was in der Mehrzahl der Fälle die römischen Verwalter inden Provinzen mit Beschlag belegen und dem römischen Handel zwecks

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Vermarktung überlassen, ist der Wertabschlag, den die kommerzielle

Funktion für ihre Vermarktungsdienste in Anspruch nimmt, nun auchkeine fixe, höchstens und nur nach Konvention, Marktlage, Engagementder Beteiligten und so weiter variable Größe mehr, sondern stellt eineweitgehend unbestimmte, hochgradig flexible Proportion dar, für derentatsächliche Größe das ausbeuterische Ingenium oder wertschöpferischeTalent maßgebend ist, das die Handeltreibenden bei der Aktualisierungdes Potentials, der Verwertung der Quelle beweisen.

Die Handeltreibenden, die den herrschaftlichen QuasiproduzentenProduktionsstätten und Extraktionsquellen von Wert, statt werthaltigeProdukte, marktgängige Güter, abkaufen, hören mit anderen Worten

auf, bloß kommerzielle Makler, für die Zirkulation zuständige Agentenzu sein und verwandeln sich ihrerseits in Produzenten oder vielmehrOrganisatoren von Produktion, Extraktionsfachleute, die durch die Aus- beutung von Steuerpachten, Staatsgütern, Produktionsanlagen, Handels-monopolen, Schürfstätten ihren Gewinn, die Differenz zwischen demGeldwert, den sie für ihre Erwerbung gezahlt haben, und dem Sachwert,den sie aus ihr herausholen, in den Grenzen, den ihr eigener Einfalls-reichtum beziehungsweise die objektive Ergiebigkeit der Erwerbungsteckt, zu maximieren bestrebt sind. Das einzige, was die Handeltrei- benden zu dieser ihrer Metamorphose brauchen, ist genügend Geld, um

den herrschaftlichen Quasiproduzenten die von ihnen beschlagnahmtenWertquellen abzukaufen und also jene Transaktionen zu vollziehen, dieunter dem Deckmantel normaler Werterwerbsakte in Wahrheit die Kon-ditionen des kommerziellen Geschehens verändern, weil sie dem Marktdirekten Zugriff auf die Sphäre der Produktion, unmittelbare Kontrolleüber die Gütererzeugung eröffnen.

Und hier genau kommen nun den Handeltreibenden die überdimen-sionalen Profite zustatten, die sie dank der Großzügigkeit und Unbe-kümmertheit, mit der die römische Nobilität die Kontributionszahlungenund konfiszierten Wertmittel aus den Kolonien zu Markte trägt und

konsumtiv umsetzt, in ihrer traditionellen Rolle als zirkulative Maklereinstreichen können, hier genau macht sich nun die überproportionaleAkkumulationsrate bezahlt, mit der sie als kommerzielle Erfüllungs-gehilfen bei der nichtkommerziellen Aneignungspraxis der römischenNobilität belohnt werden. Tatsächlich läuft ja, dass die Nobilität sowohl

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in ihrer staatlichen, senatorisch-korporativen als auch in ihrer priva-

ten, patrizisch-familiären Funktion zur Befriedigung ihrer konsumtivenAnsprüche nicht mehr mit Wertmitteln, mit Geld, sondern mit Sach-werten, mit Gütern, Pachten und Betrieben auf dem Markt erscheint,auf eine massive Erweiterung des Volumens und der Geschäftstätigkeitdes Marktes hinaus. Haben die Handeltreibenden vorher das Geld derherrschaftlichen Konsumenten gegen Waren eintauschen und mit ihmneue Waren kaufen, das heißt, den üblichen Zyklus von Wertrealisierungund neuem Werterwerb wie gewohnt absolvieren können, so müssen sienun, da die Konsumenten ihnen als Quasiproduzenten mit Sachwertenzu Leibe rücken, statt der eigentlich fälligen Wertrealisierung erst ein-mal weiteren Werterwerb praktizieren und nämlich jene Sachwerte inZahlung nehmen, sie im Austausch gegen Geld erstehen. Statt Warenloszuwerden, um mit dem in Geldform erlösten Wert neue, mehrwertigeWaren auf den Markt zu holen, müssen sie die auf dem Markt vorhan-dene Warenmenge erst einmal nur unter Einsatz eigener Mittel um dieihnen von der Nobilität zugetragenen Sachwerte vergrößern; statt Geldeinzunehmen, um mit ihm als allgemeinem Äquivalent, als Münze desMarktes, neue, noch außerhalb des Marktes befindliche Güter in dieZirkulation hineinzuziehen, müssen sie unmittelbar Geld aus eigenerTasche aufbringen und die Zirkulation um jene neuen Güter erst einmaleinfach nur erweitern.

Nicht, dass dies auf ihre Kosten oder gar zu ihrem Schaden geschähe!Schließlich stehen sie, wenn sie dann die größere Warenmenge verkauft,den Inhalt der erweiterten Zirkulation in seinem Wert realisiert haben,mit einer entsprechend vergrößerten Wertmenge in Geldform, einementsprechend vergrößerten Fundus an allgemeinem Äquivalent da. Undvielmehr nicht nur mit einer in arithmetischer Linearität entsprechendvergrößerten, sondern mit einem in geometrischer Sprunghaftigkeit un-verhältnismäßig gesteigerten Äquivalentmenge stehen sie am Ende da,weil ja, wie gesagt, die Sachwerte sich als in Wahrheit Wertquellen erwei-sen, die ein nicht vorweg bestimmtes oder bestimmbares und nämlich

vom Modus und Grad ihrer Ausbeutung abhängiges Wertquantum er- bringen, und weil mit anderen Worten die Konditionen des Geschäfts sichunter der Hand verändern, an die Stelle der rein kommerziellen Zirkulati-on von Gütern eine quasi industrielle Warenproduktion tritt. Keineswegsalso gereicht den römischen Handeltreibenden die Markterweiterung,

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zu der die notgedrungen veränderte koloniale Expropriationspraxis der

römischen Nobilität sie zwingt, zum Schaden – im Gegenteil! Nur müssensie eben erst einmal die für die Finanzierung dieser Markterweiterungerforderlichen Gelder aufbringen, die Summen investieren, die nötigsind, um der Nobilität die mangels requirierbarer Wertmittel von ihr mitBeschlag belegten Wertquellen abzukaufen – und genau dafür taugen dieakkumulierten Profite, die den Handeltreibenden ihre bis dahin verfolg-ten normalen kommerziellen Aktivitäten dank der anomalen Konsum-kraft und Spendierfreudigkeit ihrer Hauptgeschäftspartnerin, der ausstaatlichen Kontributionen und privaten Konfiskationen sich speisenenNobilität, eingetragen haben.

So gesehen, dient in der Tat die exorbitante Akkumulation, die demrömischen Handel seine kommerzielle Helfershelferrolle bei der von derrömischen Nobilität betriebenen kolonialistischen Ausbeutung ermög-licht, am Ende dazu, das Hemmnis zu beseitigen beziehungsweise dasProblem zu bewältigen, mit dem sich eben diese Ausbeutung in demMaße konfrontiert sieht, wie sie die leicht anzueignenden kolonialenWertmittelreserven erschöpft und sich nun zwecks Fortsetzung ihrerPraxis an die Sachwerte, die größtenteils unbewegliche Habe in denKolonien, verwiesen findet. Und ungekehrt taugt diese Verlagerung derAusbeutungspraxis von den Barmitteln zu den Sachwerten dazu, denexorbitanten Profiten, die der römische Handel aus seiner kommerziellen

Handlangerrolle zieht, die Verwertbarkeit und Gewinnträchtigkeit zuvindizieren, die ihnen wegen der Beeinträchtigung und Zerstörung desnormalen Handelslebens durch eben jene kolonialistische Ausbeutungs-praxis andernfalls fehlt: Indem die römischen Handeltreibenden ihrekommerziellen Gewinne in von der römischen Nobilität beschlagnahmteSachwerte investieren, bei denen es sich zum überwiegenden Teil um aus- beutbare Wertquellen handelt, erhalten sie Gelegenheit, direkten Einflußauf die koloniale Güterproduktion beziehungsweise die Lieferung vonWaren aus den Kolonien zu nehmen und damit die Schranke zu über-winden, die eine durch die ständige Ausbeutungspraxis Roms halbwegs

gelähmte koloniale Wirtschaft ihrem kommerziellen Verwertungsstre- ben und Expansionsdrang setzt. Statt als rein kommerzielle Makler vonder Kooperationsbereitschaft ihrer kolonialen Kollegen abhängig undnämlich darauf angewiesen zu sein, dass diese sie mit Handelsgütern,mit Waren aus der kolonialen Produktion versorgen, können sie nun

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als quasi industrielle Unternehmer nach eigenem Gutdünken und in

eigener Regie Handelsgüter aus der kolonialen Wirtschaft herauspres-sen, die letztere zur Güterproduktion nötigen, sie als Warenlieferantinzwangsverpflichten.

Dank ihrer neuen Funktion als nicht mehr nur Realisierer, sondern mehr nochVerwerter des kolonialen Reichtums etablieren sich die Marktrepräsentanten alsoligarchische Ritter, die der Position eines bloßen Juniorpartners entwachsen sindund als wirkliche Teilhaber an der Macht zusammen mit den senatorischen Pa-triziern eine Interessengemeinschaft und doppelköpfige Führungsschicht bilden.

In ihrer neuen Funktion als Steuerpächter, Handelsmonopolisten, Mi-nenbesitzer, Bankiers kaufen die römischen Handeltreibenden der römi-schen Nobilität deren mit militärisch-bürokratischen Mitteln errungenesRecht auf Ausbeutung der Kolonien in aller kommerziellen Form ab undwerden zu Hauptvollstreckern der bis dahin von der Nobilität selbstgeübten amtlichen Kontributions- und privaten Konfiskationspraxis.Aus unentbehrlichen, aber bloß helfershelferisch-passiven Beteiligtenam jeweils bereits von der Nobilität getätigten Expropriationsgeschäftverwandeln sie sich in dem Maß, wie sich die Expropriation notgedrun-gen von den kolonialen Wertmittelreserven auf den Sachwertfundus der

Kolonien verlagert, in maßgeblich engagierte Akteure, die den Ausbeu-tungsprozess, den die Nobilität nur erst pro forma oder dem politisch- bürokratischen Anspruch nach vollzieht, materialisiert und in die ökono-mische Tat umsetzt. Und dieser Rollenwechsel vom passiven Teilnehmerzum aktiven Mitwirkenden, den die Handeltreibenden gleichermaßenauf Drängen der an einer raschen Versilberung ihrer sächlichen Beuteinteressierten Nobilität und unter dem Druck des Verwertungsinteressesder aufgrund ihrer Maklertätigkeit für die Nobilität bis dahin angehäuf-ten Profite vornehmen – dieser Rollenwechsel zahlt sich für sie aus. Weiles vornehmlich nicht bloß Werte, sondern Wertquellen, nicht bloß fertige

Produkte, unmittelbar zirkulierbare Güter, sondern Steuerpachten, Han-delsprivilegien, Kapitalanteile, Produktionsstätten, Schürfrechte sind,was die Handeltreibenden dem römischen Staat und seinen Verwalternabkaufen, steht einer sie aus kommerziellen Maklern in quasiindustriel-le Unternehmer transformierenden Profitmaximierungsstrategie nichts

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im Wege und bleibt es ihrem ökonomischen Ingenium, ihrer unterneh-

merischen Initiative überlassen, wie viel an realem Wert sie aus demWertpotential, das sie der Nobilität zu Geld machen und als solches vonihr übernehmen, am Ende herauspressen.

Gleichermaßen aus systematisch-strukturellen und aus ökonomisch-reellen Gründen ändert sich so das Verhältnis der Repräsentanten desMarktes zur patrizisch dominierten Nobilität. Indem sich die Handeltrei- benden aus passiven Erfüllungsgehilfen der römischen Ausbeutungspra-xis zu deren aktiven Betreibern und Organisatoren mausern, hören sieauf, den bloßen Juniorpartner für die als Senior herrschende Oberschichtabzugeben und quasi als ein Reservoir zu dienen, aus dem sich in elitärerRegeneration die letztere nach Bedarf auffüllt und erneuert, und werdenzu einem wirklichen Teilhaber und gleichberechtigten Geschäftspartnerdieser patrizischen Oberschicht, zu einer Gruppe, die als solche Eigen-ständigkeit behauptet, sich als Stand sui generis etabliert, kurz, sie bildendie als regelrechtes Gegenstück zum patrizischen Senatorenstand ausge-wiesenen equites romani, den römischen Ritterstand. Ursprünglich ohneeigenes ständisches Profil und nur durch ein bestimmtes finanzielles Vo-lumen, eine Vermögensklasse und durch die darauf basierende Fähigkeit bestimmt, zu Pferde Kriegsdienst zu leisten, entwickelt sich im Laufedes 2. Jahrhunderts, dem Zeitraum der entscheidenden Durchsetzungund Expansion der Römischen Republik, der Stand der equites zu einer

gesellschaftlichen Formation, die sich weniger finanziell, über ihr Ver-mögen, als funktionell, über ihr Vollbringen, definiert und nämlich zurKörperschaft all jener durch Handel zu Wohlstand gekommenen Neurei-chen wird, denen ihr kommerziell akkumuliertes Kapital erlaubt, das vonder prokonsularischen und proprätorischen Verwaltung in den Kolonienals Kontributionen eingetriebene und konfiskatorisch beschlagnahmtewertbildende Potential aufzukaufen und zu verwerten und die in derKonsequenz dieser Reorientierung ihrer ökonomischen Aktivitäten auskommerziellen Maklern in quasiindustrielle Unternehmer, aus Anhäu-fern von Handelskapital in Anleger von Finanz- und Produktionskapital

mutieren.Wie sehr sich dieser reformierte und zur aktiven Beteiligung an derkolonialsystematischen Ausbeutungspraxis herangezogene Ritterstandfunktionell, mittels ökonomisch ausgewiesener Aufgabe, statt bloß finan-ziell, kraft fiskalisch nachgewiesenem Besitzstand, konstituiert, beweist

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die Tatsache, dass es ihre Angehörigen dank der neuen Profitmaximie-

rungsstrategien, die sich ihnen eröffnen, zu Vermögen bringen, die denender senatorischen Nobilität nicht nur das Wasser reichen können, sondernihnen häufig sogar den Rang ablaufen und sie bei weitem übertreffen,ohne dass dies aber den Betreffenden zum Motiv oder Anlass wird, um jeden Preis nach der Eingliederung in die patrizische Oberschicht undnach einem Sitz im Senat zu streben. Durch die objektiven Verände-rungen in der kolonialen Ausbeutungspraxis von einem sekundärenNutznießer zu einem primären Veranstalter dieser Praxis avanciert undals aktiver Teilnehmer und in der Tat allgegenwärtiger Faktor in dasKontributions- und Konfiskationssystem hineingenommen, erwerben die

Handeltreibenden einen Status, der sie als solche, als Handeltreibendeoder vielmehr in allen Sparten des Wirtschaftslebens sich einnistendeGeschäftsleute, der Nobilität an die Seite stellt, besser gesagt, zu einem inall seiner funktionellen Unterschiedenheit integrierenden Bestandteil derNobilität werden lässt.

In der Tat ist von nun an die das römische Staatswesen beherrschende,die Res publica besorgende Oberschicht ein doppelköpfiges Gebilde,eine aus Senatorenstand und Ritterstand, aus Militärpolitik und Kolo-nialökonomie zusammengesetzte arbeitsteilige und aus dem Erfolg ihrerArbeitsteilung ihre interessengemeinschaftliche Einheit, ihren körper-

schaftlichen Zusammenhalt gewinnende Hydra. Überlässt in den Anfän-gen der Republik die rein patrizische Führungsschicht die Bereicherungdes Gemeinwesens noch den zum gemeinen Volk, zur Plebejerschicht,zählenden Repräsentanten des Marktes und beschränkt sich darauf, mitmilitärischen Mitteln die außen- und bündnispolitische günstigsten Be-dingungen für solch kommerzielle Bereicherung zu schaffen, und nimmtdann die um die Neureichen aus der Kaufmannschaft erweitere Füh-rungsschicht, die Nobilität, das ökonomische Heft selbst in die Hand,um durch eine kolonialsystematische Kontributions- und Konfiskati-onsstrategie Reichtum in das Staatssäckel und in die eigenen Hände

zu wirtschaften, wobei sie die Repräsentanten des Marktes ebenso sehrökonomisch als Erfüllungsgehilfen ihrer Expropriationspraxis und näm-lich zu Maklern im Dienste ihres staatlichen und privaten Konsums wiesozial als Nachschubreservoir und Auffüllbecken für die Regenerationder eigenen Schicht vereinnahmt, so hängen jetzt in dem Maß, wie die

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kolonialsystematische Ausbeutung von den Wertmitteln auf die Sach-

werte übergreift und zur Umsetzung dieser Sachwerte in Wertmittelunternehmerische Initiative und wertschöpferisches Ingenium erforder-lich werden, die Repräsentanten des Marktes die juniorpartnerschaftlicheAbhängigkeit und passive Maklerrolle, in der die Nobilität sie bis dahinverhält, an den Nagel und werden zu ebenso ständisch eigenständigenwie praktisch gleichberechtigten Teilhabern beim Expropriationsgeschäft.Kaum hat die senatorische Nobilität ein Gebiet militärisch erobert und bürokratisch dem römischen Kolonialsystem eingegliedert, räumt sieauch schon den Rittern das Feld oder macht ihnen, besser gesagt, Platz,damit diese als Pächter, Bankiers, Handelsherren und Minenbesitzer

ihres lukrativen Amtes walten und die ihnen von der Nobilität gegenKauf- oder Pachtsummen überlassenen Wertquellen nach Kräften aus- beuten können. Während der Senatorenstand seinem Expansions- undEroberungsgeschäft obliegt und in dessen Verlauf koloniale Sachwerteals Kontributionen eintreibt beziehungsweise als Konfiskationen an sich bringt, kümmert sich der Ritterstand um die Realisierung des Geldwertsdieser Sachwerte, indem er sie von der Nobilität beziehungsweise demdurch sie repräsentierten römischen Staat kauft oder pachtet und sich fürdie gezahlten Kauf- oder Pachtsummen durch die Aktualisierung undVermarktung dessen, was immer an Wert in ihnen steckt, schadlos halten.

Wenn man so will, ist, was sich auf diese Weise ergibt, eine scheinbareWiederherstellung der in den eroberten Gebieten ursprünglich praktizier-ten Arbeitsteilung zwischen militärischer Elite und Marktrepräsentanten,derzufolge die letzteren sich um die Beschaffung von Reichtum küm-mern, während die Rolle der ersteren sich darauf beschränkt, die hierfürerforderlichen Rahmenbedingungen zu gewährleisten. Wiederherstellungist die neue Situation in der Tat insofern, als die Marktrepräsentantenin den mittlerweile zum Kolonialsystem entfalteten Gebieten die alteProkura zurückgewinnen und sich als die ökonomisch maßgebendenFaktoren und Drahtzieher reetablieren. Scheinbar allerdings bleibt diese

Wiederherstellung, weil sie sich auf der Basis einer kolonialsystematischdurchgesetzten und allem Marktgeschehen vorgeschalteten nichtkom-merziellen Aneignungsprozedur, einer von der militärische Elite mitGewalt und bürokratischem Zwang geübten Kontributions- und Kon-fiskationspraxis vollzieht, weil mit anderen Worten alle kommerziellen

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und quasiindustriellen Aktivitäten der Marktrepräsentanten eingebun-

den bleiben in die Ausbeutungsstrategie der römischen Nobilität undsich als deren konstitutiver Bestandteil und tragendes Element erweisen.Von eben dieser, aller kommerziellen Unmittelbarkeit und dispositionel-len Unabhängigkeit Hohn sprechenden Integration des Handels in diemilitärisch-bürokratische Expropriationsstrategie, seiner Erhebung zumaktiven Teilhaber und maßgebenden Faktor der Strategie, zeugt ja, wiegesagt, die ständische Karriere der Handeltreibenden, die sie als solchezu einem als Körperschaft anerkannten Teil der Nobilität werden, alsRitterstand dem Senatorenstand eigenständig und gleichberechtigt an dieSeite treten lässt.

Mag aber auch die doppelköpfige Struktur, die im Zuge der Entfal-tung des Kolonialsystems die römische Führungsschicht ausbildet undderzufolge das handelskapitale Element aus einem Juniorpartner undReservoir zur Auffrischung der Elite zu einem echten Teilhaber an derMacht und körperschaftlich verfassten elitären Bestandteil avanciert,noch so weit entfernt sein von einer Wiederherstellung der anfänglichen,in der bundesgenossenschaftlichen Phase der Republik praktiziertensimplen Arbeitsteilung zwischen Ökonomie und Politik, Handel undKrieg, kommerzieller Funktion und militärischer Führung – fest steht jedenfalls, dass sich diese neue Herrschaftsstruktur für die an ihr Beteilig-

ten rentiert. Sie rentiert sich für den Senatorenstand, das landbesitzendePatriziat, das die kolonialistische Ausbeutungsstrategie, die es auf derBasis seines Beamtentums, seiner militärischen und bürokratischen Funk-tionen, verfolgt, von aller Beschränkung auf bloße Wertmittel befreitund zum Zugriff auf die ganze Palette kolonialer Sachwerte entfesseltfindet, die der Ritterstand bereitsteht, ihm durch Kauf oder Pacht zuversilbern, so dass es mit dem erlösten Geld gleichermaßen den staatli-chen Aspirationen nach weiterer militärischer Eroberung und kolonialerExpansion nachkommen und seine privaten Bedürfnisse nach Luxus,demonstrativem Konsum, Klientelbildung durch finanzielle Zuwendun-

gen und öffentlichem Sponsorentum befriedigen kann. Und die neueHerrschaftsstruktur lohnt sich natürlich auch und vor allem für denRitterstand selbst, das mit Kapital operierende Unternehmertum, dasdank des Wertpotentials, das die ihm überlassenen Sachwerte darstellen,außerordentliche Profite erzielt, die es wiederum in die Lage versetzen,

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von seinem sentorischen Kontrahenten durch Kauf oder Pacht neue Wert-

quellen zu übernehmen und damit gleichermaßen letzterem die Wahrungseiner patrizischen Lebensführung und die Verfolgung der kolonialis-tischen Expansionsstrategie Roms zu ermöglichen und sich selbst dieAussicht auf weitere Bereicherungschancen und die Festigung seineranerkannt ständischen Stellung in der römischen Gesellschaft, seinerExistenz als dem senatorischen Patriziat praktisch gleichgeordnete undmit ihm in einer als funktionsteilige Interessengemeinschaft einheitlichenFührungsschicht zusammengeschlossene Korporation zu sichern.

Diese die römische Nobilität nunmehr strukturierende arbeitsteiligeInteressengemeinschaft aus kraft militärisch-bürokratischer Expropria-tion sächlichen Reichtum beschaffendem Senatorenstand und mittelsökonomisch-kapitalistischer Exploitation den sächlichen Reichtum inseinem Geldwert realisierendem Ritterstand funktioniert so hervorra-gend, dass binnen eines dreiviertel Jahrhunderts nach der entscheidendenNiederlage Karthagos Rom praktisch den gesamten Mittelmeerraumaufgemischt, seinem Kolonialsystem einverleibt und in den Schau- undTummelplatz seiner ebensosehr auf exaktiv-nichtkommerzieller Basiswie mit transaktiv-kommerziellen beziehungsweise quasiindustriellenMitteln betriebenen Selbstbereicherung verwandelt hat. Das ist zwar, wiegesehen, primär und wesentlich eine Selbstbereicherung der römischenNobilität, der die Kolonien bürokratisch beherrschenden und ökonomisch

ausbeutenden doppelköpfigen Oberschicht; aber weil der patrizischeSenatorenstand bei seiner im Windschatten des staatlichen Kontributi-onssystems geübten privativ-konfiskatorischen Aneignungspraxis an dieoben explizierte, mit der Verfügungsgewalt über territorialherrschaftli-chen Reichtum seit alters verknüpfte und als Pietas artikulierte Bedin-gung gebunden bleibt, seinen Reichtum auch und nicht zuletzt zumWohle und zum Ruhm des römischen Gemeinwesens zu verwenden unddie Stadt als ganze, die bürgerliche Öffentlichkeit, die familiäre Klienteldaran teilhaben zu lassen, und weil der oligarchische Ritterstand sichnicht lumpen lassen darf und als zur Nobilität gehörige Körperschaft den

Patriziern in dieser Hinsicht nacheifern muss, kommt der Reichtum, dendie Nobilität aus den Kolonien herauspresst, in bescheidenerem Maßeund indirekt auch den übrigen Schichten der Republik zugute und scheintvon daher objektiv gewährleistet und unschwer verständlich, dass auchdiese Schichten den im 2. Jahrhundert vonstatten gehenden Aufstieg

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Roms zur beherrschenden Macht im Mittelmeerraum mittragen und die

damit Hand in Hand gehende exorbitante Bereicherung der Oberschichtals einen Gewinn auch für sich selbst betrachten.

Der neue Reichtum, den der als Pächter, Steuereintreiber und Unternehmer dieKolonien ausplündernde Ritterstand nach Rom bringt, hat gravierende sozialeFolgen, weil er die heimische Wirtschaft, jedenfalls die zivilen Produktions-bereiche, unter zunehmenden Konkurrenzdruck setzt und in den Ruin treibt.

Allerdings besitzt die neue, von der doppelköpfigen römischen Füh-rungsschicht, der Interessengemeinschaft aus militärisch-bürokratischem

Senatorenstand und finanzkapitalistischem Ritterstand, verfolgte kolo-nialistische Expropriationsstrategie eine Schattenseite, die dazu angetanist, den glänzenden Erfolg, in dem sie sich sonnt, zu verdunkeln und amEnde gar zu verschlingen, oder hat sie, um ein anderes und pointierteresBild zu bemühen, einen Haken, an dem sie regelrecht hängen zu bleibenund zuletzt sich selber aufzuknüpfen droht. Der Haken steckt nirgendssonst als im innersten Erfolgsgeheimnis der neuen Expropriationspra-xis, in der Doppelfunktion nämlich, die den eben dadurch zu Ritternavancierenden römischen Handeltreibenden zufällt, indem diese nichtmehr nur dazu da sind, den von der römischen Kolonialverwaltungvon Amtes wegen oder privatim angeeigneten geldförmigen Reichtumauf kommerziellem Wege in Rüstungs- und Konsumgüter, kurz, in Ge- brauchsgegenständlichkeit, zu verwandeln, sondern außerdem noch dieAufgabe erfüllen, jenen mit militärischer Gewalt und bürokratischemZwang angeeigneten Reichtum, weil er mangels Geld in zunehmendemMaße die Form von beweglichen und unbeweglichen Gütern, Sachwer-ten, annimmt, mit finanziellen Mitteln, sprich, durch die Zahlung vonKauf- oder Pachtsummen, erst einmal überhaupt in die Geldform zutransformieren, ehe sie dann ihren anderen Dienst versehen und den inGeldform gebrachten Raub kommerziell, auf dem Markt, in die jeweils er-wünschte gebrauchsgegenständliche Gestalt überführen können. Zu dem

der patrizischen Herrschaft als Warenbeschaffer, als Makler, dienstbarenKaufmann gehabten Zuschnitts kommt in erweiterter Funktion der ihr alsGeldbeschaffer, als Hehler, unentbehrliche Finanzier neuer Schule hinzu.

Bedingung der Möglichkeit oder zureichender Grund dieser zusätzli-chen finanziellen Funktion, die die dadurch als solche zum integrierenden

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Bestandteil der Nobilität, zu Rittern, avancierenden Handeltreibenden

übernehmen, ist der Fundus an Wertmitteln, den sie aus ihren frühe-ren kommerziellen Geschäften, ihrer kaufmännischen Maklertätigkeitim Dienste einer dank Kontributionen und Konfiskationen im Geldeschwimmenden patrizischen Herrschaft, akkumuliert haben. Und moti-viert zur Übernahme dieser zusätzlichen, finanzkapitalistischen Funktionwerden die Handeltreibenden natürlich durch die exorbitanten Profi-taussichten, die sich ihnen dabei eröffnen. Eben dies ist ja dies das vomRitterstand gehütete oder vielmehr in die Tat einer quasikapitalistischenAusbeutung umgesetzte Erfolgsgeheimnis, dass den Handeltreibenden inihrer neuen Finanzierfunktion als Gegenleistung für die Ablösesummen,

die Kauf- und Pachtbeträge, die sie der senatorischen Beamtenschaft zah-len, Werte in die Hand fallen, die als solche noch gar nicht feststehen undallererst realisiert werden müssen, bei denen es sich mit anderen Wortenum Wertpotentiale, Wertquellen handelt, deren realen Wert, deren tat-sächlichen Umfang und Gehalt, zu ermitteln, Sache des kaufmännischenGeschicks, der erpresserischen Findigkeit, des ausbeuterischen Ingeni-ums, der unternehmerischen Initiative ihrer neuen Besitzer ist. Dies ist jadas Besondere und ungeheuer Profitable an den neuartigen Geschäften,die der Ritterstand in seiner quasikapitalistischen Finanzierrolle mit demSenatorenstand in seiner kolonialistischen Requisitionseigenschaft tätigt,

dass die Wertquelle, die der letztere nur erst pro forma einer gewaltsamenAppropriation, pro nomine einer Zwangsenteignung, erwirbt, der erstere,indem er dem letzteren den nur erst nominalen Nutzungsanspruch, dasformale Besitzrecht abkauft oder abpachtet, Gelegenheit erhält, in dieLänge und Breite ihrer materialen Dimensionen, en detail ihres realenGehalts zu entfalten und auszuschöpfen.

Nur bedeutet das auch – und hier tut sich die Schattenseite des lukrati-ven Geschäftes auf, hier hat die Sache ihren erwähnten großen Haken! –dass der exorbitante Mehrwert, den die als Finanziers und Unternehmertätigen Handeltreibenden aus den an sie verkauften oder verpachteten

kolonialen Wertquellen herauspressen und in dem sie den nominellenReichtum sich materialisieren, das Wertpotential Realität gewinnen las-sen, unmittelbar in der Gestalt materialer Produkte, in der Naturalformsächlicher Güter erscheint und, um als solcher, als Wert sans phrase,wirklich zu werden, seine Vermarktung erheischt, mit anderen Worten

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voraussetzt, dass er als das Warenkontingent, als das er unmittelbar er-

scheint, per Zirkulation vertrieben und in die Geldform überführt wird.Systematisch oder im rein logischen Modell betrachtet, ist diese Ver-marktung, diese geldförmige Realisierung des aus den Wertquellen her-ausgepressten naturalförmigen Werts und Mehrwerts vor Ort der ko-lonialen Märkte nicht oder nur in sehr begrenztem Umfange möglich.Schließlich wird das Wertpotential, aus dem der kaufmännische Ritter-stand kraft unternehmerischer Initiative und ausbeuterischen Ingeniumsnaturaliter realen Wert und Mehrwert herauspresst, der kolonialen Bevöl-kerung nicht abgekauft, sondern kompensationslos abgenommen, von ihrnicht per Austausch übernommen, sondern ihr mittels Beschlagnahmung

geraubt, und sowenig die koloniale Bevölkerung für die ihr entzogenenWertquellen von der senatorischen Bürokratie ein Äquivalent erhält,sowenig verfügt sie demnach über die Mittel, die vom Ritterstand ausden Wertquellen gewonnenen naturalen Werte zu kaufen und mithinals solche zu realisieren, in ihre sichselbstgleiche Gestalt, die Geldform,zu überführen. Bliebe an sich die Möglichkeit, diese aus dem kolonialenWertpotential herausgeschlagenen Güter und Waren auf dritten Märktenabzusetzen, sie an anderer Stelle im Mittelmeerraum oder darüber hinauszu vermarkten und als den Wert beziehungsweise Mehrwert, den sieverkörpern, zu realisieren. Indes, abgesehen davon, dass der Mangel an

etablierten Handelsbeziehungen und geeigneten Transportsystemen einnennenswertes Ausgreifen über den Mittelmeerraum hinaus praktischvereiteln, ist im Mittelmeerraum selbst die römische Expansionspolitik ineben dem Maß, wie sie einerseits dem Ritterstand immer weitere Wert-pquellen und mithin Gelegenheit zur Schöpfung immer weiterer Wertein Naturalform verschafft, andererseits dazu angetan, jenen Auswegeines Ausweichens auf Drittmärkte und einer dort erzielen Verwandlungder Naturalwerte in die Geldform, zielstrebig zu verlegen. Schließlich besteht die römische Eroberungspolitik ja in nichts anderem als in derÜberführung unabhängiger Drittmärkte in von Rom abhängige Kolonial-

märkte, sprich, darin, dass immer weitere Gebiete des Mittelmeerraumsder Kontributions- und Konfiskationsstrategie des römischen Senato-renstandes unterworfen und das heißt, von den Ausbeutungstechnikendes römischen Ritterstandes erfasst werden und dass dementsprechendder Umfang der mittelmeerischen Gebiete, in denen sich die naturale

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Beute aus den Kolonien auf kommerziellem Wege in klingende Münze

verwandeln lässt, immer mehr zusammenschmilzt.So gesehen und also in Rechnung gestellt, dass die wachsenden kolo-nialen Märkte aufgrund ihrer kompensationslosen Ausplünderung unddie gemäß dem Wachstum der Kolonialmärkte schrumpfenden Dritt-märkte aufgrund ihres Schrumpfprozesses die aus den Kolonien her-ausgepressten Güter und Waren unmöglich aufnehmen können, bleibtam Ende nur der erste Markt, der Markt der Hauptstadt selbst, als Ab-satzgebiet übrig. Und in der Tat scheint er sich in dieser Eigenschaftdurchaus anzubieten, da es ja die Hauptstadt ist, in die teils die aus denKolonien in Geldform herausgepressten amtlichen Kontributionen undpersönlichen Konfiskationen fließen, teils und in zunehmendem Maßedie Kauf- und Pachtsummen zirkulieren, die vom römischen Handelfür das Recht, die Kontributionen und Konfiskationen in der profitabelnForm von mehrwertigen Sachgütern einzutreiben, an den römischen Staatund die römische Bürokratie gezahlt werden, und wo teils und nichtzuletzt der Wertmittelfundus sich befindet, den der römische Handelaus seinen früheren kommerziellen Aktivitäten akkumuliert hat und derzwar nach Möglichkeit reinvestiert, in besagte Kauf- und Pachtsummengesteckt wird, von dem aber immer noch genug für konsumtive Zweckeübrig bleibt. Und diese drei Geldquellen stehen ja nicht ausschließlichdem Senatoren- und dem Ritterstand, der engeren römischen Führungs-

schicht, zur Verfügung, sondern sie gelangen einerseits aufgrund dermit ihnen bestrittenen staatlichen Rüstungsausgaben auch in die Hände breiterer Schichten der arbeitenden Bevölkerung und kommen ande-rerseits wegen der als pietas, als Engagement für den Sitz der Ahnen,praktizierten Patronatshaltung und Sponsorentätigkeit der Patrizier undder ihnen als Teil der Nobilität nolens volens nacheifernden Ritter zu-gleich der Bürgerschaft als ganzer und den vielen, mit den Großen undReichen jeweils verknüpften Klientelen zugute. Angesichts der so ge-währleisteten relativ breiten Streuung des in der Hauptstadt angehäuftenGeldes scheint der hauptstädtische Markt für die Aufnahme der dank

des unternehmerisch-ausbeuterischen Wirkens des Ritterstandes aus denKolonien hereinströmenden Güter und Waren gut gerüstet.Allerdings – und damit sind wir denn wieder beim Haken an der Sache!

– geht der Absatz der kolonialen Güter und Waren auf dem hauptstädti-schen Markt zu Lasten der heimischen Wirtschaft und beeinträchtigt oder

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vereitelt den produktionsfördernden, wirtschaftsbelebenden Effekt, den

die für Rom requirierten beziehungsweise in Rom akkumulierten Wert-mittel aus den Kolonien ja eigentlich haben. Sowohl in seiner unmittelbar-primären, als Kontributionen und Konfiskationen nach Rom fließenden,als auch in seiner mittelbar-sekundären, als Kauf- und Pachtsummen inRom selbst zirkulierenden Form scheint das Geld aus den Kolonien – zumgrößeren Teil jedenfalls und soweit es nämlich nicht als Finanzierungs-mittel für die römische Kolonialverwaltung vor Ort verbleibt oder gleichwieder in koloniale Güter umgesetzt wird – dazu angetan, in Rom selbstdie Nachfrage zu beleben und die Wirtschaft anzukurbeln, indem es teilsvon Staats wegen in Rüstungsgüter und Militärausgaben gesteckt, teils

auf privater Ebene für den Konsum der Führungsschicht beziehungswei-se der ihr zugeordneten Klientelen aufgewendet wird. Im Falle der alsKauf- und Pachtsummen mittelbar-sekundär nach Rom fließenden odervielmehr dort bereits zirkulierenden kolonialen Gelder erweist sich dieSuggestion einer binnenwirtschaftlichen Belebungsfunktion bei näheremZusehen indes als schierer Schein.

Tatsächlich handelt es ja sich bei diesen Kauf- und Pachtsummen, diedem römischen Staat und seinem senatorisch verfassten Patriziat vonden zu Finanziers und Unternehmern avancierten und als eigener, ritter-licher Stand etablierten kommerziellen Repräsentanten gezahlt werden,

um ein- und dieselben Gelder, die zuvor der patrizische Staat in Formvon Kontributionen und Konfiskationen den Kolonien abpresst, die erdann für Rüstung und privaten Konsum ausgibt und damit ihrer bin-nenwirtschaftlich belebenden Funktion zuführt, die auf diesem Wege indie Hände der die Beschaffung der Rüstungs- und Konsumgüter organi-sierenden und durchführenden Marktrepräsentanten gelangen und dienun von letzteren erneut dem patrizischen Staat und seinen Amtsträgernzu Zwecken des staatlichen und privaten Konsums überlassen werden.Der Anschein, als stünden diese Gelder damit zum zweitenmal als un-mittelbar nachfragebelebende, Güter aus der heimischen Produktion

heischende Wertsumme zur Verfügung, täuscht darüber hinweg, dass sie jetzt keine den Kolonien kompensationslos abgejagte Beute mehr sindund deshalb auch keine auf dem heimischen Markt unversehens auftau-chende und dort frei flottierende Kaufkraft mehr darstellen, sondern dasssie Sachwerte repräsentieren, als Äquivalent für Güter und Leistungen

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nicht unbedingt um die für sie gezahlten Kauf- oder Pachtsummen selbst,

so jedenfalls doch um ein den letzteren quantitativ entsprechendes Wert-mittelkontingent. Und die Konkurrenz, die die auf den römischen Marktdrängenden kolonialen Produkte den dort vorhandenen heimischen Gü-tern machen, ist tatsächlich gewaltig, da die ersteren ja unter ungleichkostengünstigeren Bedingungen als die letzteren hergestellt beziehungs-weise beschafft werden und nämlich statt aus ehrlicher eigener Tätigkeitoder vertraglicher Lohnarbeit aus Zwangs- und Fronarbeit, Enteignungund Pfändung, Erpressung und Wucher hervorgehen und deshalb vonihren ritterlichen Eignern ohne Profiteinbuße zu Preisen angeboten wer-den können, die ihren am heimischen Markt geltenden Wert mehr oderminder weit unterschreiten.

Von einer wirtschaftsbelebenden Wirkung der Kauf- und Pachtsum-men, die der eine Teil der römischen Führungsschicht dem anderen,der Ritterstand dem Senatorenstand, für das Recht auf Ausbeutung derKolonien zahlt, kann mithin keine Rede sein. So gewiss jene Kauf- undPachtsummen als Äquivalent für konkurrenzfähige Sachwerte, im Aus-tausch gegen preiswerte Güter aus den Kolonien, gegeben werden, sogewiss haben sie nichts weiter zur Folge als eine quantitative Erweiterungdes römischen Marktes und eine damit einhergehende Erhöhung desKonkurrenzdrucks und Steigerung der Absatzprobleme für römischeWaren. Wenn sie qualitativ etwas bewirken, so im Gegenteil nicht eine

Belebung, sondern eine Destabilisierung, nicht eine Stärkung, sonderneine Schwächung der römischen Wirtschaft.

Wirtschaftsbelebenden Effekt haben, weil es sich bei dem Großteilder Sachwerte, die vom Ritterstand aus den Kolonien herausgepresstund auf dem römischen Markt feilgeboten werden, um zivile Güter,um landwirtschaftliche Erzeugnisse und zur Befriedigung von Konsum-und Luxusbedürfnissen bestimmte handwerkliche Produkte handelt,die dafür vom Ritterstand an das senatorische Patriziat gezahlten Kauf-und Pachtsummen höchstens noch auf den kriegswirtschaftlichen Sektor.Der Teil der Gelder nämlich, der als staatliche Einnahmen verbucht wird

und vornehmlich in Rüstung und Militärausgaben fließt, ist nicht oderkaum von einem entsprechenden kolonialen Warenstrom gefolgt, mussnicht als Wertäquivalent für auf den römischen Markt drängende unddem dort bereits präsenten einschlägigen Warenkontingent oder vielmehrdessen Erzeugern das Leben schwer machende Rüstungsgüter firmieren

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und kann deshalb als ein Äquivalent, das in eben jenem vorhandenen

Kontingent sein sächliches Gegenstück findet beziehungsweise es garals frei flottierende Kaufkraft zur Vergrößerung anregt, seine, ironischgesagt, segensreiche und nämlich den kriegswirtschaftlichen Bereichreaffirmierende oder gar zu weiterem Wachstum animierende Wirkungentfalten.

Um so härter aber trifft es die zivilen Produktionsbereiche. Ihnen blästder Wind des aus den Kolonien herausgepressten und im wesentlichenaus zivilen Gütern bestehenden kolonialen Warenstroms diametral insGesicht. Was da neu auf den römischen Markt kommt, sind Güter, derenGesamtwert die Wertsumme des für ihre Vermarktung in Form von Kauf-

und Pachtgeldern gezahlten Äquivalents mit systematischer Zwangsläu-figkeit mehr oder minder weit übersteigt. Schließlich leistet der Ritter-stand seine Kauf- und Pachtzahlungen ja nur deshalb, weil er aus denvom Senatorenstand gekauften oder gepachteten kolonialen WertquellenSachwerte herausschlagen kann, deren Wert dank der in den Kolonienherrschenden ausbeutungsfreundlichen Aneignungs- und Produktions- bedingungen weit über dem der mittels Kauf oder Pacht investiertenGelder liegt und die, wenn es gelingt, sie zu verkaufen, entsprechendexorbitante Profite eintragen. Selbst unter der Annahme, dass nicht nurder von vornherein für den Konsum bestimmte Teil der Kauf- und Pacht-

zahlungen, sondern auch jener Teil, der erst einmal in die Rüstung fließt,letztlich dem Konsum zugeführt wird und auf dem römischen Marktfür zivile Güter vollständig in Erscheinung tritt, bleibt folglich mit ma-thematischer Notwendigkeit die durch die Kauf- und Pachtzahlungen bewirkte Erhöhung des für konsumtive Zwecke verfügbaren Wertäqui-valents hinter der durch die kolonialen Produkte erzielten Steigerungdes Gesamtwerts der auf dem römischen Markt vorhandenen zivilenGüter markant zurück, was bedeutet, dass die vorhandenen Güter beimBemühen, ihren Wert in Geldform, in Gestalt von Wertäquivalent, zurealisieren, um letzteres, das ja vergleichsweise knapp ist, heftig konkur-

rieren müssen. Und das wiederum heißt, dass die kolonialen Waren, die jadank günstigerer Produktionsbedingungen wohlfeiler sind beziehungs-weise ohne Verlust der Rentabilität zu niedrigeren Preisen angebotenwerden können, den römischen Waren den Rang ablaufen und sie vomMarkt verdrängen.

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Leidtragende des durch das Mehr an kolonialem Warenwert erzeugten

Konkurrenzdrucks sind, jedenfalls langfristig und aufs Ganze gesehen,die heimischen Produzenten, die durch das erfolgreiche Wirken ihrerin den Kolonien unternehmerisch aktiven ritterlichen Landsleute aus-konkurriert und vom Markt verdrängt werden. Außerstande, ihre Preisedem von den Kolonialwaren vorgegebenen Niveau anzupassen, ohneVerluste zu machen, bleiben sie auf ihren Produkten sitzen, fallieren undstürzen, soweit es ihnen nicht gelingt, in der Rüstungsproduktion oder beim Militär unterzukommen oder aber andere Geldquellen aufzutun, inBeschäftigungslosigkeit und Armut. Und während sie ihre Positionen inder Produktion räumen müssen, werden die Lücken in der zivilen Güter-versorgung mühelos durch die ritterlichen Finanziers und Unternehmer

geschlossen, die mit den Gewinnen, die sie auf Kosten der Auskonkur-rierten erzielen, wiederum dem senatorischen Teil der Führungsschichtneue Wertquellen in den Kolonien abkaufen oder abpachten können, wo-mit sich das Spiel in erweiterter Form wiederholt und weitere heimischezivile Produktionskapazitäten vom Strom preiswerter kolonialer Warenunterspült und abgetragen werden.

Die fortdauernde Expansion der Republik schafft zwar im Blick auf die zuneh-mende Verarmung der heimischen Produzenten eine gewisse Entlastung underweist sich insofern bei der Anhäufung sozialen Konfliktstoffs als retardie-rendes Moment, aber gleichzeitig sorgt sie dafür, dass, aufs Ende gesehen, dieSituation sich immer weiter verschärft. Vollends eskaliert wird die Entwicklungeiner von Pauperisierung in den unteren Schichten begleiteten Anhäufung vonReichtum in der doppelköpfigen Oberschicht aber nun dadurch, dass der StaatDomanialland, das er aus alter, obsolet gewordener Gewohnheit in den Kolonienbeschlagnahmt, den Angehörigen der Oberschicht als Eigentum oder Pachtlandzur Nutzung überlässt.

So also hat in scheinbar paradoxer Gegensinnigkeit die Erschließungneuer kolonialer Reichtumsquellen durch die Interessengemeinschaft der

römischen Führungsschicht zur Folge, dass in der Römischen Republikselbst wachsende Teile der arbeitenden Bevölkerung, insbesondere jenerGruppen, die in den zivilen Gewerben ihr Auskommen finden, außerBrot gesetzt werden und verarmen. In eben dem Maße, wie durch das Zu-sammenwirken von Senatoren- und Ritterstand die Ausplünderung der

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Kolonien intensiviert und aus einer bloßen Abschöpfung von Geldschät-

zen, die als Wertmittel dienen, in eine Ausbeutung von Sachgütern, dieals Wertquellen taugen, überführt wird, gerät die heimische Wirtschaftunter Konkurrenzdruck und findet sich einem katalytischen Prozessunterworfen, der, während er immer mehr Reichtum in den Händender über die koloniale Beute verfügenden Führungsschicht versammelt,zugleich diejenigen, die nur über den Markt mit der kolonialen Beutein Berührung kommen und sich im übrigen, wie gewohnt, mit ihrerHände Arbeit ihren Lebensunterhalt in den zivilen Gewerken und in derLandwirtschaft verdienen wollen, in immer größerer Schar pauperisiertund in den Ruin treibt.

Dass dieser Zersetzungsprozess die römische Gesellschaft nicht imGeschwindschritt in ein agonales Siechtum führt, verdankt das republi-kanische Staatswesen allein seiner fortgesetzten Expansionspolitik, willheißen, der Tatsache, dass es sich zu keinem Zeitpunkt darauf beschränkt,die bereits eroberten und kolonialisierten Gebiete durch die beschriebene,von den Wertmitteln auf die Wertquellen, vom Äquivalent auf die Sacheselbst, übergreifende Kontributions- und Konfiskationspraxis zum Zwe-cke der eigenen Bereicherung auszuplündern, sondern dass es getreu dermit der Kontributionspraxis von Anfang an verknüpften zirkulären, dieBeisteuer der Unterworfenen als Beitrag zur Unterwerfung nutzenden

Zielsetzung einen nicht geringen Teil der kolonialen Beute jeweils inRüstungs- und Militärausgaben steckt, will heißen, dazu verwendet, neueEroberungskriege zu führen und weitere Gebiete des Mittelmeerrau-mes dem auszubeutenden Kolonialsystem einzugliedern. In den neuenProvinzen treiben die konsularischen und prätorischen Feldherrn bezie-hungsweise die ihnen folgenden prokonsularischen oder proprätorischenZwangsverwalter in Form von Kontributionen und Konfiskationen ersteinmal alles ein, was sie an Wertmitteln, an staatlichen Edelmetallreser-ven, Tempelschätzen und handelskapitalem Geldvermögen, in die Händekriegen können, und es ist dieser nach Rom fließende und nicht schon

von Warenströmen gefolgte oder gar begleitete Geldstrom aus den neuenProvinzen, der die geschilderten, mit der sächlichen Ausbeutung deralten Provinzen für die Wirtschaft der Republik selbst, zumindest in ihrenzivilen Bereichen, verknüpften nachteiligen Konsequenzen konterkariertoder jedenfalls abschwächt.

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Teils dadurch, dass es als frei flottierende Kaufkraft die Nachfrage nach

zivilen Gütern erhöht, teils dadurch, dass es den kriegswirtschaftlichenSektor auszubauen erlaubt und somit einer größeren Zahl derer, dieim zivilwirtschaftlichen Bereich überflüssig werden, neue Arbeits- undVerdienstmöglichkeiten bietet, teils endlich dadurch, dass es die um ihreproduktive Existenz Gebrachten im Rahmen von Klientelverhältnissenund staatlich-liturgischen Fürsorgeleistungen in den Genuss privaterund öffentlicher Unterstützungen kommen lässt, sorgen diese nach Romfließenden neuen Kontributionszahlungen und konfiszierten Gelder da-für, dass der Verlust der ökonomischen Existenz, mit dem die sekundäreExpropriation der Kolonien durch unternehmerische Ausbeutung die

in Landwirtschaft und zivilen Gewerben tätigen BevölkerungsschichtenRoms bedroht, entweder überhaupt verhindert oder aber wenigstens inseinen gleichermaßen individuell und sozial verheerenden Auswirkun-gen kompensiert oder entschärft wird.

Allerdings ist klar, dass dies im Blick auf den drohenden ökonomi-schen Ruin und sozialen Abstieg breiter Bevölkerungsschichten wirksameHeil- oder jedenfalls Linderungsmittel nur eine begrenzte Zeit zur Ver-fügung steht und in dem Augenblick seinen Dienst quittiert, in dem dierömische Expansion an ihr Ende kommt, der Mittelmeerraum mit demrömischen Kolonialsystem deckungsgleich geworden und die primäre

Ausplünderung der Kolonien, die einfache Abschöpfung ihrer Wert-mittelreserven und Geldvermögen, beendet ist. Sobald mangels neuerterritorialer Eroberungen jene durch die unmittelbare Kontributions- undKonfiskationspraxis der senatorischen Militärverwaltungen erbeutetenGelder aufhören, nach Rom zu fließen, bleibt die sekundäre Ausbeutungder Kolonien, die mittelbare Verwertung ihrer Reichtumsquellen durchdas ritterliche Unternehmertum, als alleiniger kolonialsystematischerReichtumsbeschaffungsmechanismus übrig und entfaltet auf der ganzenLinie und ungebremst das Verdrängungs- und Vernichtungspotential, dassie im Blick auf die heimische Wirtschaft der Republik, ihre Landwirt-

schaft und ihre zivilen Gewerbe, besitzt.Nicht sowohl aber als ein am Ende der Expansion jäh über die Republikhereinbrechendes spektakuläres Fatum, sondern als ein den Expansions-prozess kontrapunktisch begleitendes schleichendes Verhängnis bringtsich, genauer besehen, die vom römischen Ritterstand ins Werk gesetzte

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und den römischen Markt aus den Angeln hebende koloniale Güter-

 beschaffung und Gütererzeugung zur Geltung und erweist so die derExpansion entspringenden unmittelbaren Kontributionszahlungen undKonfiskationsgelder, die eben noch als Heil- oder Linderungsmittel gegendie Krankheit einer der römischen Wirtschaft durch die eigene Führungins Haus geschleppten übermächtigen äußeren Konkurrenz gepriesenwurden, als in Wahrheit nur eine Einstiegsdroge, die unter dem Vorgeben,Heilung oder Linderung zu schaffen, jeweils den Grund für den nächstenund noch bedrohlicheren Krankheitsanfall legt. Zwar hilft in der Tatdie Eroberung neuer Gebiete dank der Wertmittelreserven, auf die sierequisitorischen Zugriff eröffnet, den Konkurrenzdruck zu mindern,unter den die unternehmerische Ausbeutung der alten, bereits koloniali-sierten Gebiete die römische Wirtschaft setzt, aber weil die neuerobertenGebiete ja auch immer nur zu bald der unternehmerischen Initiative desrömischen Ritterstandes neue Betätigungsfelder und Bereicherungschan-cen eröffnen, schlägt letztlich die Entlastung vom Konkurrenzdruck ineine Verstärkung des Druckes um und sorgt jede neue kolonialistischeEroberung dafür, dass zur Eindämmung ihrer die römische Wirtschaftzerrüttenden Konsequenzen eine weitere Expansion zum zwingendenErfordernis wird und dass sich zugleich aber das Verhältnis zwischen derEntlastung, zu der die Expansion erst einmal führt, und der Belastungdurch erhöhten Konkurrenzdruck, die aus ihr letztlich folgt, immer weiter

zuungunsten der ersteren verschiebt.So schlecht angesichts der sekundären Ausplünderung der Koloni-

en, ihrer vom Ritterstand organisierten Ausbeutung als Lieferant undProduzent wohlfeiler landwirtschaftlicher Erzeugnisse, handwerklicherProdukte und mineralischer oder metallurgischer Vorkommen, die Pro-gnose für die binnenwirtschaftlichen Verhältnisse Roms und für die vonihnen abhängigen Bevölkerungsschichten aber auch, allen vermeintlichenHeil- und Linderungsmitteln zum Trotz, sein mag, verheerend und inder Tat unzweideutig fatal wird sie erst durch eine weitere, gleichfallsim Mechanismus kolonialsystematischer Reichtumsbeschaffung ange-

legte und dem Zusammentreffen exorbitanter kommerzieller Profite mitextraordinären nichtkommerziellen Verwertungschancen geschuldeteEntwicklung. Nicht nämlich nur in Steuerpachten, Handelsprivilegien,landwirtschaftliche Betriebe oder Minen werfen sich die bei der kom-merziellen Realisierung der primären kolonialen Beute, der geldförmigen

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Kontributionen und Konfiskationen, von den Handeltreibenden erzielten

gewaltigen Profite, sie finden im folgenden die Möglichkeit zur nutzbrin-genden Verwendung, sprich, zur akkumulativen Verwertung, auch nochin einer weiteren, mit der römischen Expansion zuverlässig verknüpftenGegebenheit vor. Gemeint sind die Gebiete, die in den eroberten undin bundesgenossenschaftliche oder koloniale Abhängigkeit überführtenRegionen die Römische Republik für sich beansprucht und mit Beschlag belegt, sind die zumeist aus den Händen der früheren Herrschaft oderGemeinschaft übernommenen, in herrscherlichem Privatbesitz, Vogteien,Staatsgütern, Allmenden bestehenden Territorien, die sich der römischeStaat höchstpersönlich vorbehält und die er als Domanialland in eigenerRegie verwaltet.

Die Praxis dieser Reklamation föderaler oder kolonialer Flächen alsrömisches Staatsland entspringt dabei dem mit der militärischen Expan-sionsstrategie der Republik nach deren Emanzipation vom Prinzip derBundesschlüsse, vom System der Machterweiterung auf streng födera-listischer Basis, verknüpften Kalkül einer Herrschaftssicherung durchEinrichtung eigener Stützpunkte auf fremdem Gebiet, sprich, durch dieSchaffung landbebauender, sich selbst erhaltender Militär- und Vetera-nenkolonien und die Stiftung wirtschaftlich unabhängiger, selbstverwal-teter Munizipien. Dieses Kalkül ist durch die an die Punischen Kriege an-schließende Schaffung des römischen Kolonialsystems allerdings längst

obsolet oder jedenfalls aller politisch-militärischen Notwendigkeit be-raubt. Eine prokonsularische oder proprätorische Militärverwaltung, dieauf der Grundlage fester Garnisonen beziehungsweise im Krisenfall anden Ort entsandter mobiler Heeresgruppen eine flächendeckend direkteHerrschaft über das in toto zur Kolonie erklärte eroberte Gebiet ausübt,kann auf einzelne koloniale Stützpunkte und munizipiale Einflusszentrengut und gern verzichten.

Und auch in ihrer zweiten, mit dem machtpolitisch-militärherrschaftli-chen Kalkül untrennbar verknüpften innenpolitisch-sozialstrategischenIntention scheint die römische Landnahme zwecks Ansiedlung von Ko-

lonisten und Einrichtung munizipialer Exklaven so ziemlich überholtund gegenstandslos geworden. In der Tat dient, wie oben gezeigt, dieLandnahme ursprünglich nicht einfach nur der Sicherung der Herrschaftin fremden Gebieten, sondern ebenso sehr und zugleich der Wahrung desFriedens durch Herstellung sozialverträglicher Verhältnisse im eigenen

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Haus. Durch Landzuteilungen und die Ansiedlung von Kolonisten in

eroberten Territorien werden die in Rom selbst einem Prozess der Ent-eignung und Verarmung ausgesetzten Schichten kleiner und mittlererGrundeigentümer aus dem Verkehr gezogen und andernorts einer neuenökonomischen Existenz und politischen Funktion zugeführt und wirdder soziale Sprengstoff, den die Entwicklung einer Gentry, einer um dieNeureichen aus der kommerziellen Sphäre erweiterten Oberschicht auf Landbesitzbasis, schafft und anhäuft – wird dieser soziale Sprengstoff also beseitigt oder jedenfalls entschärft. Diese zweite, innenpolitisch-sozialstrategische Funktion der von der römischen Republik in eige-ner Person praktizierten Landnahme in den eroberten Gebieten ist es ja überhaupt nur, was der militärischen Expansionspolitik der patrizi-schen Partei, der senatorisch verfassten Oberschicht, die Zustimmungund Unterstützung der plebejischen Partei, der tribunizisch organisiertenVolksmenge, sichert.

Indes, auch in dieser Hinsicht haben eben jene militärische Expansi-onspolitik und die kolonialsystematische Wendung, die letztere im Zugeder Punischen Kriege nimmt, die Situation gründlich verändert und dieursprüngliche Motivationslage obsolet werden lassen. Durch die Einfüh-rung des ganz und gar auf koloniale Kontributionen und Konfiskationenabgestellten neuen Finanzierungskonzepts zu Ende des 3. Jahrhundertsverwandelt sich die römische Expansion in ein quasi selbsttragendes,

quasi aus der eigenen Dynamik sich speisendes Unternehmen und prä-sentiert sich in typischer Sebstläufermanier als eine einzige, fast ununter- brochene Kette von Kriegen und Eroberungszügen. Und das wiederum bedeutet, dass ein ebenso ununterbrochener Bedarf an Soldaten besteht,dass jene von ökonomischer Verarmung und sozialer Deklassierung be-troffenen mittleren Schichten der kleinen bäuerlichen Grundeigentümer,für die das durch die Requisition von Domanialland in den Kolonienermöglichte Landzuteilungs- und Wiederansiedlungsprojekt eigentlich bestimmt ist, gar nicht in die Lage kommen, von dem Angebot jenesProgramms Gebrauch zu machen, weil ihre militärischen Dienste ständig

gebraucht werden und ihnen einen den Niedergang ihrer heimischenBetriebe und Verlust ihrer agrarischen Subsistenz kompensierenden Un-terhalt sichern und sie im Zweifelsfall eher auf fernen Schlachtfeldernsterben, als sich in der Rolle von Veteranen, geschweige denn von jungenKolonisten, auf ferner Scholle ansiedeln zu können.

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Wenn die kolonialsystematische Entwicklung der Republik Schichten

der Bevölkerung in akute Not und spürbares Elend stürzt, dann sinddas nicht primär sie, die Gruppen kleiner Grundeigentümer und freierBauern, die der Verlust ihrer agrarischen Subsistenz in den Plebejerstandabsinken lässt und die dann dessen tribunizisch verfassten harten Kernund politischen Aktivposten bilden und in dieser Eigenschaft eine vomPatriziat inaugurierte militärische Expansionsstrategie mittragen undmitbetreiben, zu der sie zwar ursprünglich eben die Aussicht auf eineZuteilung von Land und Wiederansiedlung motiviert, die ihnen aberletztlich als solche, als ständige Nachfrage nach Kriegsdienstleistenden,als immer wiederkehrender Ruf zu den Fahnen, ihr Auskommen sichertund sie vor dem ökonomischen Nichts und der sozialen Deklassierung bewahrt. Durch den Konkurrenzdruck, den die koloniale Ausbeutungerzeugt, außer Brot gesetzt und von zunehmender Not und Verelendung bedroht finden sich vielmehr die originär plebejischen Schichten derhabituell in den städtischen Marktzusammenhang integrierten kleinenHandwerker und Tagelöhner, die weder die für den Kriegsdienst erfor-derliche körperliche Tüchtigkeit beziehungsweise martialische Selbstbe-hauptung mitbringen, noch mit dem bäuerlichen Kolonistendasein, demWirken auf eigener, aber vom heimischen Milieu entfernter Scholle, etwasverbinden und deren Schicksal es deshalb ist, sich als innerstädtischerBodensatz und von der Hand in den Mund lebendes Lumpenproletari-

at mehr schlecht als recht durchzuschlagen und im Schatten des raschwachsenden Reichtums der Oberschicht ihr Leben zu fristen, wobei sie indieser lumpenproletarischen Eigenschaft in dem Maße, wie ihre Zahl undPräsenz zunimmt, zu einem in all seiner Passivität und Initiativlosigkeitimmer gewichtigeren politischen Faktor, einem für die Republik selbst,die sie hervortreibt, immer schicksalsträchtigeren sozialen Erscheinungwerden. Doch davon in Kürze mehr!

Sowohl also das ursprüngliche machtpolitisch-militärherrschaftlicheKalkül als auch die damit von Haus aus verknüpfte innenpolitisch-sozial-strategische Intention sind unter den Bedingungen der kolonialsyste-

matisch entfalteten Expansion der Römischen Republik als Motive fürdie staatliche Requisition von Land in den eroberten Gebieten, für dieSchaffung von Domanialbesitz, obsolet und belanglos. Wenn der römi-sche Staat dennoch damit fortfährt, Kolonialland mit Beschlag zu belegenund als Staatsbesitz in eigene Regie zu übernehmen, so deshalb, weil

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der allgemeine appropriative Gestus, der ihn und die ihn tragende Ober-

schicht beseelt, die Besitzgier, die seine Expansionstätigkeit ebenso sehrals reaktive Folge wie als treibender Grund durchwirkt, über alle inhalt-liche Motivation oder sachliche Rücksicht triumphiert und auch ohnedergleichen das gewohnte und liebgewordene Aneignungsgeschäft be-treibt. Allerdings lädt sich damit der römische Staat mittlerweile ehereine Last auf, als dass er sich etwas Gutes tut. Voll und ganz mit derdoppelten Aufgabe der militärischen Eroberung immer neuer Gebieteund der politischen Herrschaft über ein dementsprechend wachsendesKolonialreich befasst, kann er mit den Ländereien, die er sich selber zu-misst, eigentlich gar nichts anfangen und hat weder das Interesse noch dieMuße und weder die Mittel noch das Personal, sie nutzbringend zu ver-wenden, sprich, sie mit dem Ziel einer profitablen Erzeugung agrarischerProdukte zu bewirtschaften. Der ursprünglich mit ihnen verknüpftenmachtpolitischen Herrschaftssicherungsfunktion und sozialstrategischenNeuansiedlungsintention beraubt, bedeuten diese Ländereien für ihrenEigentümer, den römischen Staat, nichts weiter als zusätzlichen Verwal-tungsaufwand und verlorene Instandhaltungskosten; selbst wo durchSteuer- oder Pachtzahlung der Einheimischen, die auf dem Land sitzenund es bewirtschaften, den staatlichen Ausgaben Einnahmen gegenüber-stehen, sind die Domanialbesitzungen doch nur in den seltensten Fällenals gewinnbringende Investition zu betrachten.

Unter diesen Umständen muss es der senatorischen Staatsführung alseine glückliche Fügung erscheinen, dass jemand bereitsteht, ihr dieseLast, die sie sich dank habitueller Besitzgier aufgebürdet hat, abzuneh-men. Der gleiche, aus Patrizier- und Ritterstand kombinierte Personen-kreis nämlich, der schon von der primären und sekundären Ausplünde-rung der Kolonien profitiert, von der Abschöpfung kolonialer Wertmittelin Form direkter Kontributionen und Konfiskationen und von der Aus- beutung kolonialer Wertquellen in Gestalt der Kauf- und Pachtsummen,die für deren Überlassung die Ritter den Patriziern zahlen, und der Sach-werte, die die Ritter aus dem Gekauften und Gepachteten herausschlagen

– dieser gleiche Personenkreis steht auch jetzt bereit, aus dem Wertpo-tential der Ländereien, die der römische Staat aus schierer, weil längstfunktionslos gewordener Habsucht anhäuft, das wirtschaftlich Beste und jedenfalls mehr zu machen, als dem Staat selbst gegeben ist. Was dierömische Beamtenschaft mittels Kontributions- und Konfiskationspraxis

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an unmittelbar pekuniärem Reichtum in den Kolonien abschöpft, was die

Repräsentanten des römischen Marktes hiernach durch ihre kommerzi-elle Maklertätigkeit von diesem pekuniären Reichtum als ihren Gewinneinstreichen, was sodann von diesem Gewinn die dadurch zu ritterlichenUnternehmern avancierenden plebejischen Handeltreibenden wiederuminvestieren, indem sie es dem römischen Staat und seiner senatorischenBeamtenschaft als Kauf- und Pachtsummen für koloniale Sachwerte undWertquellen überlassen, und was endlich die ritterlichen Unternehmerdurch Realisierung der kolonialen Sachwerte und Ausbeutung der ko-lonialen Wertquellen an exorbitanten, weil von günstigen kolonialenProduktionsbedingungen profitierenden Profiten herausschlagen – dieser

ganze, den Kolonien direkt, durch bürokratische Abschöpfung, und indi-rekt, durch quasikapitalistische Ausbeutung, entrissene und in spiraligerUnaufhaltsamkeit zunehmende Reichtum drängt auf weitere Verwertungund steht deshalb bereit, sich des neuen, vom römischen Staat unwillkür-lich geschaffenen Wertpotentials zu bemächtigen.

Bereit steht der durch die primäre, bürokratische, und die sekundäre,quasikapitalistische Ausplünderung der Kolonien erworbene Reichtumfür diese neue und, wenn man so will, tertiäre Reichtumsbeschaffungnatürlich nur, soweit er nicht der Römischen Republik zur Finanzierungihrer militärischen Aktivitäten, ihrer Eroberungs- und Pazifizierungsan-

strengungen, dient beziehungsweise direkt in den privaten Konsum derOberschicht und in die Erfüllung ihrer sozialen Verpflichtungen fließt.Dass indes auch nach Abzug der Rüstungsausgaben und der Aufwen-dungen für konsumtive Zwecke noch mehr als genug für die Investitionin Domanialland übrig bleibt, dafür ist gesorgt: Erstens nämlich sinddie Profitraten, die durch direkte Expropriation und durch indirekteAusbeutung der Kolonien die Oberschicht erzielt, längst über den Punkthinaus, bis zu dem die traditionellen Obliegenheiten der Oberschicht –die Aufrechterhaltung des eigenen Lebensstandards, die Sorge für dieKlientel und die pietätvollen Aufwendungen zum Wohle der Stadt und

zur Finanzierung öffentlicher Werke – genügten, um jene Profite auf-zuzehren. Und zweitens und vor allem erweist sich jeder Denar, der fürRüstung und Militär ausgegeben wird, als rentabel in dem simplen Sinne,dass er die Eroberung neuer Gebiete und die Einrichtung neuer Kolonienermöglicht und mithin den Grund für eine neuerliche Ausweitung der

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direkten Expropriationspraxis und der indirekten Ausbeutungstätigkeit,

sprich, für die Akkumulation weiterer Profite in Privathand, legt.So fließen denn also die in den Händen der patrizischen und ritterli-chen Oberschicht angehäuften überschüssigen, weil weder im staatlichenRüstungshaushalt oder im privaten Konsum Verwendung findenden,noch als Investitionen im Spektrum der üblichen kolonialen Ausbeu-tungsunternehmungen mehr unterzubringenden und in ihrer Überschüs-sigkeit auf weitere Verwertung dringenden Wertquanten in den Kauf oderdie Pacht von staatseigenem Land – und alle Beteiligten sind es zufrieden.Der römische Staat ist zufrieden, weil er so eine neue Einnahmequellefür die Finanzierung seiner Kriegszüge und seiner das Kolonialsystemumspannenden Militärverwaltung auftut und weil er selbst da, wo erDomanialland an verdiente Beamte verschenkt oder zur unentgeltlichenNutzung überlässt und also nichts dabei gewinnt, doch jedenfalls eine beschwerliche Last und unnütze Bürde los wird und eine Konzentrationseiner Kräfte auf seine wesentlichen, in der Expansionsstrategie und derOrdnungspolitik bestehenden Aufgaben erreicht. In der Tat ist dieserin der Privatisierung von Staatsländereien gelegene Entlastungseffektfür den Etat der Republik der objektive Vorwand oder rationalisierendeGrund für eine wachsende Tendenz des römischen Staates, seine höherenAngestellten durch territoriale Schenkungen zu beglücken, und für diedarin zum Ausdruck kommende und parallel zur Akkumulation von

Reichtum in ihren Händen zunehmende Korruptionsneigung der staats-tragenden Schicht, ihre Bereitschaft, private und familiäre Vorteile mitden öffentlichen und körperschaftlichen Interessen zu vermengen unddie letzteren zum Vehikel einer Durchsetzung ersterer zu degradieren.

Wie bei der konfiskatorisch-privativen Bereicherung der prokonsula-rischen oder proprätorischen Beamtenschaft in den Kolonien, die derrömischen Konsumgüterproduktion zugute kommt und deren Benach-teiligung gegenüber dem Rüstungssektor zu kompensieren hilft und diedeshalb als eine binnenwirtschaftlich nützliche Korruptionserscheinungvom Senat weitgehend toleriert wird, ist auch bei der nunmehr prak-

tizierten und augenscheinlich korruptionsverdächtigen Privatisierungvon Domanialland ein als Staatsräson geltend zu machendes öffentlichesInteresse, die – egal, ob durch Verkauf, Verpachtung oder Schenkung beziehungsweise formlose Überlassung der Ländereien – erreichte Ent-lastung des Etats der Republik, ausschlaggebend für die Tolerierung

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 beziehungsweise Legitimierung dieser Praxis. Nur, dass sich jetzt das

objektive Kalkül als durchsichtige Rationalisierung, der gute Grund alsplaner Vorwand erweist, weil die Zeche für die Wohltat, die dem Gemein-wesen aus Korruption, aus der Vermischung von privatem Vorteil undöffentlichem Interesse, erwächst, hier nicht mehr von anderen, der durchdie Konfiskationen ausgeplünderten Kolonialbevölkerung, sondern, wiegleich zu sehen, von Schichten des römischen Volkes selbst bezahlt wer-den muss, das sich durch den Großgrundbesitz, in dem das privatisierteDomanialland resultiert, ökonomisch massiv unter Konkurrenzdruckgesetzt findet.

Den Arbeitskräftemangel, an dem die zuerst nur in den italischen Kernlandenbetriebene Latifundienwirtschaft zu scheitern droht, beseitigt die von Staatswegen und in großem Maßstab eingeführte Sklaverei. Der Konkurrenzdruck, dervon den mit Sklavenarbeit betriebenen Latifundien und Manufakturen ausgeht,richtet die römischen Kleinbauern und Handwerkerschichten vollends zugrunde.

Zufrieden – um diese komparatistisch vorgreifende Beurteilung abzu- brechen und den Faden der Darstellung wieder aufzunehmen! – ist abernicht nur der Staat, die senatorisch verfasste patrizische Körperschaft alsganze, sondern zufrieden sind auch und natürlich die einzelnen Mitglie-

der der Körperschaft, die Privatleute aus der Oberschicht, Senatoren undRitter, die Nutznießer der Domaniallandverkäufe und -schenkungen sindund dadurch in den Besitz riesiger, mit dem Wort Latifundien plastisch beschriebener, Güter gelangen, deren Bewirtschaftung und Nutzungihrem Bereicherungsprozess ein beispielloses Momentum verleiht undihre Vermögensverhältnisse in völlig neue Dimensionen katapultiert.Aus den gewaltigen Flächen besten Acker- und Weidelands, die sie dank jener Privatisierung von Staatsbesitz in die Hand bekommen, lässt sichein ebenso gewaltiger Profit herausschlagen – vorausgesetzt, die neuenGrundherren verfügen über das für einen intensiven Feldanbau bezie-

hungsweise eine effektive Viehzucht erforderliche Kontingent an billigenArbeitskräften. Hier scheint auf den ersten Blick das Hauptproblem beider Durchsetzung dieser neuen Anlageform und Realisierung der mitihr gegebenen Bereicherungsperspektive zu liegen: dass nämlich das füreine erfolgreiche Bewirtschaftung der großen Güter benötigte Personal

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gar nicht ohne weiteres, und geschweige denn in preiswerter Gestalt,

vorhanden ist.Schließlich ist in dieser ersten, für die neue römische Wirtschaft auf Latifundienbasis formativen Phase der Erwerb von Staatsland durchdas senatorisch-ritterliche Establishment per Gesetz auf italischen Bodeneingeschränkt, weil die Republik, sosehr sie ökonomisch zum Selbst- bedienungsladen für ihre Führungsschicht wird, doch aber die von ihrsolcherart Begünstigten politisch unter Kuratel halten und der Mög-lichkeit, dass diese in fernen, schlecht kontrollierbaren Kolonialgebietenterritorialherrschaftliche Gelüste entwickeln und gar mit der jeweiligenprokonsularischen Verwaltung um die Macht vor Ort zu konkurrieren be-ginnen, wehren will. Auf dem Gebiet der alten römisch-italischen Wehr-genossenschaft aber, dort also, wo die römische Landverstaatlichungs-politik ihren damals noch in doppelter Hinsicht funktionsbestimmtenAnfang nimmt und wo jetzt die Privatisierung der Staatsländereien dieLatifundienwirtschaft initiiert, ist an eine umstandslose Rekrutierungder erforderlichen massenhaften und womöglich auch noch billigen Ar- beitskräfte nicht zu denken, weil das vorhandene Arbeitskräftepotentialin den regionalen und dank des italisch-römischen Handelssystems re-lativ florierenden Wirtschaftszusammenhang eingebunden und an eineZwangsverpflichtung von Arbeitskräften wegen der staatlichen Zugehö-rigkeit der betreffenden Regionen zu beziehungsweise ihrer vertraglichen

Verknüpfung mit der Römischen Republik und wegen des wie immerabgestuften Rechtsschutzes, den ihre Bevölkerungen genießen, nicht zudenken ist.

Auch hier wieder ist es die auf eine exaktiv-direkte Aneignung, stattauf eine transaktiv-indirekte Anhäufung von Reichtum, auf eine requi-sitorische Mittelbeschaffung, statt auf eine kommerzielle Versorgungmit Gütern abgestellte und für die Römische Republik in ihrer klassi-schen Gestalt grundlegende militärisch-bürokratische Expansion, dieRat und Hilfe schafft, will heißen, die praktische Lösung für das Ar- beitskräfteproblem liefert. Was im organisierten Wirtschaftsraum und in

der verbürgten Rechtssphäre des italisch-römischen Bundesgenossen-schaftssystems nicht zu haben ist, das lässt sich in den Randzonen desImperiums, in den um ihre ökonomische Kontinuität und ihre politischeOrdnung gebrachten rechtsfreien Räumen, die dem Imperium eingeglie-dert beziehungsweise vom Imperium in Schach gehalten werden sollen

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und in denen die militärische Auseinandersetzung den Ton angibt und

gewaltsame Unterwerfungsmaßnahmen, Strafexpeditionen und Zwangs-vollstreckungen an der Tagesordnung sind, ohne weiteres beschaffen. Derseit alters bestehende Brauch, nach dem im Falle kriegerischen Konfliktsdem Sieger nicht nur Hab und Gut, sondern auch Leib und Leben desUnterlegenen verfällt, öffnet hier einer Rekrutierung von ArbeitskräftenTür und Tor.

Zur Geltung gebracht und realisiert wird dieser Brauch seit alters nur,wo ein Bedarf an Menschen besteht, wo es für Leib und Leben der Besieg-ten Verwendung gibt, sei’s dass – wie im aus Mangel an sonstigem tieri-schem Protein geübten Kannibalismus – der Besiegte im buchstäblichen

Sinne als Leibgeber herhalten muss, sei’s dass – wie in der extensiven,weiträumigen Wirtschaftsform des Nomadismus – Kriegsgefangene alsViehknechte und Hütepersonal eingesetzt werden können, sei’s dass –wie an den Höfen theokratischer Herrschaften – genug Reichtum vorhan-den ist, um menschliche Kriegsbeute als Komfort gewährende und Statussymbolisierende dienstbare Geister mit durchzufüttern. Auch in den Ge-meinschaften der mehr oder minder territorial fundierten Handelsstädteder Antike, in Athen, Karthago oder Rom, wird menschliche Kriegsbeuteerst in nennenswertem Umfang für Sklavendienste nutzbar gemacht, alszum einen die kriegerischen Aktivitäten und Expansionsanstrengungen

erheblich und kontinuierlich genug sind, um für einen hinlänglichenStrom von Kriegsgefangenen Sorge zu tragen, und zum anderen und vorallem, ausreichend große Landgüter entstanden sind, um Sklaven nutz- bringend einsetzen zu können, beziehungsweise genug kommerziellerReichtum versammelt ist, um sich den Kauf von Hausbediensteten oderLeibsklaven leisten zu können. In Athen ist das seit dem 6. Jahrhundert, inRom seit dem 4. Jahrhundert der Fall, und deshalb gibt es seitdem in den beiden Staatswesen einen Sklavenhandel, der die Sklaverei die bis dahingewahrten engen Grenzen einer vorübergehenden Kriegsfolge oder einerals Schuldknechtschaft bezeichneten wirtschaftsrechtlichen Konsequenz

sprengen und zu einer ebenso anerkannten wie festen Einrichtung wer-den lässt. Dennoch bleibt die Sklaverei wegen der relativen Begrenztheitder territorialen Besitzungen und Bescheidenheit der kommerziellen Ver-mögen auch da noch ein eher marginales und für die Gesamtwirtschaftebenso folgenloses wie unmaßgebliches Phänomen.

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Ihre Sternstunde oder, besser gesagt, die Geburtsstunde einer atem-

 beraubenden Karriere erleben Sklavenhandel und Sklaverei nun aberim 2. Jahrhundert in Rom, wo, wie ausgeführt, die Privatisierung vonStaatsland, seine Verwandlung in Latifundien, landwirtschaftlichen Groß-grundbesitz, einen massiven Bedarf an Arbeitskräften schafft, und wogleichzeitig die rasante kriegerische Expansion der Republik nach Nord-afrika, auf den Balkan und nach Spanien große Gruppen von Menschenunter kriegsrechtlich-ausnahmezuständlichen Bedingungen dem römi-schen Zugriff zugänglich werden lässt. Diese unheilige Koinzidenz vonmassiv vergrößerter Nachfrage und rapide erhöhtem Angebot hat diezu erwartende Konsequenz: So gewiss die Oberschicht als Römischer

Senat, als körperschaftlich agierende Staatsmacht, ihren Mitgliedern,den Patres und Equites, aus denen sie sich zusammensetzt, Staatsbesitzzukommen lässt und diese Zuwendung mit dem Geld rechtfertigt, das siedabei erlöst, oder auch bloß mit der Entlastung des Etats, die sie dadurcherreicht, so gewiss versorgt sie nun auch die Begünstigten mit dem für dieNutzung ihres Besitzes erforderlichen Menschenmaterial und kann dieseHilfestellung ebenfalls damit rechtfertigen, dass der von ihr verkörperteStaat – teils direkt, indem er die Militärverwaltungen in den Kolonien undden Grenzgebieten die Rekrutierung und Verschiffung von Sklaven über-nehmen lässt, teils indirekt, indem er das Privileg zum Sklavenhandel an

Privatleute aus dem Ritterstand verpachtet oder verkauft – Einnahmenerzielt und das Ärar füllt.Die mit Sklavenarbeit betriebene Latifundienwirtschaft, sie also ist

es, die nun die ohnehin von akuter Zerrüttung bedrohten binnenwirt-schaftlichen Verhältnisse der Republik endgültig und in kürzester Fristin den Ruin treibt, indem sie den Konkurrenzdruck, dem sich die Bau-ern und Gewerbetreibenden, die kleinen Landbesitzer und Handwerkerdurch den vom Ritterstand aus den Kolonien herausgepressten Stromwohlfeiler Waren ausgesetzt finden, durch die landwirtschaftliche Mas-senproduktion jenes Großgrundbesitzes weiter erhöht und in der Tat

zur erdrückenden ökonomischen Drossel werden lässt. Eine Entspan-nung der durch die geldförmigen Kontributionen und Konfiskationenaus den jeweiligen kolonialen Neuerwerbungen mühsam und ohne echtePerspektive in vorläufiger Schwebe gehaltenen ökonomischen Konflikt-situation ließe sich ja nur erreichen, wenn die Gewinne aus der vom

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Ritterstand in immer größerem Maßstab inszenierten Ausbeutung kolo-

nialer Wertquellen über die traditionellen Kanäle der Aufrechterhaltungeines patrizischen Lebensstiles, der Sorge für die Klientel und der pie-tätvollen Aufwendungen zum Wohle der Stadt und zur Finanzierungöffentlicher Werke umstandslos in den Konsum flössen und zu nichtsweiter als zur Realisierung des von ihnen repräsentierten überschüssigenWarenangebots auf dem Markt verwendet würden. Weit entfernt aber,dass dies geschähe, werden diese Profite vielmehr in die vom Staat pri-vatisierten Ländereien und in die zur Bearbeitung der Ländereien vonStaats wegen organisierten Sklaven investiert und also einer Verwendungzugeführt, die, statt sich in der Realisierung von auf dem Markt bereits

vorhandenen Werten, im konsumtiven Kauf von Gütern, zu erschöpfen,vielmehr auf einen weiteren Wertzuwachs, auf eine produktive Vermeh-rung eben jener in ihrem Wert durch Konsum zu realisierenden Güterhinausläuft, mithin darin resultiert, dass uno actu der wertmäßigen Einlö-sung vorhandener Waren und ihres darin beschlossenen Verschwindensvom Markt ein wertmäßig vergrößertes Warenkontingent auf den Marktgebracht, ein Mehr an Warenwert in die Zirkulation eingeschleust wird.

Weil jene Profite aus der Ausbeutung der Kolonien dank der qua Lati-fundienwirtschaft neu eröffneten Verwertungsmöglichkeit noch einmalals kraft Sklavenarbeit gewinnträchtiges Kapital eingesetzt werden, ehe

sie in Form der für das Dominialland und die Sklaven gezahlten Gelder indie Hände staatlicher oder privater Konsumenten gelangen, um dort ihreals Entlastung des Marktes von einem Überschuss an Warenwert wohl-verstandene Wertrealisierungsaufgabe zu erfüllen, vergrößern sie immernur weiter das Missverhältnis zwischen den in Gestalt von Subsistenzmit-teln und Konsumgütern auf dem Markt versammelten Sachwerten undder in Form von geldlichem Äquivalent für die Realisierung der Sachwer-te zur Verfügung stehenden Wertmenge und erhöhen so den Konkurrenz-und Preisdruck, unter dem die Produzenten der auf dem Markt versam-melten Güter und zumal jene Produzentengruppen stehen, die auf der

heimischen Scholle oder in der heimischen Werkstatt eigenhändig oder jedenfalls kleinbetrieblich ihr gewohntes Warensortiment erzeugen, stattin den Kolonien beziehungsweise auf den Latifundien unter den dortmöglichen kostengünstigen, sprich, ausbeutungsintensiven Bedingungenwachsende Warenmengen erzeugen zu lassen.

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Der vereinten und vielmehr potenzierten Wirkung, die koloniale Aus-

 beutung und Latifundienökonomie auf Sklavenarbeitsbasis zeitigen, hältdie traditionelle Wirtschaft der Römischen Republik nicht stand. Parallelzur galoppierenden militärischen Expansion und kolonialsystematischenEntfaltung des Römischen Reiches vollzieht sich im Laufe des 2. Jahrhun-derts ein dramatischer Verfall der bodenständigen, römischen Landwirt-schaft und der in der in der Republik selbst ansässigen Gewerbe. Weilausschlaggebend für den an einen Kollaps gemahnenden jähen Verfallder neuentstandene Großgrundbesitz und die in seinem Rahmen mittelsSklaven quasiindustriell betriebene agrarische Produktion ist, sind dieprimären Opfer die Bauern und kleinen Grundbesitzer der Republik.Sie, die wegen der kommerziellen Versorgung der Stadt mit preiswertenlandwirtschaftlichen Erzeugnissen aus dem wachsenden Herrschaftsge- biet der Republik, wegen der Landerwerbspraxis der sich in die Nobilitäteinkaufenden Neureichen aus der Handelssphäre und nicht zuletzt we-gen der ihnen ständig abgeforderten Kriegsdienstleistungen schon langeunter ökonomischem Druck stehen und sich sei’s als mit Müh und Notihre soziale Stellung behauptende, gebeutelte Mittelschicht, sei’s als derDeklassierung entspringender und aber ein politisches Bewusstsein undmilitantes Ressentiment kultivierender Teil der Plebs zu einer tribunizischverfassten Partei formieren, die bereits seit mehr als einem Jahrhundertals konstruktive Opposition den expansiv-imperialen Kurs der Republik

mitbetreiben und die in seiner Konsequenz durchgesetzte kolonialistischeAusbeutungspraxis mittragen – sie also, die bäuerlichen Schichten, findensich nun am Ende der von ihnen mitgestalteten Entwicklung als diedefinitiven Opfer wieder, sehen sich mit ihren agrarischen Erzeugnissendurch die Billigproduktion der Kolonien und Latifundien vom Marktverdrängt und scharenweise um ihre Subsistenz gebracht. Soweit sienicht in anderen Erwerbszweigen unterkommen, liegen sie auf der Straßeund müssen sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser halten oder vonöffentlichen Almosen leben beziehungsweise in der Klientel eines derebenso sehr auf ihre Kosten wie zu Lasten der Kolonien Reichtümer

anhäufenden Patrone aus der Nobilität Unterschlupf suchen.Aber nicht bloß die bäuerlichen Schichten und Kleingrundbesitzer sindvon dem rasanten Verfall der traditionellen wirtschaftlichen Strukturender Republik betroffen, kaum weniger hart trifft es auch die Handwerkerund kleinen Gewerbetreibenden. Und zwar nicht bloß und nicht einmal in

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der Hauptsache deshalb, weil die entwurzelten bäuerlichen Schichten in

ihre Berufszweige drängen und ihnen auf dem Arbeitsmarkt Konkurrenzmachen. Vielmehr ist der wesentliche Grund für die Not, in die sich auchdie hauptstädtischen Gewerke und Kleingewerbe gestürzt sehen, einmalmehr der neue, territorial ebenso sehr über alle Stränge schlagende wiepersonell zum Massenbetrieb aufgeblähte Großgrundbesitz. Nicht näm-lich nur, dass die mit Sklavenarbeit betriebene Bewirtschaftung großer,geschlossener Landflächen die habituelle agrarische Produktion revolu-tioniert, sie birgt auch nebenbei und mit assoziativer Zwangsläufigkeitdie Anregung zu einer Revolutionierung der traditionellen Handwer-ke durch entsprechend massierte Bewirtschaftungsformen. Die Sklavennämlich, die in den neueroberten Gebieten und den Grenzregionen desImperiums rekrutiert und auf den italischen Latifundien eingesetzt wer-den, sind vielfach von Haus aus keine bloßen Landarbeiter, sondern bringen, zumal wenn sie aus den hochentwickelten Regionen des östli-chen, hellenistischen Mittelmeeres kommen, vielfältige handwerklicheFertigkeiten mit. Diese Fertigkeiten der Sklaven brachliegen zu lassen,heißt, ihre in toto gekaufte Arbeitskraft nur partiell oder überhaupt falschund unrationell zu nutzen, bedeutet mit anderen Worten, in einem Kon-text, für dessen Entstehung doch gerade Kapitalinvestitionsabsichten undProfitabilitätsrücksichten maßgebend sind, unwirtschaftlich zu verfahren.

Eine erste Anregung zur Behebung des Mangels und Wiedergutma-

chung des Versäumnisses bei der Nutzung der Verwertungschancen, diein der neuen Bewirtschaftungsform stecken, bieten die Latifundien selbst,deren beträchtlicher Bedarf an handwerklichen Leistungen, an der Er-richtung von Baulichkeiten, an der Herstellung und Reparatur landwirt-schaftlichen Geräts, an der Versorgung der Belegschaft mit alltäglichenGebrauchsartikeln, an der Ausstattung der herrschaftlichen Landhäu-ser mit Komfort und Luxusgütern sich durch die vor Ort vorhandenenArbeitskräfte, durch für dergleichen Arbeiten qualifizierte Sklaven, teil-weise oder ganz befriedigen lässt. Auf den zu Großbetrieben entwickeltenLandgütern kommt es zu einer Arbeitsteilung, bei der parallel und ergän-

zend zum quasiindustriell betriebenen Landbau vorhandene oder eigenseingeführte handwerkliche Fachkräfte mit der Produktion landwirtschaft-licher Hilfsmittel und nichtlandwirtschaftlicher Gebrauchsgüter befasstsind. Die gleichermaßen extensive und intensive Ausbeutung der Arbeits-kraft, zu der Sklavenarbeit die Handhabe bietet, die doppelte Möglichkeit

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nämlich, die Sklaven bis auf kurze Regenerationsphasen durchgängig bei

der Arbeit zu halten und sie einer auf größere Effektivität abgestelltenUmgestaltung der Arbeitsprozesse, einer Aufspaltung, Spezialisierung,Routinisierung, Serialisierung und schließlichen, durch organisatorischesArrangement und disziplinarischen Zwang ins Werk gesetzten Synthesisihrer Verrichtungen zu unterwerfen, sorgt dafür, dass die auf diese Weise betriebene Produktion bald schon die Deckung des Eigenbedarfs derLandgüter übersteigt und Überschüsse abwirft, als deren Abnehmer sichder Markt anbietet.

Wie bereits die durch ritterliche Unternehmer aus den Kolonien heraus-gepressten Erzeugnisse haben auch diese der Sklavenarbeit auf Latifun-dienbasis entspringenden Produkte, und zwar die handwerklichen nichtweniger als die agrarischen, dank ihrer kostengünstigen Herstellung,ihres auf nichts als auf die Kaufsumme und die Lebenshaltungskostenfür Sklavenarbeiter abgestellten niedrigen Erzeugerpreises, beste Markt-chancen und keine Schwierigkeiten, sich im Konkurrenzkampf mit dernormalen handwerklichen Produktion durchzusetzen. Der Markterfolgwiederum animiert dazu, die handwerklichen Produktionsstätten weiterauszubauen beziehungsweise eigenständige, nicht mehr vom Landbauabhängige handwerkliche Produktionen auf Basis der Sklavenarbeit undder in ihrem Rahmen veränderten, sprich, spezialisierten, rationalisiertenund intensivierten Arbeitstechniken zu begründen, mit dem Ergebnis,dass überall im römisch-italischen Raum und später auch in den Kolonienunter Federführung des für kommerzielle Unternehmen zuständigen Rit-terstandes Manufakturen entstehen, in die die ritterlich-patrizische Ober-schicht ihre Gewinne aus den Kolonien und der Latifundienwirtschaftreinvestiert – handwerkliche, auf Sklavenarbeit und vorindustriellenProduktionsmethoden basierende Großbetriebe, die den herkömmlichenKleinbetrieben und ihren manuellen Fertigungstechniken eine sie kraftmanufakturell durchrationalisierter Sklavenarbeit in kürzester Frist ver-nichtende Konkurrenz machen. Und dies nicht nur im Bereich der zivilenGewerbe, sondern auch und in zunehmendem Maße in der Rüstungsin-

dustrie, wo staatliche Großaufträge winken und die Klassengenossen derManufakturbetreiber, die Herren aus Senat und Beamtenschaft bereitste-hen, ihresgleichen gegen Provisionen oder Beteiligungen diese Aufträgezuzuschanzen.

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. Volksbewegung

Die sozialreformerischen Bemühungen der beiden Gracchen scheitern daran, dass

die pauperisierte und deklassierte Plebs, der Tiberius Gracchus durch Zuteilungvon Domanialland, Gaius Gracchus hingegen schon nurmehr durch die Vertei-lung von Lebensmitteln helfen will, längst durch das System, das sie zugrunderichtet, fasziniert und geprägt ist und eher auf die subsistenzielle Partizipationan ihm spekuliert, als dass sie es radikal ablehnte.

Auf der ganzen Linie also der agrarischen und der handwerklichen Pro-duktion, der zivilen und der kriegswirtschaftlichen Gütererzeugung,wirkt sich die Verwandlung der Römischen Republik in einen auf Kostender Kolonien und versklavter Teile der kolonialen Bevölkerung funk-

tionierenden Selbstbereicherungsautomaten in Händen der römischenOberschicht, die mit der unternehmerischen Ausbeutung der Koloni-en ihren Anfang nimmt und in der während der Formationszeit des 2. Jahrhunderts noch auf den italischen Raum beschränkten Latifundien-und Manufakturwirtschaft ihre Vollendung findet, verheerend auf dieLebensfähigkeit der traditionellen bäuerlichen und handwerklichen Be-triebe Roms und auf die Beschäftigungslage derer aus, die als Eigentümeroder Angestellte dieser Betriebe das Gros des Mittelstands und der Plebs,sprich, das römische Volk im engeren Sinne, bilden. Innerhalb von an-derthalb Jahrhunderten nach dem Wendepunkt des 2. Punischen Krieges,

dem Punkt, an dem nach der Niederringung des wichtigsten Gegen-spielers im Mittelmeerraum einerseits die große militärische Expansionder Republik und andererseits die Umstellung der römischen Ökonomieauf die Ausbeutung der Kolonien und eine mit Sklavenarbeit betriebeneLatifundien- und Manufakturwirtschaft beginnt – binnen der anderthalb

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 Jahrhunderte also, die der Republik verbleiben, ehe sie sich ins Kaiser-

reich hinüberrettet und dort ihr selbstgewirktes Ende findet, vollziehtsich dank der Dynamik der mit militärischen Mitteln hergestellten undaufrechterhaltenen kolonialistischen Ökonomie jene unaufhaltsame Ent-wicklung, in deren Konsequenz die mittleren und unteren Schichten derrömischen Bürgerschaft aus kleinen Erzeugern und Gewerbetreibenden,die durch ihrer Hände Arbeit am Markt partizipieren und denen dieimperiale Entwicklung der Republik ein Gemisch aus Beeinträchtigungenund Vorteilen, aus Druck und Anreiz, Konkurrenz und Nachfrage be-schert, zu einer Masse arbeitsloser, um ihre ökonomische Basis und ihrensozialen Status gebrachter Deklassierter werden, die an den gesellschaft-lichen Ressourcen, dem immer ausschließlicher durch Sklavenarbeit undAusbeutung der Kolonien beschafften Reichtum, wenn überhaupt, dannnicht mehr kraft ihrer Hände Arbeit und einer aktiven Mitwirkung amMarkt teilhaben, sondern nurmehr dank des Politikums ihres Bürger-status und der sich daraus ergebenden Rolle, die sie als fraktionierteParteigänger oder gesammelte Interessengruppe in den Machtkämpfender Oberschicht spielen.

Wie unaufhaltsam und zumal unumkehrbar die in der ökonomischenEnteignung und sozialen Entwurzelung der Plebs resultierende Entwick-lung hin zu einer ausschließlich auf Sklavenarbeit und kolonialistischerAusbeutung basierenden Reichtumsbeschaffung tatsächlich ist, zeigt

der letzte ernsthafte Versuch, ihr Einhalt zu gebieten beziehungsweisesie in geordnete und von Staats wegen kontrollierbare Bahnen zu len-ken, der mit dem Namen der Gracchen verknüpft ist. Tiberius Gracchus,der ältere der beiden Brüder, die als Führer der organisierten Plebs, alsVolkstribunen, dem Rad der schicksalhaften Entwicklung der Republikin die Speichen greifen beziehungsweise seine Bahn lenken wollen, ver-folgt dabei noch das doppelte Ziel, dem galoppierenden Ruin, in den dieübermächtige Konkurrenz der großen Landgüter die Bauern und kleinenGrundbesitzer hineintreibt, Einhalt zu gebieten und die bereits von ihremGrund und Boden vertriebenen und von Deklassierung bedrohten bezie-

hungsweise ihr bereits verfallenen Gruppen auf neuen Höfen anzusiedelnund so als freie, ökonomisch weitgehend unabhängige Agrarbevölkerungwiederherzustellen.

Um dieses doppelte Ziel zu erreichen, greift er die auf privatisiertemDomanialland von der Oberschicht entfaltete und auf Sklavenarbeitsbasis

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Regime errichten, sich gar zum König aufwerfen wollen, um ihn mit

dreihundert seiner Gefolgsleute niederzumetzeln.Die Initiative zur Einziehung und Neuverteilung von okkupiertemStaatsland, das Kernstück des durch Tiberius Gracchus unternommenenVersuchs, der galoppierenden ökonomischen Zersetzung und sozialenErosion in der Republik entgegenzuwirken beziehungsweise beides nachMöglichkeit zu reparieren, ist damit praktisch gescheitert. Unter demVorwand, dass bei der Rücknahme von ehemaligem Domanialland nichtnur römische, sondern auch bundesgenossenschaftliche Privatinteres-sen berührt werden, dass es sich also dabei nicht nur um ein innen-politisches, durch Gesetz lösbares Problem, sondern ebenso sehr umeine außenpolitische, römische Staatsverträge tangierende Frage handelt,wird der anfangs noch weiterarbeitenden Aufteilungskommission dieZuständigkeit für die Feststellung der Einziehbarkeit von Land entzogenund der traditionell für dergleichen Fragen zuständigen zensorialen undkonsularischen Verwaltung übertragen, was auf eine unbegrenzte Aus-setzung und in der Tat endgültige Einstellung der Kommissionstätigkeithinausläuft. Dennoch ist der mit dem Namen der Gracchen verknüpfteReformversuch damit noch nicht am Ende.

Ein Jahrzehnt später wird unter unverändert und vielmehr verschärftkrisenhaften gesellschaftlichen Bedingungen der jüngere Bruder des er-mordeten Tiberius, Gaius Gracchus, zum Volkstribun gewählt und nimmt

durch eine Reihe von Gesetzen, die er erfolgreich in der Volksversamm-lung durchbringt, die früheren Reformbestrebungen in allerdings viel-sagend veränderter Form wieder auf. Das wichtigste Reformstück undzugleich die markanteste Korrektur des früheren Reformkurses bildet da- bei das Gesetz zur kostenlosen regelmäßigen staatlichen Versorgung derstädtischen Plebs mit Getreide. An die Stelle des Versuchs, den entwurzel-ten Bauernstand wieder Boden gewinnen und Fuß fassen zu lassen, trittder reduzierte Anspruch, den Entwurzelten in ihrer Rolle als städtischePlebs eine staatlich garantierte Versorgung und Subsistenz zu sichern.Die alte Absicht, die Entwurzelten neu anzusiedeln und mit Höfen aus-

zustatten, wird zwar nicht ganz und gar aufgegeben, aber sie verwandeltsich aus einer breiten Motion vor Ort des italischen Raumes in eine auf ferne Gestade und koloniale Freiräume zielende paradigmatische Land-nahmebewegung und legt so den Charakter eines allgemeinen sozialenBereinigungsplanes ab, um sich mit der Ventilfunktion einer Drainage

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der schlimmsten sozialen Entzündungsherde zu bescheiden. Römische

Kolonien auf dem Boden des einstigen Karthago oder des transalpinenGallien ermöglichen es zwar vielleicht, die unruhigsten, weil sich mitihrem sozialen Schicksal am schwersten tuenden Elemente der neuenmassierten Plebs zu entfernen und so die gärende Gesamtmasse ruhigerzu stellen, aber ein Programm zur Beendigung des Gärprozesses odergar zur Rückgängigmachung der eingetretenen sozialen Verwerfungen bilden sie nicht.

Sein von Maßnahmen zur Einschränkung der gesetzgeberischen undrichterlichen Kompetenzen des Senats flankiertes Reformwerk sucht Gai-us Gracchus dadurch zu sichern, dass er mit Blick auf seine eigene Wie-derwahl vom Gesetzgeber Volksversammlung die Schranke der einjäh-rigen Amtszeit für Tribunen aufheben lässt. Gleichzeitig bemüht er sich,die soziale Basis, auf der er operiert, zu verbreitern, die Fraktion seinerUnterstützer zu vergrößern, indem er die schon lange schwelende Frageder rechtlichen Stellung der Bundesgenossen aufgreift und deren Ver-wandlung in römische Vollbürger beziehungsweise Überführung in denprivilegierten bundesgenossenschaftlichen Status fordert, den bislangausschließlich die latinischen Gemeinschaften innehatten. Mit diesemAnsinnen aber weckt er die Eifersucht seiner eigenen Anhängerschaft, derrömischen Plebs, die sich in ihrer Stellung als Hätschelkind der Reform bedroht sieht. Es genügt, dass ein von der Senatspartei gekaufter tribuni-

zischer Kollege des Gaius den ganz realitätsfremden, rein demagogischenAntrag stellt, statt der Koloniegründungen an fernen Gestaden Gelegen-heiten für Neuansiedlungen in der Nähe Roms, auf italischem Boden, zuschaffen, um die Plebs dazu zu bringen, ihrem Wohltäter und Vorkämpfereinen Denkzettel zu verpassen und ihm nämlich die Wiederwahl zu ver-weigern. Diese quasi symbolische Geste aber genügt bereits, das ganze,auf den tönernen Füßen des Volkswillens stehende Reformwerk zumEinsturz zu bringen: Als der seines Amtes entkleidete Tribun mit seinerAnhängerschaft sein Lieblingsprojekt, die karthagische Kolonie, auf derVolksversammlung durchzudrücken versucht, kommt es zu Kämpfen, in

deren Verlauf er sein Leben verliert.Die Unaufhaltsamkeit des sozialen Verfalls der traditionellen republi-kanischen Gesellschaft, ihrer Aufspaltung in eine auf Basis der kolonialenAusbeutung und der Sklavenwirtschaft im Überfluss schwimmende No- bilität und eine um ihre ökonomische Basis gebrachte, besitzlose Plebs

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machen die Reformversuche der beiden Gracchen wünschenswert deut-

lich. Sie zeigen nämlich zuerst und vor allem, dass der als Opfer derEntwicklung firmierenden Plebs in actu dieses sie nunmehr definierendenOpferstatus das Vermögen verloren geht, mit persönlicher Verantwort-lichkeit, moralischer Zurechnungsfähigkeit und politischer Resolutioneine entscheidende Revision und grundlegende Veränderung der ein-getretenen Situation zu wollen und zu betreiben. Tatsächlich dürfte diewesentliche Fehleinschätzung der Reformer, ihr ausschlaggebender Irr-tum bei der politischen Lagebeurteilung eben darin zu sehen sein, dasssie jenen, denen sie aus ihrer ökonomischen Zwangs- und sozialen Not-lage heraushelfen wollen, einen ungebrochenen Willen zur radikalenSanierung ihrer Verhältnisse und Wiederherstellung in statu quo ante zu-schreiben, dass sie ihnen mit anderen Worten die unzweideutige Absichtund Bereitschaft unterstellen, den neuen Status eines durch Entzug derökonomischen Basis in Abhängigkeit existierenden sozialen Opfers gegendie alte Position eines auf Basis relativer ökonomischer Unabhängigkeitfrei handelnden politischen Subjektes einzutauschen. Weit entfernt vonsolcher Bereitschaft zur nachdrücklichen Veränderung und radikalenErneuerung, sind jene ökonomisch entwurzelten und sozial deklassier-ten plebejischen Gruppen vielmehr ebenso sehr Geschöpfe wie Opferder neuen Situation, finden sie sich durch den politisch-ökonomischenProzess jener neueingeführten, auf kolonialistischer Ausbeutung und

Sklavenarbeit basierenden Reichtumsbeschaffungsmethoden der Nobili-tät nicht weniger von Grund auf verändert als zugrunde gerichtet, nichtweniger in Bann geschlagen und transzendental definiert als aus demRennen geworfen und real demontiert.

Der Grund für diese die Plebs ideologisch in Bann schlagende Faszi-nation, die von dem sie praktisch in die Pfanne hauenden neuen Reich-tumsbeschaffungssystem ausstrahlt, diese mit dem Existenzverlust ein-hergehende Charakterkonversion, mit der ökonomischen Destruktionverknüpfte perspektivische Transformation, die das neue System derPlebs beschert, ist eben darin zu suchen, dass letzteres eine höchst effek-

tive Bereicherungsveranstaltung darstellt, bei der die ökonomische Notund das soziale Elend, worein sich die unteren und mittleren Schich-ten gestürzt sehen, als bloße Kehr- und Schattenseite der strahlendenFülle und des überwältigenden Überflusses erscheinen, womit sich dieOberschicht überhäuft findet. Statt nichts weiter als ökonomischen Ruin

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und sozialen Verfall zu bewirken, treibt das von der Nobilität etablier-

te System diesen Ruin und Verfall vielmehr als bloße, wie man will,Folge- oder Randerscheinung des ungeheuren Stromes von Gütern undDienstleistungen hervor, den koloniale Ausbeutung und Sklavenarbeitentfesseln und der Nobilität zuwenden.

Angesichts der pleromatischen Fülle, die so das neue System zeitigtund den durch es benachteiligten plebejischen Gruppen provokativ, undnämlich ebenso unerreichbar wie dicht, vor Augen stellt, wird es diesenGruppen schwer und in der Tat unmöglich, den gravierenden Mangel,das tendenzielle Nichts, worein sie sich durch die systematische Entwick-lung versetzt sehen, als vernichtenden Einwand, als resultative Negativi-tät gegen das System geltend zu machen, und drängt sich ihnen vielmehrunwiderstehlich die Möglichkeit auf, diesen gravierenden Mangel, diesresultierende Nichts als fait accompli der systematischen Entwicklunghinzunehmen, um dann von dieser einverständigen Position aus eineBeteiligung an der in systematischer Korrespondenz zu dem Mangel, dersie ereilt hat, entstandenen pleromatischen Fülle, mit anderen Worten,ihre Sanierung durch das als die systematische Wahrheit des Nichts, dassie bedrängt, erscheinende überschwängliche Sein ins Auge zu fassen.Nicht aggressives Aufbegehren gegen das von der Nobilität etabliertepolitisch-ökonomische System, um das ihnen von letzterem zugeteilteLos der Pauperisierung und Verelendung abzuschütteln und sich im

vorsystematischen Zustande einer halbwegs autarken Subsistenz undautonomen Bürgerlichkeit wiederherzustellen, lautet demnach die De-vise der ökonomisch entwurzelten und sozial deklassierten plebejischenGruppen, sondern Identifikation mit dem Aggressor, um dem durch seineAggression ihnen bereiteten Schicksal zu entrinnen und es in Partizipa-tion an dem ihr, der Nobilität, kraft ihres aggressiven Procedere zuteilgewordenen materiellen Segen zu verkehren.

Eben weil die aus dem Zusammenbruch der traditionellen römischenWirtschaft hervorgegangene plebejische Konkursmasse ökonomisch ent-wurzelt und sozial deklassiert ist, vermag sie sich gegenüber der aus kolo-

nialer Ausbeutung und Sklavenarbeit kombinierten Großunternehmung,die jenen Zusammenbruch herbeiführt, auch nicht mit einem den neuensystematischen Kontext stracks negierenden eigenen wirtschaftspoliti-schen Standpunkt und einem der anderen strategischen Ordnung diame-tral zuwiderlaufenden alten gesellschaftspolitischen Status zu behaupten

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– beides ist ihr ja nach Maßgabe des totalen Erfolgs des Großunterneh-

mens und seiner demgemäß transzendentalen Verbindlichkeit gründ-lich und in der Tat unwiderruflich verlorengegangen. Was ihr statt des-sen nurmehr bleibt, ist der Versuch, in dem zu ihren Lasten erfolgrei-chen Großunternehmen selbst und auf dessen gedeihlichem Boden wennschon nicht wieder ökonomisch Wurzeln zu schlagen, so immerhin abersubsistenziell Fuß zu fassen, und wenn schon nicht erneut eine funktio-nale Stellung zu finden, so jedenfalls doch einen sozialen Standort zuerringen.

Der Hebel, mittels dessen sich die Plebs die Partizipation an den Früchten des

kolonialen Ausbeutungssystems der Nobilität sichern will, ist das Bürgerrecht – es allerdings nicht mehr in seiner habituell-formalen Gestalt, sondern in neuerexistenziell-materialer Bestimmtheit. Für die Forderungen der Plebs fehlt indesder Adressat, da die Nobilität sich aufgrund ihrer Interessenlage taub gegendie von der Plebs vollzogene Existenzialisierung des Bürgerrechts stellt unddie Plebs sich mit der Anerkennung des Bürgerrechts als unverändert gemein-samer Plattform der Möglichkeit begibt, eben diese, die gemeinsame Plattformobjektiv ad absurdum führende Interessenlage der Nobilität sozialkritisch zuthematisieren.

Die Frage ist nur, wie sie das anfangen soll. Wie und kraft welchenVermögens soll sie, die vom unaufhaltsamen Zug der imperialistischenWirtschaft der eigenen Führungsschicht überrollte und in Staub gewor-fene Plebs, es bewerkstelligen, auf diesen Zug aufzuspringen und anseiner Siegesfahrt teilzunehmen? Welche brauchbare Handhabe hat sie,die schiffbrüchige Besatzung des vom Staatsschiff überfahrenen und auf den Grund des Meeres geschickten bescheidenen Nachens der mittlerenund unteren Schichten, den Aggressor zum Einlenken, das Staatschiff zum Beidrehen zu veranlassen und zur Hilfeleistung, zur Rettungsaktionzu bewegen? Was für einen Anspruch auf Wiederherstellung oder Schad-

loshaltung kann sie mit Fug und Recht erheben? Welches Recht kannsie gegen die Gewalt der ökonomischen Verhältnisse geltend machen?Ökonomisch entwurzelt und sozial deklassiert, scheinen die Angehöri-gen dieser menschlichen Konkursmasse alle konkreten Ansprüche undRechte, die sich aus ökonomischer Fundierung und sozialer Einbindung

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ergeben, eingebüßt zu haben. Geblieben scheint ihnen nichts als ihre ab-

strakte, ökonomisch ebenso ungestützte wie sozial ungesicherte politischeExistenz als Bürger des Gemeinwesens.Gegen die konkrete Gewalt der ökonomischen Verhältnisse und sozia-

len Verwerfungen geltend machen können sie demnach nur das Recht,das ihnen diese ihre abstrakte politische Existenz, ihre Zugehörigkeitzur römischen Gemeinschaft, ihr Einschluss in den Gesellschaftsver-trag der Römischen Republik verleiht, kurz, geltend machen könnensie nichts als ihr römisches Bürgerrecht. Es markiert oder stipuliert dieeigentlich oder als schierer Formalismus politische Ebene, die Ebene jener per Abstraktion für sich genommenen Polis oder besser civitas,in der alle Beteiligten, die Angehörigen der zur Nobilität erweitertenpatrizischen Führungsschicht ebenso wie die der durch Deklassierungexpandierenden plebejischen Unterschicht, kraft Bürgerstatus als wennschon mitnichten im Effekt gleichrangige, so jedenfalls doch im Prinzipgleichberechtigte Mitglieder versammelt sind – gleichberechtigt in derBedeutung eben dieses gemeinsamen Bürgerrechts, das sich in tautologi-scher Engführung als wechselseitig garantiertes Recht auf Zugehörigkeitzur Gemeinschaft, sprich, als Recht darstellt, Bürger des Gemeinwesenszu sein und zu bleiben.

Dabei ist das selbstbezüglich Abstrakte, um nicht zu sagen Tautologi-sche, jenes Rechts nicht Konsequenz seiner Inhaltslosigkeit und Leere,

sondern Ausdruck der Tatsache, dass der Inhalt, auf den das Recht sich bezieht, bereits vorgegeben, die empirischen Umstände, die ökonomi-schen und sozialen Lebensverhältnisse, in denen der Bürger sich befindet, jeweils schon vorausgesetzt sind, und das Bürgerrecht sich in einer all-gemeinen Bestandsgarantie, nämlich in dem von allen Beteiligten allenBeteiligten garantierten Anspruch auf Aufrechterhaltung der gegebe-nen Inhalte und vorausgesetzten Verhältnisse erschöpft. Unbeschadetebenso sehr wie ungeachtet der Art und Weise, wie das Gemeinwesenhistorisch zustande gekommen ist, und der Mechanismen, durch diees systematisch zusammengehalten wird, eint seine Mitglieder die als

wie immer unausgesprochener Gesellschaftsvertrag begreifliche und quaausdrückliches Bürgerrecht kodifizierte Entschlossenheit, keine nichtder Logik der empirischen Verhältnisse des Gemeinwesens entspringen-den, nicht seinen Spiel- oder vielmehr Verkehrsregeln entsprechenden,sondern jener Logik fremden, mit jenen Regeln unvermittelten und per

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definitionem ihrer Unvermitteltheit gewaltsamen Veränderungen des

 biologisch, ökonomisch und sozial Gegebenen zu tolerieren und mitanderen Worten nicht zuzulassen, dass sie, die Mitglieder des Gemein-wesens, Übergriffen durch fremde Kollektive oder durch Individuen ausden eigenen Reihen ausgesetzt sind und sei’s Schädigungen an Leib undLeben, sei’s ökonomische Enteignungen, sei’s soziale Diskriminierungenerleiden. In der Tat richten sich von Haus aus das Bürgerrecht und dieBestandsgarantie, die es gewährt, das wechselseitige Schutzversprechen,das es bedeutet, ausschließlich gegen gewaltsame Eingriffe in die ge-gebenen Lebensverhältnisse und gegen systemfremde Manipulationendes als Voraussetzung Bestehenden und nicht etwa gegen die Änderungder Verhältnisse, die deren eigener Logik geschuldet sind, gegen Trans-formationen, die das System aus innerer Dynamik durchläuft. Sowenigdas Bürgerrecht die Inhalte und Verhältnisse konstituiert, auf die es sich bezieht, sowenig intendiert es eine inhaltliche Festschreibung des jeweilshistorisch gegebenen Status quo, eine Garantie der Unveränderlichkeitder jeweils empirisch bestehenden Situation.

Allerdings ist in jener Konstruktion eines bürgerrechtlichen Gesell-schaftsvertrages auch nicht vorgesehen, dass die innere Logik der alsschutzwürdig angesehenen gegebenen Lebensverhältnisse diese in einenVeränderungsprozess hineintreibt, an dessen Ende sie für einen Teil derVertragspartner jeder Verhältnismäßigkeit entkleidet und den Betreffen-

den regelrecht abhanden gekommen sind, dass mit anderen Worten dieeigene Dynamik der für garantiert erklärten vorausgesetzten Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung diese einem so nachdrücklichen Wandel un-terwirft, dass schließlich für ganze Gruppen der an ihr teilhabendenBürger die ökonomische und soziale Grundlage ihrer Teilhabe überhauptentfällt. Und genau das aber geschieht! Wie gesehen, führt die durchkoloniale Ausbeutung und Sklavenarbeit gleichermaßen determinierteund vorangetriebene Entwicklung der republikanischen Gesellschaftfür einen großen Teil der bäuerlichen und handwerklichen Mittel- undUnterschichten in der römischen Bürgerschaft zu einer ökonomischen

Entwurzelung und sozialen Deklassierung, die ihnen ihre subsistenzielleGrundlage und ihre gesellschaftliche Integration nicht weniger effektivverschlägt, als die gewaltsamste ökonomische Enteignung und sozialeDiskriminierung das zu tun vermöchten. Eben die Situation, gegen diedas Bürgerrecht schützen soll, jene als Resultat handgreiflicher Gewalt

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und direkten Zwangs vorgestellte, als Folge willkürlicher Eingriffe anti-

zipierte, einschneidende Veränderung der materialen Lebensverhältnisseund der Bedingungen sozialen Zusammenlebens, vor der es zugunsteneiner aus eigenem Antrieb kontinuierlichen Entwicklung der Verhältnisseund einer freien Entfaltung der das Zusammenleben regelnden Kräftedas Gemeinwesen bewahren soll – sie also wird unter dem Schutz desBürgerrechts durch die der inneren Logik der Verhältnisse folgende kon-tinuierliche Entwicklung selbst, durch das nur seinen eigenen Regelnverpflichtete assoziative Kräftespiel als solches hervorgetrieben: Am Endeder logischen Entwicklung der materialen Lebensverhältnisse zeigensich große Teile der Bevölkerung ebenso sehr von der Teilhabe an ihnenausgeschlossen, pauperisiert, sprich, ihrer ökonomischen Subsistenz be-raubt, wie sie sich in der Konsequenz des freien Spiels der assoziativenKräfte dissoziiert, dem Zusammenleben entrissen, sprich, um ihre sozialeIntegration gebracht finden.

Und indem das geschieht, ändert nun aber das Bürgerrecht nolensvolens seinen Impetus und Sinn: Es wird aus einer Gewährleistung desQuid est zur Inanspruchnahme eines Quod est, wird aus einem Rechtauf Bestehendes und Vorausgesetztes, zu einem Recht auf das Bestehenüberhaupt und die Voraussetzung als solche. In dem Maße, wie sich diegesellschaftliche Situation existenzialisiert und für einen Großteil derBürgerschaft das Bürgerrecht sich auf einen rein formalen Anspruch re-

duziert, dessen vorausgesetzter Gegenstand und Geltungsbereich, dessenals ökonomische Subsistenz und soziale Integration gegebener materialerBezug sich quasi verflüchtigt hat und entfallen ist, nimmt das Bürgerrechtselber existenzielle Bedeutung an und erweist sich im Blick auf das Ver-schwundene, wie einerseits als faktische Fehlanzeige und reliquarischerIndex, so andererseits aber auch als praktische Zivilklage und restau-rativer Kodex. Als das, was von ihren ruinierten Lebensverhältnissen,ihrer verlorenen ökonomischen Grundlage und sozialen Einbindung,noch als entleerte Vertragsbestimmung, als nunmehr gegenstandsloseKlausel übriggeblieben ist und zeugt, wird das Bürgerrecht zu einem

Strohhalm, nach dem sie greifen, um die alten Lebensverhältnisse qua-si zu beschwören, die mit ihm ursprünglich angezeigte ökonomischeSubsistenz und soziale Integration als das zu ostentieren, was sub spe-cie seiner nach wie vor am Platze ist. Das Bürgerrecht und der in ihmkodifizierte Gesellschaftsvertrag gewinnen in dem Maße, wie sie ihre

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affirmative Funktion verlieren, evokative Bedeutung: Nach der Devise,

dass, wo ein Recht ist, auch der Tatbestand sein muss, auf den sich dasRecht bezieht, weil sonst das Recht ja gegenstandslos wäre, setzen die ent-wurzelten und deklassierten Plebejer eben jenen vormals vorausgesetztenund aber mittlerweile durch die Dynamik der gesellschaftlichen Verhält-nisse zugrunde gerichteten Tatbestand, die ökonomische Subsistenz undsoziale Integration aller Bürger, als durch das Recht stipulierte Realität,als aus dem Gesellschaftsvertrag bei Strafe seiner offenbaren Nichtigkeitzu folgerndes existenzielles Erfordernis, als eine aus der bloßen Form her-auszuschlagende Materie, einen aus der abstrakten Klausel zu ziehendenkonkreten Schluss.

So also wird das abstrakte, um seinen Bezug und Gegenstand gebrachteBürgerrecht für die Plebs zum Unterpfand ihres Anspruchs auf Resti-tution eben jenes Bezuges und Gegenstandes, wird für sie zur Beru-fungsinstanz, um wegen der ökonomischen und sozialen Unbill, die ihrwiderfahren ist, Protest anzumelden und Regressforderungen zu erhe- ben, kurz, es wird für sie zum formalen und in aller Form zwingendenGrund für ihre materiale Neubegründung und kommunale Rehabilitationals Mitglieder der civitas. Wie und auf welchem Wege die Plebs dieseihre – das Bürgerrecht aus einem Garanten vorhandener Subsistenz undIntegration in einen Stipulanten fehlender Subsistenz und Integrationumfunktionierende – Restitutionsforderung und Schadensersatzklage

vorträgt und geltend macht, ist nicht schwer zu erraten. Sie tut es durcheben das Organ und Sprachrohr, das ihr auch bis dahin schon Stimmeverliehen und die Mitsprache gesichert hat, nämlich durch die Institu-tion des Tribunats. Letzteres politisiert oder vielmehr existenzialisiertsich dabei unter dem Eindruck der ihm zufallenden neuen Aufgabe undRepräsentanz auf die gleiche Weise wie das von ihm geltend gemach-te Bürgerrecht selbst. Besteht traditionell das Amt des Tribuns darin,den einfachen Bürger in specie oder als Individuum gegen Willkür undGewalt und gegen daraus resultierende leibliche Schädigungen, ökono-mische Enteignungen und soziale Diskriminierungen zu schützen und

ihn im Genuss der sanktionierten politisch-rechtlichen Prozeduren, dergewohnten ökonomisch-kommerziellen Aktivitäten und der bewährtenassoziativ-sozialen Verkehrsformen des Gemeinwesens zu erhalten, soerkennt der Tribun nun seine Zuständigkeit darin, den einfachen Bürgerin genere oder als Kollektiv vor den ökonomischen Enteignungen, den

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sozialen Diskriminierungen und, daraus resultierend, den Beeinträch-

tigungen von Leib und Leben zu retten, die ihm aus jenen sanktionier-ten Prozeduren, gewohnten Aktivitäten und bewährten Verkehrsformennicht weniger zuverlässig als aus der ungezügeltsten Willkürhandlungund Gewaltübung erwachsen; mit anderen Worten, er fühlt sich nunmehrherausgefordert, den als Kollektiv betroffenen Bürger, die Plebs, unterBerufung aufs Bürgerrecht gegenüber der zerstörerischen Dynamik ebender entwickelten Lebensverhältnisse und gesellschaftlichen Strukturensicherzustellen und schadlos zu halten, die in ihrer unentwickelten Formdas Bürgerrecht eigentlich nur zu garantieren und in Geltung zu erhaltendiente.

So unstrittig aber auch die auf subsistenzielle Fundierung und assozia-tive Integration lautende Forderung ist, die das existenziell gewendeteund aus einem bloß affirmativen Faktor in eine mehr noch evokativeInstanz umfunktionierte Bürgerrecht den ökonomisch Entwurzelten undsozial Deklassierten eingibt, und so klar des weiteren ist, welche politi-sche Institution berufen ist, diese Forderung vorzutragen, so unklar istallerdings der Adressat, dem sie gilt. Zwar de jure hält, diesen Adressatenzu benennen, nicht schwer: es ist der die gemeinschaftlichen Interessenvertretende, die öffentlichen Geschäfte besorgende, das Gemeinwesenverwaltende Staat. An wen sonst, wenn nicht an die mit der Aufrecht-erhaltung der Gemeinschaft als solcher, sprich, mit der Wahrung der

gesellschaftlichen Eintracht und des öffentlichen Friedens, sprich, mitder Wahrnehmung, Vermittlung und Bewältigung von Interessenkon-flikten und Störungen des Kräftegleichgewichts zwischen Gruppen undParteien von Amts wegen betraute Einrichtung Staat sollten sich wohldie Restitutions- beziehungsweise Kompensationsansprüche der durchden Gesellschaftsprozess in ihren ökonomischen Interessen existenziell beeinträchtigten und um alle soziale Balance gebrachten plebejischenGruppe richten? De facto allerdings und in seiner empirischen Verfas-sung, in seinem legislativen Gremium und exekutiven Apparat, bestehtder römische Staat aus Senat und von diesem gewählter und kontrol-

lierter Beamtenschaft, das heißt, er rekrutiert sich zur personalen Gän-ze aus jener Nobilität, jener patrizisch-ritterlichen Führungsschicht, diemaßgebliche Betreiberin und verantwortliche Trägerin der, wie in einer beispiellosen Bereicherung ihrer, der Führungsschicht, selbst, so aberauch in der Entwurzelung und Deklassierung breiter Volksschichten

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resultierenden politisch-ökonomischen Entwicklung der Republik ist. Mit

anderen Worten, der Staat ist Partei, befindet sich in den Händen oderhat vielmehr die Gestalt derer, die durch die Verfolgung ihrer privatenInteressen schuld sind an der Misere der Plebs und gegen die sich derenZivilklage objektiv richtet, und ist deshalb als Staat, als zwischen denKonflikten der gesellschaftlichen Gruppen zu vermitteln, zwischen ihrenInteressen einen Kompromiss zu erzielen fähige Instanz, als Wahrerindes in der Kompatibilität diskrepanter Interessen bestehenden Allge-meinen, als Hüterin eines Gemeinwesens, bei dem die Kongruenz derPerspektiven der einzelnen Gruppen ihre Divergenz überwiegt, nichtmehr verfügbar und tatsächlich gar nicht mehr existent.

Dabei ist, um Missverständnissen vorzubeugen, der Grund für das

Verschwinden der eigentlichen Staatsfunktion nicht schon das bloße Par-teisein der den Staatsapparat okkupierenden Nobilität, die einfache grup-penspezifische Interessiertheit der das Personal für die staatlichen Insti-tutionen stellenden patrizisch-ritterlichen Führungsschicht. InteressiertePartei ist die staatstragende Führungsschicht vielmehr seit jeher, seitden Anfängen ihrer zuerst auf flankierende militärische Maßnahmen fürdie Förderung des Handels beschränkten und später dann auf direktekolonialistische Eroberungen abgestellten Expansionsstrategie. Nur dassim Unterschied zur jetzt entstandenen Situation diese Parteilichkeit undInteressiertheit der Führungsschicht in den vorangegangenen Zeiten

eine Parteinahme für andere gesellschaftliche Gruppen, für die der Füh-rung der Nobilität anvertrauten mittleren und unteren Schichten, nichtausschließt, mit einer fürsorglichen Berücksichtung der Interessen derletzteren vereinbar bleibt, dass also etwa die Bereicherung durch denexpandierenden Handel für die aufgrund dieser Bereicherung Verarmen-den, die binnenwirtschaftlichen Opfer der Entwicklung, eine relativeKompensation durch Kriegsbeute oder die Chance zur munizipialen beziehungsweise kolonialen Neuansiedlung in annektierten Gebieten bereithält oder dass die kolonialistische Kontributions- und Konfiskati-onspraxis, sosehr die Führungsschicht sich mit ihr in die eigene Taschewirtschaftet, doch aber auch durch das staatliche Ausgaben- und pri-

vate Konsumniveau, das sie ermöglicht, den primär ausgeschlossenenund benachteiligten unteren Schichten sekundär Verdienstmöglichkeiteneröffnet und Zuwendungen beschert. Jetzt hingegen geht die Bereiche-rungsstrategie der Führungsschicht durch ihre Umstellung von einer di-rekten, Wertmittel abschöpfenden Beschaffungspraxis auf ein indirektes,

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Ressourcen ausbeutendes Aneignungsverfahren eindeutig zu Lasten der

mittleren und unteren Schichten, der bäuerlichen und handwerklichenGruppen, die sich durch die mittels kolonialistischer Zwangswirtschaftund heimischer Sklavenarbeit produzierten wohlfeilen Waren, die auf den römischen Markt strömen, auskonkurriert und ins Unglück gestürztfinden. Jeder Versuch der Oberschicht, ihr parteiliches, eigeninteressiertesHandeln, ihr auf ihren privaten Nutzen gerichtetes Vorgehen, mit derRücksicht auf die Interessen jener anderen Gruppen, auf deren Exis-tenzanspruch, zu vermitteln und also der staatlichen Funktion, die sieformaliter und in persona wahrnimmt, materialiter und in re gerecht zuwerden, würde bedeuten, dass sie ihrem Eigeninteresse zuwiderhandeln,ihrem aktuellen Besitzstand oder zumindest ihren prospektiven Bereiche-rungschancen Schaden zufügen müssten, widerstritte also diametral derLogik des Appropriationssystems, das sie mit passiver Duldung, wo nichtgar unter aktiver Mitwirkung der von ihr okkupierten, von ihresgleichenvertretenen Staatsfunktion aufgebaut hat, und unterbleibt deshalb.

Den Staat, den sie als öffentliches, gesamtgesellschaftliches Anliegenrepräsentiert, solange die Verfolgung ihrer privaten, gruppenspezifischenInteressen noch halbwegs mit der Wahrung der Interessen der ande-ren Gruppen vereinbar ist, reduziert sie in dem Maße, wie diese ihrePrivatinteressen in einen unvermittelbaren Gegensatz und tatsächlichin einen zum Ausschließungsverhältnis fortschreitenden Widerspruch

zu den Interessen der anderen treten, auf ein willfähriges Instrumentihrer qua appropriative Ökonomie privativen Politik, sprich, auf einenveritablen Selbstbedienungsladen. So gewiss demnach aber die Staats-funktion in ihrer traditionellen Form als Vermittlungsinstanz, die auf denAusgleich konfligierender, aber nicht unvereinbarer, sich beeinträchtigen-der, aber einander nicht ausschließender Interessen zielt, verschwundenist und von der neuen, einer systembedingt exklusiven Verfolgung ih-rer Interessen frönenden Nobilität, dem neuen, sich mit systematischerNotwendigkeit ebenso sehr zu Lasten der anderen Gruppen im eignenGemeinwesen wie auf Kosten fremder Gemeinschaften bereichernden

korporativen Verbund aus Patriziern und Rittern gar nicht mehr wahr-genommen wird, so gewiss stößt nun der Anspruch auf Lastenausgleich,die Forderung nach Wiedergutmachung oder Kompensation, die diezur Plebs nivellierten anderen Gruppen des Gemeinwesens an diesetraditionelle Staatsfunktion adressieren, auf taube Ohren, auf ein Nichts

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an Resonanz. Weil die Not und das Elend der Plebs Resultat der neuen,

in kolonialer Ausbeutung und Latifundienwirtschaft bestehenden Be-reicherungsstrategien der Nobilität ist und deshalb auch die dieser Notentsprungenen, diesem Elend geschuldeten Forderungen, die auf Basiseines existenzialisierten Bürgerrechts die Plebs erhebt, nur auf Kosten desdurch die neuen Strategien angehäuften Reichtums der Nobilität realisiertwerden könnten und zu Lasten seiner weiteren Akkumulation gingen,zielen alle plebejischen Forderungen zwangsläufig ins Leere der mit ande-ren Parteien unverträglichen, mit den Interessen anderer unvereinbarenParteilichkeit und Interessiertheit jener die Staatsfunktion nurmehr incorpore verwaltenden, nicht mehr in spiritu erfüllenden Nobilität und

werden von dieser kurzerhand ignoriert beziehungsweise kategorischabgewehrt.Dabei ist die Abwehr einfach genug und von einem veritablen Verdrän-

gungsakt kaum unterscheidbar: Die Nobilität braucht nichts weiter zutun, als dem der Not entsprungenen existenzialisiert-materialen Bürger-recht, das die Plebs geltend zu machen sucht und das die Garantie derungestörten Teilhabe an den gemeinschaftlichen Lebensverhältnissen ineine Bestandsgarantie für die Teilhabe als solche ummünzt, die Sicherungeines Modus der Partizipation in die Gewährleistung des Faktums derPartizipation umfunktioniert – die Nobilität braucht also nichts weiter

zu tun, als diesem existenziell-materialen Bürgerrecht die Anerkennungzu verweigern und das habituell-formale Bürgerrecht dagegenzusetzen,das der Gesellschaftsvertrag der Republik ursprünglich intendiert unddas in der Tat mit den gemeinschaftlichen Lebensverhältnissen als sol-chen, ihrer inhaltlichen Bestimmtheit, ihrer faktischen Zuständlichkeitund konkreten Beschaffenheit gar nicht befasst ist, weil es sie historischeinfach voraussetzt, als empirisch gegebene gelten lässt und nichts weiter bezweckt, als sie beziehungsweise die ihnen einwohnenden Bürger gegen jede gewaltsame Veränderung, willkürliche Einwirkung und persönlicheDiskriminierung, denen sie von außen oder von innen ausgesetzt sind, zu

schützen. Wie das habituell-formale Bürgerrecht zuvor die als Anscheinvon Recht und Ordnung perennierende Camouflage abgibt, unter derdie gemeinschaftlichen Lebensverhältnisse die geschilderte Dynamikentfalten, die für Teile der Bürgerschaft Konsequenzen zeitigt, wie sieverheerender keine gewaltsame Veränderung, willkürliche Einwirkung

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und persönliche Diskriminierung zustande brächte, so bietet es der No-

 bilität nun auch den Deckmantel, um jene verheerenden Konsequenzen,wenn schon nicht zuzudecken, was angesichts ihrer Evidenz ganz undgar unmöglich, so doch als den Gesellschaftsvertrag in keiner Weise ver-letzende, ihn überhaupt nicht tangierende Erscheinungen zu präsentierenund mithin darauf zu bestehen, dass aus Sicht der politisch-rechtlichenKonstitution des Gemeinwesens alles unverändert seine Ordnung hat,alles nach wie vor mit rechten Dingen zugeht.

Um der Nobilität den Deckmantel des habituell-formalen Bürgerrechtszu entreißen, um ihr vor Augen zu führen, dass das statt dessen geltendgemachte existenziell-materiale Bürgerrecht nicht zwar eine logisch not-wendige Folgerung, immerhin aber eine empirisch zwingende Auslegungdes ursprünglichen Gesellschaftsvertrages darstellt, müssten die Opferder politisch-ökonomischen Entwicklung der Republik, müssten jeneGruppen, die sich durch die Dynamik der gemeinschaftlichen Lebens-verhältnisse außer alles Verhältnis gesetzt und vom gemeinschaftlichenLebens ausgeschlossen finden, müsste also die Plebs sich dazu verstehen,grundlegende Kritik an eben diesen gemeinschaftlichen Lebensverhält-nissen und ihrer Dynamik zu üben, will heißen, offen zu legen, dasssie, die Lebensverhältnisse selbst, jenes habituell-formale Bürgerrecht,das sie zu schützen prätendiert und auf das sich die Nobilität unver-drossen beruft, längst ad absurdum geführt und wenn schon nicht für

die Gemeinschaft in toto, so doch für große Teile des Gemeinwesensaußer Kraft gesetzt haben, weil sie nämlich für die zur Plebs nivellier-ten letzteren genau das, wovor das habituell-formale Bürgerrecht sie zuschützen vorgibt, Enteignung und Diskriminierung, Raub und Vertrei- bung, aus ganz und gar eigener Dynamik, aus der unaufhaltsamen Logikihrer natürlichen Entwicklung Wirklichkeit haben werden lassen. Um derNobilität unleugbar deutlich zu machen, wie wenig das Insistieren auf dem ursprünglichen, in einer systematisch-formalen Gewährleistung vonhistorisch-real Gegebenem sich erschöpfenden Gesellschaftsvertrag derSituation mittlerweile gerecht wird, müsste die Plebs – das gleiche noch

einmal mit anderen Worten gesagt! – schonungslose Enthüllungsarbeitleisten und nämlich dartun, wie sehr dies der formalen Garantie unter-liegende historisch Gegebene sich durch seine eigener Logik folgende,nach eigenen Spielregeln verlaufende, kurz, autogene Entwicklung selberzugrundegerichtet und für sie, die das Gros der Bürgerschaft bildende

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Plebs, zu einem Nichtmehrgegebenen, einem Nichts an ökonomischer

Subsistenz und sozialer Integration, verflüchtigt hat und wie sehr es denseiner formalen Gewährleistung dienenden Gesellschaftsvertrag damithat gegenstandslos werden, zu einem nominellen Titel ohne realen Inhaltund Sinn verkommen lassen.

Genau hier indes liegt die Crux der Plebs. Wie kann sie der Nobi-lität etwas vor Augen führen, was sie selber ins Auge zu fassen sichscheut, wie kann sie ihr etwas klarmachen, worüber sie selber sich klarzu werden vermeidet? In der Tat ist dies ja der bereits genannte tiefeZwiespalt der Plebs, dass eben die Dynamik der gemeinschaftlichenLebensverhältnisse der Republik, die sie, die Plebs, aus aller Verhält-nismäßigkeit heraussprengt und zugrunde richtet, doch zugleich jeneneuen, der Nobilität zu privativem Reichtum und exklusivem Überflussgereichenden Lebensverhältnisse hervortreibt und ins Werk setzt, in diesie, die Plebs, nun all ihre Hoffnungen auf Remuneration und Redinte-gration setzt und die sie mittels existenzialisiertem Bürgerrecht um jedenPreis zu vergemeinschaften sucht, dass also eben die Entwicklung dergesellschaftlichen Empirie, durch die sie sich ökonomisch entwurzeltund sozial deklassiert findet, zugleich doch das Positivum einer quakoloniale Beute grenzenlosen materialen Fülle zeitigt, das, sofern ihrgelingt, es kraft eines inhaltlich gewendeten Gesellschaftsvertrages seinereigentumsrechtlichen Bornierung, seiner besitzständlichen Beschränkung

auf die Oberschicht zu entreißen, zu einer ganz neuen, die Bürgerschaft intoto umfassenden pleromatischen Ökonomie und partizipativen Gemein-schaftlichkeit den Grund zu legen und den Kontext zu stiften taugt. In derTat ist dies die ihrem kritischen Impetus, ihrer Protestbereitschaft zumveritablen Handikap, zu einem unüberwindlichen Hemmnis gereichendeabgründige Ambivalenz der Plebs, dass sie, wodurch sie sich gründlichnegiert und um allen subsistenziellen Standort und sozialen Entfaltungs-raum gebracht findet: die von der Nobilität ausgelöste Dynamik undkrisenhafte Entwicklung der republikanischen Ökonomie, doch zugleichnach der Seite ihrer der Negativität korrespondierenden Positivität, ihres

wie einerseits Subsistenz verschlagenden, so andererseits Reichtum set-zenden Resultats, gelten lässt, um nicht zu sagen, gutheißt und als einesie faszinierende Perspektive um keinen Preis, auch nicht um den ihrerrestlosen Wiederherstellung in statu quo ante der früheren subsistenzi-ellen Selbständigkeit und sozialen Geborgenheit, missen möchte. Nichts

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sonst als diese, aller ihr durch die politisch-ökonomische Entwicklung

der Republik bewiesenen Negativität zum Trotz, unter dem Eindruck desÜberflusses, der zugleich Wirklichkeit wird, der Entwicklung entgegen-gebrachte, unvermittelt neue Positivität liegt ja dem Insistieren der Plebsauf ihrem durch den alten Gesellschaftsvertrag verbürgten Bürgerrechtzugrunde. Nur weil sie, statt ihre Entwurzelung und Deklassierung, ihrenBesitz- und Statusverlust, als factum brutum ins Auge zu fassen, den Blicksogleich auf das fait accompli des in Wechselwirkung mit ihrer Enteig-nung und Diskriminierung ins Werk gesetzten Wohlstands und Prestigesder Nobilität richtet und darein ihre Hoffnung auf eine neue ökonomischeGrundlage und eine neue soziale Einbindung setzt, kann sie, statt das

Bürgerrecht und den Gesellschaftsvertrag, auf dem es fußt, als außer Kraftgesetzt und durch die Entwicklung seines eigenen historischen Inhaltsund empirischen Gegenstandes ausgehöhlt und aufgelöst zu erkennen,dies vertragliche Recht vielmehr als einen ebenso unverbrüchlichen wieunversehrten Anspruch, der nur einfach den empirischen Gegenstandund historischen Inhalt gewechselt und die alte bäuerlich-handwerklicheSubsistenz gegen die neue kolonialistisch-sklavenwirtschaftliche Berei-cherung ausgetauscht hat, aufrechterhalten.

Zwar bedeutet für sie, die Plebs, diese Aufrechterhaltung des bürger-rechtlichen Anspruchs, weil ja der Gegenstand, auf den er sich bezieht,

nicht zu ihrer Verfügung, sondern Eigentum der Nobilität ist, die Lebens-verhältnisse, die er intendiert, nicht ihre, sondern ausschließlich die derNobilität und ihrer Gefolgschaft sind, dass er sich im oben beschriebenenSinne existenzialisiert und aus einem Anspruch auf Sicherung des Waszu einer Forderung nach Gewährleistung des Dass, aus bloßer Sorge umVorhandenes zur Versorgung mit Nichtvorhandenem, aus einer Sank-tionierung von Realität zu deren Stiftung wird. Aber diese existenziell-materiale Wendung, die der bürgerrechtliche Anspruch damit erhält,existiert eben nur für sie, die Plebs, und da es das unverändert habituell-formale Bürgerrecht ist, das sie solchermaßen wendet, da sie, um ihm die

existenzielle Wendung geben zu können, das habituelle Bürgerrecht un-mittelbar als solches für kontinuierlich gegeben, unverbrüchlich existenterklären, also auch seinen Inhalt und Gegenstand, die gemeinschaftlichenLebensverhältnisse der Republik, von jedem Vorwurf, es gebrochen undaußer Kraft gesetzt zu haben, exkulpieren, über allen Verdacht, es durch

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ihre Dynamik und Entwicklung verwirkt und vernichtet zu haben, erha-

 ben gewahren muss – da, kurz, jeder Versuch der Plebs, sich mit Hilfe desexistenzialisierten Bürgerrechts zu sanieren, zwingend voraussetzt, dasssie es für überhaupt noch gegeben und in Geltung befindet, es als solchesund traditionelles quasi gesundbetet, kann die Nobilität nichts zwingen, jene existenzielle Wendung mitzumachen, und nichts hindern, auf dem bloß habituell-formalen Bürgerrecht und den von ihm sanktioniertenneuen Lebensverhältnissen, denen es doch eigentlich längst zum Opfergefallen ist und deren Faszinosum die Plebs aber dazu bringt, es alsexistenzielles Sesam-öffne-dich zu beschwören, mit allem Aplomb, überden sie verfügt, zu beharren.

Und sie hat schließlich jeden nur denkbaren Grund, auf dem Bürger-recht als einem bloß habituell-formalen zu beharren, da ja die Anerken-nung und Durchsetzung des von der Plebs beanspruchten existenziell-materialen Bürgerrechts nicht nur ökonomisch zu ihren Lasten ginge undnämlich von ihr finanziert werden müsste, sondern mehr noch politisch bedeutete, dass sie jene oben als Übung in Mittlertum und Gemeinsinn beschriebene Staatsfunktion wieder wahrnehmen müsste, die sie in Ver-folgung ihrer privaten Interessen und parteiischen Absichten als mitdiesen Interessen unvereinbare und diesen Absichten stracks zuwider-laufende Rücksicht längst ad acta gelegt hat und deren Reaktivierung sie,die staatstragende Oberschicht zwänge, in eigener Person und aus den

quasi freien Stücken ihrer staatsfunktionellen Verantwortung die Schä-digung ihrer privaten Interessen und Durchkreuzung ihrer parteiischenAbsichten zu exekutieren.

So gesehen zielt also die Plebs mit ihrem auf Interessen- und Lasten-ausgleich pochenden existenzialisiert bürgerrechtlichen Anspruch insLeere einer Staatsfunktion, die nicht nur überhaupt verschwunden istund sich zu eben jenem Vakuum, in das der bürgerrechtliche Anspruchzielt, verflüchtigt hat, sondern die mehr noch unter den Bedingungengleichermaßen der tradierten staatlichen Ordnung und des herrschendenMachtgefüges die Plebs ausgerechnet bei denen suchen muss, die sie

doch gerade zum Verschwinden gebracht haben und mit deren privatenökonomischen Interessen und parteipolitischen Absichten ihre Restaura-tion und Wiederausübung sich partout nicht verträgt. Und so gesehen,scheint also die Plebs, noch ehe sie recht dazu gekommen ist, ihre Stimmezu erheben und ihren durch ökonomische Pauperisierung und soziale

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Deklassierung provozierten Anspruch auf eine existenziell-materiale

Einlösung des qua Bürgerrecht bestehenden habituell-formalen Gesell-schaftsvertrages zur Sprache zu bringen, mit ihrem sprichwörtlichenLatein auch schon am Ende und zum Schicksal dessen verurteilt, dernicht etwa auf Widerspruch stößt oder dem man das Wort verbietet,sondern dem überhaupt der Ansprechpartner fehlt und der deshalb garnicht erst Gehör findet.

Die Möglichkeit, ihr neues existenzialisiert-materiales Bürgerrecht dennochdurchzusetzen, bietet sich der Plebs dank der Tatsache, dass ihre Vertretung, dasTribunat, konstitutioneller Bestandteil der Staatsmacht ist, an die sich ihr Refor-

mappell richtet. Der mittels Volksbeschluss vollzogenen Erhebung der Volksver-tretung zur als Wohlfahrtsausschuss fungierenden alternativen Exekutive hat dieNobilität unmittelbar nichts entgegenzusetzen. Der entscheidende Widerstand

 gegen die plebejisch-tribunizische Politik der Gracchen kommt vielmehr von derPlebs selbst, die diese Politik als komplette Fehlorientierung empfindet, weil siean den Früchten des Ausbeutungssystems der Nobilität partizipieren, nicht ausihm heraus und hinter es zurück geführt werden will.

Dass, solchem Anschein entgegen, die bürgerrechtliche Motion derPlebs nun aber dennoch nicht einfach verpufft und der Ruf nach derStaatsfunktion dennoch, wie die mit dem Namen der Gracchen verknüpf-te Sozialbewegung beweist, auf Resonanz stößt und politische Wirkungzeitigt, hat seinen Grund in dem staatsfunktionellen Moment, das demStimmorgan der Plebs selbst, dem als ihr Sprachrohr und Sachwalter fun-gierenden Volkstribunat, eignet, ist mit anderen Worten in der Tatsache begründet, dass sich traditionell die allgemeine Staatsmacht, an die diePlebs appelliert, keineswegs so ausschließlich, wie bei der Darstellung desplebejischen Dilemmas um des dramatischen Effekts willen suggeriert,in den Händen derer befindet, die sie im Interesse einer Stärkung ihrerpersönlichen Stellung und privativen Macht vielmehr außer Kraft gesetztund als allgemeine ad acta gelegt haben. Zwar nach der exekutiven, das

politische Tun und militärische Treiben der Republik betreffenden Seiteist die das Personal für den Staatsapparat stellende Nobilität in der Tat dieQuelle aller staatlichen Macht und insofern auch der gesellschaftliche Ort,an dessen eigeninteressierter Resonanzlosigkeit die existenzialisiert bür-gerrechtliche Protestation der Plebs, ihre Forderung nach ökonomischer

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Rekompensation und sozialer Redintegration, zwangsläufig zuschan-

den werden und sich zur Fehlanzeige verlieren muss. Nach der diesempolitischen Tun und militärischen Treiben den Rahmen setzenden undde facto des damit abgesteckten Spielraumes die Richtung weisendenlegislativen Seite indes stellt sich die Verteilung der politischen Machtund die Zuordnung der staatlichen Funktionen weit weniger eindeutigdar. Schließlich verfügt die Plebs über ein ihr eigenes Verfassungsorgan,die Tributkomitie, deren Beschlüssen allgemeinverbindliche Gesetzes-kraft zukommt, und über ein in diesem Verfassungsorgan gründendeseigentümliches Exekutivinstrument, das mit Vetorecht gegenüber denEntscheidungen des Senats und den beamtenschaftlichen Maßnahmenausgestattete Volkstribunat, und insofern hat sie durchaus originärenAnteil an der Staatsfunktion und wirkt kraft dieser ihrer konstitutionel-len Existenz als Tribunatsversammlung und dieser ihrer institutionellenRepräsentanz im Tribunenamt mit an den allgemeinen Geschäften derRepublik, der Haupt- und Staatsaktion des Gemeinwesens.

Traditionell, das heißt, in den Hochzeiten der Republik vom Zeitpunktder Gleichstellung der Plebiszite mit den senatorischen Gesetzen bis hinzum Ende des Zweiten Punischen Krieges, gestaltet sie ihre Mitwirkungan der Staatsfunktion im oben beschriebenen Sinne einer konstruktivenOpposition: Sie lässt die Nobilität und die von dieser gestellten senatori-schen und konsularischen Staatsorgane die Grundrichtung und jeweili-

gen Zielsetzungen der römischen Politik bestimmen und beschränkt denAnteil an der Staatsfunktion, den ihre plebiszitär-tribunizische Präsenzihr garantiert, auf die Rolle eines Korrektivs und Kontrollorgans, gibt sichmit anderen Worten damit zufrieden, durch plebiszitäre Motionen undtribunizische Interventionen dafür zu sorgen, dass die von ihr vollinhalt-lich mitgetragene Expansionsstrategie und in zunehmendem Maße nichtmehr nur föderale, sondern mehr noch koloniale Eroberungspolitik derNobilität auch den Interessen der mittleren und unteren Schichten gerechtwird oder, besser gesagt, die Nachteile und Bedrängnisse hinlänglichkompensiert, die sie für letztere mit sich bringt. Mittlerweile aber ist der

Nobilität die Wahrung des Interesses der mittleren und unteren Schichtenim Verein mit der Verfolgung ihrer eigenen Interessen, kurz, die Wahr-nehmung der traditionell von ihr ausgeübten Staatsfunktion, unmöglichgeworden – einfach deshalb, weil der privativ-parteiische Interessen-komplex, der aus kolonialer Ausbeutung und Sklavenarbeit bestehende

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Bereicherungsmechanismus, dem sie sich nun verschrieben hat, nurmehr

mit der ökonomischen Schädigung und sozialen Diskriminierung dermittleren und unteren Schichten, ihrer Deklassierung und Nivellierungzur Plebs vereinbar ist.

Gibt demnach aber, der Schwerkraft der von ihr federführend betrie- benen politisch-ökonomischen Entwicklung folgend, die Nobilität ihrentraditionell ebenso maßgebenden wie initiativen staatsfunktionellen Partpreis und legt ihn ad acta, so ist doch aber deshalb keineswegs auchschon der Anteil, den ihre plebiszitäre Kompetenz und ihre tribunizischeAmtsgewalt den zur Plebs nivellierten mittleren und unteren Schichtenan der Staatsfunktion verleihen, verloren und obsolet geworden. Zwar imgewohnten Sinne eines Korrektivs und Kontrollorgans hat sich dieser Teilder Staatsfunktion mangels der von der Nobilität fallengelassenen staats-funktionellen Hauptsache, des von der Nobilität nicht mehr als staatlicheMacht wahrgenommenen allgemeinen Willens, augenscheinlich erledigt.Aber warum soll die Plebs, was sie nicht mehr in korrektiver oder kontrol-lierender Bedeutung geltend machen kann, nicht kurzerhand als Direktivund aktives Steuerungsinstrument zum Einsatz bringen? Warum soll sienicht jene das Gemeinwohl verkörpernde staatliche Machtposition, an diezu appellieren sinnlos ist, weil die Nobilität sie partout nicht mehr besetztund aufrechterhält, einfach in eigener Regie inszenieren und nämlichkraft der Positivität, die ihre plebiszitär-legislative Kompetenz und die

sie begleitende tribunizisch-exekutive Potenz ihr verleihen, im Sinne desWortes etablieren?

In der Tat ist dies die als realitätsmächtig-spekulative Methode er-scheinende via regia, auf der die Plebs ihren existenzialisiert bürgerrecht-lichen Anspruch auf ökonomische Versorgung und soziale Eingliede-rung vorträgt und wider alle Wahrscheinlichkeit, will heißen, der schein- bar hoffnungslos eindeutigen Machtverteilung zum Trotz, auch durch-setzt: Sie usurpiert die Staatsfunktion, aber sie usurpiert sie mit dem Fugund Recht ihrer konstitutionellen Teilhabe am Staat, ihrer plebiszitär-tribunizischen Kompetenz. Das Ohr, das die Nobilität vor ihr verschließt,

ihr nicht schenkt, schafft die Plebs aus eigener staatsfunktioneller Macht-vollkommenheit neu, gibt sie sich kraft Volksversammlungsbeschlussund Tribunenamt selbst. Den Gemeinwillen, den die Nobilität privatin-teressehalber nicht mehr aufbringt, ein für allemal verloren hat, bringtdie Plebs als ihre legale Schöpfung hervor, lässt sie als ihre prozedurale

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Emanation Gestalt gewinnen. Anstelle des alten, dem Gemeinwesen

verpflichteten, mit der Wahrung und dem Ausgleich der Interessen allerGruppen befassten Staates, den die Nobilität von der Bildfläche ihresum die kolonialistische Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und na-türlicher Ressourcen kreisenden Interessenkomplexes hat verschwindenlassen und von dem sie nichts zurückbehält als ein zu ihrem Handlanger,ihrer Lobby degradiertes Amtspersonal, einen ihrem Ausbeutungsinter-esse sei’s passiv stattgebenden, sei’s aktiv Vorschub leistenden bürokrati-schen Apparat – anstelle dieses nurmehr als staatliches Institut frisiertenSelbstbedienungsladens kreiert die Plebs einen ihren ökonomischen undsozialen Interessen Rechnung tragenden, ihrem existenziell-materialenBürgerrechtsanspruch Genüge leistenden neuen Staat und stellt ihn demalten, zum Selbstbedienungsladen verkommenen Staatsapparat der Nobi-lität als herausfordernde Alternative entgegen oder pflanzt ihn vielmehrmitten im institutionellen Gefüge des alten Apparats als unanfechtbarsouveränes Fanal des Volkswillens, als der Konstitution der Republikselbst entsprungene souveräne Instanz auf.

Kraft Volksversammlungsbeschluss lässt der qua Plebs massierte Willedes Volkes sein Exekutivorgan, das Tribunat, einen Ausschuss einrichten,den es als Staatsfunktion rein plebejischer Provenienz und ganz und gareigenen Rechts, als neue, gemeinschaftliche Exekutive, mit der Wahr-nehmung jener staatlichen Geschäfte und Pflichten betraut, zu denen

sich Senat und Beamtenschaft aus schierem Eigennutz und entmischtemParteiinteresse nicht verstehen wollen und können. Oder eigentlich eta- bliert, wie die Personalunion zeigt, in der Tribunenamt und Ausschussfaktisch erscheinen, das Tribunat einfach nur sich selbst als Ausschuss,schafft als Faktotum des Volkswillens, als die einzige Exekutive, überdie das Volk verfügt, eine simple Kopie seiner selbst und lässt sie mittelsVolksbeschluss jene Vollmacht, jene vollständig staatsfunktionelle Staturgewinnen, die ihm, dem Tribunat, traditionell abgeht. In der wahrhaftspekulativen Manier einer Potenz, die sich mangels Akt als dieser setzt,sich als solche aktualisiert, sprich, einer Intention, die, durch die Not des

ihr fehlenden Vollzugsorgans gedrungen, zum Selbstvollzug schreitet,sich selber in die Tat umzusetzen beschließt, mithin in einem institu-tionellen Zeugungsakt, der das genaue praktisch-politische Pendant zuder theoretisch-ideologischen Neufassung des Bürgerrechts bildet, voll-zieht das Tribunat quasi eine Zellteilung und stellt sich, der korrektiven

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Instanz, sich als initiative Macht zur Seite, komplettiert sich als konstitu-

tionelle Bedingung der Republik, als zureichende Funktion des Staates,durch sich als die institutionelle Sache selbst, die wirkende Staatsfunktionin Person.

Und diesem spekulativen Tun und kreativen Treiben des durch Plebis-zit ermächtigten Tribunats, diesem durch die fassungslose Wirklichkeitder Republik, ihren institutionellen Verfall nicht bloß evozierten, son-dern mehr noch durch ihre Verfassungswirklichkeit, ihr konstitutionellesGefüge legitimierten Taschenspielertrick einer Eigenermächtigung desTribunenamts zur Staatsfunktion, einer doppelgängerischen Selbstkom-missionierung, die in einer Reden und Handeln, Appell und Replik zur

Deckung bringenden Replikation das Sprachrohr des Volkswillens ebensosehr als dessen Vollzugsorgan etabliert – ihm hat die Nobilität und dievon dieser besetzten Staatsorgane unmittelbar nichts entgegenzusetzen,ihm wohnen sie erst einmal ebenso gelähmt wie entgeistert bei. Weil dasVolkstribunat den neuen, für die bürgerrechtlichen Ansprüche der Plebsaufgeschlossenen Staat, den es anstelle des alten, von Senat und Beamten-schaft aus dem Raum bürokratisch-militärischen Handelns eskamotiertenStaates beschwört und in doppelgängerischer Personalunion mit sichselbst etabliert – weil das Tribunenamt diesen neuen Staat aus dem Hutder traditionellen republikanischen Ordnung zaubert, ihn auf dem Grund

und Boden der institutionellen Gegebenheiten der Republik inszeniert,weil mit anderen Worten die als veritabler Staatsstreich erkennbare Neu- begründung der Staatsfunktion doch zugleich als ein streng im kon-stitutionellen Rahmen der Republik sich haltender legitimer Staatsakterscheint und weil also eben der formale Gesellschaftsvertrag, auf densich die Nobilität versteift, um die ökonomisch-materialen Forderungender Plebs ignorieren oder abweisen zu können, in der unanfechtbarenKonsequenz seiner verfassungsmäßigen Ausführung und staatsfunk-tionellen Umsetzung am Ende der Plebs in Gestalt des plebiszitär zumallgemeinen Ausschuss verdoppelten Tribunats das politisch-reale In-

strument an die Hand gibt, ihre Forderungen leisten zu Gehör und zurGeltung zu bringen – weil dies so ist, leisten die von der Nobilität be-herrschten Staatsorgane, Senat und Beamtenschaft, keinen Widerstandund schauen ohnmächtig zu, wie dieser uno actu des Appell an ihnevozierte, ex nihilo der Fehlanzeige des seiner dringend bedürftigen

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Volkswillens kreierte Staat seines Amtes waltet und die ökonomische

Remuneration und soziale Redintegration der Plebs in Angriff nimmt.So völlig düpiert und vor den Kopf geschlagen ist in der Tat die No- bilität durch diese verfassungsmäßige Usurpation der Staatsfunktion,diesen als regulärer Staatsakt inszenierten Staatsstreich, dass der Wi-derstand, der sich schließlich gegen die neu etablierte Staatsfunktionregt, die Gegenmacht, die sich gegen sie formiert, nicht etwa von ihr,der Nobilität, ihren Ausgang nimmt, sondern aus den Reihen der dieneue Staatsfunktion tragenden Plebs selbst stammt. Motiviert ist derWiderstand durch die Fehlorientierung, die aus Sicht der überwiegendenMajorität der Plebs der neue Staat mit seinem vermeintlich im plebeji-schen Interesse aufgelegten Sanierungsprogramm beweist. Und schuldwiederum an der Fehlorientierung ist der streng konstitutionelle Rahmen,in dem sich der tribunizische Staatsstreich vollzieht, und die dadurch inden Vollziehern, namentlich im ersten von ihnen, im ältern Gracchus,erzeugte Suggestion, es handele sich bei der plebiszitär durchgesetztenNeubegründung der Staatsmacht als einer Gruppeninteressen ausglei-chenden und Parteikonflikte vermittelnden Instanz um einen simplenRestaurationsakt, um nichts weiter als um die Wiederherstellung undWiederaufnahme der alten, von der Nobilität außer Kraft gesetzten undad acta gelegten Staatsfunktion. Weil es bloß die frühere Staatsfunktionist, die das Volkstribunat aus dem Hut der plebiszitär interpretierten

republikanischen Verfassung zu zaubern meint, sind es auch die früherenInteressenausgleichsstrategien und Konfliktbewältigungsrezepte, die esder als Replikation seiner selbst, als Ausschuss, Reetablierten, in dieWiege legt. Indem er den Exekutivausschuss als Landverteilungskom-mission installiert, macht Tiberius Gracchus deutlich, dass er nahtlosan die einst als Hauptreparaturinstrument für die Schäden, die das rö-mische Expansionsunternehmen beim eigenen Bauernstand anrichtet,eingeführte koloniale Neuansiedlungspolitik anzuknüpfen oder, bessergesagt, umstandslos zu dieser vormals bewährten Kompensationsstrate-gie zurückzukehren gedenkt. Und indem er die Arbeit der Kommission

strikt auf die Beschlagnahmung und Verteilung des von der Nobilität mitzweifelhaftem Rechtstitel privatisierten oder unrechtmäßig okkupiertenDomaniallands beschränkt, gibt er zugleich zu erkennen, dass er das alteReparaturinstrument auch in der alten Weise zu handhaben vorhat undnämlich die Befriedigung des Kompensationsanspruchs der Unterschicht

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mit einer Wahrung des rechtmäßigen Besitzstandes der Oberschicht Hand

in Hand gehen lassen möchte, die Pauperisierten und Deklassierten zuentschädigen gedenkt, ohne die Reichen und Mächtigen einer ernsthaftenEnteignungsdrohung auszusetzen, ohne ihnen mit anderen Worten mehrwegzunehmen, als was diese in der jüngsten, entfesselten Phase ihresfortlaufenden Bereicherungsprozesses dem Staat geraubt oder vielmehrmit Hilfe des zum Selbstbedienungsladen degradierten Staats dem Ge-meinwesen entwendet und mittels Sklavenarbeit in ein probates Mittelverkehrt haben, die heimischen Bauern und Handwerker massenhaftauszukonkurrieren und vom Markt zu verdrängen, sprich, von ihrergewohnten Subsistenz und Lebensart abzuschneiden.

Weit davon entfernt mithin, dass es sich bei den ersten tribunizisch be-stellten Sachwaltern der auf plebiszitärem Weg etablierten Staatsfunktion,für die Tiberius Gracchus steht, um politische Romantiker und moralischeAbenteurer handelte, die eine als archaisch ursprüngliches Regimentdargebotene utopisch neue Ordnung errichten wollen, sind sie vielmehrnichts weiter als konservative Restaurateure und bornierte Traditionalis-ten, die gegen die jüngste, haltlos dynamisierte, auf quasikapitalistischekoloniale Ausbeutung und agrikulturelle beziehungsweise manufaktu-relle Sklavenarbeit gegründete Phase der imperialistischen Entwicklungder Republik und gegen die ökonomischen Aufspaltungen und sozialenVerwerfungen, die sie mit sich bringt – die also gegen diese, als böse Aus-

wüchse betrachteten neuesten Errungenschaften des ansonsten von ihnendurchaus akzeptierten und affirmierten römischen Imperialismus auf frühere Entwicklungsstadien und deren bewährte Konfliktbewältigungs-strategien und Interessenausgleichsmechanismen pochen, um mit ihrerHilfe die primären Leidtragenden der jüngsten Entwicklung, die Bauern-schaft, dem Schicksal der Pauperisierung und Deklassierung entreißenund mit neuem Lebensraum versehen, quasi unter Artenschutz stellen zukönnen, ohne deshalb doch die Machtstrukturen und Eigentumsverhält-nisse der römischen Gesellschaft radikal angreifen, die politische Positionund ökonomische Perspektive der römischen Nobilität grundlegend un-

tergraben zu müssen.Eben hierin aber, in diesem konservativ gemäßigten Restaurationsver-such, den die ersten Repräsentanten des als Landverteilungskommissiondefinierten plebiszitären Wohlfahrtsausschusses unternehmen, liegt ihroriginales Missverständnis, besteht ihre prinzipielle Fehlorientierung.

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Und zwar machen sie sich der Fehlorientierung nicht etwa im bereits

abgewiesenen Sinne fehlenden Realismus und romantischer Phantastereischuldig – warum sollte das von ihnen aufgelegte Artenschutzprogrammnicht durchführbar sein? Gründlich in die Irre gehen sie vielmehr mitRücksicht auf die eigentlichen Intentionen und wirklichen Erwartungendes Volkswillens, den sie vertreten und der ihnen, seinen tribunizischenVerkündern, zu staatsfunktioneller Handlungsvollmacht verhilft, damitsie ihn re publico zur Geltung bringen. Fehlgeleitet durch die konstitu-tionelle Vereinbarkeit, die Verfassungsmäßigkeit des in Personalunionmit dem Tribunat erscheinenden Ausschusses, den sie plebiszitär alsStaatsmacht etablieren, versäumen sie, seinem institutionell revolutio-nären Charakter, der präzedenzlosen Verhältnislosigkeit, in der er sich

zu den übrigen Staatsorganen, zu Senat und Beamtenschaft, behaup-tet, gebührend Rechnung zu tragen und diese Verhältnislosigkeit alsAusdruck eines vom Volkswillen, der den Ausschuss trägt, geforder-ten radikalen Neuanfangs wahrzunehmen. Sie versäumen mit anderenWorten, die oben bereits vermerkte Tatsache, das für die ganze weitererömische Geschichte grundlegende fait accompli, zu verstehen, dassdie Plebs das auf kolonialer Ausbeutung und Sklavenarbeit basierendepolitisch-ökonomische System, das sie geschaffen und nämlich die in ihrnivellierten Gruppen um die ökonomische Subsistenz und die sozialeBindung gebracht hat, nicht weniger beschwört als anprangert, ebenso

sehr affirmiert wie kritisiert, dass sie dieses System, eh dass sie es alsrealen Grund ihrer Leidensgeschichte ernstlich zur Kenntnis hat nehmenkönnen, bereits als transzendentalen Rahmen ihrer künftigen Sanierungins Auge fasst, dass mit anderen Worten der negative Aspekt des Sys-tems, der sie betrifft und auf den sie mit der Existenzialisierung desBürgerrechts und einer plebiszitären Reetablierung der Staatsfunktionreagiert, sich in actu dieser ihrer Reaktion je schon durch den positivenAspekt des Systems, von dem die Nobilität profitiert, dem Faszinosumder unermesslichen Beute, die das System letzterer beschert und an dersie, die Plebs, kraft existenzialisierten Bürgerrechts teilzuhaben erwartet,verdrängt und abgelöst zeigt.

Weil aus der Tiefe ihrer ökonomischen Not und ihres sozialen Elendsheraus die Plebs diesen radikalen Perspektivenwechsel vornimmt, dieNegativität des imperialistisch-sklavenwirtschaftlichen Systems, das ih-re Mitglieder zugrunde gerichtet und damit sie, die Plebs, in ihr arm-seliges Leben gerufen hat, gar nicht erst auf das zerstörte eigene Sein

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und Haben der Vergangenheit anklagend zurückzubeziehen, sondern

gleich einverständig als den Ausgangspunkt des statt dessen geschaffe-nen Reichtums und Überflusses der Nobilität, sprich, als die Grundlageeiner neuen beispiellosen Positivität, vorzustellen, nimmt in der Tat diekraft existenzialisiertem Bürgerrecht erhobene Forderung nach Befreiungvon der Not und Erlösung vom Elend zwangsläufig die Gestalt eines excathedra des Reichtums der Nobilität qua Umverteilung zu machendenradikalen subsistenziellen Neuanfangs und integrativen Beginnens, einersub conditione der neuen Systembedingungen existenziell alternativenSanierung an. Von einer gegen die Totalität und transzendentale Ver- bindlichkeit des neuen politisch-ökonomischen Systems durchgesetztenWiederherstellung alten Seins und früheren Habens, wie sie in konserva-tiver Verkennung des tiefen Bruchs im historischen Kontinuum, den dieimperialistisch-sklavenwirtschaftliche Umrüstung der Republik bedeutet,Tiberius Gracchus und seine Mitstreiter ins Auge fassen, will deshalbdie Plebs im Grunde ihres noch unartikulierten Volkswillens partoutnichts mehr wissen. Die von der Landverteilungskommission betriebeneWiederansiedlung der Entwurzelten auf eigener Scholle und Wieder-eingliederung der Deklassierten in kommunales Leben läuft, um dasobige Havariebild noch einmal aufzugreifen, auf das Bemühen hinaus,die vom Staatsschiff über den Haufen gefahrenen Schiffbrüchigen ineinen neuen Nachen zu setzen oder sie gar an Land zu schaffen und

der Schifffahrt den Rücken kehren zu lassen, während sie doch nichtssehnlicher erstreben, als an Bord des Staatsschiffes genommen zu werdenund an dessen imperialer Sieges- und luxuriöser Kreuzfahrt teilzuneh-men. Auch wenn die Plebs das selber noch gar nicht recht weiß, weilweder ihr tribunizisches Sprachrohr ihrem Willen bereits zur Artikulationverholfen, noch gar ihr kommissarisches Exekutivorgan diesem Willenobjektive Geltung verschafft hat: sub conditione des auf der Basis vonkolonialer Ausbeutung und Sklavenarbeit geschaffenen neuen Reichtumsund Überflusses will sie, die als Opfer dieses neuen Systems der Reich-tumsproduktion firmierende Plebs, nicht aus dem System heraus oder

hinter es zurück, sondern in es hinein und sich ihm anschließen, will sie,kurz, nicht Ackerland und kommunale Gemeinschaft, sondern kolonialesBrot und zirzensische Spiele.

Was Wunder, dass sie ihren ersten Repräsentanten und Vorkämpfern,Tiberius Gracchus und seinen Mitstreitern, die, von der konstitutionellen

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Form ihres Staatsstreiches, der konservativen Begründung ihrer revolu-

tionären Motion selber hinters Licht geführt, sich eben dieser Fehlorien-tierung schuldig machen, ihre Anhängerschaft aus dem herrschendenSystem heraus- und hinter es zurückführen, genauer gesagt, sie auf frü-here, in den ökonomischen Aspirationen und politischen Lösungen tra-ditionellere Entwicklungsstufen des Systems zurückversetzen zu wollen– was Wunder also, dass die Plebs ihren Vorkämpfern die Gefolgschaft,die sie ihnen in abstracto des intendierten Umverteilungsprogrammsnachdrücklich leistet, in concreto der die Umverteilung als Landzuteilungpraktizierenden Ausführung des Programms ebenso nachhaltig verwei-gert und sie damit vor die Alternative stellt, entweder mit dem ganzenProjekt zu scheitern und zugrunde zu gehen oder aber dem Volkswil-len stattzugeben und sich in einem nach dem Trial-and-Error-Prinzipabsolvierten Lernprozess dessen wahre Bedürfnisse und wirkliche Ab-sichten zu eigen zu machen. In der Tat ist es also die Plebs, die gegendie Politik des von ihr selbst ex nihilo der republikanischen Konstitutionkreierten neuen Staatsmacht, gegen das Tun und Treiben ihres eigenen,mit plebiszitär-tribunizischen Mitteln als Landverteilungskommissionetablierten Wohlfahrtsausschusses den Widerstand mobilisiert und damitder gelähmten, durch den Anschein der Verfassungsmäßigkeit, den derplebejische Staatsstreich herauskehrt, ins Bockshorn gejagten Nobilitätdie Arbeit abnimmt. Mag die Nobilität die programmatische Selbstverei-

telung, der die plebejisch-tribunizische Fraktion frönt, noch so sehr passivgutheißen und unterstützen und mag sie die faktische Vollstreckung despolitischen Urteils, das die Plebs über ihre fehlgeleiteten Repräsentantenfällt, noch so bereitwillig übernehmen und aktiv vorantreiben, entschei-dend bleibt doch immer, dass sich Tribune aus den eigenen Reihen finden,die ihren Kollegen im Ausschuss das reformerische Handwerk legen, unddass es die Plebs selbst ist, die teils dadurch, dass sie sich auf die Seite jener Gegentribunen schlägt, teils dadurch, dass sie den Reformern diefür die Verfolgung ihrer Politik erforderliche plebiszitäre Unterstützungoder Absicherung entzieht, den Boden für den Fall ihrer fehlorientierten,

den Volkswillen missverstehenden beziehungsweise noch nicht recht zudeuten wissenden Repräsentanten bereiten. Wenn es noch eines Beweises bedarf, dass der Plebs die von Tiberius Gracchus und seinen Mitstreiterneingeschlagene Richtung im Grund ihres noch unerklärten Willens nichtpasst und dass sie anderes anstrebt als die Zuteilung von Land und eine

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die bäuerliche Existenz restaurierende Neuansiedung und Rekommuna-

lisierung, so liegt er in der Widerstandslosigkeit und Indifferenz, mit derdie Plebs zulässt, dass nach dem gewaltsamen Tod des Tiberius die Arbeitder Landverteilungskommission unter dem fadenscheinigen Hinweis auf  bundesgenossenschaftliche Rechte ausgesetzt und das ganze Projekt auf Eis gelegt, sprich, sang- und klanglos zu Grabe getragen wird.

Nicht nur das Tribunat macht, was den sich allmählich artikulierenden Volkswil-len angeht, einen Lernprozess durch, auch die Nobilität stellt sich auf das factumbrutum der neuen Plebs und ihrer Forderungen ein. Fortan wetteifern Popularenund Optimaten darin, die Plebs zu umwerben und sie entweder zu einem maßge-

benden politischen Faktor zu machen oder aber ihre politische Karriere zu hinter-treiben. Den Sabotagebemühungen der Optimaten kommt dabei die dispositionel-le Schwäche und die aktuelle Machtlosigkeit der Volksbewegung zustatten.

Dass Tiberius Gracchus und seine Mitstreiter eines gewaltsamen Todessterben, scheint der obigen Rede von einer Alternative zwischen Schei-tern und Anpassung Hohn zu sprechen und die Vorstellung von einemdurch die plebiszitären Wahrer der Staatsfunktion zwecks Einstimmungauf den Volkswillen zu durchlaufenden Lernprozess ad absurdum zuführen. Ein allzu strenger Zuchtmeister scheint der Tod, um auch einguter Lehrmeister heißen zu können. Indes, bezogen nicht sowohl auf dieindividuelle Person der Repräsentanten des Volkswillens, als vielmehrauf die institutionelle Funktion der Repräsentanz als solcher, behält dieRede vom Lernprozess durchaus ihren Sinn. Den Nachfolgern im Amtkann das fatale Scheitern ihrer Vorgänger sehr wohl zur Lehre dienen undnämlich Antrieb sein, ihren plebejischen Auftraggebern statt in eigenerRegie wohlmeinend Gutes, vielmehr in strikter Prokura den wohlver-standenen Willen zu tun, um sich so ihrer bleibenden Unterstützung zuversichern und vor Desavouierung und Verrat zu bewahren. Und nichtnur didaktisch-dispositionell geht der individuelle Tod mit institutionel-ler Einsicht und Anpassung gut zusammen, er verträgt sich insbesondere

 bestens mit einem institutionellen Lernprozess, der, wie gesagt, nachdem Trial-and-Error-Prinzip verläuft und inventorisch-propositionellenCharakter hat, der mit anderen Worten nicht einfach darin besteht, denexpliziten Willen des Auftraggebers zu vernehmen und in die Tat um-zusetzen, sondern bei dem es mehr noch darum geht, diesen Willen der

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eine Ironie des Schicksals, ein tragikomischer Familienroman, an, dass

er nicht nur wie sein älterer Bruder gewaltsam zu Tode kommt, sonderndass ihn mehr noch das gleiche Vorhaben, ein Landverteilungs- undNeuansiedlungsprojekt, ins Verderben stürzt. Auf den sensationslüsternersten Blick möchte sich einem die reizvoll romanhafte Vermutung auf-drängen, brüderliche Pietät oder familienidiosynkratische Fixierung lasseden Jüngeren wider alle Vernunft des mit dem Volkswillen zu wahren-den Konsenses an dem von der Plebs verworfenen Lieblingsprojekt desÄlteren festhalten, und dieses erratische Stück Fehlorientierung, dieserRest von systemfeindlich konservativem Restaurationsversuch bereiteihm den Untergang. Ein zweiter Blick genügt indes, um deutlich werdenzu lassen, dass der Anschein von Parallelität trügt und dass das An-siedlungsprojekt, weit entfernt davon, die schicksalhafte Ursache für dasScheitern des jüngeren Gracchus zu sein, vielmehr nur die zufällige Ge-legenheit bietet, dieses völlig anders als beim älteren Gracchus gewirkteScheitern in Szene zu setzen. Nicht nämlich Mangel an Gelehrigkeit, diehinsichtlich der Ansprüche und Intentionen seiner plebejischen Gefolg-schaft der tribunizische Führer an den Tag legte, sondern ein Übermaßan Lernfähigkeit, die eine aus ihrer anfänglichen Lähmung erwachteNobilität im Blick auf den Umgang mit dem Volkswillen und die Mög-lichkeiten seiner Manipulation unter Beweis stellt, ist es in Wahrheit, wasdem Jüngeren den Garaus macht.

Tatsächlich steht in den Formen und Dimensionen, in denen GaiusGracchus das Kolonisierungsvorhaben seines Bruders wiederaufgreift,dieses durchaus im Einklang mit den Ansprüchen und Intentionen derPlebs und ist weit entfernt davon, deren Widerstand und Abfall zu pro-vozieren. Eingebettet in das neu gestiftete System staatlicher Fürsorgeund hauptstädtischer Wohlfahrt und aus einem generellen Stadtflucht-und Umsiedlungsprogramm zu einem speziellen Landkommune- undKoloniegründungsprojekt zurechtgestutzt, entspricht das Vorhaben denBedürfnissen nicht zwar der Plebs in toto, wohl aber eines von Landhun-ger oder Abenteuerlust getriebenen kleineren Teils ihrer, und ist, insofern

es auch dieser unruhigen oder unzufriedenen Minderheit Befriedigungzu schaffen verspricht, eher geeignet, die Unterstützung der Plebs für dasGesamtprogramm ihrer staatsfunktionell-kommissarischen Sachwalteraus dem Tribunat zu verstärken, als, wie beim älteren Bruder der Fall, denWiderwillen der Plebs gegen eine als ganze der plebejischen Projektion

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zuwiderlaufende Perspektive zu erregen. Wenn sein Kolonisierungs-

vorhaben dem Gaius Gracchus dennoch zum Stolperstein wird, dannalso nicht etwa, weil es bei der Plebs auf Ablehnung stieße (dass in derFolge solche Kolonisierungspläne von den tribunizischen Volksvertreternimmer wieder aufgegriffen und sogar in die Tat umgesetzt werden, be-weist das Gegenteil), sondern vielmehr, weil das Vorhaben sich mit einerkonkurrierenden Initiative konfrontiert findet, die es in den Schattenstellt und bei der Plebs aussticht und deren Urheber ausgerechnet diesenatorische Partei und die sie tragende Nobilität sind.

Mittlerweile nämlich ist die Nobilität aus der Betäubung und Ohn-macht, in die sie der verfassungsmäßige Staatsstreich der plebiszitärenErmächtigung des Tribunats zu einer alternativen staatlichen Exekuti-ve hat fallen lassen, erwacht und geht gegen diese, ihren traditionellenstaatlichen Organen den Rang ablaufende alternative Staatsfunktion indie Offensive. Ihre Offensive trägt sie nach Maßgabe dessen vor, wasdie bisherige Entwicklung des zum staatsfunktionellen Ausschluss be-vollmächtigten Tribunats, jener als die staatliche Macht schlechthin sichgerierenden neuen Macht im Staate, sie gelehrt hat. Lernen konnte sie,dass die plebiszitär konstituierte, vom Volkswillen getragene neue Machteine schlechterdings unwiderstehliche Wirksamkeit entfaltete und dasserst der ans Zerwürfnis grenzende perspektivische Dissens mit demVolkswillen, in den die neue Macht ihre konservative Restaurationspolitik

hineintrieb, ihr, der Nobilität, beziehungsweise den von ihr gestelltenstaatlichen Organen die Möglichkeit zur gewaltsamen Intervention, zumtödlichen Zuschlagen eröffnete. Diese für den Sturz des plebiszitärenWohlfahrtsausschusses unabdingbare innere Spaltung zwischen Volkund Führung, diese eigenhändige Zerrüttung der Volksbewegung durcheine dem Volkswillen nicht entsprechende oder nicht Genüge leistendeVolksregierung – sie sucht nun also die durch Erfahrung klug gewor-dene Nobilität mittels Intrige und Manipulation und zu erreichen. Sieverwandelt sich mit anderen Worten aus dem zufälligen Begünstigtenund passiven Nutznießer eines internen Zerwürfnisses beim politischen

Gegner in den planmäßigen Anstifter und aktiven Betreiber des Zer-würfnisses. Die Gelegenheit zu solchem Rollenwechsel bietet ihr dasKolonisierungsprojekt des Gaius Gracchus. Indem die Nobilität einender tribunizischen Kollegen des Gaius dafür gewinnt, dessen Projekt zuübertrumpfen und der Plebs die weit verlockendere, wenn auch wenig

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realistische Offerte eines Zinserlasses für zugewiesene Bauernstellen und

vor allem einer Verlagerung der in Aussicht genommenen Koloniegrün-dungen von fernen Gestaden und aus Provinzregionen in inneritalische,nahe der Hauptstadt gelegene Landschaften zu machen, gelingt es ihr,dem gekauften Tribunen die Gunst der Plebs zu sichern und ihn bei derWiederwahl ins Tribunat den Gaius ausstechen zu lassen. Des aus demAmt entfernten und damit des Schutzes seines verfassungsmäßigen Am-tes beraubten unliebsamen Volksführers entledigt sie sich schließlich beider nächsten sich bietenden Gelegenheit und das heißt, unter dem ersten besten Vorwand verfassungwidrigen Verhaltens, den der in die Engeeiner mit seinem politischen Tatendrang unvereinbaren PrivatiersexistenzGetriebene ihr liefert, mit der gleichen exekutiven Gewalttätigkeit, derschon der Bruder zum Opfer gefallen ist.

Mit dieser initialen Gegenoffensive ist im wesentlichen bereits dieStrategie entwickelt, mittels deren es der Nobilität gelingt, sich noch fastein Jahrhundert lang der plebejischen Forderungen nach wohlfahrtsstaat-licher Versorgung, nach staatlich organisierter Partizipation an dem durchkoloniale Ausbeutung und Sklavenarbeit akkumulierten Reichtum zuerwehren. Das Trauma der gracchischen Machtergreifung und plebiszi-tären Neufundierung der Staatsfunktion hat die Nobilität gelehrt, dassan der Plebs als politischem Faktor kein Weg mehr vorbeiführt: Will siesich den materialen Forderungen und sozialen Ansprüchen widersetzen,

die auf Basis eines existenzialisierten Bürgerrechts die Plebs durch ihrals Staatsfunktion etabliertes Exekutivorgan, das Tribunat, erhebt, somuss sie dafür die Unterstützung der Plebs selbst gewinnen, das heißt,sie muss diese hinlänglich mit den Vertretern des als kommissarischesStaatsorgan eingesetzten Tribunats entzweien, um deren Absetzung oderDiskreditierung erwirken und anschließend die aus dem Amt Vertrie- benen oder um die Würde des Amtes Gebrachten der Rache der nachMaßgabe der Diskreditierung der Volksvertretung rehabilitierten tradi-tionellen Exekutive des Staates ausliefern zu können. Wie aber soll dieNobilität einen Keil zwischen die Plebs und die plebiszitäre Führung

treiben, wenn nicht in der Weise, dass sie direkt, durch eigene Initiativen,oder indirekt, durch gekaufte Volksvertreter, mit der letzteren um dieZustimmung und die Gefolgschaft der ersteren konkurriert, dass siemit anderen Worten durch materiale Offerten an die Plebs und Beweisesozialen Engagements für sie die plebiszitäre Führung in der Volksgunst

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aussticht? So paradox dies auf den ersten Blick anmuten mag, dass die

Nobilität sich den materialen Forderungen und sozialen Ansprüchen derPlebs nur verweigern kann, wenn sie der Plebs materiale Offerten machtund sich sozial für sie engagiert, so genau spiegelt das scheinbare Paradoxdoch eine Situation wider, in der nicht nur das von der Nobilität ins Werkgesetzte Reichtumsbeschaffungssystem für die Plebs und ihr Dasein dieBedeutung einer kategorialen Rahmenbestimmung und transzendentalenGrundperspektive gewinnt, sondern in der auch umgekehrt die Plebsund ihr Dasein sich der Nobilität als eine aus jenem Reichtumsbeschaf-fungssystem weder wegzuschaffende, noch überhaupt wegzudenkendeintentionale Bedingung und reale Verpflichtung präsentiert.

In der Tat löst sich das scheinbare Paradox, stellt man die Lehre inRechnung, die die Nobilität aus dem Gracchischen Staatsstreich ziehtund durch die allein sie eine relative Handlungsfähigkeit zurückgewinnt:dass nämlich angesichts der schlechterdings nicht wegzudenkenden Fak-tizität der Plebs und ihrer in der Staatsverfassung angelegten politisch-faktorellen Bedeutung Widerstand gegen die Ansprüche, die kraft einesexistenzialisierten Bürgerrechts die Plebs erhebt, nurmehr im Bezugs-rahmen eben dieser Ansprüche und auf dem Boden eines sie im Prinzipsanktionierenden gesellschaftlichen Konsenses vorstellbar ist, dass esalso auch für die Nobilität nicht mehr darum gehen kann, die mit die-sen Ansprüchen verknüpfte plebejische Perspektive zu ignorieren und

sich ihr kurzerhand zu verschließen, sondern höchstens darum, sie zumodifizieren und mit dem Interesse an einer ungebrochenen Fortsetzungder politisch-ökonomische Vorherrschaft der traditionellen Führungs-schicht in Einklang zu bringen, dass, kurz, auch für die Nobilität nichtmehr in Frage steht, dass den teilhaberschaftlichen Forderungen derPlebs irgendwie entsprochen werden muss, sondern nur eben, wie undin welcher Form ihnen entsprochen werden muss. Und in der Tat istdies die Gemeinsamkeit, die während des an den verfassungskonformenStaatsstreich der Gracchen anschließenden knappen Jahrhunderts diestreitenden Parteien miteinander verbindet und in einen nicht weniger

konspirativen als konfrontativen, nicht weniger reaktiv gebundenen alsentfesselt initiativen Pas de deux hineinzwingt: dass die fortan als Opti-maten firmierenden senatorischen Repräsentanten der Nobilität geradesowie die demgegenüber als Popularen figurierenden Vertreter der Plebsdie letztere als ausschlaggebenden politischen Faktor in Rechnung stellen

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und ihren bürgerrechtlich begründeten Anspruch auf eine unmittelba-

re, systemkonforme, die politisch-ökonomischen Verhältnisse so, wiesie sind, nicht antastende Gewährleistung individueller Subsistenz undsozialer Integration, sprich, auf Teilhabe an dem durch kolonialistischeAusbeutung und Sklavenarbeit akkumulierten Reichtum, im Prinzipanerkennen.

Der Unterschied ist nur, dass die Vertreter der Plebs, die Popularen,danach streben, die Teilhabe am Reichtum der Nobilität zum Staatsan-liegen zu erklären und institutionell zu verankern, sprich, zum Anlasseiner wesentlich auf Zwecke der Umverteilung, der Wohlfahrt der Plebsabgestellten Reorganisation des gesamten Staatswesens zu nehmen, wäh-rend sie, die Vertreter der Nobilität, die Optimaten, nach Möglichkeitalles beim alten belassen und die Zuwendungen an die Plebs sei’s durchdie bewährten Kanäle des Klientelwesens und der um der Karriere oderdes Ansehens willen geleisteten privaten Aufwendungen für das Ge-meinwesen fließen lassen, sei’s dem durch die historische Situation her-ausgeforderten oder auch durch politische Taktik motivierten Ermessender Oberschicht selbst anheim stellen, sprich, unterhalb der Ebene orga-nisiert staatlichen Handelns und verbindlich institutioneller Prozedurenverhalten wollen. Oder vielmehr ist – da dies ja keine echte Alternativedarstellt und die Entscheidung der Plebs, wenn sie frei zwischen den beiden Optionen wählen könnte, nicht zweifelhaft wäre – der Unterschied

 besser so gefasst, dass die Popularen ihr politisches Programm einer staat-lich institutionalisierten und organisierten ökonomischen Versorgungund sozialen Integration als quasispontane Aktion, als dem Volkswillenentspringende Initiative betreiben, wohingegen die ökonomischen Zu-wendungen und sozialen Engagements der Optimaten stets als Reaktionauf solch popularistische Initiativen erscheinen und als ein Köder undAblenkungsmittel dienen, das den Zweck verfolgt, den Volkswillen anseiner plebiszitär-eigenen Initiative hinlänglich irre werden zu lassen,sprich, die Plebs mit ihrer tribunizisch-eigenen Vertretung hinlänglichzu entzweien, um mit der Macht der von der Nobilität kontrollierten

traditionellen Staatsorgane die jeweilige Initiative durchkreuzen, die jeweilige Volksvertretung niederknüppeln zu können.So gesehen, ist also der Unterschied zwischen den innen- und sozial-

politischen Maßnahmen der Popularen und der Optimaten theoretischein Unterschied ums Ganze, nämlich der Unterschied zwischen Sein und

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Schein, zwischen Vorsatz und Verstellung, zwischen der Absicht, etwas

zu tun, um etwas zu erreichen, und der Absicht, etwas zu tun, um Tun zuvereiteln und nichts zu erreichen – während zugleich doch praktisch derganze Unterschied eingeebnet erscheint, weil ja der Schein der Optimateneben darin besteht, das Sein der Popularen zu simulieren, ihre Vereite-lung des popularistischen Tuns eben dadurch funktioniert, dass sie einvermeintlich vergleichbares Tun an seine Stelle setzen und weil insofernalso das allem Anschein nach gleiche Tun der beiden Parteien sich nurdarin unterscheidet, dass es im einen Fall programmatisch-initiativ, dasheißt, als eine staatlich organisierte Aktion, im anderen Falle hingegenunsystematisch-situativ, das heißt, als körperschaftlich lancierte Reaktion,

geübt wird.Dass die Optimaten, die Repräsentanten der Nobilität, mit dieser auf die zerstörerische Simulation wirklichen wohlfahrtsstaatlichen Handelnsabgestellten Ködertechnik und Bauernfängerei überhaupt Erfolg haben,ist dabei einer dispositionellen Schwäche der Plebs geschuldet, die zu-gleich erklärt, warum die Optimaten nicht etwa nur das eine oder andereMal mit ihrer Sabotagetechnik durchkommen, sondern fast ein Jahrhun-dert lang ihre Position zu behaupten und die plebiszitäre Neubegrün-dung der Staatsfunktion zu hintertreiben, sprich, das unabwendbareEnde der Republik hinauszuschieben, imstande sind. Diese Schwäche

der Plebs ergibt sich aus dem Prozess ökonomischer Entwurzelung undsozialer Deklassierung, dem sie als gesellschaftliche Formation ihr Entste-hen verdankt, und findet ihren Ausdruck in fehlender programmatischerDisziplin und perspektivischer Durchhaltekraft. Vom Verlust ihrer sub-sistenziellen Grundlage und ihrer assoziativen Bindungen demoralisiert, bringt die Plebs im Zweifelsfall, dem Fall einer ihr von der senatorischenPartei in Aussicht gestellten oder vorgegaukelten raschen Vergünstigungoder Befriedigung, nicht die Kraft auf, an der von ihren tribunizischenVertretern vorgegebenen längerfristigen Perspektive festzuhalten undderen nur mittels Kampagne, mittels einer Strategie, die Rückschläge

und Frustrationen, Grabenkämpfe und Umwege einschließt, in die Tatumzusetzendes politisches Programm unbeirrt mitzutragen. In ihrer De-solatheit bar jeder Frustrationstoleranz, greift sie vielmehr nach demersten besten Strohhalm der sich ihr bietet und der im Zweifelsfall einKöder ist, und lässt jene im Stich, die ihr die Umsicht einer politisch

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handelnden Klasse und die Voraussicht einer programmatisch planenden

Partei abverlangen.Tatsächlich ist sie in ihrer Not und in ihrem Elend so blind egoistischund so kopflos begierig, dass es im Zweifelsfall der senatorischen Bau-ernfängerei gar nicht erst bedarf, sondern dass schon ein sie vermeintlichoder wirklich von der unmittelbaren Befriedigung abhaltender, vomFleischtopf, an den sie sich klammert, vorübergehend entfernender zu-kunftsorientierter Eingriff und auf lange Frist berechneter Schachzugihrer tribunizischen Vertreter genügt, um sie mit letzteren auseinanderzu bringen und als leichte Beute der Manipulation der Optimaten auszu-liefern. Auch in diesem Punkte setzen die mit dem Namen der Gracchenverknüpften Ereignisse bereits die Maßstäbe: Entscheidend nämlich fürden Fall des Gaius Gracchus ist nicht erst der Streit um das Wie und Woder geplanten Koloniegründungen – dieser Streit ist bloß der Anlass,der den Sturz besiegelt. Entscheidend vielmehr ist der vorangegangeneVersuch des Gaius, den italischen Bundesgenossen Roms das Bürgerrechtzu verschaffen und so die soziale Basis für seine Reformpolitik zu ver- breitern. Weil die römische Plebs sich kurzfristig in ihrer privilegiertenPosition als Hätschelkind der wohlfahrtsstaatlichen Bemühungen derRömischen Republik bedroht und in Gestalt der italischen Genossenvon ihresgleichen als von einer unliebsamen Konkurrenz bedroht sieht,überwirft sie sich mit ihren tribunizischen Vertretern, schließt zur Abwehr

der auf lange Sicht die Sache der Popularen fördernden Einbürgerungs-motion, die sie kurzsichtig als Gefahr wahrnimmt, einen Pakt mit demsenatorischen Gegner und bereitet so den Boden für den schließlichenSturz ihrer eigenen Führung.

Und zu dieser dispositionellen Schwäche der Plebs kommt nun nocherschwerend der aktuelle Mangel der Volksbewegung an exekutiv-staatli-cher beziehungsweise exaktiv-militärischer Durchsetzungskraft hinzu.Hat die tribunizische Führung auf plebiszitärem Weg ein Reformprojektin die Welt gesetzt, so hat sie zur Durchsetzung ihres Projekts nichtsals den ebenso unsteten wie machtvollen und ebenso amorphen wie

gebieterischen Volkswillen auf ihrer Seite, während sie sich dem gleicher-maßen organisierten und artikulierten Gegenwillen der traditionellenstaatlichen Macht, der vom Senat gewählten Beamtenschaft und ihrenInstitutionen, allen voran dem der konsularisch-prätorischen Funktionunterstellten Militärapparat, konfrontiert findet. Und gelingt es gar der

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Partei der Nobilität, zwischen den Volkswillen und seine tribunizischen

Repräsentanten einen Keil zu treiben und ersteren zum Abfall von letz-teren zu bewegen, so stehen diese ohne jeden Rückhalt da und erfahren,wie vermessen es war, die Staatsfunktion bloß auf der Grundlage ei-nes verfassungsmäßigen Staatsstreiches und ohne alle Verfügung überwirkliche Staatsgewalt ausüben, anders gesagt, das Staatswesen ohneRücksicht auf den empirischen Staatsapparat systematisch umgestaltenzu wollen – wobei sie diese Erfahrung, wie bei dem tragischen Grundzugsolcher Vermessenheit nicht anders möglich, im Normalfall mit dem Tode bezahlen.

In der Tat muss unter den Bedingungen dieser dispositionellen Schwä-

che der durch ihr Not und ihr Elend demoralisierten plebejischen Masseund dieses aktuellen Mangels der tribunizischen Bewegung an politisch-militärischem Gewaltpotential der Griff des Volkstribunats nach derStaatsmacht, der Versuch der Popularen, die Staatsfunktion neu und un-abhängig vom senatorischen Selbstbedienungsladen der Optimatenparteizu etablieren, nolens volens Prätention bleiben und mit der gleichenZuverlässigkeit, mit der die Krise des Staatswesens immer wieder auf ihn hindrängt, auch stets wieder vor den Fall seiner organisatorischenBodenlosigkeit und seiner institutionellen Haltlosigkeit kommen. Und inder Tat ist auch gar nicht ohne weiteres erkennbar, wie solch dispositio-

neller Schwäche und solch aktuellem Mangel abgeholfen werden kann.Schließlich scheint die Schwäche des Volkswillens nur zu beheben, wennes gelingt, die Plebs aus der unmittelbaren Not und dem bedrängendenElend herauszuführen, die ihr jede Frustrationstoleranz und perspektivi-sache Urteilskraft verschlagen, ihr damit alle programmatische Ausrich-tung und strategische Disziplin verunmöglichen und sie so zum Spielballder politischen Bauernfängerei der Nobilität machen. Das heißt, die Be-hebung der als dispositionelle Schwäche erkannten Disziplinlosigkeitder Plebs setzte eben den Zustand ökonomischer Subventionierung undsozialer Konsolidierung bereits voraus, der doch umgekehrt nur unter

der Voraussetzung einer bereits disziplinierten Plebs erreichbar erscheint.Und auch um die Beseitigung der als aktueller Mangel realisiertenMachtlosigkeit der Volksbewegung scheint es auf den ersten Blick nicht besser bestellt. Zu fest sind die traditionellen Staatsorgane in den Händender Nobilität, zu vollständig wird dank des Wahlrechts des Senats und

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der personellen Verflechtung der Beamtenschaft mit der Optimatenpar-

tei der römische Verwaltungsapparat von den Reichen und Mächtigen besetzt und kontrolliert, als dass die Popularen hoffen könnten, überdie normalen politischen Selektionsprozesse und Karriereleitern einenhinlänglichen Anteil an der Staatsmacht und Einfluss auf die Staatsge-schäfte zu erringen, um entweder zu verhindern, dass der traditionelleStaatsapparat die plebiszitär-tribunizischen Vorstöße immer wieder mit bürokratisch-militärischen Mitteln abfängt und niederschlägt, oder umgar den traditionellen Staatsapparat in ein Instrument zur Unterstützungund Durchsetzung dieser plebiszitär-tribunizischen Motionen umzufunk-tionieren. Zumal das Gewaltmonopol scheint dank der konsularisch-prätorischen Verfügung über das Heer und den Militärapparat fest inder Hand der aus Patriziern und Rittern kombinierten und durch denRömischen Senat repräsentierten Nobilität; ein diesem letzten Garantender Macht der Nobilität Paroli zu bieten oder gar den Rang abzulaufengeeignetes Gewaltpotential aufzubauen oder zu erwerben, scheint fürdie Volksbewegung und ihre tribunizische Führung unter den gegebenenUmständen der römisch-republikanischen Umständen schlechterdingsunmöglich.

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. Imperium

Der entscheidende Aktivposten der Optimaten ist das ständisch organisierte,

ausgehobene Heer. Dessen zunehmendes funktionelles Ungenügen macht aus Anlass des aktuellen Notstands eines Einfalls germanischer Stämme ins Reicheine Heeresreform erforderlich. Diese lässt quasi über Nacht aus der mittels

 Aushebungen der Magistrate aufgestellten zivilen Streitmacht ein durch An-werbungen des Feldherrn organisiertes Massenheer werden. Die neue Positionund Funktion, die der konsularische Feldherr als Organisator und Führer des

 Massenheeres einnimmt, verbindet ihn nicht nur aufs engste mit seinen Söldner-truppen, sondern macht ihn nun auch zu einem Sachwalter und Fürsprecher derals Rekrutierungsbasis für diese Truppen dienenden Plebs.

Ausgerechnet dieses Faustpfand der Macht der Nobilität indes stelltsich nun als der Schlüssel zu einer plebejischen Machtergreifung her-aus, ausgerechnet dieses als die entscheidende Stärke der Nobilität sichsuggerierende Gewaltmonopol des kraft konsularischen oder prätori-schen Amtes ausgeübten militärischen imperiums entpuppt sich als dieSchwachstelle des von der Nobilität kontrollierten Staatsapparats, alsdie Bresche, durch die der Volkswille Einlass in das von der Nobilitätokkupierte Zentrum staatlicher Macht findet und Einfluss auf den vonder Nobilität gesteuerten politischen Willensbildungsprozess gewinnt.So gewiss das entscheidende Gewaltinstrument zur Herrschaft über das

Gemeinwesen, nämlich das Heer, sich in seiner weit überwiegendenMajorität aus Angehörigen der unteren und mittleren Volksschichtenrekrutiert, vom Volk gestellt und getragen wird, so gewiss erweist essich als die fünfte Kolonne des plebiszitär-tribunizischen Kampfes umeine Neuetablierung der Staatsfunktion, als der Rammbock oder, besser,

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interne Sprengsatz, mittels dessen das Gefüge des traditionellen, republi-

kanischen Staates in Trümmer gelegt und für das römische KaiserreichPlatz geschaffen wird. Nicht, dass dieser Prozess einer Machtergreifungdurch das vom Volk gestellte Heer, einer Eroberung von Staatsgewaltdurch deren militärisches Werkzeug so natürlich und selbstverständlich,so logisch und konsequent vor sich geht, wie der Hinweis auf die per-sonale Identität oder jedenfalls soziale Gleichartigkeit des beherrschtenVolkes mit dem wichtigsten Instrument der Herrschaft, des Objekts staat-licher Gewaltübung mit deren Hauptvehikel suggerieren möchte. Träfedie Suggestion zu, genügte die schlichte Tatsache, dass militärische Machtin staatlich organisierten Gesellschaften durch den Einsatz derer ausge-

übt wird, über die sie ausgeübt wird, um zu erklären, warum sich daswillfährig funktionierende Instrument zum in eigener Sache handelndenSubjekt, das Vehikel zum Selbstfahrer mausern kann, so wäre das Militär,statt im Normalfall das verlässlichste Instrument zur Aufrechterhaltungsozialer Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse zu sein, auf jedenFall und unter allen Umständen eine die Gesellschaftsordnung ständigerRevision unterwerfende revolutionäre Kraft und das sozialgeschichtlicheUhrwerk in Trab haltende Unruhe.

Tatsächlich aber sind auch die traditionellen Heere, die unter kon-sularischem oder prätorischem imperium die Römische Republik zu

den Fahnen ruft, denkbar weit entfernt davon, ein solches, durch ihreorganische Zusammensetzung quasi von selbst sich herstellendes revolu-tionäres Potential zu sein. Auf kommunaler Ebene ausgehoben und nachMaßgabe ihrer Vermögensverhältnisse hierarchisch in den Heeresver- band eingegliedert, organisieren sich die Waffentragenden nicht sowohltrotz, als vielmehr entsprechend dem zahlenmäßigen Übergewicht derVertreter aus den unteren und mittleren Schichten zu einem getreulichenSpiegelbild der Gesellschaft, das keineswegs dazu tendiert, einen von derMajorität der niederen Ränge geprägten und getragenen Eigenwillen her-vorzukehren und der konsularisch-prätorischen Führung aufzudrängen,

sondern das im Gegenteil den von der konsularisch-prätorischen Füh-rung repräsentierten Willen des Gemeinwesens reflektiert und in ihremTun und Treiben verkörpert, sprich, die von der Nobilität und den Staats-organen, die sie stellt, nach innen verfolgte appropriative Politk und nachaußen betriebene expansive Strategie trägt und exekutiert. So gewiss sich

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das römische Heer in seiner organischen Zusammensetzung und hierar-

chischen Gliederung an dem Vorbild der Gesellschaft orientiert, aus demes sich rekrutiert, so gewiss vertritt es auch voll und ganz den politisch-ökonomischen Grundkonsens und die militärisch-strategische Ausrich-tung dieser Gesellschaft. Bis hinunter zu den niedersten Rängen, quasi bis zum letzten Mann, unterstützt und verficht es eine Entwicklung, dieder aus landbesitzenden Patriziern und geldbesitzenden Handeltreiben-den zusammengesetzten Oberschicht, der Nobilität, Bereicherung durchmilitärische Expansion, daran anschließende tributäre Akquisition unddarauf aufbauende kommerzielle Akkumulation ermöglicht, während siegleichzeitig die von der aktiven Teilhabe an diesem Bereicherungsprozessausgeschlossenen und durch seine Konsequenzen eher geschädigtenals begünstigten mittleren und unteren Schichten mittels direkter oderindirekter Entschädigungen und Kompensationen bei der Stange zu hal-ten vermag – wobei eben das Heer selbst mit den Beuteaussichten, dieseine Kriegszüge und Eroberungen auch den dienenden Truppenteileneröffnen, eine der wichtigsten Kompensationseinrichtungen darstellt. Alsrepräsentativer Querschnitt durch die Gesellschaft ist mit anderen Wortendas nach Maßgabe der Vermögensverhältnisse und der sozialen Schich-tung ausgehobene Heer zuverlässiges Faktotum des Gemeinwesens undeinsinniger Vollstrecker des aus patrizisch-senatorischer Initiative undplebejisch-tribunizischem Korrektiv kombinierten expansiv-kolonialen

Vorhabens der Republik.Dies vermögensrepräsentative Korrespondenz- und sozialformative

Abbildungsverhältnis zwischen der republikanischen Gesellschaft undihrem sie zum Höhenflug einer Entfaltung imperialer Herrschaft tragen-den militärischen Flügel, dem Heer, gerät nun allerdings dank der ge-schilderten Eigendynamik des von allen Schichten getragenen expansiv-kolonialen Vorhabens des Staates zunehmend ins Wanken. Indem derungeheure Bereicherungsprozess, den die auf Gewaltbasis Austauschpraktizierende, auf der Grundlage exaktiver Appropriation kommerzielleAkkumulation treibende Oberschicht mittels kolonialistischer Ausbeu-

tung und Sklavenarbeit in Gang setzt, die beschriebene negative Folgehat, immer größere Teile der mittleren und unteren Schichten um ihreökonomische Subsistenz und ihre soziale Integration zu bringen und zurPlebs in neuer Bedeutung, zur entwurzelten und deklassierten Massezu homogenisieren und zu nivellieren, und indem diese Plebs, wie aus

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der nach Stand und Vermögen geordneten Gesellschaft in genere, so aus

dem untrennbar mit dem Zensus verknüpften traditionellen militärischenAushebungssystem in specie herausfällt, korrespondiert dem zuneh-mend in die Masse der Besitzlosen, die nichts mehr als ihr abstraktesBürgerrecht an die zivile Gesellschaft bindet, und in die civitas selbstzerfallenden Gemeinwesen ein Heer, das zu letzterem und seinem zutiefstgespaltenen Willen immer weniger in ernsthafter Korrespondenz stehtund sich immer mehr zu einem im Hinblick auf die besitzlose Masse allerRepräsentativität baren Privatunternehmen und Herrschaftsinstrumentder civitas, der von der Nobilität geführten Besitzenden, mausert.

Das heißt, im Widerspruch zur obigen Suggestion eines der Plebs und

ihrer sozialreformerischen Führung, den Popularen, mit dem Heer sicheröffnenden Einstiegs in das von der Partei der Nobilität, den Optimaten,okkupierte Zentrum politischer Macht und staatlicher Exekutivgewaltentwickelt sich das Heer vielmehr dem Anschein nach zu einem fes-ten Bollwerk und Hauptabwehrmittel gegen alle plebejisch-popularenBemühungen, dem aktuellen Mangel an militärisch-politischer Durchset-zungskraft abzuhelfen, der im Verein mit der dispositionellen Unfähigkeitder Plebs, politische Linientreue zu beweisen, jedes sozialreformerischeProgramm zum Scheitern verurteilt. Weit entfernt davon, dass die auf Basis eines existenzialisierten Bürgerrechts ihre materialen und sozialen

Ansprüche anmeldende und auf plebiszitär-tribunizischem Wege zu arti-kulieren und durchzusetzen bemühte Plebs im Heer einen Parteigängerund Bundesgenossen fände und quasi mit ihm, wie oben angedeutet,einen Fuß in der Tür der ansonsten optimal geschlossenen Gesellschaftdes Staats- und traditionellen Machtapparates hätte, erweist sich also dasHeer im Gegenteil als ein im Sinne der Erhaltung des Status quo wirksa-mer Stabilitätsfaktor par excellence, sprich, als ein Garant der von popu-laren Vorstößen höchstens unterbrochenen Optimatenherrschaft, weil dieam Zensus orientierte Aushebung der Truppen, ihre qua Rekrutierungpraktizierte Selektion, dafür sorgt, dass die Angehörigen der neuen Plebs

aus den Reihen des Heeres ebenso zuverlässig herausfallen wie aus de-nen der zivilen Gesellschaft selbst und weil so das Heer in dem Maße,wie es seine Repräsentativität im Blick auf das Gemeinwesen als ganzeseinbüßt, zu einem willfährigen Werkzeug der von Pauperisierung undDeklassierung verschont gebliebenen und an die Optimatenherrschaft als

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ausgesetzt, der zu einer zunehmenden Bedrohung für den Bestand und

die Sicherheit des Reiches wird.Das funktionelle Ungenügen und die defizitäre Verfassung, in die derStaat unter der Herrschaft der Optimaten seine Militärmacht hinein-treibt, werden dadurch noch größer, dass der zensusbezogenen Rekru-tierung der Streitkräfte eine Heeresorganisation entspricht, die sich inihrer hierarchischen Gliederung am gesellschaftlichen Stand und privatenVermögen der Rekrutierten, statt an ihren natürlichen Fähigkeiten undpersönlichen Fertigkeiten orientiert und dass mithin ein Großteil derKampfkraft und professionellen Tüchtigkeit, die in dem rekrutiertenMenschenmaterial steckt, nicht mobilisiert werden kann und ungenutzt

 bleibt. Mag unter traditionellen Umständen und bei den geographischund strategisch noch vergleichsweise begrenzten Aufgaben, die das Heerdort erfüllen muss, eine solche Verschwendung von Potential verkraftbarsein, unter den neuen Bedingungen der durch die schiere Größe desHerrschaftsgebiets und durch die Vielfalt der Fronten, die sich in ihmauftun, rapide wachsenden Anforderungen kann sich die Militärmachtein derart unökonomisches Umspringen mit ihren Kräften und ihrenTalenten nicht mehr leisten.

Wie prekär die Lage des spätrepublikanischen Imperiums ist, lässtschlagartig der Krieg gegen zwei auf der Suche nach Land ins Reichs-

gebiet eingebrochene germanische Stammesgruppen aus dem Nordendeutlich werden. Um sich der ziellos und brandschatzend in den Regio-nen zwischen Schwarzem Meer und Spanien umherziehenden Kimbernund Teutonen erwehren und sie beim Einbruch nach Italien zurückschla-gen zu können, muss der durch seine Okkupation an anderen Frontenüberforderte römische Staat Maßnahmen ergreifen beziehungsweise alsvon der konsularischen Exekutive ergriffene zulassen, die im Effekt auf eine grundlegende Heeresreform hinauslaufen. Um das Heer zu ver-größern und seine Reihen zu füllen, rekurriert die Exekutive auf dieMassen brot- und bindungsloser städtischer Plebejer, die durch das tra-

ditionelle, mittels zensusbezogen-kommunaler Aushebung praktizierteRekrutierungsverfahren nicht mehr erfasst wurden. An die Stelle derauf kommunaler Ebene vorgenommenen Aushebungen treten von derkonsularischen Exekutive selbst durchgeführte Anwerbungen; die vonden gemeindlichen Behörden für den Kriegsdienst gezahlten Tagegelder

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werden durch Soldzahlungen ersetzt, die direkt aus der Staatskasse kom-

men, sofern sie nicht gar der konsularische oder prätorische Heerführerum seiner militärisch-politischen Karriere willen beziehungsweise inder Hoffnung auf Kriegsbeute aus der eigenen Tasche bestreitet oder jedenfalls vorschießt. Und wie sich das Rekrutierungsverfahren ändert,so ändert sich nun auch die Organisation des Heeres. Auf den durchAnwerbepraxis und Soldzahlungen initiierten massierten Zuzug ebensomittel- wie bindungsloser Rekruten reagiert die Militärführung mit derAbschaffung der durch Besitzstand, gesellschaftlichen Rang und biogra-phische Umstände bedingten Abstufungen in der Stellung der Soldatenund der sich aus diesen sachfremden oder funktionsäußerlichen Grün-den ergebenden organisatorischen Struktur des Heerescorpus, mit derSchaffung größerer, homogener Einheiten und mit einem strukturellenNeuaufbau, der sich mit seinen Abstufungen und Rängen ausschließlichan funktionsinternen, sachspezifischen Kriterien, an den militärischenFähigkeiten und Leistungen der einzelnen orientiert.

Quasi über Nacht, und nicht zwar konditionell verursacht, wohl aberaktuell ausgelöst durch einen militärischen Notstand der Republik, än-dert somit in seiner wichtigsten Waffengattung und zentralen Truppen-formation, der Infanterie, das römische Heer gleichermaßen seine orga-nische Zusammensetzung und sein funktionelles Zusammenspiel undverwandelt sich dank der für die Rettung der Republik und die Erhal-

tung ihres Imperiums plötzlich unentbehrlich werdenden plebejischenHeerscharen aus einer nach Maßgabe der bürgerlichen Ordnung aufge-stellten Bürgerwehr in ein eigengesetzlich organisiertes Massenheer, auseinem die zivile Gesellschaft ebenso sehr funktionell repräsentierendenwie spiegelbildlich reproduzierenden Corpus in einen von der zivilenGesellschaft ebenso sehr instrumentell abgelösten wie sie reell am Lebenhaltenden Apparat. Und quasi über Nacht erübrigt sich so aber auch fürdie Plebs, zu vollbringen, was ohnehin ein Ding der Unmöglichkeit schi-en: eine Bresche in die Bastion des bis dahin von der Nobilität gehaltenenund mit Zähnen und Klauen verteidigten staatlichen Machtzentrums zu

schlagen, einen Fuß in die Tür der bis dahin von der Nobilität gegenalle plebejisch-tribunizischen Motionen verriegelten und verrammeltenpatrizisch-senatorischen Exekutive zu setzen. Es erübrigt sich für sie ausdem einen und einfachen Grunde, weil die Tür sich von selber auftut, bes-ser gesagt, von Hand derer, die über die Exekutivgewalt verfügen, weit

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aufgestoßen wird, weil mit anderen Worten die konsularisch-prätorischen

Herren der Staatsaktion der Plebs aus eigenem Antrieb, wenn auch nichtaus freien Stücken, den Zugang zu ihr eröffnen, die Plebs zum Eintrittin den Staatsdienst und zur Teilhabe an der exekutiven Gewaltübungeinladen.

Keine Frage, dass diese Wendung, die unter dem Eindruck der alsSymptom eines strukturellen Dilemmas zwischen dem Bedürfnis nachinnerer Sicherheit und dem Erfordernis äußerer Stärke wohlverstande-nen aktuellen militärischen Bedrohung der Republik die konsularisch-prätorische Exekutive mittels Heeresreform vollzieht, einer diametra-len Verhaltensänderung des traditionellen Staatsapparats und funda-

mentalen Neuorientierung der gewohnten Staatsräson gleichkommt.Ist bis dahin die konsularisch-prätorische Exekutive bemüht, die au-ßenpolitische Funktion einer Erweiterung und Sicherung des Reichesmehr schlecht als recht mit der innenpolitischen Aufgabe zu verknüp-fen, die Armen, die der Expansion des Reiches wie von Zauberhandentspringen, in Schach zu halten und daran zu hindern, dass sie ihrenAnsprüchen auf Partizipation an den Segnungen des Reiches durch dieplebiszitär-tribunizische Etablierung einer alternativen Staatsgewalt Gel-tung verschaffen, so entledigt sich nun die Exekutive dieser doppeltenFrontstellung einer nicht nur äußeren, sondern mehr noch inneren Her-

ausforderung quasi im Geniestreich und löst nämlich die innenpolitischeAufgabe einer Abwehr der plebejischen Forderungen und das außenpoli-tische Problem einer Aufrechterhaltung der militärischen Funktionsfähig-keit dadurch, dass sie fast ebenso zauberisch, wie die plebejischen Armenals konfliktträchtig-negatives Potential der Expansion entspringen, sie alskonfliktbewältigend-positive Potenz in das Expansionsgeschäft einbindetund also Frieden an der einen Front auf die Weise erwirkt, dass sie dendort formierten Gegner in den Hauptfaktor und Garanten des an deranderen Front zu erringenden Sieges umfunktioniert.

Und keine Frage aber auch, dass diese diametrale Verhaltensänderung

und fundamentale Neuorientierung der Exekutive gegenüber der Plebseinen entsprechend radikalen Wandel ihres intentionalen Verhältnisseszu letzterer, ihrer Bewertung der plebejischen Situation und ihrer Hal-tung gegenüber den auf Grund der Situation erhobenen Forderungen alszwangsläufige Konsequenz einschließt. Schließlich verkehrt sich die Plebs

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durch diese ihre militärische Funktionalisierung und strategische Nutz-

 barmachung aus einer bislang den Staat der Nobilität in Frage stellendenhypothekarischen Belastung und kritischen Masse in ein diesen Staatwesentlich erhaltendes Element, eine ihn stützende und stabilisierendeKraft. Wie sollte da die Exekutive, die die Plebs in dieser neuen Funktioneiner staatserhaltenden Substanz rekrutiert und realisiert, umhin können,den plebejischen Forderungen nach Teilhabe an den Segnungen, die derStaat der Nobilität bereithält, den Früchten, die seine imperiale Politikabwirft, Gehör zu schenken und stattzugeben, oder wie sollte sie derPlebs das auf Grund eines existenzialisierten Bürgerstatus von ihr einge-klagte Recht verweigern, durch das republikanische Gemeinwesen, demsie militärisch beispringt und zu dessen Fortbestand und Gedeihen sieentscheidend beiträgt, aus ihrer ökonomischen Not und ihrem sozialenElend befreit und ebenso sehr alimentiert wie integriert, ebenso sehr mitdem Lebensnotwendigen versorgt wie in ihrem Grundbedürfnis nachGeselligkeit und Unterhaltung befriedigt zu werden.

Und zwar nicht nur aus amtlicher Perspektive oder aus Gründen derStaatsräson sieht sich die konsularisch-prätorische Exekutive gehalten, ihrVerhältnis zur Plebs neu zu gestalten und ihre Einstellung gegenüber denplebejischen Forderungen radikal zu revidieren, auch und mehr noch auspersönlichem Kalkül und im Interesse der eigenen Karriere hat sie allenAnlass, sich der plebejischen Forderungen nachdrücklich anzunehmen,

wo nicht gar Hals über Kopf zur Plebs überzulaufen. Tatsächlich verän-dert der neue militärische Apparat, den dank Heeresreform die Plebs derExekutive an die Hand gibt und verfügbar werden lässt, ja nicht nur dieZusammensetzung und Funktionsweise der Streitkräfte selbst, sondernebenso sehr auch die Stellung und Rolle ihrer konsularisch-prätorischenFührung. Solange das Heer als eine durch kommunale Aushebung re-krutierte Bürgerwehr zustande kommt, bleibt der konsularische oderprätorische Feldherr, unbeschadet all der imperialen Vollmacht, die erwährend des Kriegszuges ausübt, ein Angestellter und Prokurist desStaates, der die ihm von der Republik, das heißt, vom Senat im Zusam-

menwirken mit den Komitien, zu treuen Händen übergebene Streitmachtins Feld führt, um mit diesem ihm anvertrauten Pfund zum Wohle seinesAuftraggebers zu wuchern. Jetzt hingegen, da er die Streitmacht auf demWege zentraler, in eigener Regie organisierter Werbungen zusammen- bringt und als ein von ihm sei’s aus der Staatskasse, sei’s aus privaten

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Mitteln finanziertes Söldnerherr ins Feld führt, verwandelt er sich in einen

militärischen Impresario, einen freischaffenden Kriegsveranstalter, der indem Maße, wie ihn Senat und Komitien aus der unmittelbaren Abhän-gigkeit und Rechenschaftspflicht entlassen und neben der Führung desKrieges auch die Kriegsvorbereitungen im allgemeinen und die Rekru-tierung der Mannschaft im besonderen seinem freien Ermessen anheimstellen, ihm quasi ein pauschales Patent erteilen, ihm per Freibrief dasganze Kriegsgeschäft übertragen, natürlich nun auch die Verantwortungfür die Tauglichkeit der materialen Vorbereitungen im allgemeinen unddie Tüchtigkeit des personalen Bestands im besonderen übernimmt, alsGeneralunternehmer für alles einsteht und sich im Guten wie im Bösen

alles zurechnen lassen muss, was das von ihm aufgestellte und befehligteHeer leistet beziehungsweise zu leisten versäumt.Was Wunder, dass solch grundlegend gewandelte Machtposition und

Zuständigkeit, Verfügung und Verantwortlichkeit, die durch die Heeres-reform die konsularisch-prätorische Exekutive gegenüber der Legislativeaus Senat und Komitien erlangt, nun ebenso grundlegend nicht nur dieamtliche Beziehung, sondern auch und vor allem das persönliche Ver-hältnis der Exekutive zu diesem ihrer Initiative und Regie überlassenenHauptmachtinstrument wie auch zu der sozialen Schicht verändert, ausder sich letzteres in zunehmendem Maße rekrutiert? Als von Senat und

Komitien jeweils generalbevollmächtigter Intendant des Militärwesensund alleinverantwortlicher Organisator der Rüstung und Kriegsherr siehtdie Exekutive den Erfolg ihrer Amtswaltung und in der Tat ihr politischesSchicksal an das von ihr geworbene Heer und dessen unter ihrer Führungerrungenen Siege geknüpft und entwickelt deshalb neben der staatlichenAnerkennung, die sie diesem nunmehr tragenden Element der Republikund dem plebejischen Milieu, aus dem es sich rekrutiert, schuldet, aucheine der Unterstützung und Förderung, die sie sich im Blick auf dieeigene Karriere von ihm erwartet, entsprechende persönliche Bindung anes und private Fürsorglichkeit, sein Wohlergehen wie auch die Wohlfahrt

der plebejischen Klasse betreffend, aus deren Reihen sie es vorzugsweiseins Feld stellt.Dabei nimmt diese persönliche Zuwendung und private Fürsorglich-

keit gemäß den beiden eng miteinander verknüpften, aber doch unter-scheidbaren Adressaten, denen sie gilt, zwei verschiedene Formen an.

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Zum einen macht sich die Exekutive aus persönlichem Kalkül nicht we-

niger als aus staatlicher Räson für die leibliche Versorgung und seelischeBetreuung der entwurzelten und deklassierten Plebs, für die der mittel-losen Volksmasse durch Brot und Öl zu sichernde Subsistenz und durchGeselligkeit und Spiel zu verschaffende Integration stark, die Hauptanlie-gen der plebiszitär-tribunizischen Motion war und der der traditionelleStaatsapparat bis dahin höchstens im Einzelfall zustimmte, um sie imganzen desto besser hintertreiben zu können, die nun aber, da die keines-wegs nur aktuell, sondern durchaus strukturell bedingten militärischenErfordernisse imperialer Selbstbehauptung die Plebs als staatstragendesElement erweisen, in der Tat zu einer ganz im Sinne der existenzialisiert-

 bürgerrechtlichen Ansprüche der Plebs vom Staat in genere und von derkonsularischen Exekutive in specie anerkannten Forderung avancieren.Und zum anderen muss sich die Exekutive aber auch für die Wohlfahrtderer einsetzen, muss sie sich um das Wohlergehen derer kümmern, diesie als Streitmacht aus den Reihen der Plebs anwirbt, damit sie stell-vertretend für ihre Schicht die der ganzen sozialen Gruppierung zurAnerkennung ihres bürgerlichen Existenzrechts verhelfende staatstragen-de Leistung einer Ausdehnung und Sicherung des Imperiums erbringenund formaliter im Solde der Republik, realiter aber im Dienste ihres An-werbers und Rattenfängers, des konsularisch-prätorischen Feldherrn, ihr

Leben in die Schanze schlagen. Zwar während ihrer Dienstzeit sind dieseSöldner durch ihren Sold und dank der Kriegsbeute aus den Feldzügenwohlversorgt, aber da sie sich in den Jahren oder vielmehr Jahrzehnten,die sie im Felde stehen, ihrem sozialen Milieu und familiären Kontext inder Heimat entfremden und zu aller zivilen Tätigkeit, soweit sie über-haupt eine erlernt oder ausgeübt haben, untauglich werden, brauchen siefür die Zeit nach ihrer schließlichen Abdankung ein Stück Land und einpaar Sklaven, um als Kleingrundbesitzer ihr Leben auskömmlich und inRuhe beschließen zu können. So gewiss die Aussicht auf solchen Lohnfür ihre militärischen Bemühungen die Söldner wesentlich motiviert und

 bei der Stange hält, so gewiss wird die Veteranenversorgung zu einemfesten Bestandteil des zum Wohle der plebejischen Schichten aufgelegtenWohlfahrtsprogramms, mit dem jeder konsularisch-prätorische Heerfüh-rer neuen Zuschnitts seine Karriere und die mit ihr verfolgten privatenZiele absichert und untermauert.

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So eng knüpft die durch die Heeresreform geschaffene Konjunkti-

on aus zum Impresario emanzipierter Exekutive und zum Haupt- undStaatsfaktor avancierter Plebs die Liaison zwischen dem mit Patent zumKriegführen ausgestatteten Feldherrn und dem von ihm angeworbe-nem Massenheer und so sehr ist hiernach tatsächlich der konsularisch-prätorische Feldherr in seinem politischen Erfolg und seiner persönlichenKarriere angewiesen auf die gute Meinung und Unterstützung seinerSöldnertruppen und des plebejischen Milieus, aus dem sie sich in zuneh-mendem Maße rekrutieren, dass diese neuartige, von den legislativenInstanzen der Republik, Senat und Komitien, ebenso sehr generalbe-vollmächtigte wie ihnen gegenüber alleinverantwortliche Exekutive garnicht anders kann, als ihrem nunmehr tragenden sozialen Element undzentralen militärischen Instrument Zuwendung und Fürsorglichkeit zu bezeigen, sprich, zum Volksfreund und Armenpfleger zu mutieren, sichalso ebenso sehr aus Motiven persönlichen Kalküls wie aus Gründenstaatlicher Räson als Fürsprecher und Sachwalter plebejischer Interes-sen zu begreifen, und dass gegenüber der objektiven Zwangsläufigkeitdieser gleichermaßen von persönlichem Kalkül und staatlicher Räsongetragenen Neuorientierung der Exekutive alle aus den idiosynkrati-schen Neigungen, biographischen Voreingenommenheiten und sozialenZugehörigkeiten ihrer Vertreter etwa resultierenden Hemmnisse undVorbehalte zu nichts verblassen, dass mit anderen Worten die soziale

Herkunft, ständische Zuordnung und politische Bildung des mit derkriegerischen Entfaltung und militärischen Behauptung des Imperiums betrauten konsularisch-prätorischen Impresarios und Generalunterneh-mers für die Rolle des großen Volksfreunds, des Armenpflegers undVeteranenversorgers, in die er nolens volens schlüpft, ohne jeden Be-lang bleiben. Auch wenn es vielleicht kein Zufall oder jedenfalls einekommode Koinzidenz ist, dass der Initiator der neuen Konjunktion, deraus Anlass der germanischen Bedrohung die Heeresreform ins Werksetzt, Gaius Marius, aus kleinen Verhältnisse kommt und ein Plebejerreinsten Wassers ist, Tatsache bleibt, dass im folgenden den sich durch

ihr Heerführeramt automatisch auch als Volksfreunde, als Führer derPopularenpartei, qualifizierenden Konsuln neuer Prägung diese Qua-lifikation ohne Rücksicht auf ihre soziale Herkunft und ihre Klassen-zugehörigkeit zufällt und dass der Vollender des durch den PlebejerMarius eingeleiteten Übergangs der patrizisch-oligarchischen Republik

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in ein cäsaristisch-volksherrschaftliches Militärregime, der dem Regime

zugleich seinen Namen gebende Julius Caesar, ältestem römischem Adelentstammt und ein Patrizier reinsten Geblüts ist.

Die Heeresreform beseitigt mit einem Schlage nicht nur die dispositionelleSchwäche der Plebs, indem sie aus ihr ein diszipliniertes militärisches Instru-ment schmiedet oder besser ausliest, sie hilft auch der aktuellen plebejischen

 Machtlosigkeit gegenüber dem Staatsapparat ab, indem sie die konsularischeExekutive zum Volksfreund und Führer der Popularenreform mutieren lässt.Schließlich sorgen noch die Bundesgenossenkriege und das in ihrer Konsequenzausgedehnte Bürgerrecht dafür, dass die Plebs den als kritische Masse oder Maß-

bestimmung erforderlichen quantitativen Umfang erreicht.

 Jedenfalls zeigt sich durch diesen, der Heeresreform als dem Kern-stück einer radikalen Umstrukturierung der römisch-imperialistischenStrategie geschuldeten Automatismus einer zwischen konsularischemKriegsimpresario und plebejischem Massenheer entstehenden gemeinsa-men Interessenlage und wechselseitigen Abhängigkeit, einer aus beidensich bildenden und fast schon als wunderbare neue Freundschaft zuapostrophierenden verschworenen Gemeinschaft, das eine der beidenoben genannten Hauptprobleme der plebiszitär-tribunizischen Volksbe-wegung, ihr Mangel nämlich an staatlicher Macht und exekutiver Ge-walt, mit einem Schlage erledigt. Mit der besonderen Beziehung zurkonsularisch-prätorischen Führung, die dank ihres grundlegenden Bei-trags zum neuen Söldnerheer die Plebs nunmehr zu reklamieren vermag,setzt sie nicht etwa nur einen Fuß in die Tür des ihr bis dahin fest ver-schlossenen Staatsapparats, sie dringt gleich ins Zentrum der staatlichenExekutive vor, gewinnt Einfluss auf die oberste Staatsfunktion, die Lei-tung der Haupt- und Staatsaktion selbst. Eben das konsularische Amt, das bis dahin die sicherste Bank der als Selbstbedienungsladen der Nobilitätfirmierenden patrizischen Republik war, verwandelt sich dank der quaHeeresreform vollzogenen militärischen Umrüstung, zu der sich unter

dem Druck der nicht weniger strukturellen Gefährdung als aktuellenBedrohung ihres imperialen Projekts die Republik versteht, in einen ent-scheidenden Aktivposten und Förderer des vom Tribunat seit längerem betriebenen und als eine Art wohlfahrtsstaatlichen Rehabilitationsein-richtung für die ökonomischen und sozialen Opfer der Entwicklung der

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patrizischen Republik angestrebten plebiszitären Volksstaats. Aus Saulus

wird über Nacht ein Paulus, aus dem Geschäftsführer und Sachwalter dergegen die Volksbewegung um die Aufrechterhaltung der internen Eigen-tumsverteilung und Machtverhältnisse bemühten Optimatenpartei wirdunter dem Eindruck der externen Gefahren, die der Republik drohen, undin der Konsequenz der zur Abwendung dieser Gefahren erforderlichenMilitärreform und darin einbegriffenen politischen Umorientierung einFürsprecher und Vorkämpfer der gegen die Eigentumsverteilung undMachtverhältnisse mobil machenden Volksbewegung, kurz, ein Führerund Patron der Popularen.

Und wie um das Maß des unverhofften Erfolges des bis dahin ebensoerfolglos wie heharrlich verfolgten plebiszitär-tribunizischen Projektseiner Neuetablierung der Staatsfunktion voll zu machen, zeigt sich auf diesem Wege nicht nur der die Volksbewegung objektiv hemmende ak-tuelle Mangel an institutioneller Handlungsmacht und exekutiver Amts-gewalt behoben, es zeigt sich wundersamerweise auch und Hand inHand damit die oben als zweites Handikap erwähnte, den Volkswillensubjektiv lähmende dispositionelle Schwäche der Plebs, ihre der Notökonomischer Entwurzelung und dem Elend sozialer Deklassierung ge-schuldete Wankelmütigkeit und Disziplinlosigkeit, beseitigt. Wie nämlichals ausführendes Organ und handelndes Subjekt des Volkswillens derkonsularische Feldherr an die Stelle des tribunizischen Volksführers tritt,

so findet sich nun aber auch in der Rolle des den Volkswillen verkörpern-den Organismus beziehungsweise des ihn transportierenden Vehikels diePlebs durch das Heer, die mittellose Masse durch die besoldete Streit-macht, wie man will, vertreten oder ersetzt. Anders als der tribunizischeVolksführer, der sich mit seinen politischen Motionen und ökonomischenReformbemühungen direkt auf die plebejische Masse stützt und dabeizu seinem Leidwesen erfahren muss, wie demoralisiert und bar jederprogrammatischen Resolution und perspektivischen Durchhaltekraft sieist, liest per Werbesystem der konsularische Feldherr aus dieser Masseein besonderes Corpus aus, rekrutiert und organisiert er aus ihren Reihen

eine eigene Formation, die sich ebenso sehr durch ökonomische Abhän-gigkeit wie durch militärisches Reglement, ebenso sehr durch Besoldungund Kriegsbeute wie durch soldatischen Gehorsam diszipliniert und bei der Stange oder vielmehr Fahne gehalten zeigt und auf deren Moralund Ausdauer er sich nicht nur verlassen kann, wenn es darum geht,

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dem Imperium seine Entfaltung und seinen Bestand zu sichern, sondern

auf die er auch und vor allem bei seinen Bemühungen bauen kann, sieselbst und die Plebs, aus der sie sich rekrutiert, für ihren grundlegendenBeitrag zum Gedeihen und zum Erhalt des Imperiums zu belohnen undnämlich am imperialen Reichtum, für dessen ungehinderte Requisitionund Akkumulation sie Sorge tragen, teilhaben zu lassen.

Als plebejische Auslese ist das Heer nicht nur die grundlegende Leis-tung, die die Volksbewegung für die Republik erbringt und durch diesie sich die Fürsprache und Parteinahme der konsularischen Exekuti-ve sichert, ja, diese selbst als neue, populare Führung gewinnt, mithinden Mangel an staatlicher Macht und institutioneller Gewalt mit einemMal überwindet, der ihren bis dahin bloß tribunizischen Führern immerwieder zum Verderben wurde. Als plebejische Elite ist das Heer mehrnoch das entscheidende Instrument, das der neuen konsularischen Füh-rung der Volksbewegung zur Verfügung steht, um die ökonomischenund sozialen Forderungen der letzteren in genere und des von ihr zurVerfügung gestellten Instruments selbst in specie gegen die etabliertenInteressen und den routinierten Egoismus der Nobilität und vor allem un- beeinträchtigt durch die dispositionelle Schwäche einer in ihrer Not undihrem Elend ebenso leicht verführbaren wie disziplinlosen Volksmassedurchzusetzen.

Angesichts dieser im genialischen Kurzschluss erreichten doppelten

Mängelbeseitigung, in deren Konsequenz die Volksbewegung in Gestaltder zu ihr konvertierenden konsularisch-prätorischen Führung wirkli-che exekutive Macht erringt und die zur Volksbewegung konvertierte,in die populare Führung umdefinierte staatliche Exekutive in corporedes aus der Plebs rekrutierten Heeres ein effektives Machtinstrumentund diszipliniertes Herrschaftsmittel gewinnt – angesichts dieser ausdem einen Guss der Heeresreform gefertigten doppelten Problemlösungscheint der Triumph der Volksbewegung unaufhaltsam und gar keineFrage der Zeit mehr, sondern bloß noch eine Sache seiner schieren Reali-sierung. Indes, gar so unaufhaltsam und direkt, wie er theoretisch scheint,

stellt sich der Triumph der Popularen in der Praxis denn doch nichtein. Praktisch nämlich tritt die aus dem aktuellen Anlass und unter den besonderen Umständen der germanischen Bedrohung durchgesetzte undmit dem Namen des Feldherrn Marius verknüpfte Heeresreform mitsamtder in ihr implizierten Neuorientierung der konsularisch-prätorischen

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Exekutive und Instrumentalisierung der plebejischen Masse zur organi-

sierten Streitmacht als erst einmal ebenso partikulare wie ausgefalleneKonfliktlösungsstrategie dem herrschenden Heereswesen und dem vonihm repräsentierten traditionellen Modell einer als Spiegelbild der zi-vilen Gesellschaft ausgehobenen Bürgerwehr gegenüber. Was das derPopularenpartei und ihrem Reformprogramm Vorschub leistende Modelldes plebejischen Massenheeres der von den Optimaten hochgehaltenenständischen Bürgerwehrkonstruktion voraushat und was, aller unmit-telbaren Entgegensetzung und fraktionellen Gleichstellung zum Trotz,das erstere als das über die Partikularität und Ungleichzeitigkeit derletzteren sich erhebende neue Allgemeine und normativ Zeitgemäßeauszeichnet, ist eben die neuartige personelle Quantität und die nachihrer Maßgabe veränderte funktionelle Qualität, zu der das Modell dieHandhabe bietet, ist mit anderen Worten die durch das Werbe- und Sold-verfahren ermöglichte Einbeziehung des umfänglichen brachliegendenplebejischen Menschenfundus in die Rekrutierung der Streitmacht unddie solch massenhafter Mobilmachung geschuldete und sich als Entfesse-lung militärischer “Produktivkraft” geltend machende Verwandlung derStreitmacht in einen von äußeren Rücksichten und Verbindlichkeiten rela-tiv freien und wesentlich zweckrational definierten, das heißt, in seinemAufbau und seiner Instrumentierung an seiner Aufgabe orientierten undvon seiner Funktion her bestimmten Organismus.

Dieser zugunsten des plebejischen Massenheeres entscheidende Vorzugkann allerdings nur zum Tragen kommen, wenn wirklich die Plebs inihrer Gesamtheit und vollen Umfänglichkeit für die rekrutierende Aus-lese zur Verfügung steht und als militärisches Kräftepotential zugäng-lich ist. Genau damit indes hapert es! Weil, wie gesehen, die plebiszitär-tribunizische Volksbewegung ihre ökonomischen Forderungen und so-zialen Ansprüche auf ein existenzialisiertes Bürgerrecht, sprich, auf die inein Existenzsicherungsversprechen und Sozialgarantiegebot gewendeteZugehörigkeit zur römischen civitas gründet, ist sie ja das exklusive An-liegen und das privilegierte Vorhaben derer, die das römische Bürgerrecht

 besitzen. Das heißt, sie ist unter den im italischen Raum traditionell gege- benen politisch-föderalen Bedingungen auf die hauptstädtische Menge,die Plebs der Urbs Romana, beschränkt und schließt die parallel zurhauptstädtischen Entwicklung auch in den übrigen latinisch-italischenGemeinden entstandenen und von ähnlicher Not und ähnlichem Elend

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wie die römische Plebs betroffenen Volksmassen effektiv aus. So sehr

von dem politisch-ökonomischen Scheideprozess, den mittels kolonia-listischer Ausbeutung und imperialistischer Sklavenarbeit die römischeNobilität in Gang setzt, auch und vor allem die Socii der Republik, diedurch unverbrüchliche politische Verträge und mittlerweile unzerreißba-re ökonomische Bande mit der Republik verknüpften oder vielmehr an siegefesselten Volksgruppen und Gemeinschaften der italischen Halbinseltangiert werden und so sehr also auch bei ihnen eine Aufspaltung derGesellschaft in zwei durch ihre Vermögensverhältnisse getrennte ungleichgroße Hälften, eine kleinere, durch ihre Verbindungen zur römischen No- bilität ökonomisch profitierende, und eine weit größere, in specie durchdie militärischen und ökonomischen Lasten, die den Socii von Rom auf-gebürdet werden, und in genere durch die kolonialistisch-imperialistischeBereicherungsstrategie der römischen Nobilität geschädigte und parallelzum Schicksal der hauptstädtischen Plebs pauperisierte und deklassierteSchicht, statthat, so sehr bleiben doch aber diese Volksgruppen und Ge-meinschaften allesamt vom römischen Bürgerrecht ausgeschlossen, dasheißt, sie bleiben Bürger zweiter oder dritter Klasse, die weder an den inder Hauptstadt zentrierten politischen Entscheidungsprozessen der Re-publik im mindestens beteiligt sind, noch irgend in den Genuss der in derHauptstadt zum Programm erhobenen beziehungsweise kontrahiertenwohlfahrtsstaatlichen Eingriffe und Umverteilungsmaßnahmen kommen,

die das Los der römischen Plebs zu lindern dienen. Und allesamt nehmensie Anstoß an dieser sozialen Benachteiligung und politischen Diskrimi-nierung und streben mit Macht nach Aufnahme in den bürgerrechtlichgeschlossenen Verband der Republik – die mit den römischen Herrenliierten Wohlhabenden, weil sie nicht einsehen, warum ihr ökonomischerErfolg und sozialer Vorrang nicht von einer entsprechenden politischenAnerkennung und Positionierung begleitet oder gefolgt sein soll, und diein Armut und Elend Gestürzten, weil sie der hauptstädtischen Plebs dieVorzugsbehandlung, die relative ökonomische Unterstützung und sozialeAbsicherung, neiden, die ihr die aufs Bürgerrecht pochende plebiszitär-

tribunizische Volksbewegung verschafft.Aber nicht nur die latinisch-italischen Bundesgenossen leiden unterder Kluft, die das Bürgerrecht zwischen ihnen und der römischen civitas,der verbrieften Bürgerschaft der Republik, aufreißt, auch dem paupe-risierten und deklassierten Teil der römischen Bürgerschaft selbst, der

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hauptstädtischen Plebs und Trägerin der Volksbewegung, gereicht diese

Scheidelinie objektiv und gleich in zweifacher Hinsicht zum Schaden. Ei-nerseits und vor allem nämlich hindert sie die hauptstädtischen Plebejer,durch Vereinigung mit ihren Leidensgenossen in den anderen Gruppenund Gemeinschaften ihr politisches Kräftepotential voll zu mobilisierenund jenes zur Maßbestimmung durchschlagende quantitative Überge-wicht zu erringen, durch das sie sich aus einer eindrucksvoll zahlreichenFraktion in eine unwiderstehlich kritische Masse, aus einer popularenOpposition innerhalb der römischen Republik in den die Republik übersich hinaustreibenden Normaltypus des römischen Populus verwandel-te. Und andererseits und schlimmer noch erzeugt diese die römischePlebs von ihren bundesgenossenschaftlichen Konsorten, ihren latinisch-

italischen Alteregos trennende Kluft des bürgerrechtlichen Status beiersterer ein dem Bewusstsein ihrer Privilegierung entspringendes eigen-süchtiges Verhalten, das wesentlich verantwortlich ist für ihre oben alsdispositionelle Schwäche, als Unfähigkeit zu strategischer Weitsicht undsolidarischer Perspektive, ausgemachte Wankelmütigkeit und Bestech-lichkeit. Weil sich die römische Plebs die politische Vorzugsstellung, diesie kraft Bürgerrechts innehat, und die ökonomische Vorzugsbehandlung,die sie dank politischer Vorzugsstellung genießt, um jeden Preis erhaltenmöchte und befürchtet, dass die Ausdehnung des Bürgerrechts und diedamit einhergehende Erweiterung des Kreises plebejischer Unterstüt-

zungsbedürftiger und Fürsorgeberechtigter ihr unliebsame Konkurrenzins Haus trägt und das Niveau der exklusiv für sie erbrachten Leistungenund an sie adressierten Zuwendungen senkt, sträubt sich die römischePlebs mit Händen und Füßen gegen die strategisch-perspektivisch nurallzu sinnvollen Bemühungen ihrer tribunizischen Führung, durch ei-ne Ausweitung des Bürgerrechts auf die Bundesgenossen das gesamtePotential plebejischer Unzufriedenheit hinter ihrer Fahne zu versam-meln und so der Volksbewegung das für ihren schließlichen Triumpherforderliche Quantum und Momentum zu sichern, und schafft damitzugleich die Bruchstelle im Gefüge der plebejischen Organisation, ander die Optimaten immer wieder zerstörerisch ansetzen, die Lücke im

Volkswillen, in die sie immer erneut den Keil ihrer kompromittierendenVersprechungen und entsolidarisierenden Zuwendungen treiben können.

So ausgeprägt ist in der Tat der Gruppenegoismus der römischen Plebsund so wenig ist sie imstande, über den Tellerrand ihrer privilegiert-hauptstädtischen Wohlfahrt und Fürsorge hinauszublicken und sich die

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strategische Weitsicht und den programmatischen Durchblick ihrer tri-

 bunizischen Führung zu eigen zu machen, dass auch, nachdem in derKonsequenz der Heeresreform ihr aktueller Mangel an exekutiver Macht beseitigt und ihre in Disziplinlosigkeit und Verführbarkeit bestehendedispositionelle Schwäche, wenn schon nicht eigentlich behoben, so dochdurch die militärische Disziplin und soldatische Loyalität der aus ihrausgelesenen Streitmacht neutralisiert ist, sie in puncto Verleihung desBürgerrechts unbelehrbar bleibt und selbst noch dem anderthalb Jahr-zehnte später vom Volkstribunen Marcus Livius Drusus wieder einmalerneuerten Antrag, den italischen Bundesgenossen das Vollbürgerrechtzu gewähren, die Unterstützung versagt, so dass es der Optimatenparteiein leichtes ist, das Ansinnen zu vereiteln.

Indes lässt diese abermalige Zurückweisung ihrer Forderung nachvoller Teilhabe an den politischen Entscheidungsprozessen und ökono-mischen Aneignungsstrategien der Republik beziehungsweise an denökonomischen und sozialen Vergünstigungen, die die Republik für dieinternen Opfer jener Aneignungsstrategien bereithält, bei den Bundes-genossen endgültig den Geduldsfaden reißen, und sie greifen zu denWaffen, um sich mit Gewalt zu nehmen, was ihnen die unheilige Allianzaus herrschaftsmonopolistischer Nobilität und gruppenegoistischer Plebsseit bereits drei Jahrzehnten, seit dem ersten Gleichstellungsantrag desGaius Gracchus, beharrlich verweigert. Sei’s, weil politische Vernunft siezu der Einsicht führt, dass die Socii ohne die geforderte Konzession nichtdauerhaft und zuverlässig bei der Stange der römischen Herrschaft zuhalten sind, sei’s, weil sie schlicht und einfach militärisch zu schwachsind, um ihren kompromisslosen Standpunkt durchhalten zu können – jedenfalls geben die Römer im Kernpunkt der Auseinandersetzung, inder Bürgerrechtsfrage, nach, und so endet der Bundesgenossenkrieg mitder bürgerrechtlichen Gleichstellung aller latinisch-italischen Bundesge-nossen südlich der Poebene, sprich, mit der Einbindung der zu Foederatierklärten Socii in den Gesellschaftsvertrag der römischen civitas.

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Dem militärisch fundierten Pakt zwischen tribunizischem Konsul, exekutivem

Staatsapparat, und popularer Bewegung, plebejischer Masse, hat die Nobilitätnichts entgegenzusetzen, zumal er sie zwar politisch, in ihrer Führungsrolle,vorerst aber nicht ökonomisch, in ihrem Besitzstand, bedroht. Entscheidend fürden vollständigen Sieg der neuen, plebiszitär imperativen Herrschaft indes ist,dass ein Teil der Nobilität, die Ritterschaft, offen zu ihr überläuft und ihr das fürein erfolgreiches Regiment erforderliche Maß an ziviler Herrschaftstechnik undökonomisch-bürokratischem Know-how zuführt.

Damit aber steht nun in der Tat der plebiszitär-tribunizischen Volks- bewegung das volle Potential an Menschen, aus dem sie schöpfen, dieganze kritische Bürgermasse, die sie mobilisieren kann, zu Gebote undlässt sie endgültig aus einem fraktionell-tentativen Ausbruchsversuchzu einem totalitär-normativen Aufbruchsunternehmen, aus einer partei-ischen, partikularen Motion zu einer veritablen Haupt- und Staatsaktionwerden. Gestützt auf eine Plebs, deren militärische Funktionalisierungebenso sehr ihren Mangel an institutioneller Macht beseitigt, indem sieihr Einfluss auf die konsularisch-prätorische Exekutive verschafft, wieihre als Wankelmütigkeit und Disziplinlosigkeit perennierende dispo-sitionelle Schwäche, wenn schon nicht behebt, so jedenfalls doch unterKontrolle zu bringen erlaubt, und die darüber hinaus dank Ausdeh-nung des Bürgerrechts die Schranken hauptstädtischer Partikularität

durchbricht und die Universalität eines die ganze Föderation, die ganzerepublikanische Assoziation durchherrschenden sozialen Grundtypus,einer allgegenwärtigen Klassenbefindlichkeit hervorkehrt, verwandeltsich die Popularenpartei in eine Repräsentanz des römisch-latinischenPopulus, deren Herrschaft nicht mehr als fraktionelle Vergewaltigung derim Rahmen der politisch gespaltenen Hauptstadt durchaus noch ins Ge-wicht fallenden Optimatenpartei und ihrer bürgerlichen Anhängerschafterscheint und deshalb, um sich behaupten zu können, nolens volensdie Züge eines Schreckensregiments à la Cinna hervorkehrt, sondernsich als kategorische Manifestation, um nicht zu sagen: diktatorische

Verfügung, des gegen die Reaktion einer schmalen Schicht von Reichenund Mächtigen geeinten Willens der durch ihr quantitatives Übergewichterdrückenden Volksmenge zu verstehen gibt und deshalb mit der Legi-timität des sich gegen Privatinteresse und persönlichen Egoismus zurGeltung bringenden Gemeinwesens auftritt.

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imperatorisches Regierungsgeschäft. In dem Maße, wie mittels Massen-

heer die Plebs direkte Verbindung zur staatlichen Exekutive aufnimmtund richtungsweisenden Einfluss auf sie gewinnt, tritt letztere an dieStelle der bisherigen tribunizischen Führung und überführt damit die nurerst im konstitutionellen Rahmen nach staatlicher Macht strebende Volks- bewegung in einen nunmehr auf institutioneller Basis die Staatsmachtübenden Gewalthaber. Indem kraft seines neuen Amtes als Führer desMassenheers der mit vollem imperium, mit Handlungsmacht, ausgestat-tete Konsul den von Haus aus nur mit Veto, mit Einspruchsrecht, versehe-nen Tribunen in der Rolle des popularen Vorkämpfers ersetzt, kann dieserVolksführer neuen Zuschnitts in effectu seiner regulär-exekutiven Amts-

waltung jene im Interesse der Plebs revidierte, sprich, im wohlfahrts-staatlichen Sinne reformierte Staatsfunktion erfüllen, die der Volksführertribunizischer Provenienz bloß in effigie seiner plebiszitär-initiativenInterventionen auszuüben imstande war, und löst sich die von untenund gegen den erklärten Willen der gesamten Oberschicht auf rein kon-stitutioneller Basis angestrebte Neuetablierung der Staatsmacht in eineplötzlich von innen und quasi aus dem objektiven Gegenwillen der Ober-schicht selbst heraus erfolgende und ganz und gar im institutionellenRahmen sich haltende Umfunktionierung eben dieser Staatsmacht auf.Weil die Logik der Erhaltung des imperialen Staatswesens, zu dem sich

die Republik gemausert hat, eine qua Heeresreform vom Staat selbst inpersona seiner konsularischen Exekutive durchgesetzte Redintegrationder Plebs in den staatlichen Funktionszusammenhang, mithin die Ver-wandlung derer, die bislang als die entwurzelten und deklassierten Opferder zivilen Gesellschaft firmierten, in ein tragendes Element und einedementsprechend bestimmende Kraft eben dieser zivilen Gesellschafterheischt, hat die tribunizische Vertretung der Plebs, die zuvor deren In-teressen zur Geltung zu bringen und ihr als Gruppe die Wiederaufnahmein das zivile Corpus zu verschaffen suchte, in der Tat ihre Schuldig-keit getan und räumt ihren Platz jener konsularisch-imperatorischen

Repräsentanz der Plebs, die institutionell-effektiv ist, was das Tribunatnur erst konstitutionell-initiativ zu simulieren suchte: eine Staatsmacht,die ihrer Vermittlungs- und Ausgleichsaufgabe gerecht wird und denTeilhabeanspruch der Plebs mit dem Bereicherungsstreben der Nobilitätin Einklang zu bringen unternimmt.

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Der das Tribunat überflüssig machende militärisch fundierte unmittel-

 bare Pakt zwischen exekutivem Staatsapparat und plebejischer Masse ge-winnt, ganz abgesehen von seiner imperialstrategischen Notwendigkeit,noch dadurch zusätzlich an Überzeugungskraft, dass er allen Beteiligtenzustatten kommt und Vorteil bringt. Der Plebs und dem aus ihr rekru-tierten Massenheer sichert er ökonomische Grundversorgung und sozialeFürsorge, Brot und Spiele. Der konsularischen Exekutive verschafft ermilitärische Macht und, auf ihr fußend, einen bis dahin unbekannten, dasSystem der republikanischen Funktionsteilung sprengenden Handlungs-spielraum gegenüber den anderen traditionellen staatlichen Institutionen.Aber auch der Nobilität, die auf den ersten Blick ja sein Opfer scheint,

weil sie letztlich die Zeche der mit ihm akzeptierten Umverteilungs-ansprüche und eingegangenen wohlfahrtsstaatlichen Verpflichtungen bezahlen muss – auch und sogar der Nobilität bringt er, genauer be-sehen, Gewinn. Nicht nur ist nämlich die auf seiner Grundlage und inseinem Rahmen ins Werk gesetzte militärische Massenmobilisierung,sprich, die Rekrutierung professioneller Söldnerheere unter konsularisch-imperatorischer Führung, conditio sine qua non der weiteren Expansiondes Reiches und der Sicherung und Integration des Eroberten, mithindie außenpolitische Bedingung dafür, dass die Nobilität ihre auf solcherExpansion und großflächigen Okkupation beruhende externe Ausplün-

derungspolitik fortsetzen kann. Die Massenmobilisierung erweist sichauch und mehr noch angesichts des Widerstands, der sich gegen dieinterne Ausbeutungspraxis der Nobilität bei deren Hauptopfern, denSklaven, formiert, als eine innenpolitisch unabdingbare Maßnahme. Wieder Aufstand des Spartakus deutlich macht, droht dem auf der Basis agri-kultureller und manufaktureller Sklavenarbeit errichteten inneritalischenAusbeutungssystem der römischen Nobilität Gefahr durch eben diese,gegen ihre rücksichtslose Nutzbarmachung aufbegehrende Basis; undwill die Nobilität die revoltierenden Sklavenmassen niederzwingen undsie sich als ausbeutbares Potential erhalten, so muss sie eigentlich an dem

neuentstandenen, schlagkräftigen Machtinstrument und Ordnungsfaktordes konsularisch organisierten und imperatorisch geführten plebejischenMassenheeres ebenso interessiert sein, wie sich umgekehrt das plebejischeMassenheer um der Teilhabe an den Früchten des Ausbeutungssystemsder Nobilität willen, die ja der maßgebende Grund für sein Entstehen

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ist, bereit zeigt, die Niederschlagung des Aufstandes ins Werk zu set-

zen und mit aller ihr zu Gebote stehenden Gewalt für die Kontinuitätder als Grundlage des agrikulturellen beziehungsweise manufakturellenAusbeutungssystems der Nobilität firmierenden Sklavenarbeit zu sorgen.

Indes, die Einbuße an politischer Macht und ökonomischer Verfügung,die der in officio der konsularisch-prätorischen Exekutive geschlosseneplebejisch-imperatorische Pakt ihr beschert, kommt die Nobilität hartan und lässt sie als Ganzes, als durch ihr territoriales oder kapitales Ei-gentum und durch dessen Bereicherungsanspruch definierte Optima-tenpartei, in starrsinniger Opposition gegenüber der durch die Heeres-reform initiierten Entwicklung der imperialen Republik zum Imperiumsans phrase verharren. Soll die Nobilität an der Entwicklung teilneh-

men, soll sie in die neue Machtkonstellation der zwischen Plebs undstaatlicher Exekutive qua Massenheer geschmiedeten Interessengemein-schaft Aufnahme finden und eingebunden sein, so muss ihr Widerstandirgendwie und jedenfalls ohne eine ihre ökonomische Grundlage undsoziale Stellung, kurz, ihre Existenz als gesellschaftliche Gruppe, gefähr-dende Gewaltanwendung gebrochen, muss sie zu ihrem Glück, demGlück einer den Verlust an politischer Macht, an Verfügung über denStaatsapparat, ihr versüßenden Erhaltung ihres kolonialistischen Aus-plünderungssystems und ihres sklavenwirtschaftlichen Ausbeutungs-mechanismus, quasi gezwungen werden. Und an der Entwicklung be-

teiligt, in die neue Machtkonstellation eingebunden werden muss dieNobilität unter allen Umständen, da ohne ihre wie immer zähneknir-schende Zustimmung und wie immer erzwungene Mitwirkung demzum populistisch-imperatorisch reorganisierten Staatsunternehmen beiallem militärisch-strategischen Erfolg, den es haben mag, das schließlichepolitisch-ökonomische Scheitern sicher ist.

Nicht, dass die Nobilität militärisch dem mittels Massenheer vom Volkgetragenen imperatorischen Regiment der konsularischen Exekutive ge-wachsen wäre und ernsthaft Widerstand leisten könnte. Was sie abersehr wohl kann, ist, diesem neuen Regiment seinen Sinn und Zweckzu verschlagen, es um die Früchte zu bringen, die es tragen soll und

derentwillen es der patrizisch-senatorischen Republik aufgepfropft wird.Schließlich dient das neue Regiment ja primär und in der Tat wesentlichdem Zweck, die römisch-italische Plebs am Ertrag des bestehenden kolo-nialistischen Extraktions- und sklavenwirtschaftlichen Exploitationssys-tems der Republik teilhaben zu lassen und sie damit für die ökonomische

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Bedürftigkeit und das soziale Elend zu entschädigen, in das sie eben

dieses System im Zuge seines Entstehens gestürzt hat. Und schließlichist gleichermaßen Eigentümerin und Urheberin des von der Plebs, wiezuvor als ihr Verderben erfahrenen, so jetzt als ihre Rettung betrachtetenSystems niemand anderes als die Nobilität. Und nicht nur Urheberin undEigentümerin des Systems, von dem sich die Plebs ihre Sanierung undResozialisierung erhofft, ist die Nobilität – sie ist auch und vor allem seineintelligente Betreiberin und kompetente Verwalterin. Will die Plebs inspecie, und die auf ihre Wehrkraft bauende imperatorische Staatsmachtin genere das unter republikanischen Auspizien geschaffene politisch-ökonomische System kolonialistischer Ausplünderung und sklavenwirt-schaftlicher Ausbeutung erhalten und seine Früchte im kompensatorisch-

wohlfahrtsstaatlichen Sinne nutzbar machen und will sie dies im Rahmendes prinzipiell unversehrten römischen Gesellschaftsvertrages und sei-ner wie immer existenziell gewendeten bürgerrechtlichen Ordnung, dasheißt, ohne alle, die Früchte, die sie sich erhofft, im Zweifelsfall verdorrenlassende umstürzlerische Entmachtung und gewaltsame Enteignung tun,so muss sie die Schöpfer und Lenker des Systems irgendwie auf ihreSeite ziehen und zur wenn auch vielleicht widerwilligen, so doch aberhinlänglich eigeninteressierten Kooperation bei ihrem Umverteilungspro-gramm bewegen. So sehr das an die Stelle der plebiszitär-tribunizischenKommissionen tretende militärisch-imperatorische Regiment politisch-

strategisch die Oberhand gewinnt und die Macht im Staate erringt, sosehr bleibt es indes aus technokratisch-bürokratischer Räson nicht weni-ger als aus juridisch-verfassungsrechtlichen Gründen gehalten, die zwarpolitisch unterlegene, ökonomisch dennoch aber unverändert die Zügelin der Hand haltende Nobilität zu umwerben und ihr die für ihr Einlen-ken und Mitspielen erforderlichen Avancen zu machen. Die Optimatenumzustimmen und gar zum gedeihlichen Zusammenwirken mit denneuen popularen Herren zu bewegen, scheint allerdings angesichts derErbitterung, die wechselseitige Terrorherrschaften zwischen den beidenParteien erzeugt haben, keine leichte Aufgabe und alles andere als einerfolgversprechendes Geschäft.

Auch in diesem Punkte aber erweist sich der kraft der popularisti-schen Neuorientierung, die Hand in Hand mit der militärstrategischenBevollmächtigung des konsularischen Amtes geht, vollzogene Wech-sel der staatlichen Exekutive vom tribunizischen Plebiszit zum impera-torischen Diktat als äußerst hilfreich und in der Tat als Schlüssel zum

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Gelingen. Der neue, auf der Basis plebejischer Söldnertruppen sein im-

perium als Generalvollmacht begreifende Führer der Republik findetnämlich, weil er zugleich der alte konsularische Amtswalter, der obersteOffizial des traditionellen Staatsapparates ist und also dem ohnehin denkonstitutionellen Rahmen wahrenden Staatsstreich, den er verkörpert,noch zusätzlich die beruhigende Physiognomie institutioneller Konti-nuität verleiht, mehr oder minder spontanen Anklang und mehr oderminder offene Zustimmung bei Teilen der Nobilität und ist so imstan-de, die Widerstandsfront aufzusprengen und zu durchbrechen, als diesich diese, Expropriation und Zwangsarbeit in imperialen Dimensionenpraktizierende Interessengemeinschaft auf den ersten Blick präsentiert.Dabei ist die Verwerfungs- und Bruchlinie, die sich durch die Interessen-gemeinschaft hindurchzieht, Folge ihrer zwieschlächtigen Verfassung,Konsequenz mit anderen Worten der oben verhandelten Tatsache, dasssich die Nobilität, die politisch-ökonomische Führungsschicht der nachden Punischen Kriegen imperialistisch expandierenden und kolonialis-tisch organisierten Republik, aus zwei, weniger sozial als funktionellunterscheidbaren Gruppen oder besser gesagt Cliquen zusammensetzt,aus Patriziern und Rittern, aus traditionell das politische Leben dominie-renden Landbesitzern und habituell das Wirtschaftsleben beherrschendenKapitaleignern, aus militärisch-bürokratischen Staatsrepräsentanten undunternehmerisch-plutokratischen Geldagenten, analytischer gefasst, aus

denen, die durch politische Entscheidungen und militärische Strategiendie für die Aneignung fremden Reichtums und die Ausbeutung fremderReichtumsquellen erforderlichen Bedingungen schaffen, sprich, Territori-en erobern und unterwerfen und Menschen rekrutieren und versklaven,sowie denen, die mittels unternehmerischer Ausbeutung, zinsnehmeri-scher Abschöpfung und kommerziellen Profits dafür sorgen, dass diekolonialisierten Gebiete und die rekrutierten Sklavenheere ihrer Quell-funktion auch gerecht werden und tatsächlich die Gewinne abwerfen, diesich die Interessengemeinschaft aus patrizischen Eroberern und equestri-schen Bewirtschaftern von ihnen erwarten.

Dass die eben deshalb als Interessengemeinschaft firmierenden beidenGruppen oder Cliquen auf einander angewiesen sind und sich als einer-seits jene, die durch Expansion die Reichtumsquellen erschließen, und an-dererseits jene, die durch Ausbeutung der Reichtumsquellen die Expan-sion finanzieren, gegenseitig bedingen, hindert indes nicht, dass in dem

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Maße, wie die Zusammenarbeit währt und die erwünschten Resultate im-

perialer Dimension und kapitalen Kalibers zeitigt, Ressentiment sich breitmacht und eine konfliktträchtige Entfremdung eintritt. In dem Maße, wiesich das imperiale Herrschaftsgebiet zum relativ fest gefügten und gutverwalteten System mausert und die in ihm etablierten Ausplünderungs-und Ausbeutungsmechanismen sich zur ebenso verlässlichen wie groß-angelegten Routine entwickeln, beginnen insbesondere die Ritter, die Juniorpartner in der Interessengemeinschaft, Anstoß an der zwischen den beiden Cliquen bestehenden Arbeits- und Machtteilung zu nehmen: Siesehen nicht mehr ein, warum sie, die doch bei der Realisierung ihres ge-meinsamen Interesses, bei der Beschaffung imperialen Reichtums durchKolonialismus und Sklavenwirtschaft die Hauptarbeit verrichten und dieentscheidende Rolle spielen, immer noch den Mitgliedern der anderenClique, den senatorischen Patriziern, politisch untergeordnet und alsmehr oder minder stillen Teilhabern ökonomisch massiv zinspflichtigsein sollen, obwohl letztere doch, von eventuellen militärischen Aktionenin Krisensituationen und an Krisenpunkten des Imperiums abgesehen,nichts weiter mehr leisten, als in einem zum größten Teil befriedeten undgut geordneten Kolonialreich Verwaltungsposten zu besetzen, die schierePfründen sind, beziehungsweise ihren pacht- oder zinsförmigen Anteilan den Profiten einzustreichen, die die Ausbeutung der Ressourcen desReiches durch den Ritterstand abwirft, und im übrigen in ihren Stadt-

residenzen oder auf ihren Landgütern ein höchstens von Sitzungen desSenats und politischem Intrigenspiel unterbrochenes beschauliches Lebenim Überfluss zu führen.

Zwar, die Domestiken- und Faktorenrolle, in die sie, die Kaufleuteund Finanziers der Republik, sich zu Anfang ihrer gewinnträchtigenZusammenarbeit mit dem zur Gründung kolonialer Provinzen schreiten-den und nach imperialer Herrschaft strebenden Patriziat gedrängt sehen– diese bescheidene Rolle spielen sie mittlerweile nicht mehr; gemäßihrer zentralen Stellung und Unentbehrlichkeit im etablierten System derAusplünderung der Kolonien und einer auf Basis von Sklavenarbeit be-

triebenen agrikulturellen oder manufakturellen Ausbeutung haben sie esmittlerweile zu einem eigenen, dem Patriziat im Prinzip gleichgeordnetenStand gebracht und sind von bestenfalls begönnerten Juniorpartnern zuvollgültigen und in ökonomischer Hinsicht sogar federführenden Teil-habern beim Geschäft imperialer Bereicherung, quasi zum Prokuristen

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im republikanischen Selbstbedienungsladen der Nobilität, aufgestiegen.

Aber je mehr sie an Kompetenz und Befugnis gewinnen und je größerdie Vermögen werden, die ihre kommerziellen Aktivitäten ihnen be-scheren, je häufiger sie, wenn schon nicht an sozialem Prestige, so dochan realem Einfluss und kapitaler Macht ihren Seniorpartnern sogar denRang ablaufen, um so schmerzlicher empfinden sie, dass sie in politischerHinsicht, das heißt, bei der Entscheidung über staatliche Strategien undMaßnahmen nach wie vor hinter ihren Seniorpartnern zurückstehenmüssen und ihnen untergeordnet bleiben, und um so stärker macht ihnenzu schaffen, dass sie sich bei ihren ökonomischen Unternehmungen undfinanziellen Spekulationen in den Provinzen immer wieder mit dem vomPatriziat beherrschten militärisch-bürokratischen Apparat konfrontiertund teils durch die Vormachtstellung und Privilegien, die dieser Apparattraditionell beansprucht, teils durch die Pfründen- und Schmiergeldmen-talität, die sein patrizisches Personal habituell kultiviert, eingeschränktund beeinträchtigt finden. Was die Kaufleute und Finanziers, die Päch-ter und Unternehmer des equestrischen Standes gerne hätten und imInteresse einer konsequenten Verfolgung ihrer Profitmaximierungsstra-tegien am ehesten bräuchten, wäre eine Staatsführung, die nicht wie dassenatorische Patriziat die Expropriationsarbeit ihnen überlässt und dabeiaber permanent mitreden oder gar das Wort führen und alle Entschei-dungen fällen und von ihnen zum Lohn dafür, dass sie die politischen

Rahmenbedingungen für das Ausbeutungsgeschäft militärisch schafftund bürokratisch aufrecht erhält, ständig hofiert und geschmiert, mit amt-lichen Pfründen und stillen Teilhaberschaften befriedigt sein will, sonderndie tatsächlich den Rittern in allen zivilen und bürokratischen Angelegen-heiten die Generalvollmacht und unbeschränkte Prokura überträgt, siequasi ihr kommerziell-finanzielles Unternehmertum in der Eigenschaftvon Staatsfunktionären und kolonialen Verwaltungsbeamten ausübenlässt und sich selbst dabei auf die Rolle des militärischen Krisenmanagersund polizeilichen Ordnungshüters beschränkt und die für solche Selbst- bescheidung nichts weiter verlangt als die in abstracto – will heißen, auf 

dem Boden der konkreten Machtausübung durch die ritterliche Bürokra-tie – absolute politische Gewalt im Staate und eine zur Befriedigung ihrerneuen Klientel, nämlich zum Unterhalt der Plebs und zur Versorgung derVeteranen, ausreichende Beteiligung an den Profiten, die die Ritterschaftaus dem Imperium zieht beziehungsweise schlägt.

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Und genau dieser Idealvorstellung von einer den Finanziers und Kauf-

leuten als quasi Staatsbeamten das politisch-ökonomische Feld überlas-senden und die eigene Rolle auf militärisches Krisenmanagement und po-lizeiliche Ordnungsaufgaben beschränkenden Staatsfunktion scheint nunaber die neue, plebiszitär-imperatorische Staatsfunktion nahe zu kom-men. Indem er einerseits den Wasserkopf des senatorisch-patrizischenRegiments auf die Einmannherrschaft des konsularischen Feldherrn undseines Militärapparats zu reduzieren verspricht und andererseits hin-sichtlich der finanziellen Forderungen, die er für sich selbst und seineplebejisch-militärische Klientel erhebt, auf eben die Überschaubarkeit undKalkulierbarkeit hoffen lässt, die den Ansprüchen der sich aufgrund ihrer

politischen Macht als stille Teilhaber ins equestrische Geschäft drängen-den und in ihren kolonialen Ämtern auf Zeit von unersättlicher Habgierund mafiosem Pfründendenken erfüllten Mitgliedern des senatorisch-patrizischen Staatsapparats so gänzlich abgeht, lockt der neue Staat dieRitterschaft mit ungeheuren, aus der politisch-ökonomischen General-vollmacht, die er ihr in Aussicht stellt, der finanziell-kommerziellen Pro-kura, die er für sie bereithält, quasi zwangsläufig folgenden Bereiche-rungschancen und lässt ihre Hinwendung und Desertion zu ihm und ihrAusscheren aus der als Interessengemeinschaft charakterisierten Frontder Nobilität unvermeidlich und zu einer bloßen Frage der Zeit und

Gelegenheit werden.Nicht, dass die Ritterschaft nicht auch schon mit der durch die plebiszi-tär-tribunizische Volksbewegung hervorgetriebenen neuen Staatsfunk-tion kokettiert und diese ihrerseits die Ritterschaft umwirbt, bevor andie Stelle des tribunizisch-dekretorischen Volksführers der konsularisch-imperatorische Heerführer tritt und so aus der konstitutionell sanktio-nierten bloßen Simulation einer alternativen Staatsgewalt die institu-tionelle Emulation der letzteren durch die traditionelle Exekutive wird.Schließlich besteht der aus Ressentiment und Entfremdung, kurz, ausInteressendivergenz gewirkte Riss, der die politisch als Optimatenpartei

organisierte Nobilität durchzieht, bereits mindestens ebenso lange, wiedie Bemühungen der als Popularen formierten Volksbewegung währen,den Staatsapparat aus einem Selbstbedienungsladen der Nobilität ineinen Wohlfahrtsfonds zur Befriedigung subsistenzieller und sozialerBedürfnisse der Plebs umzumünzen. Tatsächlich beweist schon in den

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Anfängen des tribunizischen Strebens nach einem Staatsstreich auf Ver-

fassungsbasis der jüngere Gracchus allen erforderlichen Durchblick, wasdie brüchige Allianz zwischen Patriziat und Ritterschaft und die Chance betrifft, letztere für eine Neuordnung der politischen Machtverhältnissezu gewinnen: Indem er durch Plebiszite der Ritterschaft das Steuerpacht-monopol über die Provinz Kleinasien verschafft und die Besetzung der alsKontrollinstanz für allzu korrupte patrizische Kolonialbeamte fungieren-den Geschworenengerichte zuspricht, gibt er deutlich zu erkennen, wo erdie als fünfte Kolonne im Kampf gegen das senatorisch-patrizische Sys-tem rekrutierbaren Bundesgenossen wittert und welchen equestrischenNerv er zum Klingen bringen muss, um die Steuerpächter, Finanziers,Unternehmer und Großkaufleute der Republik einen im konstitutionellerKontinuität vollzogenen Umsturz geneigt zu stimmen. Aber auch wenndie Ritterschaft bereitwillig die plebiszitären Geschenke annimmt, die ihrdas Tribunat macht, politisch auf die Seite der Volksbewegung ziehenlässt sie sich deshalb noch lange nicht. Allzu unsicher und wankelmütigerscheint ihr die Plebs, allzu unausgegoren und maßlos kommen ihrderen ökonomische und soziale Ansprüche vor, allzu wenig Vertrauensetzt sie in die personelle Standfestigkeit und institutionelle Kontinuitätihrer tribunizischen Führung, kurz, allzu sehr bedroht vom Schicksalrevolutionären Ausufern oder haltloser Anarchie sieht sie das einen alter-nativen Staat bloß erst simulierende plebiszitär-tribunizische Regiment,

als dass sie ernstlich auf dessen Karte zu setzen bereit wäre, statt an ihremmittlerweile ungeliebten und lästigen, aber doch immerhin gewohntenund bei allen Beschwerlichkeiten, die mit ihm verknüpft sind, ihr je-denfalls nicht das Geschäft verderbenden Interessenverbund mit demPatriziat festzuhalten.

Und hier bedeutet nun aber die Ersetzung der plebiszitär begründetentribunizischen Führung durch das militärisch fundierte konsularischeimperium und der darin implizierte zündende Kurzschluss zwischenVolksbewegung und staatlicher Exekutive eine entscheidende Verände-rung der Situation. Indem sich vermittels Heeresreform an die Spitze

der popularen Partei die traditionelle staatliche Exekutive, die konsula-rische Gewalt, höchstpersönlich setzt, verleiht letztere der ersteren Kre-ditwürdigkeit und wird zum quasi offiziellen Garanten dafür, dass dieVolksbewegung ihr Reformprogramm tatsächlich auf die Forderung nachTeilhabe an den Früchten des auf kolonialistisch-sklavenwirtschaftlicher

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Basis betriebenen Bereicherungssystems der Nobilität beschränkt und

eben deshalb an der Aufrechterhaltung des Systems kein geringeres Inter-esse hat als die Nobilität selbst und dass sie zudem in Gestalt der aus ihrerKlientel, der Plebs, ausgelesenen Söldnertruppen für ihre Teilhabe eineLeistung erbringt, die sich als wesentlicher Beitrag gleichermaßen zurexternen Unterwerfung und Beherrschung des als politisch-militärischerEntfaltungsraum für das ökonomische Bereicherungssystem dienendenImperiums und zur internen Disziplinierung und Kontrolle der durchdas Bereicherungssystem produzierten mittel- und bindungslosen Un-terschicht, sprich, der Plebs selbst, erweist. Angesichts dieses Zugleichvon Chancen eröffnender Veränderung und Sicherheit gewährleistenderKontinuität, dieses Amalgams aus neuer, tribunizischer, das Patriziatentmachtender Staatsfunktion und alter, konsularischer, die traditionelleOrdnung verkörpernder Staatsgewalt gibt der Ritterstand seine letz-ten Widerstände und seine innerste Reserve gegen die Volksbewegungauf, ergreift die Gelegenheit, sich von der beschwerlichen politischenVormundschaft des Patriziats zu emanzipieren und am Ende vom pri-vatunternehmerischen Agenten, vom bloß ökonomischen Sachwalter derals Seniorpartnerin firmierenden senatorischen Führung des Imperiums,zum staatskapitalistischen Verweser, zum umfassend bürokratischenIntendanten eines als Vollmachtgeber figurierenden imperatorischen Füh-rers aufzusteigen, und läuft in wachsender Zahl und mit zunehmender

Unverhohlenheit zur Popularenpartei über. Damit aber erweitert sie denlatenten Riss, der den Interessenverbund aus Patriziat und equestrischemStand durchzieht, zur offenen Kluft und sprengt die Widerstandsfront, alsdie sich die Nobilität der plebiszitär-tribunizischen Bewegung bis dahinnoch optisch präsentiert und im Notfall faktisch beweist.

Und nicht nur negativ und zum Nachteil des senatorisch-patrizischenWiderstands gegen die konsularisch-imperatorische Machtergreifungwirkt sich aus, dass die Ritter in hellen Scharen ins Lager der Popularendesertieren – der Frontenwechsel hat mehr noch diesen positiven und dermilitärischen Machtergreifung allererst ihre zivile Perspektive verleihen-

den Effekt, dass sich so zugleich der ganze ökonomische Sachverstandund die gesamte bürokratische Kompetenz der von der Nobilität be-herrschten Republik der neuen, mit militärischer Unwiderstehlichkeitsich in Szene setzenden Staatsfunktion verschreibt und zur Verfügungstellt. In der Tat ist es der Zulauf der Ritter, durch den die in die Uniform

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des konsularischen Söldnerheeres gepresste und auf diese Weise ebenso

sehr disziplinierte wie schlagkräftig gemachte, ebenso sehr instrumenta-lisierte wie institutionalisierte Volksbewegung jenes Maß an ziviler Herr-schaftstechnik und ökonomisch-bürokratischem Know-how zugeführt bekommt, das sie über den ihr unter der neuen imperatorischen Führungnunmehr eigenen Charakter eines militärherrschaftlichen Gewaltmecha-nismus und abstrakten Unterwerfungsapparats hinaus zur erwaltung-Verwaltung des Imperiums und Begründung eines neuen Staatswesens jenseits der durch das Zusammenspiel aus patrizischer Macht, oligarchi-schem Einfluß und plebiszitärer Intervention gewirkten Republik tauglichmacht. Und in der Tat ist es der mit der massenhaften Desertion der Ritter besiegelte Verlust des Juniorpartners und die damit Hand in Hand gehen-de Einbuße an ökonomischem Verstand und bürokratischer Kompetenz,was den Widerstand des senatorischen Patriziats gegen die neue Form ei-nes aufs Söldnerheer gestützten konsularisch-imperatorischen Regimentsendgültig bricht und die bis dahin herrschende Schicht zwingt, ihre poli-tische Macht und militärische Verfügung an das imperatorische Regimentabzutreten, um sich immerhin und zumindest fürs erste ihre ökonomischeStellung und ihren darauf fußenden sozialen Vorrang zu erhalten. Von ih-ren wirkmächtigen Kompagnons, den dienenden Geistern und tüchtigenSchaffnern des kolonialistisch-sklavenwirtschaftlichen Ausbeutungssys-tems, im Stich gelassen, gibt sich das senatorische Patriziat und seinepolitische Repräsentanz, die Optimatenpartei, der militärisch ohnehin be-reits eindeutig überlegenen Popularenführung neuer Provenienz, der alsSöldnerführer sich reetablierenden traditionellen Exekutive, geschlagenund räumt ihr nun auch politisch-bürokratisch das Feld: Indem sie ihrund der zu ihr desertierten Ritterschaft die Erhaltung und Verwaltung,die Pflege und Bewirtschaftung des Imperiums überlässt und dafür nichtsweiter mehr verlangt als die Sicherung ihres Eigentums und die Garantieihres gewohnten Anteils an den Früchten der imperialen Ausbeutung, besiegelt sie den Untergang der Republik und überlässt das Imperium derihm nunmehr gemäßen, weil die Bereicherung der römischen Nobilität

durch das kolonialistisch-sklavenwirtschaftliche Ausbeutungssystem mitder Versorgung der für die Aufrechterhaltung des Systems unentbehrli-chen Plebs kraft Staatsmacht verknüpfenden imperatorischen Herrschaft.

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Der Imperator erringt mit Hilfe der Volksbewegung die politische Macht über

den Ausbeutungsapparat der Nobilität, von dem er aber zugleich zwecks Befrie-digung seiner plebejischen Klientel ökonomisch abhängig bleibt. Dieser Zwie-schlächtigkeit seiner Stellung sucht Augustus dadurch Rechnung zu tragen,dass er sich ideologisch als primus inter pares des Patriziats geriert und seineVerpflichtungen gegenüber dem Volk zu einer den traditionellen Rahmen patri-zischer Herrschaft nicht sprengenden bloßen privaten Zusatzfunktion deklariert.Dass er diesen das imperatorische Amt auf die Sondervollmacht eines Prinzipatsreduzierenden Balanceakt zwischen Plebs und Nobilität aufrecht erhalten kann,verdankt Augustus dem praktischen Erfolg seines Regiments.

Dabei zeigt sich die politische Konstitution dieser Herrschaft, eben ihrimperatorischer Charakter, nicht weniger durch den Modus ihrer Geltunggerechtfertigt als durch das Faktum ihrer Genese vorherbestimmt. Alsaus der Tradition der tribunizischen Volksvertretung hervorgegangeneist diese Herrschaft Einmannherrschaft, der ebenso unartikulierte wiemächtige Wille der vielen, der gegenüber den ebenso dominierendenwie etablierten Interessen der Wenigen sich nur dann zum Tragen brin-gen und Gehör verschaffen kann, wenn er mit einer einzigen, in einereinzigen Person konzentrierten, mittels einer einzigen maskenhaftenPhysiognomie individualisierten Stimme spricht. Sie ist mit anderen Wor-

ten Konsequenz aus der durch die Geschichte des tribunizischen Amtessattsam belegten Erfahrung, dass dieses Amt nur dann Maßgeblichkeitgewinnt, wenn einer unter den mehreren Amtsträgern sich als initiativerVolksführer in Szene setzt und Dominanz über seine Kollegen erringtund damit das der Einflussnahme und Sabotage der Nobilität Tür undTor öffnende Kollegialitätsprinzip außer Kraft setzt. Gewicht und Durch-setzungskraft aber, kurz, Geltung, gewinnt die imperatorische Herrschafteinzig und allein durch ihr imperium, nur dadurch also, dass der tribu-nizische Volksführer sich in den konsularischen Heerführer verwandeltund aus den plebejischen Massen eine staatstragende militärische Macht,

ein völkisches Söldnerheer rekrutiert. Der Heeresreform, die ebenso sehrals historischer, kontingenten Ereignissen geschuldeter Zufall wie alssystematische, strukturellen Erfordernissen gemäße Notwendigkeit er-scheint, und der mit ihr verfolgten und auch erreichten Neubegründung beziehungsweise Neubefestigung der Staatsfunktion verdankt die der

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senatorisch-patrizischen Republik den Garaus machende Einmannherr-

schaft des Imperators ihre Legitimation So gewiss die Herrschaft kraftfeldherrschaftlichem imperium ihre Motivation, ihren genetischen Grund,in den Ansprüchen der plebejischen Bürger auf ökonomische Subsistenzund soziale Integration hat, so gewiss gewinnt sie ihre Legitimation,ihre systematische Geltung aus den staatserhaltenden Aktivitäten undsystemaffirmierenden Leistungen, zu denen sie die plebejischen Bürgeranimiert und organisiert.

Und diese aus motivationaler Genese und Legitimationsgrund amalga-mierte zwieschlächtige politische Konstitution der imperialen Einmann-herrschaft, wie sie sich in der Koinzidenz von tribunizischem Volksführer

und konsularischem Heerführer, von populistischer Initiative und staatli-cher Exekutive, von Plebiszit und imperium Ausdruck verschafft – sie fin-det nun ihr genaues Spiegelbild und vielmehr reales Komplement in derökonomischen Intention, deren Umsetzung der Träger des Heeresbefehls,der Imperator, dient. Zwar ist er erst einmal und vor allem an der Macht,um die auf ein existenzielles Bürgerrecht gegründeten Versorgungs- undUnterhaltungsansprüche seiner doppelten Klientel, des besoldeten Mas-senheeres, auf das er seine Herrschaft stützt, und der Plebs, aus der seineTruppen rekrutiert, zur Geltung zu bringen und zu befriedigen, aber dadiese Versorgungs- und Unterhaltungsansprüche der plebejischen Masse

wesentlich, wie gesehen, gleichbedeutend mit der Forderung nach Teilha- be an den Früchten des von der patrizisch-equestrischen Oberschicht, derNobilität, etablierten kolonialistischen Ausplünderungs- und sklaven-wirtschaftlichen Ausbeutungssystems sind, besteht seine Aufgabe ebensowohl und zugleich darin, für die Entfaltung, Pflege und Sicherung jenesAusplünderungs- und Ausbeutungssystems der Nobilität zu sorgen.Weil das bestehende politisch-ökonomische System, das die mittlerenund unteren Schichten der römischen Bürgerschaft zugrunde richtet undzur Plebs deklassiert und nivelliert, im paradoxen Umschlag auch dasHeilmittel ist, auf das die Plebs ihre subsistenziellen Ansprüche gründet

und ihre sozialen Hoffnungen setzt, ist in entsprechender Paradoxiedas gegen die politische Macht und konstitutive Gewalt der Eigner undBetreiber des Systems gerichtete Vorgehen der neuen imperatorischenExekutive gepaart mit einer dem System selbst bewiesenen äußerstenFürsorglichkeit und einem dem Verlangen seiner Eigner und Betreiber

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nach ökonomischer Vollmacht und unternehmerisch freier Hand bezeig-

ten rückhaltlosen Entgegenkommen. Wie im funktionellen Prinzip derkraft seines imperiums über das plebejische Söldnerheer zum Alleinherr-scher, zum Imperator, avancierte konsularische Tribun oder tribunizischeKonsul sich wesentlich dadurch für das neue Amt empfiehlt, dass er sichals fähig erweist, die von der Nobilität geschaffene Ökonomie kolonialis-tischer Ausplünderung und sklavenwirtschaftlicher Ausbeutung gegenalle äußeren Gefahren und inneren Unruhen, gegen Widerstand von in-nen und von außen, gegen Raubzüge und Sklavenaufstände zu schützenund aufrechtzuerhalten, so erweist er sich auch in struktureller Perma-nenz als Schutzherr, Nothelfer und Garant dieser Ökonomie, eben weil ersie braucht, um die subsistenziellen und sozialen Ansprüche seiner Klien-tel zu befriedigen und mit Hilfe der letzteren seine politisch-militärischeMacht über erstere zu behaupten.

Es zeugt von Einsicht in diese Mischung aus politischer Dominanz undökonomischer Abhängigkeit, aus militärischer Befehlsgewalt und syste-matischer Angewiesenheit, mit der die neue imperatorische Führung demvon der Nobilität geschaffenen und als quasi öffentlich-rechtliche Anstalt,als staatlicher Selbstbedienungsladen betriebenen Bereicherungsapparatgegenübersteht, dass der eigentliche institutionelle Begründer der neu-en Herrschaft, Augustus, der das von ihrem eher akzidentiellen Stifter,Cäsar, fast wider Willen initiierte imperatorische Prinzip endgültig eta-

 bliert, weit entfernt davon, es an die große Glocke eines absoluten Bruchsmit dem alten Staatswesen und eines radikalen Neuanfangs zu hängen,vielmehr alles daransetzt, es wenn schon nicht politisch-praktisch, so jedenfalls doch ideologisch-publizistisch in den traditionellen Machtver-hältnissen verankert erscheinen und quasi aus ihnen hervorgehen zu las-sen. Mag der neue imperiale Herr der alten patrizischen Führungsschichtmilitärisch noch so überlegen sein und mag er ihr durch die Abwerbungihres equestrischen Juniorpartners und Prokuristen ökonomisch nochso sehr den Schneid abgekauft und noch so deutlich gemacht haben,dass sie ihren privaten Besitzstand und ihre sozialen Privilegien nur

retten kann, wenn sie in ihre politische Entmachtung einwilligt und sichinskünftig mit einem Rentiersdasein, mit dem Dasein des Privatiers be-gnügt, der die materiellen Früchte und sozialen Vergünstigungen genießt,die der Lohn für längst vergangene Verdienste sind – an der Erhaltungdes politisch-ökonomischen Systems, in dem ihr privater Besitzstand

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gründet, ist er, der neue Herr, nicht weniger interessiert, als sie, die alte

Führungsschicht, und eben deshalb ist er geneigt, allen Anschein großerpolitischer Umbrüche und sozialer Umwälzungen zu vermeiden und denEntmachteten statt dessen den Eindruck einer im Grunde alles beim alten belassenden und den Machtwechsel auf eine Modifikation des Status quoreduzierenden einfachen Erweiterung der Zuständigkeiten und Befugnis-se des im übrigen in seinem patrizisch-senatorischen Kontext verhaltenentraditionellen konsularischen Amtes zu vermitteln.

Statt sich mithin als der Imperator aus der Retorte der plebejischenStreitmacht, als vom Volk auf den Schild gehobener tribunizischer Dik-tator aufzuspielen, geriert er sich als der Princeps aus den Reihen der

patrizischen Herrschaft, als der vom senatorischen Kollegium mit Son-dervollmacht ausgestattete konsularische Primus. Seine Sondervollmacht betrifft eben jene auf den subsistenziellen Unterhalt und die soziale Un-terhaltung der Plebs im allgemeinen und die Veteranenversorgung im besonderen abgestellte neue Staatsfunktion, deren kraft des plebejischenMassenheeres und seiner Systemerhalterrolle unabweisbar werdendeWahrnehmung und Erfüllung den alten, von der Nobilität beherrschtenStaatsapparat sprengt, indem sie den auf der Basis seines imperiums überdas plebejische Massenheer agierenden konsularischen Feldherrn derKontrolle durch das senatorische Patriziat praktisch entzieht und zum

letztinstanzlichen Repräsentanten der durch ihre Systemerhalterrolle zumPopulus Romanus geadelten Plebs und ihrer Ansprüche an das von derNobilität geschaffene und nach wie vor in deren Händen befindliche be-ziehungsweise von ihr betriebene politisch-ökonomische System werdenlässt. Weit entfernt aber, sich zu der ebenso diktatorischen Haltung wiekonfrontativen Stellung offen zu bekennen, zu der ihn die Wahrnehmungder neuen Staatsfunktion gegenüber der Nobilität und ihrem harten Kern,der patrizisch-senatorischen Führungsschicht, praktisch-politisch nötigt,sucht er seine diktatorische Macht über die letztere, seine Einmannherr-schaft, vielmehr ideologisch-publizistisch dadurch zu verbrämen oder

überhaupt zu kaschieren, dass er sich persönlich als Angehöriger desPatriziats und dessen politischer Körperschaft, des Senats, begreift unddie neue Staatsfunktion, die er als Alleinherrscher wahrnimmt, zu einerihm als dem Primus inter pares von seinesgleichen verliehenen Sonder-vollmacht, das imperatorische Amt zu einer im als patrizischer Person

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und Mitglied des Senats zusätzlich übertragenen öffentlichen Aufgabe

erklärt.Und diese ideologische Verharmlosung der neuartig imperatorischenFunktion zu einer der altehrwürdig patrizischen Existenz bloß aufge- bürdeten Zusatzbestimmung, einem ihr von der alten Führung quasiim Selbstentmächtigungsverfahren erteilten Sonderauftrag – sie findetnun ihren durchaus praktisch-bürokratischen Niederschlag in der etatis-tischen Verfassung, die das neue imperatorische Staatswesen sich gibt,in dem Haushalt, mit dem es wirtschaftet. Unterschieden wird nämlichim Blick auf das Staatsvermögen, die Mittel, die dem imperatorischenRegime zur Verfügung stehen, zwischen drei Etats oder Staatsschätzen:dem Patrimonium, dem Aerarium und dem Fiskus. Stellt ersteres dasVermögen dar, das dem Imperator als Patrizier, als einem Pater familias inder mit territorialherrschaftlichem Reichtum gesegneten und durch Pietasausgezeichneten Oberschicht des Gemeinwesens kurz, ihm als angese-henem Privatmann, eignet, so bleibt das zweite, das traditionell von derpatrizisch-senatorischen Führungsschicht körperschaftlich akkumulierteund verwaltete Ärarium, offiziell das Vermögen des Staatswesens als sol-chen, der Schatz in öffentlicher Hand. Seiner formellen Aufrechterhaltungungeachtet, wird tatsächlich aber und materiell das Ärarium in seinerFunktion als Staatskasse, als Mittelfundus für die öffentlichen Aufgabenund Ausgaben, verdrängt durch den qua Fiskus neugeschaffenen dritten

Schatz, der dem Imperator in seiner Eigenschaft als Imperator zustehtund über den also der Primus anders als seine körperschaftlichen Pares,der Princeps im Unterschied zu seinen patrizischen Konsorten kraft derihm übertragenen militärisch-politischen Sondervollmacht verfügt. Weildie neue, als imperiale Alleinherrschaft etablierte Staatsfunktion, die derImperator ausübt, sein par excellence öffentliches Amt, ideologisch zuseiner Privatsache, seiner persönlichen Obliegenheit heruntergespieltwird, die er im Rahmen seiner patrizischen Existenz und zusätzlich zuderen traditionellen Verpflichtungen und Verrichtungen, quasi privatissi-me und im Nebenhinein, wahrnimmt, erscheinen auch die Mittel, die ihm

dafür aus dem Steueraufkommen des Imperiums zur Verfügung stehen,die Beuteanteile aus dem kolonialistisch-sklavenwirtschaftlichen Aus-plünderungssystem, auf die er zum Betrieb seines privatisierten Staats-unternehmens, zur Besorgung seines ideologisch allen Anscheins ei-ner diktatorischen Staatsfunktion entkleideten und zur ehrenamtlichen

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Sondermission euphemisierten Regierungsgeschäfts Anspruch hat, als

imperatorische Privatschatulle, die zur senatorischen Staatskasse, demÄrar, bloß als Sonderposten und Zusatzhaushalt, quasi als eine Art vonReptilienfonds, hinzukommen, obwohl sie doch in Wahrheit, will hei-ßen, in der einfachen Konsequenz der mit dem imperatorischen Amteinhergehenden militärischen und bürokratischen Aufwendungen sowieder von ihm verlangten sozialpolitischen und wohlfahrtsstaatlichen Um-verteilungsmaßnahmen gar nicht umhin können, diesen traditionellenStaatsschatz systematisch zu ersetzen oder jedenfalls zur praktischenBedeutungslosigkeit zu verurteilen.

Und um die Suggestion komplett zu machen, dass es sich bei der Eta- blierung der Republik als Imperium, bei der Instauration des Imperators,um eine simple Funktions- und Kompetenzerweiterung, um die der pri-vaten Initiative und persönlichen Tüchtigkeit der konsularischen Exeku-tive geschuldete Sonderbevollmächtigung und Sonderausstattung einesoriginär patrizischen Amtes, handelt, um also jeden Anschein eines damitvollzogenen System- oder Paradigmenwechsels zu zerstreuen, tut Augus-tus ein übriges und organisiert auch die Mittelbeschaffung, die Einteilungund Ausbeutung der für die jeweiligen Kassen, für Ärar und Fiskus,senatorischen Staatsschatz und imperatorische Privatschatulle, zur Verfü-gung stehenden Steuerregionen und Kolonialgebiete nach dem gleichenSchema einer Kombination aus Grundstruktur und Zusatzfunktion, aus

traditionellem Normalverhältnis und exzeptionellem Ausnahmezustand,indem er zwischen senatorischen und imperatorischen Provinzen unter-scheidet und die im Inneren des Reiches gelegenen und entsprechendgeschützten und befriedeten altgedienten Kolonialgebiete unter der Ver-waltung des Senats belässt, die äußeren, neu hinzugekommenen unddurch ihre Grenzlage exponierten und bedrohten Gebiete hingegen sei-ner persönlichen Herrschaft und Steuerhoheit unterstellt. So sehr dieseAufteilung des Reiches militärstrategisch-verwaltungstechnisch den Im-perator als den mit imperium versehenen Heerführer reaffirmiert, derseine politische Herrschaft zu dem einen und einzigen Zweck antritt,

dem ökonomischen Plünderungs- und Ausbeutungssystem der Nobilitätals militärischer Nothelfer zur Seite zu stehen und es gegen Angriffe undAuflösungstendenzen zu verteidigen, und so sehr sie in finanzpolitisch-fiskalischer Hinsicht eine Formalie bleibt beziehungsweise in zunehmen-dem Maße wird, weil auch die vom Senat eingesetzte Verwaltung dem

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Imperator rechenschaftspflichtig und gar nicht in der Lage ist, sich seinen

Forderungen und Verfügungen zu widersetzen, ideologisch-publizistischdient sie zugleich dem Zweck, das imperatorische Amt als eine den Rah-men der patrizisch-senatorischen Verfassung durchaus nicht überschrei-tenden und vielmehr deren öffentliche Geltung nur um ein Moment vonprivater Initiative und Tatkraft ergänzenden Einrichtung erscheinen zulassen und also den Eindruck zu erwecken, als sei der Imperator nichtsweiter als ein aus den Reihen des Patriziats hervorgegangener und inder Tat von diesem selbst auf den Schild gehobener Primus mit demAuftrag, auf der Basis von Ausnahmekompetenzen und Sondermittelnquasi privatim die militärischen Gefahren zu bannen und sozialen Pro- bleme zu lösen, deren das traditionelle Staatswesen, die von der Nobilitätverwaltete Res publica, wegen allzu großer Verquickung von öffentlichemAmt und privatem Geschäft nicht mehr Herr zu werden vermag.

Mit dieser ideologischen Methode, das in Gestalt des Imperators aufge- botene Korrektiv für die das römische Gemeinwesen gefährdenden pri-vativen, den Staatsapparat zum Selbstbedienungsladen degradierendenUnternehmungen der Nobilität als eine den Reihen der Nobilität selbstentspringende. rein private Initiative erscheinen zu lassen und so dieSuggestion eines in der Tradition der senatorisch-patrizischen Verfassungsich haltenden und sie nur notstandshalber modifizierenden originärkonsularischen Regiments zu erzeugen, schafft es Augustus nicht nur,

den Patriziern ihre mit dem Abfall der Ritterschaft besiegelte politischeEntmachtung zu versüßen und als ein angesichts der Kontinuität ihrerökonomischen Stellung, die ihnen fürs erste zumindest garantiert ist, an-nehmbares Faktum vorzustellen, kurz, das Patriziat zum einverständigenStillhalten, wo nicht gar zur aktiven Kooperation zu veranlassen – esgelingt dem als Princeps getarnten Imperator damit auch und vor allem,Distanz zu seiner eigenen Klientel, der Plebs, zu wahren und sich diesergegenüber in der Stellung einer von allem bloßen Funktionärstum undaller Weisungsgebundenheit weit entfernten Souveränität zu behaupten.Indem er – nach ideologisch-publizistischer Lesart zumindest – in ers-

ter Linie Patrizier und in dieser Eigenschaft dann zweitens und quasiim Sinne einer Zusatzbestimmung oder Funktionserweiterung der mitder Verteidigung des Reiches und mit der subsistenziellen Befriedigung beziehungsweise sozialen Integration der Massen als mit seiner Son-deraufgabe, seiner Privatmission betraute Princeps ist, vermeidet es der

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Imperator, sich seiner tatsächlichen Auftraggeberin und Ermächtigerin,

der ihm das Söldnerheer zur Verfügung stellenden Plebs, mit Haut undHaar auszuliefern, sich zur tatsächlichen Grundlage seiner Macht, derauf Teilhabe an den Früchten des kolonialistisch-sklavenwirtschaftlichenAusbeutungssystems dringenden Volksbewegung, rückhaltlos zu be-kennen, und lässt er die konsularisch-tribunizische Führerrolle, die an-dernfalls nichts weiter als eine von der Volksbewegung dank der mi-litärischen Gunst der Stunde ins Leben gerufene abhängige Funktion,ein zur Durchsetzung ihrer ökonomischen und sozialen Forderungenkreiertes dienendes Instrument wäre, vielmehr in der Eigenständigkeitund Freiwilligkeit einer aus der sozialen Substanz der ständischen Per-sönlichkeit heraus übernommenen Amtsgewalt, einer kraft patrizischenVerantwortungsgefühls eingegangenen Selbstverpflichtung erscheinen.

Nicht, dass diese patrizisch-ständische Selbstmotivation, auf die deraugusteische Imperator ideologisch pocht, und die entsprechende Reser-ve, mit der er dem Anspruch der Volksbewegung, ihn als ihre Kreatur,ihre Marionette zu vereinnahmen und zu begründen, begegnen kann,im Prinzip viel veränderten und seinen politischen Entscheidungsrah-men beziehungsweise seine strategischen Wahlmöglichkeiten sonderlicherweiterten! An seiner fundamentalen Aufgabe, mit Hilfe der internenLeidtragenden des kolonialistisch-sklavenwirtschaftlichen Ausbeutungs-systems letzteres militärisch zu stärken und zu sichern, ändert sich da-

durch ebenso wenig, wie er unfehlbar gehalten bleibt, erstere für ihrestaatserhaltende Tätigkeit zu belohnen und also dafür zu sorgen, dassdie Früchte des mit ihrer Hilfe untermauerten und aufrechterhaltenenSystems auch ihnen zugute kommen und ihre ökonomische Not undsoziale Trübsal lindern beziehungsweise in ein auskömmliches Lebenund in gesellige Veranstaltungen, ins tägliche Brot und in periodische Un-terhaltung, verkehren. Zu eng sind die beiden entscheidenden Obliegen-heiten des Imperators, sein Amt als politisch-militärischer Systemerhalterund seine Aufgabe als ökonomisch-sozialer Umverteiler, miteinanderverzahnt, zu sehr sind sie durch die Tatsache, dass der Adressat der

Umverteilung gleichzeitig auch das Instrument zur Systemerhaltung,dass das durch die imperatorische Aktion begünstigte Corpus gleichzeitigauch das sie ausführende Organ ist, in ein unauflösbares Wechselwir-kungsverhältnis gebannt, als dass dem in diesen beiden Obliegenheitensich umtreibenden Amtswalter im programmatischen Grundsatz oder in

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der strategischen Generallinie nennenswerte Handlungsfreiheit bliebe. In

der praktischen Gestaltung der feststehenden politischen Vorgaben undin der technischen Ausführung des definierten strategischen Programmsallerdings verschafft ihm die Distanz, die er durch Insistieren auf der pa-trizischen Fundiertheit und personalen Verfasstheit des imperatorischenAmtes gegenüber den eigentlichen Betreibern und tatsächlichen Stifternder imperatorischen Staatsfunktion, sprich, gegenüber den plebejischenMassen, wahrt, doch immerhin einigen Bewegungsspielraum. Wie derkonkrete und alltägliche Umgang aussieht, den er mit den equestrischenund patrizischen Vertretern des kolonialistisch-sklavenwirtschaftlichenSystems pflegt, auf welchen Wegen und mit welchen Methoden er die für

die Verwaltung des Imperiums und die Einlösung seiner imperatorischenVerpflichtungen gegenüber Söldnerheer und Volksmasse erforderlichenFinanzmittel beschafft und welchen Verwendungszwecken und in wel-cher Höhe er diese Finanzmittel im einzelnen zuführt, bleibt dank derSouveränität, die er sich durch seine ideologische Selbststilisierung alsPrinceps, als Primus inter pares des Patriziats und sonderbevollmächtig-ter Wohltäter der als populus ins römische Gemeinwesen redintegriertenPlebs, sichert, seinem Gutdünken beziehungsweise seinem besseren Wis-sen überlassen.

Und begünstigt durch die einschüchternde Neuartigkeit und unver-

 brauchte Autorität des imperatorischen Amtes, durch den gewaltigenReichtum, den die den imperatorischen Söldnerheeren geschuldete Wogevon Neueroberungen und Annexionen in Kleinasien, Syrien, Ägypten,Gallien, Britannien nach Rom spült, durch das Bedürfnis nach Ruhe undOrdnung, das ein gutes Jahrhundert äußere Bedrohung und soziale Un-ruhe, Krieg und Bürgerkrieg bei der römisch-italischen Bevölkerung hatentstehen lassen, und nicht zuletzt durch die politische Kontinuität, dieseine lange Regierungszeit gewährleistet, schafft es Augustus in der Tat,einer gut vierzig Jahre währenden und noch über seinen Tod hinausanhaltenden Ära quasi seinen persönlichen Stempel aufzudrücken und

durch die Verwandlung Roms in ein ökonomisches Eldorado, ins Finanz-und Handelszentrum des mittlerweile gigantischen Reichsgebiets, durchdie regelmäßige Versorgung der Armenbevölkerung der Stadt mit Le- bensmitteln und geselligen Veranstaltungen, durch die Umgestaltungder Stadt in ein ästhetisches Großprojekt, ein Zentrum der Künste und

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der architektonischen Erneuerung, schließlich durch Reformen in Ver-

waltung und Rechtswesen und die Erzwingung eines als Pax Romanagefeierten allgemeinen Landfriedens auf italischem Boden den gleichenEindruck eines Goldenen Zeitalters zu erzeugen, den viereinhalb Jahr-hunderte zuvor die Perikleische Herrschaft in Athen vermittelte. DieParallele kommt nicht von ungefähr, ist keine bloß der Rede vom Gol-denen Zeitalter entsprungene zufällige Assoziation. Wie die PerikleischeÄra verdankt sich auch die Augusteische einem ebenso nachdrücklichenwie plötzlichen Systemwechsel und dem materiellen Überfluss, der ausihm resultiert, beziehungsweise den neuen Bereicherungs- und Umver-teilungschancen, die dieser Überfluss eröffnet. Besteht im Athen derPerikleischen Zeit der Systemwechsel darin, dass sich die Handelsrepu- blik mit der Militärkraft der ökonomischen und sozialen Leidtragendenihrer kommerziellen Karriere in eine Hegemonialmacht verwandelt, dieunter dem Deckmantel von Bündniszahlungen ihresgleichen, nämlichdas Netz der ägäischen Handelsstädte, zu schröpfen und auszuplündern beginnt, um mit den auf diese Weise gewonnenen Finanzmitteln jeneLeidtragenden der kommerziellen Karriere der Stadt zu entschädigenoder zu besänftigen beziehungsweise die Stadt selbst in eine Stätte desSchönerwohnens und der geselligen Unterhaltung umzugestalten unddamit der Sozialkonflikte im eigenen Haus Herr zu werden, so läuft imRom der Augusteischen Ära der Systemwechsel auf eine Überführung

der senatorischen Republik in eine imperatorische Diktatur hinaus, diemittels der Militärkraft der als bürgerschaftlicher Bodensatz, als Plebs,sich sammelnden Leidtragenden des von der Republik geschaffenenkolonialistisch-sklavenwirtschaftlichen Ausbeutungssystems letztereszu quantitativ und qualitativ neuen Dimensionen entfaltet, um mit dendadurch erbeuteten zusätzlichen Finanzmitteln jene Leidtragenden derkolonialherrschaftlichen Karriere der Stadt ihrer ökonomischen Not undihrem sozialen Elend zu entreißen beziehungsweise die Stadt selbst inein Luxusdomizil und Vergnügungsetablissement zu verwandeln undso das als Sozialfrieden erscheinende versöhnliche Klima zu schaffen,

das entsteht, wenn keine der am Beutezug des Gemeinwesens beteiligtenGruppen leer ausgeht.Und wie sich die beiden als Systemwechsel erkennbaren Vorgehens-

weisen der Perikleischen und der Augusteischen Ära in ihrer Grund-konstellation und ihrer zentralen Perspektive ähneln, so stimmen beide

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auch darin überein, dass sie sich letztlich als unhaltbar erweisen, dass sie

unabwendbar zum Scheitern verurteilt sind. Die Gründe für das Schei-tern allerdings sind in beiden Fällen ganz verschieden, und entsprechendunterschiedlich sind auch die Verlaufsformen, in denen das ScheiternWirklichkeit wird. Das Scheitern des Perikleischen Goldenden Zeitaltershat externe oder, wenn man so will, objektive Ursachen und vollziehtsich relativ rasch: Diejenigen, zu deren Lasten der auf ein Sanierungs-programm für die Stadt Athen hinauslaufende Systemwechsel geht, dieanderen ägäischen Handelsstädte, die sogenannten Bundesgenossen,nehmen die ihnen oktroyierte Rolle der Milchkuh, der das athenische Sa-nierungsprogramm finanzierenden tributpflichtigen Untergebenen, nichthin und bereiten im Peloponnesischen Krieg im Verein mit der als ve-xierbildliches Gegenstück zur Handelsrepublik Athen sich behauptendenTerritorialmacht Sparta der Hegemonialmacht Athen und dem mit ihr Ge-stalt gewordenen Perikleischen Experiment einer volksherrschaftlichenAusbeutung der Handelsfunktion ein Ende. Diese Gefahr eines vom Ob- jekt des Systemwechsels her, das heißt, von Seiten derer, die unterworfenund ausgebeutet werden, die das ganze System tragen müssen, drohen-den Widerstands und Aufbegehrens – diese Gefahr läuft das Augustei-sche Goldene Zeitalter nicht. Schließlich sind hier die objektiven Trägerdes Systems, sind die von der neuen imperatorischen Herrschaft Ausge- beuteten ein und dieselben, auf deren Ausbeutung auch schon das alte,

durch die Republik eingerichtete kolonialistisch-sklavenwirtschaftlicheSystem aufbaute; anders als die ägäischen Handelsstädte die UmrüstungAthens zur Hegemonialmacht erfahren deshalb die objektiven Opferder römischen Expansion, die Kolonien und tributpflichtigen Gebiete,den römischen Systemwechsel von der senatorischen Republik zur im-peratorischen Diktatur nicht als den Eintritt einer Situation neuartigerBelastung und ungewohnter Knechtschaft, sondern als einfachen Aus-weis von Kontinuität, als schiere Bekräftigung gewohnter Verhältnisse,und haben ebenso viel Grund und Motivation und ebenso wenig Machtund Gelegenheit wie vorher, sich gegen diese im Wechsel implizierte

Aufrechterhaltung des Status quo zur Wehr zu setzen.Tatsächlich scheint hier die Rede von einem Systemwechsel auch garnicht recht am Platze und erschiene angemessener, von einem bloßenSubjektwechsel zu sprechen: Nicht die Art und Weise der Mittelbeschaf-fung ändert sich – das tradierte kolonialistisch-sklavenwirtschaftliche

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Ausbeutungssystem der römischen Nobilität bleibt ja unverändert in

Kraft, so sehr es auch kraft der gewandelten Staatsfunktion quantitativund qualitativ neue Dimensionen erreicht; was vielmehr nur wechselt,ist das Subjekt, das die Mittelbeschaffung betreibt und als ihr Nutznießerfirmiert, ist der reale Akteur und soziale Adressat, der das kolonialistisch-sklavenwirtschaftliche Ausbeutungssystem in Gang hält und dem esdient. Dank des geschilderten Paktes zwischen Volksbewegung und staat-licher Exekutive, zwischen der plebejischen Masse, die als staatstragendeund systemerhaltene Macht, als militärisches Potential, gebraucht wird,und der konsularischen Gewalt, die es mittels dieses von ihr aktualisier-ten militärischen Potentials zu imperatorischer Vollmacht bringt, avan-ciert die nunmehr als Populus figurierende Plebs zum neuen A und Ooder Subjekt-Objekt des römischen Staatswesens und löst die Nobilität,die Initiatorin und Konstrukteurin des Reichtumsbeschaffungssystems,dessen Garantie jetzt die Plebs, übernimmt, in der Rolle der gleicher-maßen die ökonomische Verfügung habenden und die politische Machtübenden Souveräns und Staatssubjekts ab.

Aber vielmehr wird nach der ideologischen Interpretation, die Augus-tus dem Staatsamt gibt, das er im Namen des neuen alleinigen Souveräns,des römischen Populus, bekleidet, die Ablösung, der Subjektwechsel,nur im Prinzip oder in abstracto, sprich, in der Tatsache und Person desImperators selbst, nicht hingegen im Effekt und in concreto, nämlich

in der Zuordnung und Funktion des imperatorischen Amtes, vollzogen– und genau hierin liegt, wie das Geheimnis des Erfolgs der augustei-schen Regierungszeit, ihres Avancements zur Goldenen Ära, so auchdas latente Problem, der Keim für das schließliche Scheitern des au-gusteischen Staatsmodells. Indem Augustus zwar mittels plebejischemMassenheer die imperatorisch-tribunizische Macht über das senatorisch-patrizische Ausbeutungssystem erringt, dann aber vermeidet, aus demdarin implizierte Wechsel des politisch handelnden Subjekts die prak-tische Konsequenz zu ziehen, und, statt sich fortan als mit imperiumausgestatteter Volksführer, als Vollzugsorgan und Funktionär des neuen

Souveräns, des römischen Populus, einzubekennen, vielmehr ideologischdie Seite wechselt und sich als Repräsentant des seantorisch-patrizischenSystems, als Sonderbevollmächtigter der alten, in ihm sich fortzusetzen behauptenden republikanischen Staatsmacht geriert, gelingt es ihm, dieMobilisierung neuer Kräfte zur Entfaltung und Erhaltung des Systems

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mit der von letzterem selbst ausgehenden Forderung nach größtmögli-

cher Kontinuität und geringstmöglicher Störung der systemspezifischenFunktionsmechanismen und systemeigenen Wirkprozesse durch die insSpiel gebrachten neuen Kräfte zu verknüpfen und damit in der Tat die bestmöglichen Voraussetzungen für eine gedeihliche Kombination ausneuer Kraft und alter Struktur, für ein fruchtbares Zusammenwirkenzwischen plebejisch anderem Subjekt und identisch patrizischem System,kurz, die Basis für jene Zeit relativen politischen Friedens und ökono-mischen Überflusses zu schaffen, die aus späterer Sicht die augusteischeHerrschaft im Glanz einer Goldenen Ära erstrahlen lässt. Während einer-seits der Imperator Augustus das plebejische Potential zur militärischenErtüchtigung des Imperiums nutzt und durch die Gründung seiner Machtauf besoldete Massenheere den Wechsel des Staatssubjekts, den Übergangvom senatorischen zum völkischen Souverän, praktisch vollzieht, vermei-det er andererseits aber das Schicksal des Zauberlehrlings, zum Spielballund zur Marionette der von ihm beschworenen Kräfte zu werden, da-durch, dass er in actu der Machtergreifung ideologisch gegensteuert, sichals Volksführer dementiert und sich statt dessen zum Princeps, zum son-derbevollmächtigten Repräsentanten des Patriziats, erklärt: Kraft diesesdeklarativen politischen Salto und ostentativen ideologischen Frontwech-sels vom Populus zurück zum Senatus verweist er den von ihm auf denPlan gerufenen und ins Feld geführten neuen plebejischen Souverän ins

Inkognito einer bloß als Objekt herrscherlicher Zuwendung und Fürsorgemanifest werdenden latenten Macht oder, besser gesagt, bannt ihn in dieAnonymität einer ihrer selbst nicht bewussten und erst in der Reflexiondes Imperators einen Selbstbezug und Subjektcharakter gewinnendeninerten Substanz und verwandelt sich, den Princeps, aus einem Funk-tionär des Volkswillens und tribunizischen Parteiführer in den Gestaltgewordenen allgemeinen Willen, den Staatsmann par excellence, auseinem unter dem Diktat seiner plebejischen Klientel agierenden popula-ristischen Machthaber in den aus den freien Stücken seiner patrizischenHerkunft handelnden Wohltäter der Massen.

Dabei ist die formale Bedingung der Möglichkeit für diesen ideologi-schen Salto, dieses den Subjekt- und Souveränitätswechsel von der se-natorischen Nobilität zum konsularischen Populus unterlaufende Bäum-chen-wechsel-dich, das der vom Söldnerführer zum Princeps mutierendeImperator veranstaltet, das Auseinanderfallen der personell-intentionalen

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und der funktionell-instrumentalen Seite des neuen Subjekts, der Um-

stand also, dass der neue Souverän nicht in seiner natürlichen Gestalt alssoziale Klasse, sondern in der artifiziellen Fassung als militärisch orga-nisierter Verband aktiv wird, kurz, die Tatsache, dass der konsularisch-tribunizische Feldherr die imperatorische Macht ja nicht unmittelbar kraftder Plebs als solcher, sondern mittels des aus ihr rekrutierten Söldner-heers erringt. Die institutionelle Trennung zwischen Organ und Funktion,Subjekt und Werkzeug ist es, was dem Imperator erlaubt, von der tat-sächlichen sozialen Identität und systematischen Zusammengehörigkeit beider abzusehen, über die Funktion scheinbar nach Gutdünken zu ver-fügen, das Werkzeug quasi nach freiem Ermessen zu handhaben undsich nach vollbrachtem militärischem Werk dem urheberschaftlichenOrgan der Funktion und eignerschaftlichen Subjekt des Werkzeugs nichtetwa als in seinem Auftrage tätiger Funktionär, als in seinen Dienstenstehender Werkmeister, sondern als aus innerer Berufung handelnderPatron, als ausschließlich von staatsmännischem Geiste und Liebe zumVolk getriebener Autokrat zu präsentieren.

Dennoch bleibt natürlich dieses Bäumchen-wechsel-dich des Impe-rators, diese seine coram populo inszenierte Wandlung vom konsula-rischen Tribun zum patrizischen Princeps, vom durch den Volkswillengekürten Führer der popularen Bewegung zum selbsternannten Gönnerdes Populus unter den zu Anfang des nachrepublikanischen Imperiums

gegebenen Umständen der offenbaren sozialen Identität und systema-tischen Kontinuität zwischen Volksmasse und Massenheer, Plebs undLegio, ein ideologischer Trick, ein Etikettenschwindel, der nur überhauptfunktionieren kann, solange der Imperator seine ideologisch behaupteteUnabhängigkeit und Eigenmacht praktisch Lügen straft und nämlichzuverlässig seine als paternalistische Zuwendungen kaschierten Tribut-leistungen ans Volk entrichtet, brav unter der Maske des Wohltäters undkaritativen Volksfreunds seinen gegenüber Plebs und Heer übernom-menen Versorgungs- und Unterhaltungspflichten nachkommt. Solangeer diese materiellen und sozialen Verpflichtungen gegenüber Volk und

Heer erfüllt und solange die qua Prinzipat inszenierte Form persönlicherUnabhängigkeit und patriarchaler Eigenmacht, in der er das tut, dank derKontinuität, die sie dem von der Nobilität betriebenen kolonialistisch-sklavenwirtschaftlichen Ausbeutungssystem sichert und dank des poli-tischen Bewegungsspielraums, den sie ihm selbst verschafft, dafür sorgt,

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dass er diese seine Pflichten ausnehmend erfolgreich und auf eine dem

Gemeinwesen besonders zuträgliche Weise erfüllen kann, mag seine Kli-entel, die plebejische Masse, durchaus bereit sein, den Etikettenschwindelzu tolerieren und ihrem tribunizisch-konsularischen Führer seine ideo-logische Eskapade, seine patrizische Selbstherrlichkeit und Verleugnungder in Wahrheit von ihm übernommenen popularen Funktionärsrolle zukonzedieren – wie ja auch geschieht und wie der augusteische Prinzipatmit seiner allen imperialen Militäraktionen zum Trotz der Nachwelt alsgoldene Friedenszeit im Gedächtnis gebliebenen Pax Romana beweist.

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. Kaiserkult

Sobald die zum Populus geadelte Plebs unzufrieden mit den Zuwendungen des

Imperators ist, gibt sie seiner qua Prinzipat behaupteten Mittelstellung zwischenihr und dem Patriziat die Schuld daran und sucht ihn als rückhaltlos dem Woh-le des Volkes verpflichteten Funktionär auf ihre Seite zu ziehen. Da er sich aberhinter dem auch von der Plebs als Sanktions- und Legitimationsinstrument aner-kannten Bollwerk der patrizisch-ahnenkultlichen Pietas verschanzt hat, käme sei-ne Vereinnahmung als simpler Interessenvertreter des Volkes einem Frevel widerdie sakrale Ordnung der Gemeinschaft und einer Diskreditierung der daran Be-teiligten gleich.

Sobald es allerdings mit der ökonomischen und sozialen Pflichterfüllungdes Imperators zu hapern beginnt und seine Versorgungsleistungen und

Unterhaltungsangebote nicht mehr zur Zufriedenheit der plebejischenMasse ausfallen, muss deren Toleranz schwinden und ihre Bereitschaft,ihn als den großen Patron und eigenmächtigen Wohltäter des Volkesgewähren zu lassen, dem Bedürfnis weichen, ihn an die Kandare seinespopularen Funktionärstums zu nehmen, ihn zur Ordnung der in ihmGestalt gewordenen Funktion eines tribunizischen Vorkämpfers undkonsularischen Vollstreckers des Volkswillens zu rufen. Schließlich istnach dem Wechsel des Staatssubjekts und Souveräns, den der Übergangvon der senatorischen Republik zur imperatorischen Diktatur impli-ziert, eben dieser Souverän sie selbst, die mittels Massenheer mobilisierte

Plebs: Und mag sie auch bereit sein, um des besseren Erfolgs der vonihr getragenen und objektiv als ihre Agentur fungierenden imperatori-schen Diktatur willen ihr Licht unter den Scheffel zu stellen und demals patrizischer Autokrat sich aufspielenden Imperator das von ihr ge-stellte, sie instrumentell vertretende Heer als sein willenloses Werkzeug,

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sein quasi persönliches Eigentum zu überlassen, mit anderen Worten,

sich in der tatsächlichen Bedeutung des kraft Massenheer handelndenSubjekts, des mittels militärischer Formation staatstragenden Corpuszu verleugnen – in dem Augenblick, in dem der Lohn für ihre Selbst-verleugnung zu wünschen übrig lässt und in dem der wie immer inideologischer Verkehrung des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Volkund Führer der persönlichen Patronage und karitativen Fürsorge desImperators zugeschriebene Lohn für ihre staatserhaltende Rolle, ihreSystemgarantieleistung spärlicher ausfällt beziehungsweise sich unre-gelmäßiger einstellt, wird die Plebs nolens volens diese Minderung oderStörung ihrer Nutznießer- und Begünstigtenstellung in Zusammenhangmit der vergleichsweise freien Hand bringen, die sie dem Imperator lässt,sie mit anderen Worten der relativen patrizischen Unabhängigkeit unddaraus resultierenden persönlichen Bewegungs- und Entscheidungsfrei-heit zur Last legen, die sich der Imperator als Princeps herausnimmt, undwird demzufolge bestrebt sein, sich als das existenzielle Staatssubjekt,als der Souverän, der sie im Grunde der nur mehr mit militärischenMitteln zu leistenden Aufrechterhaltung des imperialen Staatswesen ist,ihm gegenüber zur Geltung zu bringen und damit ihn als einen Sach-walter zu ihren Diensten nicht weniger als von ihren Gnaden, als ihrwie sehr auch leviathanisch auftrumpfendes ureigenes Geschöpf undFaktotum in Anspruch zu nehmen. Im Vertrauen auf die soziale Identität

und systematische Kontinuität, die sie mit dem Machtinstrument desImperators, dem besoldeten Massenheer, verbindet, wird sich die Plebsnicht länger mit der Rolle der – laut ideologischer Lesart des Prinzipats– kraft imperatorischer Gnadenwahl und insofern ebenso unverbind-lich wie unverdient Begünstigten zufrieden geben, wird sie sich nichtlänger mit den zudem auch noch spärlicher fließenden willkürlichenWohltaten und akzidentiellen Fürsorgeleistungen des Princeps abspeisenlassen wollen und wird statt dessen auf der offiziellen Anerkennungihres staatstragenden Seins als des substanziellen Grunds für die ihrzu machenden Zuwendungen bestehen, wird auf der Sanktionierung

ihrer Nutznießerrolle als des aus ihrer imperialen Grundlegungsfunktionmit Notwendigkeit resultierenden und im höchsten Repräsentanten desStaates, in der Person des Imperators, nichts weiter als das Mittel seinerVerwirklichung, seinen Funktionär und Vollstrecker, findenden oberstenStaatsziels und letzten Zwecks des Gemeinwesens insistieren.

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Und dass aber dieser Augenblick, in dem die Plebs sich nicht mehr

hinlänglich versorgt und gebührend unterhalten findet und in dem wach-sende Unzufriedenheit, das zunehmende Gefühl mangelnder Würdigungund regelrechter Vernachlässigung sie antreibt, aus dem Schatten undInkognito, in dem der Princeps sie verhält, hervorzutreten und sich alsdas Subjekt au fond der imperatorischen Funktion, als der Souveränhinter der Person des Imperators zur Geltung zu bringen – dass alsodieser Augenblick früher oder später kommen muss, dafür gibt es objek-tive und subjektspezifische Gründe genug. Zu stark beanspruchen dieBemühungen des Princeps, alle gesellschaftlichen Gruppen zufriedenzu stellen und gleichermaßen Rom zu einer ihres Kolonialreichs würdi-gen Metropole auszubauen und dem Kolonialreich relativen Wohlstandund Frieden zu sichern, die wie immer auch gewaltigen Ressourcen desImperiums, zu hoch schraubt die lange Periode einer relativ zuverlässi-gen Versorgung und eines ebenso unterhaltsamen wie auskömmlichenDaseins bei der plebejischen Klientel des patrizischen Staatspatrons dieAnspruchs- und Erwartungshaltung und senkt ihre Frustrationstoleranzim Blick auf Störungen des Versorgungsniveaus und Einbrüche im Le- bensstandard, zu sehr verstrickt das Zusammenwirken von Verknappungder staatlichen Ressourcen und Verringerung der Flexibilität und An-passungsbereitschaft beim Staatsvolk den Imperator in das Dilemma,sich ständig zwischen den subsistenziellen Bedürfnissen und sozialen

Ansprüchen des letzteren und den Anforderungen des Reiches, den bü-rokratischen und militärischen Notwendigkeiten einer Aufrechterhaltungder imperialen Herrschaft entscheiden zu müssen, und zu massiv mussschließlich und nicht zuletzt die Vollmacht, die das Prinzipat verleiht, auf die Einbildungskraft und das Selbstgefühl jeder charakterologisch nichtvöllig gefestigten Person einwirken und sie in Richtung einer hybridenWillkürherrschaft, eines um allen Realitätssinn gebrachten Größenwahnsdrängen, als dass sich irgend vermeiden ließe, dass bereits unter denunmittelbaren Nachfolgern des Augustus dessen ausgeklügeltes Sys-tem eines zwischen Nobilität und Plebs, zwischen Staatsverwaltern und

Staatserhaltern die goldene Mitte wahrenden Prinzipats aus den Fugengerät und sich aus einem Angelpunkt oder organisierenden Zentrum desGanzen in ein auf die Zerreißprobe gestelltes Bindeglied, einen Spiel- ball widerstreitender und im Widerstreit halbwegs entfesselter Kräfteverkehrt.

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isoliertes Unikat sich präsentierenden Trägers und Vollstreckers einzig

und allein noch des Volkswillens, der ökonomischen Ansprüche undsozialen Forderungen ihrer selbst, der zum Populus, zum Staatssubjekt,avancierten Plebs, dringt – so konsequent dies auch erscheint, so be-fremdlich und geradezu paradox mutet doch aber der Modus an, in demsie ihrem Drängen auf Vereindeutigung der Stellung und Zuordnungdes Imperators Ausdruck verleiht. Statt ihn nämlich im Bewusstseinihrer numerischen Stärke und militärischen Macht kurzerhand als ihrenureigenen Funktionär, als den niemandem sonst als dem Volk verpflich-teten Volksführer in Anspruch zu nehmen, erklärt sie ihn vielmehr zumabsoluten Herrn seiner selbst, zum niemand anderem als sich selbst ver-antwortlichen höheren Wesen und in sich gründenden Autokraten. Denpatrizischen Rückhalt oder persönlichen Eigenwillen, auf den er als Prin-ceps pocht, bestreitet sie ihm nicht, um ihn in der Rolle des popularenKonsuls oder tribunizischen Heerführers als ihr Werkzeug in den Griff zu bekommen, ihn als ihren Protagonisten an die Kandare zu nehmen,sondern um ihm im Gegenteil die uneingeschränkt freie Hand eines aushöherer Einsicht, aus göttlicher Eingebung handelnden Subjekts zu las-sen, ihn als einen aller äußeren Abhängigkeit entzogenen, aller objektivenEinbindung überhobenen Deus ex machina in Szene zu setzen. Die Patri-fizierung, die Verankerung im traditionellen Ahnenkult der Oberschicht,die der sich ideologisch als Princeps stilisierende Imperator sucht, um als

ein in den Patron umgebogener Repräsentant Distanz zu seiner in eineKlientel umgedeuteten Partei wahren zu können – diese Patrifizierung beantwortet die frustrierte Partei, die Plebs, die ihren Repräsentantenaus seiner Reserve locken und dem Volkswillen gefügig machen will,nicht etwa mit dem naheliegenden Versuch seiner Popularisierung, dasheißt, damit, dass sie ihn unter Druck setzt und ihn zwingt, sich zu ihr alszur sozialen Basis seiner militärischen Macht und politischen Herrschaftoffen und programmatisch zu bekennen; vielmehr reagiert sie darauf mit seiner Deifizierung, sprich, mit dem angesichts ihrer eigentlichenZielsetzung in der Tat paradox anmutenden Konzept eines ihn, wie von

aller ahnenkultlichen Rücksicht, so aber auch von jedem popularen Auf-trag dispensierenden Kults um ihn höchstselbst, um seine, die Machtunmittelbar aus ihrer übermenschlichen Herkunft schöpfende und eineHerrschaft sui generis übende, weil bar jeder generischen Abhängigkeitsich behauptende, singuläre Person.

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Dass die Plebs dem patrizisch sich gerierenden Imperator in der Ab-

sicht, ihn an die populistische Kandare zu nehmen, vielmehr die Zügelschießen und theokratisch freie Bahn lässt, dass sie im Bestreben, ihnihrem Willen gefügig und zu dessen Werkzeug zu machen, sich im Ge-genteil seinem Willen, ihm als personifiziertem Staatswesen, als göttli-cher, weil irreduzibel absoluter Subjektmacht, unterwirft, mutet zwar auf den ersten Blick paradox an, hat aber, genauer betrachtet, wenn schonnicht seinen guten, geschweige denn gutzuheißenden Grund, so jeden-falls doch seine eigene, durchaus nachvollziehbare Logik. Indem diePlebs sich nämlich bemüht, den als Princeps Distanz zu ihr wahrendenImperator seines Rückhalts im Patriziat zu berauben und als den aus-schließlich ihr, dem eigentlichen Souverän, verpflichteten Mandatsträger,als konsularisch-tribunizischen Funktionär von ihren Gnaden und zuihren Diensten in den Griff zu bekommen, sieht sie sich mit dem Problemkonfrontiert, dass sie ihn dadurch zu desavouieren und zu diskreditieren,sprich, der Staatsfunktion, die er ausübt, ihre religiöse Sanktion und ihredarauf fußende soziale Legitimation zu verschlagen droht. Tatsächlicherfüllt ja die Patrifizierung des Imperators, seine ideologische Eingliede-rung in in die Riege der Patres, die patrizische Oberschicht, nicht bloßden praktischen Zweck, dem neuen Herrn seine plebejische Klientel vomLeib zu halten, ihm ein gewisses Maß an politischer Bewegungs- und stra-tegischer Entscheidungsfreiheit zu bewahren, sie löst auch und ebenso

sehr das Problem einer religionssystematischen Begründung und sozi-alritualen Rechtfertigung der umfassenden Reichtumsaneignungs- undRessourcenumverteilungsaktivitäten, die er im Rahmen seines neuenAmtes entfaltet, und des rücksichtslos-eigenmächtigen Umgangs mitdem nach Rom strömenden territorialherrschaftlich fremden Reichtum,der selbstherrlich-freien Verfügung über die durch das kolonialistisch-sklavenwirtschaftliche System in die Stadt geschleusten Ressourcen, diediese Aktivitäten implizieren.

Schließlich sieht sich der Imperator bei dem Reichtum, den er im Auf-trag seiner plebejischen Klientel in die Stadt schafft, mit dem gleichen,

durch die Größenordnung, die ungeheuren quantitativen Dimensionendes Zustroms an Gütern noch potenzierten Problem konfrontiert, mitdem in den Anfängen der Republik bereits die Aristokratie und späterdann unter den Bedingungen des expandierenden Provinzialsystemsdie Nobilität fertig werden muss – dass es sich nämlich bei diesem aus

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anderen Kontexten stammenden und seinen ursprünglichen Herren mehr

oder minder gewaltsam geraubten, seinen opferkultlichen Verpflich-tungen und rituellen Verbindlichkeiten mehr oder minder sakrilegischentrissenen Reichtum nur erst um eine persönliche Beute dessen, derihn in die Stadt bringt, eine dem, der darüber verfügt, privativ zugefal-lene Prämie handelt, die mit den Vermögens- und Machtverhältnissender städtischen Gemeinschaft vermittelt, in die Verfügungs- und Ver-antwortungsstrukturen des Gemeinwesens eingebunden, kurz, als dasEigentum des Betreffenden religiös sanktioniert und sozial legitimiertwerden muss, soll sie nicht teils ihren Besitzer dazu animieren, sie zurBefriedigung eines hybriden Ehrgeizes und disruptiven Machtstrebenseinzusetzen, teils der Gemeinschaft die Möglichkeit eröffnen, ihm ausdem privativen Charakter der Beute, aus dem mit dem Raub verknüpftenVorwurf des Sakrilegs einen Strick zu drehen und als einem Widersa-cher göttlichen Rechts und menschlicher Ordnung die Beglaubigungzu entziehen und den Prozess zu machen. Das Problem stellt sich umso direkter und akuter, als der Imperator ja um der Wahrung des so-zialen Friedens und der dafür erforderlichen Schonung der Eigner undBetreiber des kolonialistisch-sklavenwirtschaftlichen Ausbeutungssys-tems willen das ursprünglich von der Volksbewegung verfolgte Projekteiner Umverteilung vorhandenen, von der Nobilität bereits akquirier-ten Reichtums zugunsten einer Neuerwerbung von Reichtum mittels

eigener, imperatorischer Provinzen und eines eigenen, als Fiskus eta- blierten Besteuerungssystems aufgibt und so, was sonst bloßer internerVerteilungskampf auf Basis der durch ahnenkultliche Verpflichtungensanktionierten und durch urbane Pietas legitimierten ursprünglichenAkquisitionstätigkeit der Nobilität wäre, vielmehr als eine regelrechteParallelaktion zu letzterer inszeniert, die nolens volens die alten Sank-tionsforderungen neu aufs Tapet bringt, wohl oder übel die gehabtenLegitimationsfragen abermals aufwirft.

Zwar theoretisch oder der gegebenen allgemeinen Konstellation nachscheint für den Imperator dies Sanktions- und Legitimationsproblem

leicht lösbar und im Grunde auch bereits gelöst, da ja bei seinem Reich-tumserwerb von einer wirklichen Parallelaktion zum traditionellen Be-reicherungsverfahren der römischen Oberschicht gar nicht die Rede seinkann und der Imperator anders als die Mitglieder zuerst der Aristokratieund später dann der Nobilität nicht in persönlicher selbstherrlicher Regie

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und nicht aus privativ-familiärem Eigennutz, sondern im Auftrag und

als Funktionär der kraft ihrer staatserhaltenden Bedeutung als Popu-lus zum eigentlichen Souverän des Gemeinwesens avancierten Plebsagiert: So gesehen, scheint es, als brauchte er sich nur zu diesem seinemtribunizisch-konsularischen Auftrag, dieser seiner popularen Funktionzu bekennen, um aller Sanktionssorgen, aller Legitimationsproblemehinsichtlich des Umgangs mit dem Reichtum, den er in die Stadt bringt,ledig zu sein und, geschützt einerseits gegen die Gefahr einer von hy- brider Verantwortungslosigkeit beflügelten Selbstsucht und Machtgier,und entbunden andererseits von den ursprünglich mit dem Reichtumverknüpften sakralen Rücksichten und opferkultlichen Hypotheken, aus

denen sich ihm der Strick eines wider göttliche Satzung und menschlicheOrdnung frevelnden sakrilegisch-privativen Willkürhandelns drehenließe, frei über die Beute verfügen zu können. Indes, praktisch oder der besonderen Intention nach, die er in der gegebenen allgemeinen Kon-stellation verfolgt, würde solch ein Bekenntnis zu seinem popularenAuftrag, seinem tribunizisch-konsularischen Funktionärstum, für denImperator bedeuten, dass er eben jene relative Distanz zur Plebs, eben jene verhältnismäßige Eigenständigkeit der imperatorischen Stellungpreisgeben müsste, die er sich durch das ideologische Konstrukt desPrinzipats, durch seine den Tribun in den Patron transfigurierende Selbst-

stilisierung als volksfreundlicher Patrizier, als senatorischer Wohltäterder Plebs erschleicht und die ihm als Voraussetzung für ein möglichst rei- bungsloses Zusammenspiel von neuer Herrschaft und altem System, vonmilitärischen Erhaltern und ökonomischen Gestaltern des Imperiums,wie auch als Bedingung für seinen eigenen Anspruch auf politische Bewe-gungsfreiheit und strategische Entscheidungskompetenz lieb und teuerist. Der Imperator scheint damit also vor dem Dilemma zu stehen, um derreligiösen Sanktionierung und sozialen Legitimation seiner Herrschaftund Verfügung über den imperialen Reichtum willen jene persönlicheAutonomie und führerschaftliche Eigenständigkeit aufgeben zu müssen,

die er im Interesse des praktischen Erfolgs seiner Herrschaft und einerfür diesen Erfolg ausschlaggebenden, soziale Wohlfahrt und kapitalenProfit, Massenkonsum und Akkumulationskalkül zur Verträglichkeitmiteinander bringenden überparteilichen Verfügung über den imperialenReichtum eigentlich gar nicht aufgeben kann.

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So dilemmatisch indes die Situation des Imperators auf den ersten

Blick wirkt – in Wahrheit und realiter überhebt ihn das ideologischeKonstrukt, durch das er seinem Streben nach Distanz zur Plebs und per-sönlichem Bewegungsspielraum, nach konstitutioneller Unabhängig-keit und institutioneller Eigenmacht Befriedigung verschafft, der dietribunizisch-konsularische Funktion mit einem patrizisch-senatorischenStatus amalgamierende Prinzipat nämlich, eben dieses durch sein Un-abhängigkeitsstreben im Ansatz oder formaliter heraufbeschworenenDilemmas. Tatsächlich verschafft ihm ja die Reorientierung, die er ideo-logisch vollzieht, indem er sich als Primus inter pares der traditionel-len senatorischen Führungsriege präsentiert, nicht nur machtpolitisch-praktisch die erwünschte Distanz zu seiner plebejischen Klientel und dierelative Freiheit, dieser Klientel als patrizischer Patron entgegenkommenzu können, statt ihr als konsularischer Tribun vorangehen zu müssen,sie versichert ihn auch und zugleich legitimationstheoretisch-kultischder an die generische Substanz zuerst der Aristokratie und dann derNobilität, an die römischen Ahnen, gebundenen Sanktion, deren zentralerInhalt und wesentlicher Gegenstand der Umgang mit fremdbürtigemReichtum, die Verfügung über Ressourcen ist, die aus außerstädtisch-territorialherrschaftlichen Quellen dem städtischen Gemeinwesen zu-geführt und in ihm als gleichermaßen reales Lebensmittel und sozialesMachtinstrument zur Geltung gebracht werden. So gewiss sich der Im-

perator als Princeps ideologisch dem Patriziat zuordnet, so gewiss wirder der oben unter dem Begriff der Pietas explizierten Stellung teilhaftig,die jedem, der an ihr partizipiert, eine besondere Affinität zu und Ver- bundenheit mit der Garantiemacht der durch ihre Allianz das römischeGemeinwesen stiftenden aristokratischen Sippen oder großen Familien,mit der tragenden Tradition der die städtische Gemeinschaft als vontheokratischer Vorherrschaft freien Stammesbund ins Leben rufendenpatrizischen Geschlechter, kurz, mit den Ahnen, zuweist und damit aberauch eine besondere Verantwortung für die Förderung und Pflege, dieErhaltung und Gestaltung des als Sitz der Ahnen, als existenzielle Bedin-

gung und habituelle Grundlage ihrer kultischen Verehrung firmierendenstädtischen Gemeinwesens aufbürdet und die diese als Liebe zu Va-terstadt realisierte ahnenkultliche Bindung, diesen dem Stammesbundeingeschriebene Verpflichtung, das Unterpfand seiner politischen Frei-heit, den zum Kultort erhobenen städtischen Handelsplatz, mit allen

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Mitteln zu pflegen und zu hegen, koinzidieren lässt mit der Befreiung

der zum Wohle der Stadt eingesetzten Ressourcen von allen früherensakralen Rücksichten und opferkultlichen Verbindlichkeiten, sprich, mitder religiösen Sanktionierung und sozialen Legitimierung jeglichen indie Stadt gebrachten fremdbürtig-territorialherrschaftlichen Reichtumsals eines dem, der ihn die Gemeinschaft bringt, zur Verwendung nachMaßgabe seiner Liebe zur Stadt der Ahnen anheim gestellten, zur freienVerfügung im Rahmen seiner Pietas überlassenen Guts. Als Patrizier, alsPrimus inter pares der Patres der alten Geschlechter, wahrt der Imperatornicht nur Distanz zu seiner Konsulat und Tribunat von Amts wegenkurzschließenden einfachen Volksführerschaft, seinem unmittelbarenpopularen Funktionärstum, er ist auch und mehr noch jener – ökono-misch freie Verfügung an politische Verantwortung knüpfenden undpolitische Verantwortung mit ökonomisch freier Verfügung belohnenden– ahnenkultlichen Bindung überführt, die ihn als Pietas, als tätige Ver- bundenheit mit dem Kultort der Ahnen, mit ihrem existenziellen Grundund Boden, der Stadt, aller religiösen Sanktionssorgen und sozialen Le-gitimationsprobleme enthebt, aus denen ihm, dem über fremdbürtigenReichtum Verfügenden, die städtische Gemeinschaft andernfalls direktoder indirekt einen Strick drehen könnten.

Und diese im Prinzipat implizierte traditionelle Lösung des Sanktions-und Legitimationsproblems bringt nun aber wiederum die um die Her-

auslösung ihres imperatorischen Führers aus seinem patrizischen Kontextund um seine vorbehaltlose Unterwerfung unter ihren Willen, um seinerückhaltlose Identifizierung mit ihren Interessen bemühte Plebs in argeSchwierigkeiten. Von ihm zu verlangen, dass er sich seines patrizischenUmgangs entschlage und sich einzig und allein noch mit seiner plebe- jischen Klientel gemein mache, hat sie so wenig das Recht, wie, dass erseine Liebe zu den Ahnen kurzerhand durch die Liebe zum Volk ersetze,seine Pietas einfach gegen Popularitas austausche. Schließlich ist die dasVerhältnis der territorialherrschaftlichen Oberschicht zu den Ahnen undzu deren Existenzgrundlage, dem städtischen Gemeinwesen, regelnde

und als religiöse Verpflichtung deklarierende Pietas ein für die Stadt-gemeinschaft ebenso konstitutiver Bestandteil, wie es das Bürgerrecht,die das Verhältnis der übrigen, bäuerlich-handwerklichen und kommer-ziellen Gruppen zur Oberschicht stipulierende und als vertraglichenAnspruch bestimmende Civitas ist! Und schließlich ist, wie bereits beim

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Bürgerrecht und bei dessen materialistisch zugespitzter, existenziali-

sierter Inanspruchnahme zu sehen, alles, was die benachteiligte Plebsunternimmt, um ihre ökonomische und soziale Lage zu verbessern undsich einen Anteil an den Früchten des von der Oberschicht geschaffenenkolonialistisch-sklavenwirtschaftlichen Ausbeutungssystems zu sichern,nicht etwa dazu gedacht, jene ahnenkultlich-bürgerrechtliche Konstitu-tion des Gemeinwesens aufzukündigen und zu beseitigen, sondern imGegenteil darauf berechnet, sie als anerkannten Bezugsrahmen und ge-sellschaftsvertragliche Grundlage im Sinne der Durchsetzung plebejischerAnliegen umzufunktionieren und nutzbar zu machen. Will die Plebs denImperator als ihren Konsorten vereinnahmen, ihn als den Träger ihresWillens, als ihr Geschöpf und Werkzeug in Anspruch nehmen, so darf siedas demnach nicht im Widerspruch gegen die in der patrizischen Fasson,die ihm seine Stellung als Princeps verleiht, implizierte ahnenkultlicheBindung tun, darf sie nicht einfach seine Verpflichtung gegenüber derreligiösen Substanz des Gemeinwesens, den Ahnen, durch Schuldigkeitgegenüber seiner eigenen sozialen Klientel, dem Volk, verdrängen, seinePietas, seine Sorge um den Sitz der Ahnen, ihre existenzielle Basis, dieUrbs Romana, durch Popularitas, direkte Fürsorge für die Bewohner derUrbs, den Populus Romanus und sein leiblich-seelisches Wohlergehen,ersetzen, sondern sie muss die ahnenkultliche Form auf jeden Fall wah-ren, muss die religiöse Rückbeziehung der diesseitigen Aktivitäten des

Imperators auf eine jenseitige Instanz, dies, dass er mit allem, was er auf Erden beginnt, das Gebot einer über- oder unterirdischen Macht befolgtund deren Willen erfüllt, unbedingt respektieren.

Setzt sich die Plebs über diese religiöse Bindung und Verpflichtung desImperators, diese ahnenkultliche Sanktion, die ihm die Zugehörigkeitzum Patriziat verschafft, einfach hinweg und zieht ihn mit der ganzenfaktischen Macht ihrer staatserhaltenden Funktion auf ihre Seite, nimmtihn als ihre von jeder anderen Abhängigkeit dispensierte Kreatur, alsihren ausschließlichen Funktionär, als den Vertreter ihrer ebenso abso-lut gesetzten wie partikularen Interessen, den Vollstrecker ihres ebenso

profanen wie souveränen Willens in Anspruch, sie rüttelt – wenn ihr dasdenn gelingt – an den religiösen Grundfesten des römischen Staatswe-sens, frevelt wider die von ihr selbst geteilten Grunddogmen des römi-schen Selbstverständnisses und entlarvt sich als verbrecherische Clique,als tempelschänderische Horde, die ihr existenzialisiertes Bürgerrecht, ihr

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Recht auf materielle Teilhabe am Gemeinwesen nur um den Preis geltend

zu machen versteht, dass sie letzterem zuvor sein spirituelles Fundamentverschlägt und also zerstört, was seinen Anspruch auf den Reichtumanderer begründet, will heißen, seinen weder den Opferkult göttlicherGerechtsame achtenden noch das Äquivalenzprinzip kommerziellenAustauschs wahrenden Reichtumserwerb religiös sanktioniert und soziallegitimiert. Und nicht nur sich selbst diskreditiert die Plebs, nicht nur sichselbst entlarvt sie als Frevlerin wider die religiöse Grundordnung desrömischen Gemeinwesens, wenn sie dem Imperator ohne Rücksicht auf seine Pietas, sein ahnenkultliches Verhältnis, Popularitas, bedingungsloseVolksverbundenheit, zu vindizieren sucht, auch ihn, den Imperator, setzt

sie der Diskreditierung aus, indem sie ihn zum Anführer einer Clique,zum Chef einer gesetzlosen Räuberbande degradiert und ihn eben deraus konsularischem Amt und tribunizischem Auftrag, aus patrizischerTradition und plebiszitärer Intervention gewirkten Machtfülle entkleidet,die er qua Prinzipat behauptet und um derentwillen sie ihn doch geradereklamiert und auf ihre Seite zu ziehen sucht, die sie doch gerade in denDienst ihrer Ansprüche und Perspektiven stellen möchte.

Den Imperator aus seinen qua Prinzipat beschworenen patrizischen Bindungenherauslösen kann die Plebs nur unter Wahrung der ahnenkultlichen Form und

Sanktion. Dadurch, dass sie den Imperator vergöttlicht, wahrt sie die Form,sprengt diese aber zugleich, indem sie dem Primus inter pares eine ihm zur Sin-

 gularität verhelfende unvergleichliche Genealogie zubilligt. Die Vorlage für diese genealogische Deifizierung liefert Augustus selbst, der durch die Vergöttlichungdes Begründers der Alleinherrschaft, seines Adoptivvaters Cäsar, seinen Primatideologisch abzusichern sucht.

Will die Plebs den Imperator als den imperialen Herrscher und aner-kannten Machthaber, als der er sich ihr aus der relativen Distanziertheitseiner patrizischen Eigenständigkeit darbietet, für sich gewinnen und ih-

rem Willen gefügig machen, so darf sie ihn also bei Strafe ihrer und seinereigenen Diskreditierung nicht einfach als den in ihrem Namen agieren-den Funktionär, als den nichts als ihren profanen Willen verkörperndenVolksführer mit Beschlag belegen, sondern sie muss die ahnenkultlich-indirekte Form, in der er für sie wirkt, respektieren, muss die sakrale

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Rücksicht, mit der er ihre unmittelbaren Ansprüche in Schach hält und

vermittelt, gelten lassen. Eben dies tut sie, indem sie ihn vergöttlicht,ihm den Köder einer die bloß patrizische Verankerung übertreffendenhöheren Herkunft, eines die immer noch menschliche Abstammung über-trumpfenden übermenschlichen Ursprungs, hinhält. Sie wahrt die Formahnenkultlicher Rückbindung, die der Imperator als Princeps repräsen-tiert, reaffirmiert die von ihm persönlich gelebte Figur einer qua Pietastradierten familiären Religiosität, aber so, dass sie diese Form mit einemsie als solche transformierenden neuen Inhalt versieht, dieser Figur einesie von innen heraus transfigurierende und ihr qua Deitas zur revolutio-nären Absolutheit epiphanischer Sichselbstgleichheit verhelfende andereSubstanz verleiht. Statt den Versuch zu unternehmen, den Imperator

zum Bekenntnis seiner Abhängigkeit von ihr zu bringen, ihn zu verein-nahmen und ihrem Willen gefügig zu machen, liefert sich die Plebs ihmim Gegenteil rückhaltlos aus, erkennt in ihm ihren allmögenden Herrnund überantwortete sich seiner Gnade, indem sie ihm nämlich den alsPatrizier ihm eigenen Willen belässt, diesen aber von aller ahnenkultli-chen traditionellen Bindung und qua Pietas ausgemachten Relation undBestimmtheit freispricht und als absoluten, weil nicht mehr einer Person,die den Ahnen als Sprachrohr dient, eingegebenen, sondern nurmehreiner Persönlichkeit, die Offenbarung ihres höchsteigenen göttlichenUrsprungs ist, entspringenden Willen setzt. Statt sich darum zu bemühen,

den Imperator zu einem der ihren zu machen, ihm den Status eines wieimmer als Führer bevollmächtigten und ausgezeichneten Volksgenossennachzuweisen, beschränkt sich die Plebs in rückhaltloser, sie und dieOberschicht gleichermaßen betreffender Selbstverleugnung darauf, ihmdurch das Attest einer Abkunft sui generis seine patrizischen Konsortenvom Hals zu schaffen, will heißen, ihn durch das Zugeständnis einerder Form nach zwar genealogischen, der Sache nach aber epiphanischenRepräsentanz, durch die Konzession einer Provenienz, die nicht in derVergegenwärtigung und Personifizierung eines archaischen Erbes, son-dern in der Wiederkehr und Verkörperung eines mythischen Ursprungsresultiert, der Riege der Pares definitiv zu entrücken und aus dem Primus

zum Unicus, aus dem als Princeps patrizischen Artgenossen zum alsDeus generischen Solitär avancieren zu lassen.

Das Kalkül, das die Plebs mit dieser, seine ahnenkultliche Patrifizie-rung, die er selbst qua Prinzipat durchsetzt, zur führerkultlichen Deifizie-rung übersteigernden haltlosen Ermächtigung des Imperators verbindet,

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liegt auf der Hand: Indem sie unter Preisgabe aller eigenen Ansprü-

che an ihn und unter Verzicht auf jeden, ihm gegenüber aktiv geltendzu machenden parteiisch-partikularen Einfluss den Imperator, statt inihm das von ihr in die Welt gesetzte Geschöpf und den ihren Interessendienstbaren Funktionär zu erkennen, im Gegenteil als ein selbstgesetzthöheres Wesen und einen aus der Machtvollkommenheit seines über-menschlichen Ursprungs heraus handelnden Autokraten behauptet undindem sie ihm also, statt ihm ihren Willen als das seiner führerschaftlichenKonstitution eingeschriebene Movens aufnötigen zu wollen, vielmehrden absolut freien Willen des göttlichen Selbstbewegers bescheinigt, bautdie Plebs darauf, dass er die Avancen, die sie ihm macht, honoriert, ihrdie alles überragende Stellung, zu der sie ihn erhebt, den kraft göttlichenUrsprungs absoluten Vorrang, den sie ihm vor seinesgleichen, vor den bloß auf ihre adlige Herkunft pochenden übrigen Patriziern verschafft,zu danken weiß und aus eigenem Willen ihren Interessen entspricht,ihr aus den freien Stücken seiner Selbstherrlichkeit ihren Willen tut. DiePlebs setzt mit anderen Worten darauf, dass der von ihr zum Deus exmachina des Prinzipats gekürte Imperator weiß, wem er die absoluteWillensfreiheit und uneingeschränkte Selbstmächtigkeit, die solche Kürihm beschert, schuldet und auf wen er angewiesen ist, will er sich seinegöttliche Position auf Dauer erhalten, und deshalb seinen göttlichen Rat-schluss in glücklicher Koinzidenz mit plebejischem Denken und Meinen

erfindet, seinen absoluten Willen in spontaner Relation auf das Sinnenund Trachten des Populus erfährt.

So also sieht das Kalkül aus, das der vom Volk tatkräftig betriebe-nen Vergöttlichung des Imperators oder Verabsolutierung des Princepszugrunde liegt: Während dabei äußerlich die patrizisch-ahnenkultlicheForm gewahrt wird, in die er sich zurückgezogen hat und der sie ihnnur unter Verletzung der mit ihr verknüpften religiösen Sanktion undsozialen Legitimation entreißen könnte, wird inhaltlich doch zugleichdiese Form aufgebrochen und durch das dem Princeps erteilte Attesteines die ahnenkultliche Abstammung übertrumpfenden eigenkultlichen

Ursprungs, eines das archaisch-menschliche Werden, den alten Adel, ausdem Felde schlagenden mythisch-übermenschlichen Seins, eines höherenWesens, zwischen den Primus und seine Pares ein Keil getrieben, der indem Maße, wie er dem kultisch als Gott verehrten Imperator zu uneinge-schränkter politischer Willensfreiheit und in der Tat zur absoluten Macht

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im Staate verhilft, den solchermaßen Begünstigten disponieren muss,

denen, die ihm sein Gottsein, seine aller Abhängigkeit sei’s vom plebeji-schen, sei’s vom patrizischen Wollen und Meinen enthobene Absolutheit bescheinigen, eben den plebejischen Massen, von Herzen gewogen zusein und deshalb ebenso unwillkürlich-pflichtschuldig wie selbstherrlich-spontan seinen Willen in ihren Dienst zu stellen, seine Macht in ihremInteresse zu üben.

Ob dieses Kalkül der Plebs, das mit dem Köder der Göttlichkeit ver-knüpft ist, allerdings aufgehen kann, erscheint auf den ersten Blick frag-lich. Schließlich mutet die absolute Willensfreiheit und schrankenloseSelbstbestimmung, die sie dem Imperator im Zuge seiner die Pietas durchDeitas, die Ehrfurcht vor den Ahnen durch Liebe zu sich selbst erset-zenden kultischen Erhöhung zubilligt, geradezu wie eine Einladung zuentfesselter Willkür und hybrider Selbstüberschätzung an und scheintwenig geeignet, jenen Sinn für machtpolitische Zuordnungen und grup-pendynamische Abhängigkeiten zu nähren, den es doch braucht, damitdas göttliche Geschöpf seiner menschlichen Schöpfer und deren An-spruch auf Honorierung eingedenk bleibt, der Autokrat seinen aller reli-giösen Selbstverleugnung zum Trotz ihm politisch die Macht verleihen-den Souverän, den Populus, nicht aus dem Auge verliert und vielmehrgebührend berücksichtigt. So gewiss seine Vergöttlichung, seine Über-führung in einen nicht den Ahnen, sondern seinem eigenen höheren

Ursprung geweihten Kult, den Imperator aus seinem patrizischen Mi-lieu heraussprengt und damit die negative Voraussetzung der von derPlebs angestrengten Rückverwandlung des senatorischen Princeps inden tribunizischen Führer erfüllt, so ungewiss scheint doch, ob dieseVergöttlichung auch die positive Absicht der Plebs zu befördern taugt,den Imperator als engagiertes Werkzeug ihres Willens und willfähri-gen Vertreter ihrer Interessen dingfest zu machen. Zu groß ist die mitsolcher Vergöttlichung des Imperators bekundete Selbstverleugnungder Plebs, zu groß ihre damit erklärte Bereitschaft, ihm ihren eigenenWillen aufzuopfern, ihr Wohl und Wehe seinem allmächtigen Ratschluss

anheim zu stellen, als dass sich ohne weiteres erwarten ließe, dass er imAllmachtsgefühl dieser seiner kultischen Erhöhung des ihm aufgeop-ferten Volkswillens eingedenk bleibt, dem vor ihm sich verleugnendenplebejischen Dafürhalten in seinem Meinen Rechnung trägt und nichtvielmehr in hybrider Selbstüberhebung nichts mehr kennt als seinen zur

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Willkür entschränkten persönlichen Willen, nur noch weiß, was er in zur

Allmacht des Gedankens entfesselter Idiotie selber will.Und selbst wenn er über genug politische Vernunft und nüchternesUrteil verfügt, den ihm von der Plebs attestierten absoluten Willen undselbstmächtigen Geist als eine Avance zu erkennen, für die er sich er-kenntlich zeigen muss, als ein Geschenk, das ihn dazu verpflichtet, dasAbsolutum seines von ahnenkultlicher Bevormundung absolvierten Wil-lens in die Übereinstimmung mit dem Volkswillen zu setzen, die Selbst-mächtigkeit seines von den Fesseln patrizischen Standesbewusstseins befreiten Geistes zum Wohle der plebejischen Macht zu nutzen – wiesoll er, da ja die Plebs im Zuge seiner kultischen Erhöhung, seiner Ver-göttlichung, so völlige Selbstverleugnung praktiziert und sich so ganzund gar seinem höheren Willen ausliefert und seinem besseren Wissenunbeantwortet, jemals sicher sein können, dass er ihr den Willen tatsäch-lich tut, ihren Interessen wirklich entspricht, und nicht vielmehr mit derZwangsläufigkeit der Absolutheit und Allmacht, die sie ihm zubilligt, sei-nen Willen mit dem ihren verwechselt, als ihr körperschaftliches Interesseweiß, was doch bloß sein persönliches ist.

Dies also scheint die Crux der Plebs: dass sie beim Versuch, den Impe-rator auf ihre Seite zu ziehen, doch zugleich die Form von ahnenkultlicherBindung respektieren muss, die er als Princeps, als Primus inter paresdes Patriziats, eingegangen ist, dass sie deshalb zum Köder einer die

religiöse Bindung der Form nach zwar wahrenden, dem Inhalt nach abersprengenden Verabsolutierung und Verallmächtigung des Imperators,seiner Rückführung auf ein übermenschlich höheres Wesen, eine selbstdie Personalität der patrizischen Abstammung übersteigende Epiphaniegöttlichen Ursprungs greift und dass sie mit diesem Kalkül nun zwar dennegativen Erfolg erringt, den Primus aus der Riege seiner Pares auszu-gliedern und zum Unicus zu verselbständigen, positiv gesehen, ihn aberdadurch keineswegs automatisch ihr, der Plebs, verpflichtet und ihremWillen gefügig, ihren Interessen geneigt macht, sondern ihn vielmehr zunichts weiter als zu hybrider Willkür und bornierter Selbstherrlichkeit

ermuntert. Gar so aussichtslos indes, wie es auf den ersten Blick scheinenwill, ist die Situation, in die ihr Deifizierungskalkül die Plebs bringt,denn doch nicht! Keineswegs nämlich ist das höhere Wesen, auf dassie den Imperator zurückführt, ist der göttliche Ursprung, aus dem sieihn resultieren lässt, jene um allen Inhalt gebrachte, tautologisch-leere

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Form, jene von jeglicher ahnenkultlichen Bestimmtheit befreite pauschal-

abstrakte Figur, als die wir sie suggeriert haben, um die, verglichen mitder religiösen Bindung und sakralen Ermächtigung des Patriziers, ominöszu nennende Verabsolutierung und total erscheinende Machtergreifungdes Imperators ins rechte Licht zu rücken. Vielmehr weist, näher besehen, jenes im Imperator Gestalt annehmende höhere Wesen, jener göttlicheUrsprung, eine phänomenale Konkretheit, um nicht zu sagen, personaleBestimmtheit auf , die der Plebs durchaus die Handhabe bietet, ihreAnsprüche und Absichten nicht etwa nur von außerhalb, von der Posi-tion der für das Zeugnis, das sie ablegen, Dankbarkeit und Zuwendungerwartenden Kultanhänger her, sondern vielmehr von innen, aus der

Konstitution eben jenes phänomenal konkreten Wesens und personal bestimmten Ursprungs heraus, geltend zu machen.Dabei ist diese Konkretheit des höheren Wesens und Bestimmtheit

des göttlichen Ursprungs nicht etwa erst Resultat der popularen Deifi-zierungsanstrengungen, des Kults um den Imperator, den die Plebs inOpposition zur Prinzipatsideologie des Augustus zielstrebig betreibt,sondern bereits und ausgerechnet Produkt der augusteischen Politikselbst, Konsequenz der Rechtfertigungsstrategie, die der Begründer desvom Imperator beherrschten Imperiums im Blick auf die imperatori-sche Vollmacht verfolgt. So sehr Augustus um der Distanz zu seiner

plebejischen Klientel und um einer möglichst eigenständigen Positionzwischen den Parteien willen bestrebt ist, den Imperator als Princeps indas Patriziat einzubinden und sein diktatorisches Amt, seine tribunizisch-konsularische Führungsrolle auf eine bloße, im Rahmen seines patrizi-schen Status von ihm wahrgenommene Sondervollmacht und Privatmis-sion zurückzuschrauben, so sehr sieht er sich damit doch vor die Aufgabegestellt, diese von ihm, dem Princeps, beanspruchte Sondervollmachtund wahrgenommene Privatmission aus irgendeiner ihm zukommen-den persönlichen Eigenschaft oder besonderen Funktion begründen zumüssen, um seinen herrschaftlichen Anspruch und führerschaftlichen

Gewahrsam nicht in den, von seinen missgünstigen Pares im Zweifelsfallnur zu bereitwillig aufgegriffenen Verdacht einer eigentlich grundlosenAnmaßung und durch nichts als durch seinen privaten Willen zur Machtgerechtfertigte Selbsterhöhung geraten zu lassen. Weil er um der Distanzzu seiner plebejischen Klientel willen seine Sonderbevollmächtigung

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und privatmissionarische Vorrangstellung nicht auf ihr reales Funda-

ment, seine imperatorisch-militärische Liaison mit der Plebs und daskonsularisch-diktatorische Führertum, das sie ihm als Gegenleistungfür seine popularistisch-tribunizische Interessenvertretung verschafft,zurückbeziehen darf, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sie, wie er dennauch tut, auf persönliche Eigenschaften, moralische Qualitäten, charak-terliche Vorzüge, politisches Talent zurückzuführen. Weder denen, überdie er sich als Primus erhebt, den Patriziern, noch denen, denen er sichdurch solche Überhebung als ihr Sachwalter und Patron vorstellt, denPlebejern, bietet er damit indes eine wirklich so zu nennende und nämlichAnspruch auf die Bedeutung einer objektiven Untermauerung erhebende

Begründung seiner Ausnahmestellung und Sonderbefugnis. Währenddie ersteren, die Patrizier, dank ihres natürlichen Selbstwertgefühls und je eigenen Narzissmus jene als Grund für seine Vorrangstellung geltendgemachten persönlichen Qualitäten und inneren Anlagen unschwer alsVorwand, als reflexive Rationalisierungen durchschauen, hinter denensich nichts weiter verbirgt als privates Machtstreben und persönlicheÜberheblichkeit, sind die letzteren, die Plebejer, zwar bereit, jene Begrün-dung für seine Vorrangstellung als die Wahrheit gelten zu lassen, aberdoch so, dass die Bestätigung der Begründung und den Beweis für ihreWahrheit nichts anderes als die Vorrangstellung selber liefert, und dass

also der zur Rechfertigung der Faktizität angegebene Grund, weit entferntdavon, diese zu untermauern und zu befestigen, seine Plausibilität undHaltbarkeit letztlich nur aus dem factum brutum selbst gewinnt.

Läuft so aber der Versuch, die imperatorische Rolle aus der persön-lichen Beschaffenheit ihres Inhabers zu erklären, auf eine sei’s in Spie-gelfechterei, sei’s in Zirkelhaftigkeit sich erschöpfende Scheinbegrün-dung hinaus, was Wunder dann, dass Augustus nach einer besserenFundierung seines Herrschaftsanspruches sucht? Er findet sie in der mitdem Prinzipat, mit der Rückbindung des Imperators an eine patrizisch-ahnenkultliche Deszendenz eingeschlagenen Richtung, indem er eben

diese besondere Deszendenz, eben diese dem Imperator eigene patri-zische Genealogie ihrerseits besondert, als solche aus dem Kontext pa-trizischer Stammlinien hervorstechen lässt, und damit dem Imperatordie erwünschte objektive, von seinen persönlichen Eigenschaften, seinerempirischen Beschaffenheit unabhängige und quasi in der patrizischen

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Natur, die er als Princeps in Anspruch nimmt, selbst verankerte Distink-

tion verschafft. Unbeschadet seiner eigenen patrizischen Herkunft undin Ergänzung dazu reklamiert der Imperator Augustus eine weitere Ab-stammung, die ihn, den Begründer und Errichter der imperatorischenHerrschaft, mit deren Stifter und Urheber Julius Caesar als mit seinemwahren Stammherrn und Ahn verknüpft. Unter Ausnutzung der Tatsa-che, dass ihn Caesar adoptiert und zu seinem Erben bestimmt hat, bringtsich Augustus gewissermaßen auf dem Amtsweg oder, besser gesagt, vonAmts wegen in eine genealogische Abfolge zum Adoptivvater, die ihmerlaubt, das Verhältnis patrizischer Pietät auf seinen Vorgänger im Amtzu projizieren und aus einer familiären Angelegenheit in ein Haupt- undStaatsanliegen, aus einer Beziehung, die ihn als Privatmann betrifft, ineine ihn als Amtsträger intendierende Relation zu überführen.

Was er damit gewinnt, ist eine Verlagerung des mit seinem politischenPrimat, seiner Primus-inter-pares-Stellung verknüpften Begründungs-problems von der Ebene der empirischen Subjekte und der faktisch-sozialen Präsenz auf die generisch substanzielle Grundlage, das Niveaukultisch-religiöser Repräsentanz. Den Dissens um die Legitimität seinesVorranges, der ihn im empirisch-politischen Raum patrizischer Kon-kurrenzen und Anmaßungen, in den er sich um der Distanzierung voneiner allzu zudringlichen plebejischen Klientel willen zurückgezogen hat,in Begründungsnot bringt – ihn kann der Imperator im systematisch-

genealogischen Rahmen ahnenkultlicher Differenzierungen und Abgren-zungen erfolgreich austragen oder vielmehr im Nu entscheiden. Zwar ister wie jeder andere Patrizier Spross eines generischen Stammes, Nachfahreines kultstiftenden Vorfahren, aber dieser Vorfahr unterscheidet sichvon denen der anderen durch den ursprünglich von ihm erhobenen unddurchgesetzten alleinherrschaftlichen Anspruch, seine die spezifisch-familiengeschlechtliche Beschränkung transzendierende und zur gene-risch-staatsmännischen Perspektive aufhebende Absolutheit. Eben derstaatspolitische Primat, den der Begründer des Imperiums Augustus beansprucht und gegen seinesgleichen, gegen die Eigen- und Eifersucht

seiner patrizischen Pares zu behaupten sucht, ihn hat bereits der impe-riale Stifter Cäsar vorgelebt und durch sein Tun und Vollbringen zummaßgebenden Faktum werden lassen; so gewiss Augustus genealogischerNachfahre und patrizischer Erbe Cäsars ist, so gewiss bewegt er sichim traditionellen Rahmen ahnenkultlicher Pietät, wenn er sich unter

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Berufung auf seinen Vorfahren als Princeps etabliert, die Alleinherrschaft

anmaßt.Den seinen eigenen Vorrang vor der Riege der senatorischen Patrizierquasi objektiv begründenden, weil in der generischen Substanz des Stan-des selbst verankernden Primat des Ahnherrn Cäsars vor den übrigenAhnen, den qualitativen Unterschied, der den Staatsstifter Cäsar vonden übrigen patrizischen Stammvätern trennt, drückt Augustus dabeidurch eine hierarchisch-systematische Differenzierung aus, die seinengenealogischen Gewährsmann den irdisch-chthonischen Ursprüngen derrömischen Geschlechter als einen überirdisch-olympischen Urheber desrömischen Gemeinwesens, kurz, den notablen Ahnen als einen veritablen

Gott gegenübertreten lässt. In bewusstloser Orientierung am Vorbild desalten religiösen Formationsprozesses, der im Zusammenhang mit dem alsursprüngliche Staatsbildung erscheinenden Übergang von der homoge-nen Stammesgemeinschaft zur stratifizierten Klassengesellschaft aus dengroßen Toten große Unsterbliche, aus den defunkt-pseudonymen Betrei- bern des generationellen Stammesprozesses die abstrakt-eponymen Ga-ranten der herrschaftlichen Staatsaktion, aus chthonischen Fluchtpunk-ten, richtungweisenden Galionsfiguren des Geschlechterreigens, olym-pische Gegengewichte, haltgebende Kultbilder der Kollektivgeschichtewerden lässt, versteht Augustus Cäsar als Ausdruck eines Sprungs im

ahnenkultlichen Kontinuum, als Inbegriff eines Paradigmenwechsel, derden einen, sich als Staatsstifter profilierenden Vorfahr über die übrigen,als familiäre Stammväter perennierenden Ahnen ein für allemal sicherheben und in der qualitativen Differenz eines Alleinherrschers, einerabsoluten Größe, eines generischen Wesens unter exemplarischen Gewe-senen, eines unsterblichen Gottes unter fortlebenden Menschen etablierenlässt.

Und die solchermaßen mit Konnotationen des alten Übergangs vonder ahnenkultlich-genealogischen zur opferkultlich-politischen Sphäreaufgeladene und befrachtete Differenz nutzt Augustus nun also zur ge-

nealogischen Begründung oder legitimistischen Herleitung einer ihmals dem Nachfahren Cäsars, dem Filius dei, zukommenden Suprematieüber seine als bloße Stammhalter der Geschlechter, als Patres familias,firmierenden patrizischen Standesgenossen, einer ihm, der sich mittelsPrinzipat doch gerade zum Primus inter pares erklärt und das heißt,

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mit dem Patriziat relativ gemein gemacht hat, dennoch und in unauf-

gelöstem Widerspruch dazu kraft seiner Gottessohnschaft gebührendenStellung des Solus supra impares und unbedingten Herrschaft. Er nutztdie Differenz, aber recht besehen missbraucht er sie. Indem er im manipu-lativen Rückgriff die Gottesfigur einsetzt, um im Konkurrenzkampf derAhnen zu triumphieren und also Bestimmungen eines opferkultlichen,sprich, religionsgeschichtlich späteren Stadiums zitiert, um in einemahnenkultlichen, sprich, religionsgeschichtlich früheren Kontext, der aberseinerseits nur ideologisch aufgewärmt, das heißt, im Dienste ebensosäkularer wie aktueller staats- und machtpolitischer Interessen bemühtwird, die Oberhand zu behalten, macht er sich eines solch anachronisti-schen Umgangs mit der religiösen Tradition schuldig und treibt derart

Schindluder mit eben dem sakralen Legitimationszusammenhang, den erdoch zugleich als Legitimationsbasis beschwört, dass es ein Leichtes wäre,ihn ineins der ingeniösen Falschmünzerei und des nefariösen Zynismuszu überführen und seine Konstruktion als ebenso unzumutbar lächerlichwie unvertretbar anstößig zurückzuweisen.

Wenn die Plebs das genealogische Göttlichkeitskonstrukt des Augustus aufgreiftund zu ihrer Sache macht, dann nicht, weil sie an einer Absicherung seinerPrimus-inter-pares-Stellung interessiert ist, sondern weil sie seine Rückfüh-rung auf den vergöttlichten Popularenführer Cäsar als politisches Programmempfindet. Nicht die genealogisch-progenitorische Begründung der Person desImperators, sondern die epiphanisch-paradigmatische Bestimmung der Imperato-renfigur als verkörperten Volkswillens sieht sie mit der cäsarischen Konstitutiondes Imperatorenamtes vollbracht.

Dass dies nicht geschieht und dass Augustus und seine Nachfolger,allen in den Majestätsprozessen der Folgezeit zum Ausdruck kommen-den Widerständen ihrer patrizischen Konsorten zum Trotz, mit ihremgenealogisch begründeten Alleinherrschaftsanspruch durchkommen, mitihrem Gottessohnschaftscoup Erfolg haben – das verdanken sie einzig

und allein ihrer plebejischen Klientel, dem Volk. Das Volk nämlich istFeuer und Flamme für die Bemühungen des Imperators, sich mittelsahnenkultlichem Dementi seiner ahnenkultlichen Bindungen aus der perPrinzipat selbstgewählten Beschränkung seiner patrizischen Standes-genossenschaft zu befreien und unterstützt von ganzem Herzen seinen

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Anspruch auf eine alle bloß patrizische Abstammung übertrumpfende

göttliche Herkunft, weil es darin die Chance gewahrt, seinem eigenenVerlangen nach Identifizierung des imperatorischen Amtes als einer ein-deutig tribunizischen, unmissverständlich volksdienlichen, um nicht zusagen volkshörigen, Funktion Befriedigung zu verschaffen. Und zwarverspricht die Gottessohnschaft, die der Imperator Augustus in legitima-tionstheoretisch ebenso planer Bekräftigung wie religionsgeschichtlichstracker Dementierung seines Prinzipats reklamiert, dem Volk Erfüllungseines sehnlichsten Wunsches nicht etwa nur in dem negativ konditionie-renden Sinne, dass sie auf genealogischem Wege das imperatorische Amtaus seiner Einbettung in die patrizische Standesgenossenschaft herauska-

tapultiert und seinem Träger zu einer Eigenständigkeit und Selbstmäch-tigkeit verhilft, die ihm gestattet, sich, wenn es ihm in der Freiheit seinesvon allen Bindungen und Rücksichten patrizischer Pietät absolvierten,weil unmittelbar gottgegebenen Willens gefällt, für das tribunizischeFunktionärstum, die Volksführerschaft, zu entscheiden, die ihm seinezum Populus Romanus geadelte plebejische Klientel anträgt – so wäre ja nur erst wieder das oben geschilderte Dilemma eingetreten, dass esder Plebs zwar gelingt, den Imperator durch seine ursprüngliche Ver-absolutierung und persönliche Vergöttlichung dem Einfluss patrizischerIntentionen und Interessen zu entziehen, dass damit aber mitnichten

schon gewährleistet und im Gegenteil höchst unwahrscheinlich ist, dassnun der Wille dieses absoluten Herrn, das Vornehmen dieses Gottes inMenschengestalt tatsächlich im Einklang mit dem Volkswillen steht, voll-inhaltlich mit den Hoffnungen und Erwartungen, die seine plebejischeKlientel in ihn setzt, koinzidiert. Vielmehr verheißt die Gottessohnschaft,die Augustus gegen alle bloß patrizische Abstammung reklamiert, derPlebs Erfüllung ihres Verlangens nach imperatorischer Zuwendung undBevorzugung in der positiv disponierenden Bedeutung, dass sie denImperator in actu seiner genealogischen Herleitung und in der Personnämlich des die patrizischen Stammväter übertrumpfenden Staatsahns,

des absoluten Ursprungs und göttlichen Cäsar, auf den er sich zurück-führt, den plebejischen Interessen von Grund auf verpflichtet, dem Willendes Volkes von Anfang an hörig erweist.

Tatsächlich nämlich ist der Stifter des imperatorischen Amtes Cäsar,der vergöttlichte Ahn, zu dessen Sohn sich Augustus erklärt, für die

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Plebs schon zu seinen Lebzeiten Verkörperung des Volkswillens, Inbe-

griff plebejischer Interessen. Als politischer Führer der Popularenparteiund militärisch erfolgreicher Feldherr, Anführer des von ihm in eigenerRegie rekrutierten und ihm persönlich ergebenen Massenheeres Ma-riusscher Prägung, stellt Cäsar eben den leviathanischen Bastard ausKonsul und Tribun, generalbevollmächtigtem Staatsdiener und volksbe-wegungsentsprungenem Glücksritter dar, auf den die Plebs baut, dem siedurch das aus ihren Reihen geworbene Volksheer zur imperatorischenMacht verhilft und von dem sie sich dafür erwartet, dass er als mani-fester Herr sie als latenten Souverän zur Geltung bringt, sich als Werk-zeug zur Durchsetzung ihrer Versorgungs- und Sanierungsforderungen,als Faktotum bei der Verwirklichung ihres den patrizisch-equestrischenReichtum der Republik betreffenden Partizipations- und Umverteilungs-projekts erweist. Wenn der Begründer des Imperiums Augustus sichahnenkultlich-genealogisch auf den imperialen Stifter Cäsar als auf einendie patrizischen Stammväter übertrumpfenden Staatsahn zurückführt,so ist das für ihn ein strategischer Zug, durch den er sich aus der allzugroßen Nähe zu seinen Standesgenossen, den Pares, in die er sich zwecksDistanzierung von seiner Klientel, der Plebs, begeben hat, befreien undals der zum Solus tendierende Primus, als der Alleinherrscher etablieren,als uneingeschränkter Imperator reaffirmieren will. Für die Plebs aberstellt diese genealogische Reduktion etwas völlig anderes dar, nämlich

einen programmatischen Akt, durch den sich Augustus in aller Formzum Erben und Wahrer der von Cäsar musterhaft verfolgten plebejischenForderungen und Interessen, zum testamentarischen Vollstrecker des inCäsar vorbildlich verkörperten Volkswillens erklärt.

Mit der Begründung der als Göttlichkeit kodifizierten absoluten Macht-stellung des Imperators hat die Plebs kein Problem und hält sie sich garnicht weiter auf. Zu groß ist ihr Verlangen, ihren Führer und Sachwal-ter aus den Reihen des Patriziats, in die er sich vor ihrer forderndenZudringlichkeit geflüchtet hat, herauszubrechen und in der splendidisolation, in die er sich damit entrückt zeigt, ihrem Werben geneigt, ihrer

Vereinnahmung zugänglich zu machen, als dass sie versäumen könnte,die Chance, in ihm das zur absoluten Herrschaft berufene Wesen hö-heren Ursprungs und übermenschlicher Prägung zu erkennen, die erselbst ihr durch seinen – wie auch immer religionshistorisch anrüchigenund eines blind assoziativen Eklektizismus verdächtigen – Coup einer

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ahnenkultlich-genealogischen Begründung seiner politischen Vorrang-

stellung bietet, ebenso umstandslos wie begierig, kurz, ohne weiteresRechfertigungsbedürfnis, beim Schopf zu ergreifen. So wenig sie Augus-tus als Prinzipatsfürsten, als in die patrizische Standesgenossenschaftrelativ integrierte Führungspersönlichkeit, als Primus inter pares, wahr-nimmt, so wenig bringt sie Geduld und Sympathie für seine genealo-gischen Rechtfertigungsanstrengungen auf, hat sie Verständnis dafür,dass er sich seiner führerschaftlichen Sonderstellung, seiner alleinherr-schaftlichen Vollmacht durch die umständliche Konstruktion einer eige-nen Stammlinie versichert, die den Princeps, den Primus inter Pares auf einen die patrizischen Stammväter übertrumpfenden Staatsahn, einen diegroßen Toten der Geschlechter in den Schatten stellenden Unsterblichendes Gemeinwesens, kurz, den Imperator Augustus auf den göttlichenCäsar zurückführt. Die absolute Stellung und göttliche Allmacht, die sichAugustus auf solch ahnenkultlichem Umweg und nämlich via obliquaeiner ebenso einzigartigen wie musterhaften Pietas-Beziehung sichert –sie wäre die Plebs durchaus bereit, ihm als imperatorischem Individuumhöchstselbst, das heißt, ohne alle Umstände, direkt und ad personam,zuzusprechen. Was sie an dem von Augustus reklamierten göttlichenStammvater, an Cäsar, fasziniert und dazu bringt, sich für die dem Im-peratorenamt solchermaßen nachgewiesene genealogische Verknüpfungund ahnenkultliche Dimension aus ganzem Herzen einzusetzen, ist nicht,

dass Cäsar dem Augustus eine ebenso sehr im Rahmen ahnenkultlicherBindung bleibende und also die Form des patrizischen Religionssystemswahrende, wie das System über sich hinaustreibende und nämlich denpatrizischen Prinzipat zum heroischen Solipsat übersteigernde absoluteHerrschaft beschert, sondern dass dies inhaltlich in der Weise geschieht,dass die absolute Herrschaft in unmittelbare Korrelation zu den Bedürf-nissen der Plebs gebracht, der souveräne Wille des manifesten Herrschersin bruchlosen Einklang mit dem herrschenden Bewusstein des latentenSouveräns gesetzt erscheint.

Was der Rekurs des Augustus auf den Ahnherrn Cäsar aus Sicht der

Plebs bewirkt und was ihn ihr in der Tat lieb und teuer macht, ist al-so nicht etwa die mit ihm intendierte genealogische Begründung desImperatorenamts, sondern die in ihm implizierte programmatische Be-stimmung der Imperatorenrolle. Dank nicht zuletzt seines frühen, ge-waltsamen Todes und der ihm dadurch vorenthaltenen Möglichkeit, sich

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durch die ernüchternde Praxis der ausgeübten Alleinherrschaft bei seiner

plebejischen Klientel unbeliebt zu machen und mit ihr zu entzweien,gilt Cäsar der Plebs als der verkörperte Volkswille, als der tribunizisch-konsularische Inbegriff, die unverfälschte politische Essenz all dessen,worauf die populare Bewegung sinnt und wonach sie trachtet, und erfülltinsofern den Tatbestand eines in die innerste Bastion des patrizischenGegners eingeschleusten fünften Kolonne oder vielmehr eines aus denReihen des Patriziats selbst der Volksbewegung erwachsenen machtvol-len Komplizen. Wenn nun Augustus sich auf just diese populare Idealfi-gur als auf den seine absolute Macht begründenden urheberschaftlichenStaatsahn oder imperatorischen Gott zurückführt, so löst er in der Tat fürdie Plebs das oben dargelegte Problem, dass sie mit der Erhebung desImperators zum Wesen höheren Ursprungs und Träger eines göttlicherAllmacht entspringenden Willens ihn zwar negativ allen patrizischenBindungen entreißt, indem sie ihm zur Selbstherrlichkeit und Souveräni-tät einer nur seiner göttlichen Natur verpflichteten Willensmacht verhilft,dass sie damit keineswegs aber auch schon inhaltlich die erwünschteÜbereinstimmung seiner göttlichen Natur mit dem plebejischen Naturell,die angestrebte Korrespondenz der Willensmacht, die er verkörpert, mitdem Willen, der im Volk lebendig ist, sichergestellt hat und dass diegöttliche Absolutheit, die die Plebs dem Imperator attestiert, vielmehr imZweifelsfall dazu angetan ist, ihn nicht nur über die Stränge patrizischer

Pietas, sondern ebenso sehr auch alle Rücksichten auf seine plebejischeKlientel in den Wind schlagen und sich in der Eigenwilligkeit und Hy- bris haltloser, weil um alle soziale Bestimmung und politische Richtunggebrachter Willensübungen verlieren zu lassen.

 Jene Volkstümlichkeit und Klientelhörigkeit nämlich, die mit der schie-ren Göttlichkeit des Imperators und mit der Absolutheit seines Willensdie Plebs mitnichten schon garantiert sieht und die sie ihm von sich ausoder selbstmächtig nur als ihr eigenes parteiisches Interesse und als ihrenpersönlichen profanen Willen, mithin nur sakrilegisch und das heißt, ge-gen die von ihm hochgehaltene ahnenkultliche Pietas und Verpflichtung

gegenüber den religiös fundierten Ansprüchen der patrizischen Traditionaufzwingen könnte – zu jener Volkstümlichkeit und Klientelhörigkeit also bekennt sich Augustus nun aus den freien Stücken der zur Begründungseines Prinzipats als vielmehr absoluten Vorrangs vor seinesgleichen bemühten genealogischen Filiation, ihr zollt er in der Figur des göttlichen

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Ahnherrn von dem er sich herleitet, in der Gestalt des tribunizischen

Konsuls und popularen Feldherrn Cäsar, den er zu seinem Stammvatererklärt, hochheiligen Tribut. So gewiss Cäsar aus der interessierten, vomWillen zur imperatorischen Ermächtigung getriebenen Sicht der Plebsder personifizierte Volkswille und das verkörperte plebejische Interesseist und so gewiss sich Augustus auf eben diesen personifizierten Volks-willen, eben diesen Inbegriff plebejischer Interessen als auf seinen ihnüber die patrizischen Standesgenossen erhebenden und als unbestreit- baren Alleinherrscher etablierenden absoluten Ursprung und göttlichenMachtquell beruft, so gewiss kann die Plebs darauf verzichten, sich ihmeigens aufzudrängen, ihn als ihren Funktionär, ihre faktorelle Kreaturexplizit in Anspruch zu nehmen und sich dabei aber – ihren eigenenreligiösen Überzeugungen zum Tort und zum Schaden der politischenGlaubwürdigkeit des imperatorischen Amtes – in Konkurrenz und Wi-derspruch zu der höheren Bestimmungsmacht zu setzen, der er sichkraft patrizisch-ahnenkultlicher Tradition verpflichtet weiß, und kannsich vielmehr damit begnügen, ihn beim Portepee eben dieser in dertribunzisch-konsularischen Gestalt seines Adoptivvaters Cäsar von ihmselbst beschworenen höheren Bestimmungsmacht zu fassen, ihn beimWort eben dieses als der göttliche Cäsar der ahnenkultlichen Sphäreentsprungenen personifizierten Volkswillens und Inbegriffs plebejischerInteressen, auf den er sich beruft, zu nehmen.

Wie wenig die Plebs den Rückgriff des Princeps Augustus auf denStaatsahn und Stifter des Imperatorenamts Cäsar als eine den Rahmendes Patriziats ebenso effektiv transzendierende wie ostentativ wahrendegenealogische Begründung der Alleinherrschaft begreift und wie sehr siediesen Rückgriff statt dessen als eine den Volkswillen ebenso förmlichdem absoluten Willen des Imperators aufopfernde wie inhaltlich in ihmzur Geltung bringende programmatische Bestimmung der Alleinherr-schaft interpretiert, macht die Modifikation deutlich, die sie kurzerhandan dem von Augustus eingeführten Begründungsmodell vornimmt unddurch die sie die bloße Gottessohnschaft, die Augustus reklamiert, in

schiere Gottgleichheit, die göttliche Abstammung, auf die er Ansprucherhebt, in göttliches Sein sans phrase überführt. Für Augustus und sei-ne Begründungszwecke genügt es vollauf, wenn er sich als sterblicherSohn des unsterblichen Cäsar, als der irdische Nachfahre eines olympi-schen Vorfahren, kurz, als ein Heros, ein Mensch göttlicher Abstammung,

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präsentiert: auf diese Weise gewinnt er den zur Untermauerung sei-

nes Prinzipats erwünschten qualitativen Abstand zu seinen patrizischenStandesgenossen, ohne doch aber der relativen Nähe zu ihnen verlus-tig zu gehen, die sein allen göttlichen Ursprungs zum Trotz gewahrtesMenschsein ihm sichert und die ihm sein politisches Geschäft, das denleutselig-kollegialen Umgang mit der alten, ökonomisch nach wie vormächtigen Führungsschicht einschließt, nur erleichtern kann.

Aus Sicht der Plebs hingegen, der es ja, wie gesagt, nicht um einetopisch-förmliche Begründung der Sonderstellung des Imperators – dieattestiert sie ihm ohne weitere Umstände! –, sondern um deren faktisch-inhaltliche Bestimmung geht, zählt Cäsar nicht eigentlich als Vorfahrdes Imperators, sondern als Vorbild für ihn, nicht als ein seinen Nach-

folger in die Welt setzender Progenitor, sondern als ein ihn durch dieWelt geleitendes Paradigma, nicht als nachwuchszeugender Urheber,sondern als musterbildender Prototyp, und eben deshalb liegt es auchnahe für sie, die genealogische Vermittlung kurzerhand fallen zu lassenund durch epiphanische Unmittelbarkeit zu ersetzen. So gewiss aus derPerspektive der Plebs Cäsar nicht als der den Imperator persönlich bewir-kende, ihn in seinem Quod est zeugende existenzielle Patriarch, sondernals die im Imperator inhaltlich am Werk seiende, ihn in seinem Quidest manifestierende dispositionelle Matrix gebraucht wird, so gewissersetzt die Plebs die von Augustus zwischen Imperator und Cäsar eta-

 blierte Beziehung diskursiv-genetischer Nachfolge durch ein Verhältnisintuitiv-generischer Wiederkehr und lässt sie also den Imperator auseinem in mythologischer Sukzession das Licht der Welt erblickendenheroischen Sohn des göttlichen Cäsar den in kairologischer Reiterationin der Welt aufleuchtenden göttlichen Cäsar selbst werden. In jedemImperator feiert demnach kraft Amtes und kraft der an das Amt sichknüpfenden wohlfahrtsprogrammatischen Erwartungshaltung der Plebsder als personfizierter Volkswille und Inbegriff plebejischer Interessenerscheinende Cäsar seine spontane Auferstehung; weit entfernt davon,dass der Imperator bloß Abkömmling und Repräsentant des göttlichenCäsar, sein in der Stammlinie verhaltener heroischer Erbfolger wäre, ist

er vielmehr die getreuliche Reproduktion und zeitlose Inkarnation desGottes, sein immer neu in Szene sich setzendes epiphanisches Dasein.

So also nutzt die Plebs die von Augustus zum Zwecke einer genealogi-schen Begründung seiner Alleinherrschaft reklamierte cäsarische Gottes-sohnschaft, um das imperatorische Amt und seine Träger auf ein in der

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Gestalt Cäsars gewahrtes wesentlich populares Programm, eine primär

und vor allem der Wohlfahrt des Volkes dienliche Politik zu verpflich-ten, und bietet den Imperatoren als Gegenleistung für ihre Bereitschaft,sich nicht nur geneologisch, sondern mehr noch programmatisch in dieNachfolge Cäsars zu stellen und den Dienst am Volk zu ihrem oberstenAnliegen zu machen, sich als Funktionär und Sachwalter der Plebs, alsVolksführer, vereinnahmen zu lassen, die Überführung der Gottessohn-schaft in reine Gottgleichheit, die Aufhebung des nach Maßgabe seinesgöttlichen Ursprungs distinktiven und durch relativen Vorrang vor denpatrizischen Standesgenossen ausgezeichneten politischen Daseins ineine kraft ursprünglicher Göttlichkeit definitiv absolute, und von welcherGenossenschaft und ständischen Rücksicht auch immer befreite Vor-machtstellung im Staate. Dafür, dass er im Gewahrsam seiner cäsarischenNatur nichts anderes im Sinn hat, als der popularen Sache zu dienenund sich den Willen des Volkes vollinhaltlich und vorbehaltlos zu eigenzu machen, ist die Plebs ihrerseits gesonnen, sich in sein willenlosesWerkzeug zu verwandeln und die Wahrnehmung ihrer Interessen sei-ner zum allmächtigen Ratschluss verklärten cäsarischen Weisheit undUrteilskraft zu überlassen. Dafür, dass der Imperator einwilligt, den inder Gestalt Cäsars personifizierten Volkswillen als seine ursprünglicheNatur und generische Substanz gelten zu lassen, ist die Plebs bereit,diesen verkörperten Volkswillen aufs Podest kultischer Anbetung zu

heben und ihn als die im Imperator transsubstantiierte göttliche Machtunmittelbar präsent sein beziehungsweise den Imperator als das zu ihmtransfigurierte persönliche Wesen ephiphanische Geltung gewinnen zulassen.

Das Angebot absoluter Herrschaft, das der Populus Romanus demPrinceps macht, ist zu verlockend, der Köder der Göttlichkeit, den diePlebs dem Imperator hinhält, zu fett, als dass der Umworbene langewiderstehen könnte. Auch wenn der Reichsgründer selbst noch klug und besonnen genug ist, sich der Versuchung zu verschließen, seine Nachfol-ger sind es nicht, und bereits der zweite, Caligula, nimmt den göttlichen

Status, das alles überstrahlende Privileg, nicht nur Augustus, Träger derRolle des erhabenden Princeps, sondern mehr noch und vielmehr derfleischgewordene göttliche Cäsar, die Reinkarnation des personifiziertenVolkswillens, des als generische Substanz in die ahnenkultliche Formeines urheberschaftlichen Subjekts gebannten absoluten Souveräns zu

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sein, offen in Anspruch. Und damit ist der Handel zwischen Plebs und

Imperator im Prinzip abgeschlossen, die Realisierung des Imperiums alseines ebenso sehr im Dienste des Populus Romanus stehenden wie vonihm getragenen, ebenso sehr der ökonomischen und sozialen Wohlfahrtdes Volkes verpflichteten, wie auf der politisch-militärischen Kontrolledes Volkes über das kolonialistisch-sklavenwirtschaftliche System derNobilität beruhenden amphibolischen Monstrums aus Militärdiktaturund Volksdemokratie, konsularischer Feldherrschaft und tribunizischerVolksführerschaft im Grundsatz perfekt. Der Populus lässt dem Impera-tor seinen Willen, erklärt diesen zu einer kraft cäsarischer Konstitutionabsoluten Macht, stellt aber durch eben diese cäsarische Konstitution desImperators sicher, dass es im Grunde der Volkswille ist, dem der Impera-tor gehorcht, im Kern das populare Interesse ist, das er wahrnimmt. DerPopulus gibt sich gleichermaßen als soziale Schicht und als militärischeFunktion ebenso vorbehalt- wie willenlos in die Hand des zum göttlichesWesen erhobenen Princeps und verhilft damit dessen Herrschaft zu einerdurch keine ständischen Rücksichten und politischen Allianzen mehreingeschränkten Machtfülle, sorgt aber durch das cäsarische Paradigma,das er in jenem göttlichen Wesen des Princeps am Werk sieht, dafür, dassder Princeps wesentlich nur Tribun, im Prinzip nichts als Volksführer ist.

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Der Kult, den der Populus um den Kaiser treibt und durch den er ihn we-

niger als Werkzeug denn als epiphanische Verkörperung des Volkswillens zuvereinnahmen sucht, besiegelt das Schicksal des Patriziats und macht aus derRitterschaft dienstbare Geister der absoluten Herrschaft. Aber seinen eigent-lichen Zweck, den heimlichen Souverän, den Populus, zufrieden zu stellen,verfehlt er, weil ein unaufhebbarer Widerspruch zwischen dem politisch-sozialen

 Anspruch auf volksfreundliche Umverteilung und der Notwendigkeit besteht,die hierfür erforderlichen militärisch-imperialen Voraussetzungen zu schaffenbeziehungsweise zu gewährleisten. Als ätiologischer Faktor beschränkt dieserstrukturelle Widerspruch das häufig als Grund für das Scheitern des popularenkaiserkultlichen Kalküls angegebene Phänomen des sogenannten Cäsarenwahnsauf die Rolle einer höchstens symptomatischen Konsequenz.

So raffiniert eingefädelt und kunstvoll stipuliert der im Kaiserkult desRömischen Reiches besiegelte Handel zwischen Plebs und Konsul, ple- bejischem Heervolk und tribunizischem Feldherr, souveränem Populusund popularem Imperator aber auch anmuten mag – er hält nicht was erverspricht. Wie sich erweist, kann er die hochgesteckten ökonomischenund sozialen Erwartungen, die das Volk an ihn knüpft, die hochfliegen-den Hoffnungen auf wohlfahrtsstaatliche Zuwendung und Versorgung,auf ein Leben voller leiblicher Befriedigung und geistigem Zeitvertreib,die der Populus Romanus in ihn setzt, nicht erfüllen. Zwar, was den einen

Teil der Abmachung angeht, den von Volk und Massenheer getragenenAusbruch des göttlichen Imperators aus gleichermaßen der Beschrän-kung durch ein patrizisches Kollegialsystems und der Abhängigkeit voneiner popularen Partei und seinen Aufstieg zu absoluter Macht und abso-lutistischer Herrschaft – dieser Teil erfährt seine der Grundtendenz nachebenso unaufhaltsame wie in der Durchführung allmähliche und vonUnterbrechungen und Rückschlägen markierte Verwirklichung. Auf derBasis der im Kaiserkult besiegelten Bereitschaft der Plebs und ihrer demStaat zur Verfügung gestellten Militärkraft, sich dem Willen des in seinercäsarischen Person den konsularischen Heerführer und den tribunizi-

schen Volksführer vereinenden Imperators bedingungslos zu unterwerfenund seinen Ratschluss als die höchste politische Direktive und bürokrati-sche Instanz, als Absolutum, göttliches Gesetz, gelten zu lassen, gelingtes den imperialen Alleinherrschern im Laufe von zwei Jahrhunderten,die Machtverhältnisse im römischen Staat endgültig und zur Gänze in

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ihrem Sinne umzukrempeln und den augusteischen Prinzipat in eine

Militärdespotie reinsten Wassers zu überführen. Unter dem militärischen,politischen und ökonomischen Übergewicht, das dem Imperator diezur kultischen Verehrung intensivierte Unterstützung der plebejischenSchichten in der auf ganz Italien erweiterten Bürgerschaft, die Schlagkraftdes zur stehenden Armee reformierten und durch den ständigen Kampf an den vielen Fronten des riesigen Reichsgebiets gestählten plebejischenMassenheeres und schließlich die gesammelte wirtschaftliche Kraft derseiner Verfügung unterstellten und von der Expansion des Imperiumsprofitierenden äußeren Provinzen verschafft, kann die pro forma desPrinzipats noch als Macht im Staat perennierende und pro nomine ihrer

senatorischen Mitwirkung politischen Einfluss beanspruchende patri-zische Oberschicht, die Schicht der grundbesitzenden großen Familien,gar nicht anders, als allmählich den Geist aufzugeben oder, genauer ge-sagt, ihre letzten, ökonomisch fundierten Bastionen zu räumen. Ohnehin bereits militärisch ausgebootet und politisch weitgehend kaltgestellt,sprich, auf ein wie immer aufwendiges und gesellschaftliches Prestigegenießendes Rentiersdasein reduziert, geraten sie auch ökonomisch mehrund mehr ins Hintertreffen und werden von einer Entwicklung überrollt,deren Ziel nicht mehr die staatliche Expansion zwecks privater Berei-cherung, sondern die Mobilisierung aller finanzieller, instrumenteller

und personeller Ressourcen zur Versorgung, Instandhaltung und Ver-teidigung des mittlerweile voll expandierten, zum Imperium entfaltetenStaatswesens ist.

Vor der gebieterischen Notwendigkeit, die plebejische Klientel desKaisers, den Populus Romanus, leiblich-seelisch zu versorgen und wohl-fahrtsstaatlich zufrieden zu stellen, die Infrastruktur und den Verwal-tungsapparat des Reichsgebiets auszubauen und instand zu halten,schließlich den Reichsfrieden aufrechtzuerhalten und die Integrität desTerritoriums gegen äußere Bedrohungen zu schützen – vor diesen zwin-genden Erfordernissen erweist sich die Einteilung des Reichsgebiets in

äußere und innere Provinzen, das heißt, die Aufteilung der Regionenoder Verwaltungseinheiten des Imperiums in solche, aus denen die fürdie Erfüllung der imperatorischen Aufgaben nötigen Mittel requiriertwerden, und in solche, die den traditionellen Bereicherungsansprüchender senatorischen Oberschicht zur Verfügung stehen, als illusorisch und

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unhaltbar. Nicht nur, dass die Imperatoren kraft ihrer militärischen Über-

macht und politischen Entscheidungsgewalt von Anfang an auch überdie de jure dem Patriziat überlassenen inneren Provinzen de facto alsOrdnungsmacht herrschen und die bürokratische Kontrolle ausüben –getrieben durch ihren unersättlichen Bedarf an Ressourcen und gestütztdurch die ihnen als Finanziers, Steuerpächter, Großhändler und Un-ternehmer dienstbare Ritterschaft nutzen sie ihr Gewaltmonopol undihre Verwaltungshoheit zugleich dazu, auch ökonomisch-fiskalisch ihrenEinfluss fortwährend zu erweitern und einen immer größeren Teil derprovinziellen Abgaben unter ihre direkte oder indirekte Verfügung zu bringen. Sofern die senatorischen Patrizier, die ihren Reichtum aus derSklavenwirtschaft der Latifundien und aus den Pfründen der Provin-zialämter ziehenden Angehörigen der traditionellen Großgrundbesitzer-schicht, den Imperatoren dabei im Weg sind oder Widerstand leisten, bekommen sie die ganze Härte des imperatorischen Staatswesens zu spü-ren, werden gerichtlich verfolgt, geächtet, enteignet, ums Leben gebracht.Sofern sie kooperieren oder sich dem Vordringen der kaiserlichen Machtfügen, dürfen sie ihren Reichtum und ihre sozialen Privilegien weitergenießen und in einem um alle politische Ambition und biographischePerspektive gekürzten Wohlleben gemächlich versinken.

So oder so, durch gewaltsame Verfolgung und Vernichtung oder durchfriedlichen Verfall und Untergang, geht es mit dem Patriziat, den großen

Familien der Republik, unaufhaltsam zu Ende; ihre konfiszierten, ver-prassten oder durch simples Aussterben aufgelassenen Güter und Vermö-gen fallen an den Kaiser und werden von diesem entweder dem Fiskuszugeschlagen und direkt als kaiserliches Eigentum verwaltet und ausge- beutet oder aber verdienten Mitstreitern und Günstlingen des Kaisers alsSchenkungen oder Pachten zur Nutznießung überlassen. SinnenfälligenAusdruck findet diese allmähliche Dekadenz und Auflösung der patrizi-schen Standesgenossenschaft in der veränderten Zusammensetzung despolitischen Organs des Patriziats, des römischen Senats. Aus der striktenpatrizischen Standesvertretung, die er Jahrhunderte lang war, wird der

Senat zu einem ebenso bedeutungslosen wie willfährigen Korollar desKaisers; in zunehmendem Maße mit Parteigängern und Günstlingen desHerrschers, mit verdienten Legionsoffizieren und Prätorianern, Vertreternder kaiserlichen Garden, besetzt, verwandelt er sich in ein Spiegelbildder durch die imperatorische Herrschaft betriebenen Militarisierung des

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Staatsapparats und in ein Sinnbild der mit dem Verschwinden der alten

Oberschicht einhergehenden Degradierung der von letzterer gestellteneinstigen Konstitutive des Staates zum institutionalisierten Akklamati-onsorgan einer die Alleinherrschaft behauptenden Exekutive.

In der Konsequenz dieser Entwicklung, die den Untergang des Pa-triziats besiegelt, dessen einstige politische Plattform, den römischenSenat, in eine kaiserliche Selbstbeweihräucherungsstätte verwandelt undvom Senatus Populusque Romanus, wie in charakteristischer ideolo-gischer Selbstverleugnung der augusteische Prinzipat den römischenStaat definiert, nur mehr den Populus Romanus als sub conditione einernicht der Erwähnung werten, weil selbstverständlichen imperatorischenHerrschaft noch ernst zu nehmenden politischen Faktor übrig lässt –in der Konsequenz dieser Entwicklung verändert sich aber auch undwesentlich die Stellung der Ritterschaft, des mit dem ökonomischen Ge-schäft, mit der Aufgabe einer expropriativen Verwaltung und effektivenAusbeutung des Reiches betrauten equestrischen Standes. Verführt durchdas Interesse an einer Befreiung von der lästigen patrizisch-senatorischenVormundschaft und durch die Aussicht, im Rahmen einer auf militä-rische Ordnungsstiftung und soziale Fürsorgeleistungen beschränktenPolitik ökonomisch freie Hand zu haben und im Imperium nach Gut-dünken schalten und walten zu können, laufen die Ritter zum Imperatorüber und sind gleichermaßen durch das kommerzielle und bürokrati-

sche Knowhow, das sie ihm zutragen, und durch die Spaltung der No- bilität und Fraktionierung der Optimatenpartei, auf die ihre Desertionhinausläuft, von ausschlaggebender Bedeutung für den Triumph derimperatorischen Sache. Belohnt für den Sukkurs, den sie ihm leisten,werden sie vom Imperator in der Tat dadurch, dass er ihnen seine Pro-vinzen zu treuen oder im Zweifelsfall untreuen Händen übergibt, ihnenals pauschal bevollmächtigten Verwaltern, Generalpächtern und mo-nopolistischen Steuereintreibern deren Bewirtschaftung und vielmehrAusbeutung überlässt. Damit eröffnen sich ihnen ungeheure Betätigungs-felder und Bereicherungschancen. Hinzu kommt, dass sie gleichzeitig

im Blick auf die senatorischen Provinzen und die patrizischen Besitz-tümer ihre alte Finanziers-, Pächter- und Maklerrolle behalten. Als dieeigentlichen Betreiber des sklavenwirtschaftlichen-kolonialistischen Aus- beutungssystems der römischen Republik üben sie diese ihre Funktionauch weiterhin aus, nur dass sie das jetzt als vom Imperator begünstigte

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gesellschaftlichen Faktor zum Verschwinden bringt, ist es aus mit jener,

den Imperator zu besonderem Dank und Wohlwollen disponierendenSonderrolle des Ritterstands.Nicht, dass mit der Auflösung und Vernichtung des Patriziats die Rit-

ter etwa entbehrlich würden; im Gegenteil – als die funktionelle Intel-ligenz, die kompetenten Betreiber des von der kaiserlichen Macht nun-mehr vollständig unter ihre militärisch-politische Herrschaft gebrachtenkolonialistisch-sklavenwirtschaftlichen Ausbeutungssystems, sprich, alsdie über das gesamte Ausbeutungssystem die technisch-faktische Kon-trolle ausübenden ökonomischen Sachwalter und bürokratischen Funk-tionäre der kaiserlichen Herrschaft, werden sie mehr denn je gebraucht.So unentbehrlich sie dem Imperator aber auch nach wie vor sind, sounbestritten ist nunmehr er der Herr im imperialen Haus: die ökono-mische Narrenfreiheit und bürokratische Selbstherrlichkeit, die, ohne eszu wollen, die patrizische Konkurrenz des Imperators dem von ihr zuihm übergelaufenen und einen wesentlichen Aktivposten des imperato-rischen Kampfes um die absolute Macht im Staat bildenden Ritterstandsichert, schwindet in eben dem Maße, wie der Imperator seinen Kampf siegreich beendet und die patrizische Konkurrenz ein- für allemal ausdem Feld schlägt. Ohne den gesellschaftlichen Machtfaktor des Patri-ziats, der ihnen den besonderen Wert einer im Konkurrenzkampf mitletzterem entscheidenden Hilfstruppe oder Pioniereinheit verleiht und

sie damit in der Tat in den Rang von aller Ehren und Avancen wertenKampfgenossen des Imperators erhebt, verwandeln sich die Ritter mehrund mehr in normale Beauftragte und Funktionäre des imperialen Staats.Unter der zu konkurrenzloser Geltung gelangten und höchstens nochzur Rücksicht auf den Machtfaktor des durchs Massenheer vertretenenPopulus angehaltenen kaiserlichen Herrschaft legen die Angehörigendes Ritterstandes, aus denen der Kaiser sein ökonomisches und büro-kratisches Personal, sein Management und seine Verwaltung rekrutiert,allmählich den Charakter von Verbündeten, freien Mitarbeitern, selbstbe-wussten Helfern, Impresarios, Maklern des den Staat repräsentierenden

Herrschers ab und werden zu Verpflichteten, Angestellten, dienstbarenGeistern, Intendanten, Prokuristen des im Herrscher verkörperten Staats.Dieser Teil der qua Kaiserkult besiegelten Abmachung zwischen Im-

perator und Plebs also findet sich am Ende voll und ganz erfüllt. Glei-chermaßen angetrieben und getragen von der Plebs und dem durch sie

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gestellten Massenheer, triumphiert der nach seiner Etablierung als herr-

schaftlicher Augustus auch noch zum göttlichen Cäsar avancierte Im-perator über alle gesellschaftlichen Widerstände und politischen Geg-ner im Reich und lässt nicht nur das Patriziat, mit dem er sich anfangsnoch per Prinzipat vereinbarte, von der politischen Bühne verschwinden beziehungsweise bereitet ihm den ökonomischen Untergang, sondernstellt auch die Ritterschaft, seine die Wirtschaft organisierende Intelligenzund die Staatsgeschäfte führende Bürokratie, hinlänglich unter Kura-tel beziehungsweise setzt sich hinlänglich als ihr alleinseligmachenderDienstherr in Szene, um ihr die ökonomische Eigensucht und bürokrati-sche Selbstherrlichkeit, die sie sich dank ihrer ausschlaggebenden Positi-on im Kräftespiel von imperatorischer und patrizischer Macht, neuer undalter Herrschaft, zuvor noch leisten konnte, ein- für allemal auszutreibenund sie zum getreulich ausführenden Organ der im Kaiser gesammeltenStaatsmacht zurechtzustutzen.

Mit der Erfüllung des anderen Teils der im Kaiserkult stipuliertenKontrakts zwischen Plebs und Imperator, der Befriedigung der wohl-fahrtsstaatlichen Forderungen der Plebs und der Versorgungsansprücheihrer militärischen Abordnung hingegen hapert es. Keine noch so nach-drücklichen, in der Vereidigung des Imperators auf das cäsarische Pa-radigma, im Kaiserkult, kulminierenden Bemühungen, den souveränenWillen der Staatsmacht mit dem Willen des völkischen Souveräns in Ein-

klang oder vielmehr zur Deckung zu bringen, sprich, den Imperator zumzuverlässigen wohlfahrtsstaatlichen Vollzugsorgan und unbeirrbarenVertreter plebejischer Interessen zu machen, kann nämlich verhindern,dass es zwischen dem Herrscher und seiner Klientel zu Zielkonfliktenund Interessendivergenzen kommt, die in dem Maße, wie sie immer wie-der den ersteren davon abhalten, den realen Versorgungs- und sozialenUnterhaltungsansprüchen der letzteren in dem von ihr gewünschtenUmfang nachzukommen, bei dieser den Eindruck eines herrscherlichenVertragsbruches, einer imperialen Pflichtverletzung erzeugen und damitden Keim zu einem entsprechend wiederkehrenden Zerwürfnis zwischen

dem Populus und seinem göttlichen Funktionär legen, das letztlich indessen Entmachtung und Sturz und in seiner Ersetzung durch einenAmtsträger resultiert, der – so die immer neue und immer neu getäuschteHoffnung des Populus! – dem cäsarischen Vorbild des personifiziertenVolkswillens besser gerecht wird.

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Dabei ist die häufig als Hauptursache für die ökonomisch-sozialen In-

teressenkonflikte und infolgedessen politisch-militärischen Zerwürfnissezwischen cäsarischem Imperator und römischem Populus angesehe-ne Neigung des ersteren zu hybrider Selbstüberschätzung und hallu-zinatorischer Willkür noch das geringste Übel und ein vergleichsweiseakzidentielles Phänomen. Nicht, dass nicht die kultische Konstruktioneines individuellen Willens, der sich per medium eines in ihm epipha-nische Gestalt gewinnenden göttlichen Paradigmas zum Inbegriff kol-lektiver Bestrebungen, zum personifizierten Volkswillen, erhoben findet,die Tendenz zu Kaprice und Wahnsinn, zur unkontrollierbaren Vermen-gung und unkorrigierbaren Verwechslung von individueller Vorstellungund kollektiver Perspektive, persönlicher Bestrebung und öffentlichemBedürfnis, privater Laune und allgemeiner Stimmung, tatsächlich insich birgt! Nicht, dass nicht die Verabsolutierung des Alleinherrscherszu einem Machthaber, der die Klientel, die er repräsentiert, nurmehrim gottgleichen Selbstbezug eines beispielgebenden Vorgängers in Sa-chen Klientelrepräsentanz Präsenz gewinnen lässt, die Gefahr heraufbe-schwört, dass dieser beispielgebende Vorgänger zur Scheidewand oderundurchlässigen Membran wird, die dem Alleinherrscher erlaubt, seineidiosynkratischen Eingebungen als hieratische Artikulation der in derFigur des Vorgängers aufgehobenen und als solche schlechterdings nichtmehr vernehmbaren Ansprüche der Klientel anzusehen und zur Geltung

zu bringen. Damit es aber dazu wirklich kommt und die Tendenz zurhybriden Idiotie sich gegen allen Realitätssinn wirklich durchsetzt, dieGefahr der Hypostasierung subjektiver Marotten zum kollektiven In-teresse, jeder objektiven Interessenlage zum Trotz, aktuelle Bedrohungwird, braucht es mehr als eine simple psychologische Anfälligkeit fürGrößenwahn: nämlich den ganz und gar empiriologischen Umstand, dass jene objektive Interessenlage, die vor dem Versinken in der Idiotie unkon-trollierter Selbstherrlichkeit schützen könnte, äußerst uneindeutig oder, besser gesagt, zutiefst widersprüchlich ist und deshalb das kaiserlicheIndividuum in ein intentionales Dilemma stürzt und einer intellektuellen

Zerreißprobe aussetzt, die in der Tat dazu angetan ist, es zur Flucht inpsychologische Verdrängungs- und Projektionsmechanismen zu ani-mieren. Tatsächlich ist, wie ein Nero oder ein Commodus zeigen, derin Realitätsverlust und Willkürherrschaft endende Cäsarenwahn keinoriginäres Phänomen, sondern eine sekundäre Reaktion, kein für die

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Entwicklung der imperialen Herrschaft verantwortlicher ätiologischer

Faktor, sondern nur ein den Stand der Entwicklung, deren Dynamik sichaus anderer Quelle speist, indizierendes symptomatisches Faktum.Was den Kaisern in Wahrheit zu schaffen macht und sich, wie von

einer Regierungszeit zur anderen als veritables Strukturproblem derimperialen Herrschaft nicht nur fortsetzt, sondern mehr noch zuspitzt,so denn im Kulminationspunkt bei den betreffenden Herrschern jenenals Cäsarenwahn apostrophieren und als sinnloser Fluchtreflex oder alsimaginäre Problemlösung unschwer erkennbaren subjektiven Abreak-tionsversuch provoziert, ist der Widerstreit zwischen der Erfüllung derpolitisch-sozialen Aufgabe, mit der die imperatorische Funktion steht

und fällt, und der Gewährleistung der militärisch-imperialen Voraus-setzungen, unter denen solche Aufgabenerfüllung allein möglich ist.Aufgetragen ist dem Augustus Cäsar, dem vom Populus Romanus, vonPlebs und Volksheer, im Kaiserkult als absolutistischer Machthaber sank-tionierten Kaiser, diese seine Klientel, das römische Volk, subsistenziellzu versorgen und sozial zu befriedigen, wohlfahrtstaatlich zu beglückenund erlebnisgemeinschaftlich zu unterhalten. Aufgetragen ist ihm, mitanderen Worten gesagt oder aus ökonomischer Perspektive betrachtet,Plebs und Volksheer an den Früchten des von der römischen Nobilitätgeschaffenen kolonialistisch-sklavenwirtschaftlichen Ausbeutungssys-

tems partizipieren und in der Tat zu dessen Hauptnutznießer, zu demdank seiner Massenhaftigkeit und Vielköpfigkeit am meisten ins Gewichtfallenden und den Löwenanteil an der Beute in Anspruch nehmendenBegünstigten par excellence werden zu lassen. Um diesen Auftrag abererfüllen zu können, muss der Kaiser das von der Nobilität übernommeneund gleichermaßen quantitativ und qualitativ, der territorialen Extensionund der funktionalen Intensität nach, weiterentwickelte Ausbeutungs-system sowohl militärisch sicher stellen, sprich, in seiner Integrität nachaußen und im Zustand inneren Friedens gewährleisten, als auch bürokra-tisch unter Kontrolle halten, sprich, als imperiale Einheit infrastrukturell

fundieren und kraft Verwaltungsapparat realisieren.Damit ist der Konflikt vorprogrammiert. Beides, der politisch-sozialeAnspruch auf Umverteilung und die Forderung nach Schaffung bezie-hungsweise Gewährleistung der hierfür nötigen militärisch-imperialenVoraussetzungen, muss ja aus ein- und demselben Topf finanziert, aus

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ein- und derselben, mittels kolonialistisch-sklavenwirtschaftlichem Aus-

 beutungssystem gemachten Beute befriedigt werden; die beiden Ver-pflichtungen oder Verbindlichkeiten, denen der Kaiser demnach Rech-nung tragen muss, können gar nicht anders, als einander ins Gehegezu kommen, miteinander zu konkurrieren. Dabei ist der die Konkur-renz betreibende dynamische Faktor, der den Konflikt auslösende und inGang haltende Sprengsatz wieder einmal der Anspruch auf Umvertei-lung, der ja bereits die für den Wechsel der Republik ins Kaiserreich, fürden Umschlag der senatorischen Gentryherrschaft in eine konsularischeVolksdiktatur verantwortliche Triebfeder und Unruhe bildet. Zu groß istdie ökonomische Not und das soziale Elend, die das imperiale Ausbeu-tungssystem der Nobilität im Innern der Republik selbst, nämlich beiden unteren und mittleren Schichten der Hauptstadt und der italischenKernlande, verursacht, zu zahlreich ist die Schar der Verarmten undVerelendeten, die nach der für die Durchsetzung der imperatorischenHerrschaft entscheidenden Ausdehnung des römischen Bürgerrechtsim Anschluss an die Bundesgenossenkriege Anspruch darauf haben,an der Umverteilung zu partizipieren und in den Genuss wohlfahrts-staatlicher Zuwendungen zu kommen, zu gewaltig und unendlich stei-gerungsfähig ist schließlich die Erwartungshaltung, die sich angesichtsdes provokativen Reichtums der Oberschicht wie auch aufgrund derals allgemeinmenschlich-psychologischer Habitus sattsam bekannten

Tendenz der begünstigten unteren Schichten, das jeweils erreichte Ver-sorgungsniveau als Naturgegebenheit zu betrachten und deshalb eineVeränderung des Niveaus nur tolerieren zu können, wenn es angehoben,nicht hingegen, wenn es gesenkt wird, an solche Zuwendungen knüpft– zu stark also wirken all diese Momente zusammen und zu massivist mit einem Wort der Druck, der vom Populus Romanus und seinemmilitärischen Arm ausgeht, als dass nicht bald schon der Punkt kommenmuss, an dem die Erfüllung der kaiserlichen Verpflichtungen gegenüberVolk und Heer die Leistungskraft des Ausbeutungssystems überfordertund deshalb anfängt, zu Lasten von im Blick auf die Beute sich geltend

machenden konkurrierenden Verbindlichkeiten zu gehen, sprich, der fürden Bestand des ökonomischen Ausbeutungssystems unabdingbaren In-standhaltung militärischer Einrichtungen, bürokratischer Organisationenund infrastruktureller Anlagen in die Quere zu kommen und Abtrag zutun.

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Und das wiederum ist der Punkt, an dem sich der Kaiser, wenn ihm

sein Amt lieb und er selbst ihm gewachsen ist, gezwungen sieht, ge-genzusteuern und um der Erhaltung des Ausbeutungssystems willendie Erfüllung seiner wohlfahrtsstaatlichen Verpflichtungen zugunstender Rüstungsproduktion und des Flottenbaues, der Finanzierung vonVerwaltungsapparaten und der Errichtung von Befestigungen, Straßen,Aquädukten und Häfen einzuschränken beziehungsweise zu suspen-dieren. Weil die Austeilung wohlfahrtsstaatlicher Segnungen an seineplebejische Klientel und seine soldatische Gefolgschaft mit dem impe-rialen Ausbeutungssystem steht und fällt, muss er das System um je-den Preis instandhalten und ihm seine Funktionsfähigkeit bewahren,will heißen, er darf nicht zulassen, dass die wohlfahrtsstaatlichen Seg-nungen mit den erforderlichen finanziellen Aufwendungen und instru-mentellen Vorkehrungen für die Instandhaltung des Systems und dieAufrechterhaltung seiner Funktionsfähigkeit konkurrieren und gar anihnen zu zehren beginnen. Indem der Kaiser so aber genötigt ist, umder kontinuierlichen und gesicherten Versorgung des Populus mit wohl-fahrtsstaatlichen Leistungen willen diese Leistungen einzuschränken undgegebenenfalls sogar zugunsten von Aufwendungen für den Leistungs-träger, das kolonialistisch-sklavenwirtschaftliche Ausbeutungssystem,zurückzunehmen, macht er sich beim Leistungsempfänger unbeliebt,treibt zwischen sich und seine Klientel einen Keil und macht sich das

ihn vergötternde Volk am Ende gar zum unversöhnlichen, ihn im jähenStimmungsumschwung verteufelnden Feind. Konfrontiert mit dem schierunerschöpflichen Reichtum und Luxus der Nachfahren des Patriziats,der equestrischen Funktionäre des Imperiums und der militärischenKorona des Herrschers, seiner Günstlinge und Offiziere, vermag dasVolk nicht einzusehen, warum es mit seinen vergleichsweise bescheide-nen, wenngleich durch ihren Massencharakter entscheidend zu Bucheschlagenden Bedürfnissen nach subsistenzieller Versorgung und sozialerUnterhaltung, Brot und Spielen, hinter den Instandhaltungsansprüchendes Imperiums und seinen Forderungen nach militärischen Einrichtun-

gen, bürokratischer Organisation und infrastrukturellen Investitionenzurückstehen soll.Durch seine Reduktion auf die Rolle des passiven Leistungsempfängers

und in der Hauptstadt und den italischen Kerngebieten wohlfahrtsstaat-lich Versorgten um allen den Realitätssinn zu fördern und das Augenmaß

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zu erhalten geeigneten Kontakt zu der den Sklaven und Provinzialen

aufgebürdeten Sphäre der Arbeit und gesellschaftlichen Reprodukti-on gebracht und gewohnt, die Segnungen ihres subventionierten Le- bens quasi als Naturgegebenheit, als dem Füllhorn der römischen Welt-herrschaft automatisch entströmenden Überfluss hinzunehmen, verliertdas Volk alle Fähigkeit, den imperialen Etat als eine aus den Gewin-nen des ökonomisch-kolonialistischen Ausbeutungsunternehmens undden Kosten der für dessen Aufrechterhaltung erforderlichen militärisch- bürokratischen Unterdrückung resultierende Bilanzrechnung zu gewah-ren und gelten zu lassen, und empfindet vielmehr jede Maßnahme desKaisers, mittels der Gewinne jene Kosten abzudecken und zu diesemZweck die Gewinnausschüttung an die Masse der Kleinaktionäre desUnternehmens, sprich, an den Populus Romanus, einzuschränken odergar auszusetzen, als Schikane und Verstoß gegen die Geschäftsgrundlage.Statt ein auf die Erhaltung des imperialen Ausbeutungssystems undmithin auf die Sicherung seiner eigenen Existenzbasis gerichtetes Unter-fangen, erkennt das Volk in den die Freigebigkeit des Staates einschrän-kenden und das wohlfahrtsstaatliche Füllhorn wenn auch keineswegsversiegen, so doch immerhin schwächer fließen lassenden militärischenund bürokratischen Veranstaltungen und infrastrukturellen Maßnah-men und Vorkehrungen des imperialen Regiments im Normalfall, dasheißt, wenn ihm nicht gerade die Drohung eines äußeren Krieges oder

inneren Zwistes Angst macht, nichts als den Ausdruck eines privatenBereicherungs- und persönlichen Machstrebens des Kaisers und mithinden Beweis dafür, dass letzterer dem cäsarischen Paradigma, dem Mus-terbild eines in seiner Person den tribunizischen Volksführer mit demkonsularischen Staatsmann vereinigenden Imperators, auf das ihn dieVergöttlichung durch das Volk vereidigt, nicht gerecht wird oder garzuwider handelt.

Mit der gleichen Leichtigkeit und Entschlossenheit, mit der es kraft cä-sarischen Paradigmas dem Kaiser absolute Macht und göttlichen Willen,kurz, die Stellung einer epiphanischen Reproduktion des göttlichen Cäsar

zuerkennt, erkennt das von den popularen Leistungen und fürsorglichenZuwendungen seines selbstgebastelten Gottes, seines Fetischs, enttäusch-te Volk ihm diesen seinen absoluten Status auch wieder ab und reduziertihn auf die aller höheren Weihen entkleidete empirische Person, die er ist,identifiziert ihn als das in seinen persönlichen Qualitäten und Schwächen

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sich erschöpfende idiosynkratische Individuum, als das er diesseits seiner

ideologischen Verklärung perenniert. Weil das Volk, um den Imperatorseines qua Prinzipat reklamierten Rückhalts im Patriziat zu beraubenund ihn definitiv an seine plebejische Klientel zu binden, ihn ihr ein fürallemal zu verpflichten, die von Augustus installierte heroische Gottes-sohnschaft des Imperators, seine ahnenkultlich-genealogische Bindungan den göttlichen Progenitor Cäsar, durch generische Gottgleichheit, einegötterkultlich-epiphanische Identität mit dem paradigmatischen GottCäsar ersetzt, macht es das individuelle Dasein des Imperators, seineempirische Person zum gleichgültigen Grund und verschwindenden Sub-strat eben jener ihm attestierten Gottgleichheit und cäsarischen Natur und

unterläuft jede Möglichkeit einer Vermittlung des göttlichen Ursprungsin und mit diesem individuellen Dasein, verhindert jede spezifizierendeVerankerung und konkretisierende Verknüpfung der cäsarischen Naturin und mit dieser empirischen Person.

Das aber bedeutet, dass in dem Augenblick, in dem vom enttäuschtenoder erbosten Volk dem Imperator die göttliche Ursprünglichkeit undcäsarische Natur aberkannt und entzogen wird, die Epiphanie sich unver-mittelt in Profanität verkehrt und nichts am entzauberten individuellenDasein und an der entlarvten empirischen Person des Imperators bleibt,was gegen die Indignation und die Anfeindungen des Volkes als eine Art

materiale Evidenz etwas von der göttlichen Ursprünglichkeit bewahren,ein Stück der cäsarischen Natur als quasi empirisches Faktum geltendmachen könnte. Aller kraft biologischer Kontinuität garantierten kon-kreten Beziehung zum göttlichen Ursprung und mittels genealogischerHerleitung reaffirmierten legitimen Relation zur cäsarischen Natur be-raubt und von dem in ihr sich unvermittelt repristinierenden göttlichenUrsprung verschlungen, von der epiphanisch über sie hereinbrechendencäsarischen Natur jäh überwältigt, bleibt die individuelle Existenz undempirische Person des Imperators die Leiche im Keller der kaiserlichenKultstätte beziehungsweise die Hypothek au fond des cäsarischen Pracht-

 baus, die ebenso rasch, wie sie in der Versenkung des kultisch überhöhtenkaiserlichen Amtes verschwunden ist, aus ihr auch wieder hervorgeholtund als vernichtende Anklage gegen den Amtsträger und seine Anma-ßung hochgehalten werden kann. Im vexierbildlichen Kippmechanismusdurch die Gottheit ausgeblendet, lässt sich das Menschsein, weil es jeder

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genealogischen Verbindung oder persönlichen Vermittlung mit der Gött-

lichkeit bar ist, ebenso kippmechanisch auch wieder einblenden und inall seiner Profanität und Erbärmlichkeit zum sonnenklaren Beweis derusurpatorischen Unwürdigkeit und Sträflichkeit des als der falsche Cäsarentlarvten Herrschers machen.

Dem epiphanischen Zuschnitt des mit dem Imperator getriebenenKaiserkults nach hat also das Volk keine Schwierigkeit, den vorprogram-mierten, weil strukturell bedingten Konflikt mit seinem göttlichen Inter-essenvertreter dazu zu nutzen, diesen als einen bloßen Fetisch abzuser-vieren und sich nach einer neuen, den plebejischen Ansprüchen besserGenüge leistenden Kultfigur umzusehen. Damit es allerdings zu einemsolchen, aus kultischer Sicht ohne Mühe ins Werk zu setzenden Revire-ment kommt, muss jener strukturell bedingte, aus der Doppelrolle desKaisers als Wohltäter des Volkes und Besorger des Reiches resultierendeKonflikt ein gewisses Maß an Aktualität und Virulenz gewonnen haben.Solange der Kaiser seine beiden, strukturell miteinander konkurrierendenFunktionen noch ungefähr im Lot zu halten vermag, solange es ihmnoch gelingt, dem Volk die Früchte des imperialen Ausbeutungssystemszuzuwenden, ohne das System selbst um seine Lebenskraft zu bringen, beziehungsweise dem Imperium die nötige Hege und Pflege angedeihenzu lassen, ohne sich deshalb eine allzu grobe Vernachlässigung seinerwohlfahrtsstaatlichen Verpflichtungen zuschulden kommen zu lassen –

solange dies noch der Fall ist, werden zwar die kaiserlichen Bemühun-gen um das aus Sicht des Volkes mittlerweile als natürliches Füllhornund unverbrüchlicher Versorgungsautomatismus erscheinende imperialeAusbeutungssystem bei der römisch-italischen Klientel des Kaisers im-mer den Eindruck von fehlgeleiteten, weil anderen Bewandtnissen alsder Rücksicht aufs Volkswohl geltenden Aktivitäten erwecken und dieentsprechenden Ressentiments erzeugen, aber zum Ausbruch kommendie ständig schwelenden Ressentiments erst, wenn die Versorgungsan-sprüche und Unterhaltungsbedürfnisse des Populus Romanus durchEntzug oder Vorenthaltung der dafür nötigen Finanzmittel spürbar und

dauerhaft beeinträchtigt werden und zu kurz kommen.Schuld an einer solch nachhaltigen Mittelverknappung und der da-durch bedingten Frustration popularer Ansprüche auf Subsistenz undBedürfnisse nach Sozialisierung können äußere Umstände sein, durchKriege oder Naturkatastrophen heraufbeschworene Notzeiten. Nicht

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selten aber, und vielleicht sogar im Normalfall, ist verantwortlich dafür

das Verhalten und das Procedere der kaiserlichen Herrschaft selbst, diesich dem ihr abgeforderten Balanceakt zwischen wohlfahrtsstaatlichenZuwendungen und staatserhaltenden Zurichtungen, popularistischenWohltaten und imperialistischen Großtaten, auf Dauer nicht gewach-sen fühlt. Hier kommt in der Tat der eher als aktuell-symptomatischerAuslöser der periodischen Krisen und Umstürze denn als ihr strukturell-ätiologischer Grund begreifliche Cäsarenwahn ins Spiel! Von der dop-pelten und widersprüchlichen Aufgabe, die römische Bürgerschaft beiLaune und das römische Reichswesen instand zu halten, überfordert,erliegt der göttliche Amtsinhaber früher oder später der Versuchung, sichaus der dilemmatischen Situation dadurch zu befreien, dass er entweder

mit allen Mitteln und ohne Rücksicht auf staatspolitische und militärstra-tegische Erfordernisse versucht, sich durch exorbitante Zuwendungenund Veranstaltungen bei der römischen Bürgerschaft, seiner Klientel,lieb Kind zu machen, oder aber der Suggestion der ihm vom Volk at-testierten göttlichen Macht und Absolutheit des Willens aufsitzt und,sich von allen Rücksichten auf Bürgerschaft und Reich emanzipierend,unter Aufwendung sämtlicher ihm zur Verfügung stehender Finanzmittelnur mehr bestrebt ist, seine das Gefühl schrankenloser Macht kultivie-renden persönlichen Launen zu befriedigen und idiosynkratische, denBeweis seiner göttlichen Größe erbringende Projekte ins Werk zu setzen.So oder so, in der Funktion des liebedienerischen Wohltäters des Volkesoder in der Gestalt des narzisstischen Selbsterhöhers, beziehungswei-se in der beide Momente in seiner Person vereinigenden neronischenWahnsinnigen, entzieht sich der Kaiser dem Dilemma dadurch, dass ersich ganz der Perspektive der konsumtiven Nutznießer des imperialenAusbeutungssystems verschreibt, letzteres nach dem Beispiel seiner Kli-entel als natürliches Füllhorn oder Selbstbedienungsautomaten betrachtetund es als das militärischer Hege und bürokratischer Pflege bedürftigestörungsanfällige und permanent vom Zerfall bedrohte Gebilde, das esist, ausblendet oder aus dem Augen verliert – mit dem vorhersehbarenErgebnis, dass er das Reich in militärische Abenteuer und zivile Un-

ordnung stürzt, seine Finanzen verschleudert und zerrüttet und in demMaße, wie er seinen wohlfahrtstaatlichen Verpflichtungen nicht mehrnachzukommen vermag, das strukturell bedingte, latente Ressentimentdes Volkes in aktuell entfesselte, manifeste Empörung umschlagen lässt,kurz, seinen eigenen Sturz provoziert.

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. Militärdespotie

Der Versuch des Kaisers, sich dem in den Wahnsinn treibenden Einfluss des

Populus durch Verhätschelung und Begünstigung seines militärischen Armszu entziehen, schlägt fehl, weil dadurch die fortbestehenden Bindungen des Heers an den Populus nur irrationalisiert und des Charakters funktionellerEigenmächtigkeit und pathologischer Unberechenbarkeit überführt werden.

Ungeachtet oder vielmehr wegen der mit ihr einhergehenden Verein-deutigung der politischen Stellung des Imperators, seiner Extraktionaus allem patrizischen Kontext und definitiven popularen Verankerung, bringt also die im Kaiserkult besiegelte Allianz zwischen plebejischemSouverän und konsularischem Tribun, zwischen Populus Romanus undAugustus Cäsar, alles andere als institutionelle Stabilität und personelle

Kontinuität im Staate mit sich und resultiert im Gegenteil in einem stän-digen, zwischen den Ansprüchen des Populus und den Anforderungendes Imperiums schwelenden und während der ersten beiden nachchristli-chen Jahrhunderte periodisch zum Ausbruch kommenden, strukturellenWiderspruch und intentionalen Konflikt. Weil der Populus als zentralerNutznießer des imperialen Ausbeutungssystems letzterem gegenüber inäußerster Passivität und Abstraktheit verharrt und den Betrieb und Erhaltdes Systems der absoluten Procura und kultisch überhöhten Amtsgewaltdes Kaisers und seiner equestrischen Helfershelfer überlässt, bildet sich bei ihm eine Konsumenten- und Rentiershaltung, quasi eine automa-

tische Empfangsbereitschaft, ein Naturrecht auf Dotierung heraus, dasdurch kein Moment von aktiver Teilnahme an den Reichsgeschäften mehrvermittelt, durch keinerlei Einsicht in die zur Aufrechterhaltung desSystems erforderlichen militärischen Anstrengungen, bürokratischenVeranstaltungen und infrastrukturellen Vorrichtungen mehr getrübt ist.

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Und wie so der Populus in ihn, den per Kaiserkult zum absoluten

Machthaber erhobenen Imperator, der nur mehr durch die als cäsarischeNatur ihm eingefleischten Verpflichtungen gegenüber seiner plebejischenKlientel in seiner Willkürherrschaft eingeschränkt beziehungsweise, posi-tiv ausgedrückt, in seiner Willensfreiheit bestimmt ist, all seine Hoffnun-gen auf subsistenzielle Versorgung und soziale Unterhaltung, das heißt,auf die Entfaltung und Sicherung seiner imperialen Nutznießerrolle,setzt, konzentriert nun aber auch, wie nicht anders zu erwarten, derPopulus auf ihn, den als Reichsverweser und Systemerhalter mit derWahrung eben des Realitätssinns, den er selbst in seinem abstrakten Kon-sumentenstatus und passiven Rentiersdasein eingebüßt hat, betrauten

kaiserlichen Machthaber, seine gesammelte Enttäuschung und Empö-rung, wenn ihm seine abstrakte Perspektive und durch schiere Passivitätentstellte Sicht die imperatorische Sorge ums Reich als Verrat am Volk,den praktizierten Realitätssinn des Kaisers als strafwürdigen Vertrags- bruch vor Augen stellt. Und so sehr diese Enttäuschung und Empörungdes Populus im Normalfall die Latenzform schwelenden Ressentimentswahrt, so sehr kann sie in durch äußere Umstände oder Cäsarenwahnverschuldeten Krisen- und Notzeiten doch aber auch zum Ausbruchkommen und die manifeste Gestalt einer Meuterei und Revolte anneh-men, die auf den Sturz des aller epiphanischen Göttlichkeit entkleideten

und als profaner Usurpator entlarvten Machthabers und seine Ersetzungdurch einen als die demgegenüber wahre Verkörperung der cäsarischenNatur erscheinenden neuen Imperator zielt.

Was Wunder, dass bei den kaiserlichen Amtsinhabern, soweit sie nochihre fünf Sinne beisammen haben und sich nicht vor dem Druck der ansie gestellten widersprüchlichen Anforderungen in den haltlosen Po-pulismus beziehungsweise die Allmachtsphantasien des Cäsarenwahnsflüchten, das Bedürfnis entsteht und der Gedanke reift, den Populus,der sie mit seinen allen Realitätssinns baren Ansprüchen auf wohlfahrts-staatliche Versorgung und circensische Unterhaltung in den Wahnsinn

treibt, zu entmachten, um sich vor seinen in periodischen Umstürzenresultierenden Ressentiments und Aufsässigkeiten zu schützen, mit an-deren Worten, den mit der plebejischen Klientel geschlossenen und imKaiserkult besiegelten Bündnisvertrag zu lösen und die formaliter abso-lute Macht, die der Imperator kraft cäsarischer Natur mit der plebejischen

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Klientel teilt, realiter in Anspruch nehmen und gegen alle konkurrieren-

den Aspirationen behaupten zu können. Eine Entmachtung des PopulusRomanus aber setzt voraus oder ist vielmehr gleichbedeutend damit, dasses gelingt, den popularen Beitrag zur imperatorischen Herrschaft, das ausden plebejischen Reihen rekrutierte Massenheer, entbehrlich werden zulassen oder jedenfalls in seiner spezifischen Rolle als Beitrag des römi-schen Volkes zu neutralisieren. Schließlich sind ja die aus den plebejischenReihen angeworbenen Söldnertruppen die maßgebende Leistung, die imBlick auf die Errichtung und Erhaltung des imperatorischen Regimentsund kaiserlichen Imperiums das Volk erbringt, und dementsprechendauch die grundlegende Rechtfertigung für die Erwartungen und Ansprü-che, die es mit der kaiserlichen Herrschaft verknüpft.

Wie das Volk mit dem der Mariusschen Heeresreform entspringendenMassenheer dem zum Imperator avancierenden tribunizischen Konsuldas militärische Machtinstrument an die Hand gibt, kraft dessen dieserdie senatorische Republik in die cäsarische Volksdiktatur überführt, sogewinnt es nun aber auch selber mit eben jenem Massenheer ein Druck-mittel, das ihm nachhaltigen Einfluss auf die Politik des Kaisers und einedauerhafte Kontrolle über deren Optionen verleiht. Dank des sozialen Zu-sammenhangs, der ethnischen Kontinuität und der familiären Bindungenzwischen dem römischen Populus und den kaiserlichen Legionen kannsich der erstere auf die letzteren jederzeit verlassen, kann er sie zuverläs-

sig ins Feld führen, wenn es darum geht, den Kaiser zur Einhaltung seinerpopularen Verpflichtungen zu bewegen und ihn davon abzubringenoder abzuhalten, den Forderungen staatspolitischer Vernunft nachzu-kommen beziehungsweise den Launen cäsarischer Hybris nachzugeben.Und ins Feld führen kann der Populus die Legionen eben nicht etwanur als moralischen Appellativ und überzeugungskräftiges Argumentzur Begründung seines Anspruchs auf Versorgung und Zuwendung,sondern durchaus als praktisches Korrektiv und schlagkräftiges Mittelzur Disziplinierung dessen, an den sich der Anspruch richtet: Wie der mi-litärische Arm, den das Volk dem Kaiser leiht, den objektiven Beweg- und

Rechtfertigungsgrund für das Brot und die Spiele, die wohlfahrtsstaat-lichen Leistungen und sozialen Veranstaltungen, darstellt, die letztererdem ersteren schuldet, so bildet er auch und zugleich das aktive Macht-und Durchsetzungsinstrument, um diese Schuld beim Kaiser geltendzu machen und gegebenenfalls mit Gewalt einzutreiben. Tatsächlich ist

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es das Heer, das in den periodisch wiederkehrenden, durch Notzeiten

des Imperiums oder den Wahnsinn der Imperatoren heraufbeschwore-nen akuten Konfrontationen zwischen dem Kaiser und seiner popularenKlientel die Führungs- und Exekutivrolle übernimmt und die auf denSturz des falschen Cäsar und seine Ersetzung durch eine bessere personaund wahre Epiphanie des paradigmatischen Ahnherrn hinauslaufendenKonsequenzen zieht.

Die kaiserlichen Amtsträger, die klug und staatsmännisch genug sind,für sich und ihre Nachfolger eine größere Stabilität der Herrschaft undmehr Freiheit in der Machtausübung anzustreben und die zu diesemEnde bemüht sind, ihre plebejische Klientel, den römischen Populus,als maßgebenden politischen Faktor, als im Zentrum der Macht operie-rende einflussreiche Lobby in Schach zu halten beziehungsweise nachMöglichkeit auszuschalten, haben, so gesehen, gleich doppelten Grund,im militärischen Beitrag des Populus zur Entfaltung und Erhaltung desimperialen Staats, im plebejischen Massenheer, das vordringliche Pro- blem und entscheidende Hindernis zu erkennen, das einer Festigung derinstitutionellen Grundlagen der kaiserlichen Herrschaft und Sicherungihrer personellen Kontinuität im Wege steht: So gewiss das aus demPopulus rekrutierte und ihm in vielerlei Hinsicht verbunden bleiben-de Volksheer dessen wohlfahrtgesellschaftliche Versorgungsansprücheund sozialgemeinschaftliche Unterhaltungsforderungen nicht etwa nur

objektiv-faktisch begründet beziehungsweise passiv-moralisch repräsen-tiert, sondern mehr noch offensiv-praktisch vertritt und aktiv-militärischdurchzusetzen bereit steht, so gewiss können die kaiserlichen Amtsträgernur in dem Maße hoffen, ihren institutionellen Stand zu festigen undihre personelle Kontinuität zu sichern, wie ihnen gelingt, das Heer umseine amphibolische Position als gleichermaßen militärischer Arm desImperators und politisches Faustpfand des Populus zu bringen und esdem bestimmenden Einfluss und der relativen Verfügung des letzterenzu entziehen, um es zu ihrem alleinigen Instrument, einem ausschließlichihnen, den kaiserlichen Amtsträgern, verpflichteten Corpus zu machen.

Dieses Ziel einer Vereindeutigung der Stellung des Heeres, seiner Ver-wandlung in ein dem obersten Befehlshaber rückhaltlos ergebenes Korpssuchen die Kaiser vornehmlich dadurch zu erreichen, dass sie die Le-gionen ihrer besonderen Zuwendung und Fürsorge würdigen, ihnendurchgängig eine Vorzugsbehandlung angedeihen lassen. Nicht nur, dass

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ihnen nichts mehr am Herzen liegt als die Veteranenversorgung und die

Dotierung der im Feld stehenden beziehungsweise siegreichen Truppenmit Sonderzahlungen und Beuteanteilen, sie betreiben darüber hinaus,wie bereits erwähnt, eine systematische Militarisierung des Staatsappa-rats, des kaiserlichen Hofes und des gesellschaftlichen Establishments,indem sie Offiziere der Linientruppen und der Eliteeinheiten, der Feldle-gionen und der Prätorianergarden, militärische Chargen und Günstlingealler Art, mit hohen Staatsämtern betrauen, in den Senat expedieren, mitLandgütern beschenken und mit Reichtümern überhäufen. Wie diesePersonalpolitik und Promotionspraxis den oben genannten Zweck erfüllt,den Einfluss des Patriziats zurückzudrängen und die alte, kraft ihrertraditionellen politischen Institutionen und ihrer ökonomischen Basisnoch relativ eigenständige Oberschicht durch eine vom kaiserlichen Hof abhängige und seinem Schicksal auf Gedeih und Verderb verbundeneFunktionärs- und Günstlingsclique zu ersetzen, so verfolgt sie aber auchund zugleich den Zweck, einen Keil zwischen die mit Vorzug behan-delten Militäreinheiten und ihre begünstigten Chargen einerseits unddie plebejischen Massen, aus denen sie sich rekrutieren, andererseits zutreiben, und so die ersteren dem letzteren hinlänglich zu entfremden, uman ihnen ein willfähriges, dem kaiserlichen Willen rückhaltlos ergebenesund das heißt, auch und nicht zuletzt gegen den Einfluss des eigenensozialen Herkunftsmilieus immunen und von kommunalen Bindungen

und familiären Rücksichten freien Werkzeugs zu haben.Der Erfolg dieser, wie einerseits auf die Brechung der Macht des Pa-

triziats, so andererseits auf die Neutralisierung des Einflusses des Popu-lus abgestellten Politik einer Militarisierung des Staatsapparats und derOberschicht lässt allerdings zu wünschen übrig. Weit entfernt davon, dassdie Avancen, zu denen sich die kaiserlichen Amtsinhaber gegenüber demMilitärapparat bereit finden, diesen dazu brächten, seine soziale Herkunftund seine kommunal-familiären Bindungen zu vergessen und sich derimperialen Sache seines Dienstherrn rückhaltlos zu verschreiben, dienensie vielmehr nur dazu, das Selbstbewusstsein und die Anspruchshaltung

des solchermaßen Umworbenen zu stärken beziehungsweise zu hyper-trophieren und ihn aus einem im Normalfall willfährigen Werkzeug derkaiserlichen Politik, das sich vom Populus im Not- und Ausnahmefallgegenüber dem Kaiser als ein Korrekturmittel und Disziplinierungsin-strument in Anschlag bringen und als Büttel plebejischer Interessen und

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Exekutor des Volkswillens einsetzen lässt, in eine relativ eigenständige

fraktionelle Kraft und halbwegs selbstbestimmte politische Agentur zuverwandeln, die das Volksbegehren und plebejische Interesse zwar durchden ihr vom Kaiser zugewiesenen Sonderstatus und privilegierten Stand-ort, den ihr vom Kaiser verliehenen gesellschaftlichen Subjektcharakterflektiert und filtriert, es in dieser revidierten Fassung und militarisiertenForm aber nichtsdestoweniger zu ihrer ureigensten Sache erklärt und alsihr wesentliches Anliegen festhält und es dank ihrer konstitutiven Be-deutung und effektiven Unentbehrlichkeit für die kaiserliche Herrschaftdem Kaiser als allzeit präsentes und permanent drohendes Menetekel vorAugen rückt.

Ohne seine soziale und familiäre Verankerung, seinen Rückhalt imVolk zu verlieren, erlangt so der Militärapparat durch jene Begünsti-gungspolitik, die ihn seiner Basis, seinem Herkunftsmilieu entfremdenund ganz auf die Seite des Kaisers ziehen soll, nur ein besonderes Ge-wicht und neues Format, das ihn zu einem mit Eigenleben ausgestattetenInstrument, einem mit Eigenwillen begabten Agenten, kurz, einem Qua-sisubjekt oder Pseudosouverän, avancieren lässt und ihm erlaubt, dieunverändert von ihm vertretenen Interessen seiner Basis und Ansprücheseines Herkunftsmilieus, amalgamiert mit seinen eigenen, militärspezifi-schen Zuwendungserwartungen und Versorgungsforderungen jederzeitund gegebenenfalls mit Gewalt gegenüber dem ihm permanent ausge-

lieferten, weil im engsten systematischen Umgang mit und in völligerpraktischer Abhängigkeit von ihm den Staat regierenden Kaiser geltendzu machen. Statt die durch soziale Zusammengehörigkeit und familiäreBindungen fest geknüpfte Interessengemeinschaft aus Populus und Mi-litia aufzulösen, verschiebt die Bevorzugung und Beförderung, die derKaiser der letzteren zuteil werden lässt, nur das Kräfte- und Kompe-tenzverhältnis zwischen beiden: Aus dem Werkzeug, dessen sich notfallssein Schöpfer gegen seinen Benutzer bedienen kann, wird ein Automat,der den Willen beziehungsweise die Launen des Schöpfers selbsttätiggegen den Benutzer und seine Absichten zur Geltung bringt, aus dem

militärischen Arm, den der Populus dem Imperator zur Verfügung stelltund den er notfalls gegen diesen erheben kann, wird ein verselbständigterRoboter, der aus eigener Programmbefugnis darüber entscheidet, wie lan-ge er dem Kaiser dienstbar bleibt und wann er im Namen des popularenLeihgebers, sprich, im Interesse der von ihm als Handlungssubjekt und

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realem Akteur repräsentierten Volksmacht und sozialen Substanz, gegen

den Kaiser aufsteht.Ganz anders als geplant fällt also das Ergebnis aus, das die von den kai-serlichen Amtsträgern verfolgte Politik einer Begünstigung des Militärsund seiner Erhebung zu einer nicht nur im Feld, sondern mehr noch beiHofe, im Staatsapparat und sogar in der guten Gesellschaft tonangeben-den Schicht zeitigt. Statt die populare Leihgabe, das Heer, ganz und garfür sich einzunehmen, und damit dem Volkswillen seine Appellationsin-stanz, sein dem Staat gegenüber aktivierbares Kontroll- und Disziplinie-rungsorgan, zu entziehen, erreichen die kaiserlichen Amtsträger mit ihrerBegünstigungspolitik nichts weiter als eine Ermächtigung und Autorisie-

rung des Heeres, seine Verselbständigung zu einem Automaten, einemQuasisubjekt, die den nach wie vor wirksamen Volkswillen, das nach wievor Einfluss übende populare Interesse aus einem behaftbaren äußerenBestimmungsfaktor in ein jeder Kontrolle entzogenes inneres Verhaltens-motiv, aus einer objektivierbar politischen Instanz in eine subjektiviertpsychische Disposition überführt. In der Tat läuft die aus der Erhebungdes Volksheeres und seiner Chargen zum Günstling und Hätschelkinddes Kaisers resultierende und oben als bloße Verschiebung des Kräfte-und Kompetenzverhältnisses zwischen Populus und Militia beschriebeneWahrnehmung der Ansprüche und Interessen des Volkes durch das dank

kaiserlicher Gunst zum gesellschaftlichen Automaten, zum roboterhaftenQuasisubjekt verselbständigte Militär, insofern sie mit einer Flektion jener Ansprüche durch die Eigensucht des automatisierten Herrschafts-instruments, einer Verquickung jener Interessen mit der Eigendynamikdes roboterisierten militärischen Arms einhergeht, nolens volens auf eine Pathologisierung und Irrationalisierung des Wahrnehmungsmodushinaus. Jenes intermittierende Aufbegehren des Militärs, das zu Anfangäußerer popularer Anstachelung, bürgerschaftlich-situativer Manipula-tion, gesellschaftlich-politischem Fremdeinfluss entsprang, es geht jetztaus einer spontan-inneren Reizbarkeit, eigentümlich-konstitutiven Un-

zufriedenheit und persönlich-idiosynkratischen Aufsässigkeit hervor. Sogesehen, ist den Kaisern mit ihrer Begünstigungspolitik nichts weitergelungen, als den Teufel mit Beelzebub auszutreiben. Zwar haben sie denmilitärischen Arm zu einer eigenständigen, die Quasiautonomie einesRoboters behauptenden Macht im Staate avanciert und ihn insofern dem

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direkten Einfluss des Volkscorpus und der unmittelbaren Inanspruch-

nahme durch es entzogen, aber was sie damit gewonnen haben, ist einpathologisiertes, von krankhafter Dysfunktionalität und Widersetzlich-keit gebeuteltes Instrument, ein irrationalisierter, von unberechenbarenAusbrüchen des Ressentiments und der Empörung heimgesuchter Agent.

Verantwortlich für diese Pathologisierung des militärischen Arms undIrrationalisierung des Herrschaftsinstruments ist das populare Corpus,dessen Willen der wie auch immer zu roboterhaftem Eigenleben beförder-te Arm verhaftet, ist die familiäre Matrix, deren Anspruch das wie sehrauch zum automatischen Quasisubjekt verselbständigte Instrument hörig bleibt. Jene soziale Zugehörigkeit und familiäre Bindung des Volksheeres,die dank der Förderung, die ihm die Kaiser angedeihen lassen, die Be-deutung eines für es entscheidenden öffentlich-praktischen Beweggrundsund einer es bestimmenden manifest-persönlichen Verpflichtung einbüßt,sie lebt als ständig intervenierende privatpsychologische Dispositionund als immer neu irritierende latent-idiosynkratische Rücksicht in demzum kapitalen Machtfaktor avancierten Militär fort beziehungsweisekehrt in dieser privatisierten Form und subjektivierten Gestalt in ihmwieder und sorgt dafür, dass die Kaiser mit der Bändigung und Kontrolleihres militärischen Armes fast ebenso viel zu tun haben wie mit seinemEinsatz und Gebrauch, dass sie mit der Beherrschung und Pflege ihresHerrschaftsinstruments kaum weniger beschäftigt sind als mit seiner

Betätigung und Handhabung. Voraussetzung dafür, dass es gelingt, dasdurch die kaiserliche Förderungspolitik zu einem Machtfaktor nicht zwarsui generis, wohl aber propria auctoritate verselbständigte Heer vonseiner pathologischen Disposition zu befreien und als den militärischenArm des Imperiums wieder fest in den Griff zu bekommen, ihm seineirrationale Natur auszutreiben und es als kaiserliches Herrschaftsinstru-ment dauerhaft handhabbar zu erhalten, scheint demnach seine Ablösungvon der sozialen Substanz, der es bei aller institutionellen Selbständigkeitverhaftet, seine Abtrennung von der generischen Matrix, in der es beialler funktionellen Eigenmächtigkeit verwurzelt bleibt. Nur wenn sie es

schaffen, den imperialen Legionen und Prätorianern ihre soziale Zusam-mengehörigkeit und ethnische Kontinuität mit dem Populus Romanuszu nehmen und die familiären Bindungen und persönlichen Abhängig-keiten, die erstere mit letzterem verknüpfen, aufzulösen, können dieKaiser hoffen, ihren Truppen und Garden den als pathologische Unruhe

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und als irrationale Motivation in ihnen fortwirkenden Volkswillen zu

verschlagen und, wie damit den Volkswillen seines Handlungsorgans zu berauben und zu ressentimentgesättigter Ohnmacht zu verdammen, sodem militärischen Herrschaftsinstrument selbst die rationale Fasson einesum sein motivationales Eigenleben gebrachten bloßen Instruments zuverleihen.

Das Heer bedarf mit anderen Worten, um als Herrschaftsinstrument beherrschbar und als imperiales Machtorgan brauchbar zu sein, einerweitestgehenden personellen Erneuerung, einer möglichst vollständigenAuswechslung seiner traditionellen Belegschaft, einer Ersetzung seinersozial und familiär, biographisch und ethnographisch in der italischenBürgerschaft, dem Populus Romanus, verwurzelten besoldeten Angehö-

rigen durch Offiziere und Mannschaften, die als eine aus aller HerrenLänder, aus den verschiedensten Ethnien und Kulturen rekrutierte Söld-nerschar frei von solchen sozialen und persönlichen Bindungen ist unddie mit dem römischen Volk faktisch nichts verbindet als eben der Sold, inden der dies Volk mit Generalvollmacht vertretende und in seiner absolu-ten Machtausübung höchstens und nur durch das populare Schibbolethseiner cäsarischen Natur eingeschränkte Kaiser sie nimmt.

Die Ablösung des Heers von seiner bisherigen sozialen Rekrutierungsbasis, demrömischen Populus, ergibt sich aus den Notwendigkeiten der Erhaltung undVerwaltung des Reiches selbst. Wenn damit der Populus Romanus als Nutz-nießer des kolonialistischen und sklavenwirtschaftlichen Ausbeutungssystemsabgedankt wird, liegt dies in der Logik der objektiven Bedingungen, unter denener seine Nutznießerrolle übernommen hat.

So absurd dies auf eine Emanzipation des Kaisers von seiner popularenKlientel und deren ressentimentgeladenem Einfluss, ihrer herrschafts-widrigen Kontrolle, zielende militärpersonale Erneuerungs- und Aus-wechselprogramm als theoretische Forderung auch erscheinen mag, so bar jeder historischen Praktikabilität es anmutet, wenn man es sich als ein

von den imperatorischen Amtsträgern bewusst in die Wege geleitetes undaus bürokratisch freien Stücken organisiertes Projekt vorstellt – als einedurch die Verhältnisse selbst, die Existenzbedingungen der imperialenHerrschaft diktierte und angestoßene Entwicklung ist solch eine Erneue-rung des Heerespersonals, solch eine Auswechslung der militärischen

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Belegschaft durchaus praktikabel und tatsächlich längst empirisches Er-

eignis. Wie so oft kommen auch hier die historischen Umstände den umeine Orientierung verlegenen historischen Akteuren, wie man will, zuHilfe oder in die Quere und weisen ihnen den Weg, dem sie nur zu folgen beziehungsweise den sie nur zielstrebig einzuschlagen brauchen, umdas Problem, angesichts dessen sie sich desorientiert zeigen, zu lösen.Und derart zwingend und unwiderstehlich zeigt sich auch in diesemFall die Macht der durch historisches Handeln geschaffenen historischenVerhältnisse, dass, recht besehen, nicht einmal von einer Koinzidenz odereinem Zusammenwirken zwischen subjektivem Vorhaben und objektiverVorgabe, zwischen politischem Programm und faktischem Prospekt zureden angebracht scheint, sondern dass sich vielmehr die historischeEntscheidung oder politische Lösung der Akteure als schiere Reaktionauf die Gegebenheiten, als bloße Konsequenzzieherei aus einer histori-schem Handeln entspringenden und es im Rückschlag naturprozessualdeterminierenden Entwicklung darstellt.

Der Not gehorchend, beginnen die Kriegs- und Besatzungstruppen desrömischen Imperiums schon früh damit, Söldner aus den Provinzen undvor Ort der weit entfernten Kriegsschauplätze anzuwerben und ihrenReihen einzugliedern. Durch die räumliche Expansion des Reiches, dieVielzahl und Stärke der in den neueroberten Provinzen zu stationieren-den Garnisonen und stehenden Heere und die Unablässigkeit der an der

einen oder anderen Front zu führenden Kriege ist die Bevölkerung deritalischen Kerngebiete, der römische Populus, als Einzugsgebiet für dieAufstellung der Legionen und Garden, als Reservoir für die Rekrutierungdes militärischen Personals, bald schon hoffnungslos überfordert, zumaldie wohlfahrtsstaatlichen Versorgungsleistungen und Unterhaltungs-programme, in deren Genuss der Populus regelmäßig gelangt, seineBegeisterung für den Kriegsdienst nicht eben befördert. Den Kaisern bleibt gar nichts anderes übrig, als aus den lokalen Bevölkerungen Sol-daten anzuwerben und mit ihnen die bestehenden Verbände aufzufüllen beziehungsweise eigene Truppenteile und ganze neue Legionen aus ih-

nen zu bilden. So sehr diese Praxis funktionell an die seit den frühestenZeiten der Republik gepflegte Tradition einer Ergänzung und Unter-stützung der römischen Heere durch von den Bundesgenossen oderspäter der Provinzialen gestellten Hilfstruppen anknüpft, so sehr un-terscheidet sie sich doch aber strukturell von jener Tradition dadurch,

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dass die nichtrömischen Kontingente vollständig den regulären Verbän-

den eingegliedert und uneingeschränkt römischer Führung unterstelltwerden.Verstärkt und in der Tat entscheidend eskaliert wird diese Barbarisie-

rung des Militärs, diese Durchdringung des Heeres mit nichtrömischemPersonal noch durch die zur Stabilisierung der Lage an den östlichenund vor allem nördlichen Grenzen des Reiches angewandte militärischeStrategie. Angezogen von den zivilisatorischen Errungenschaften des Rö-mischen Imperiums und der Aussicht auf Beute, die es eröffnet, tauchendort immer neue Stämme und Stammesgruppierungen von außerhalb auf und üben ständigen Druck auf die Grenzen aus beziehungsweise verwi-

ckeln die Grenzregionen und deren römische Verteidiger in nicht endenwollende, zermürbende Kämpfe. Diesen Druck sucht das durch seineAbwehrleistungen überforderte römische Imperium in zunehmendemMaße dadurch zu mindern oder zu konterkarieren, dass es einzelne oderGruppen der feindlichen Barbaren von der anderen Seite der Grenze auf seine Seite zieht, sie auf Reichsgebiet Land nehmen und siedeln lässt be-ziehungsweise sie in Sold nimmt und zum Militärdienst heranzieht undso in ein probates Mittel zur Abwehr von ihresgleichen umfunktioniert.

Durch dies beides, die Rekrutierung von Provinzialen und die Inte-gration äußerer Feinde oder Beutehungriger in die römischen Verbände

verwandeln sich im Laufe des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts dierömischen Legionen und Garden aus einem besoldeten Massenheer, dasder Populus Romanus den Cäsaren zur Verfügung stellt, in ein Söldner-heer sans phrase, eine aus dem ganzen Imperium und seinen angren-zenden Regionen zusammengezogene, bunt gewürfelte Streitmacht, fürdie der Eintritt ins römische Militär mehr oder minder gleichbedeutendist mit dem Ausscheiden aus ihren angestammten sozialen, ethnischen,kulturellen und familiären Zusammenhängen und die kraft der existen-ziellen, weil Subsistenz und soziale Identität miteinander verschmelzen-den Relevanz, die das Soldverhältnis für sie gewinnt, und dank ihrer

sonstigen Wurzel- und Bindungslosigkeit dem kaiserlichen Regimentund seinem primär auf die Erhaltung des Imperiums und höchstensin zweiter Linie auf die Befriedigung der Ansprüche ihrer plebejischenKlientel gerichteten Selbstbehauptungsanspruch tatsächlich mit Haut undHaar verschworen sind. Die kaiserlichen Amtsträger müssen also nur

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dieser durch die objektiv militärpolitischen Verhältnisse, die strukturbe-

dingt personalpolitische Not des Militärs unvermeidlichen Entwicklungnachgeben beziehungsweise Folge leisten und brauchen sie nur als denauf der Mannschaftsebene sich vollziehenden grundlegenden Wand-lungsprozess, der sie ist, durch eine auf den Austausch der militärischenFührungsriege, des Offizierskorps, abgestellte gezielte Personalpolitikzu ergänzen und zu verstärken, um das Problem einer ihnen vom Po-pulus im Heer sei’s dank dessen direkter Beeinflussbarkeit, sei’s kraftseiner indirekten Disponiertheit beigegebenen Kontrollinstruments undKorrektivs ein- für allemal zu lösen.

Sie tun es, folgen der ihnen durch die strukturellen Umstände undobjektiven Erfordernisse vorgezeichneten Entwicklung – mit dem Ergeb-nis, dass sie am Ende des zweiten Jahrhunderts den Populus Romanusweitgehend seiner mittels Heer behaupteten direkten oder indirektenEinwirkungsmöglichkeiten auf die kaiserliche Politik beraubt und wieden ersteren zu einem machtlosen und seinem kaiserlichen Wohltäterauf Gnade und Ungnade ausgelieferten Sozialfall degradiert, so das letz-tere auf ein ganz und gar dem imperialen Regiment dienstbares undnämlich keinem anderen Herrn mehr als seinem kaiserlichen Sold- undBrotgeber verpflichtetes Faktotum reduziert haben. Besiegelung undzugleich Ausweis ihres Erfolgs ist die Verdrängung des Populus ausder Rolle der meistbegünstigten Klientel oder des vorzugsweisen Nutz-

nießers der imperatorischen Herrschaft und die damit Hand in Handgehende Provinzialisierung des italischen Raums und hauptstädtischenEinzugsgebiets, seine Entprivilegierung und Eingliederung in das impe-riale Verwaltungssystem. Was Commodus noch als die vom Cäsarenwahninspirierte Großtat einer als Neubegründung verstandenen UmwandlungRoms in eine seinen Namen tragende Kolonie zelebriert, das exekutiertgut zwanzig Jahre später Caracalla als simplen bürokratischen Akt: Romverliert mitsamt dem italischen Kerngebiet den Sonderstatus einer Me-tropole des Reiches und wird zu einer bloßen Kolonie, einer imperialenProvinz unter anderen. Und zugleich verliert die Bevölkerung der Me-

tropole ihre Sonderstellung als Populus Romanus, als römische Bürger:das Bürgerrecht wird auf alle freien Bewohner des gesamten Imperi-ums ausgedehnt. Dass alle Reichsangehörigen Mitglieder der römischenCivitas werden, bedeutet demnach nicht etwa, dass sie allesamt das wohl-fahrtsstaatliche Erbe des Populus, der entmachteten römisch-italischen

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Klientel des Kaisers, antreten – es signalisiert im Gegenteil, dass auch

die römisch-italische Klientel, die Bürger der Metropole, nunmehr auf den Status von Provinzialen, von einfachen Untertanen des Kaisers redu-ziert sind, dass mit anderen Worten sämtliche, dem Kaiser unterworfeneSubjekte des Imperiums zwar privatrechtlich frei und unterschieden vonden Sklaven, dem Arbeitsvieh der Latifundien und Manufakturen desimperialen Ausbeutungssystems, und insofern Bürger, aber zugleich ohneAnspruch auf eine privilegierte Behandlung, auf kaiserliche Zuwendun-gen und wohlfahrtsstaatliche Segnungen, und vielmehr steuerrechtlichdem Kaiser untertan, sprich, verpflichtet sind, durch ihrer Hände Ar- beit, ihre ökonomische Tätigkeit für den Unterhalt der einzigen nochverbliebenen Nutznießerschicht des Systems zu sorgen, für die einzigeGruppierung, die der Kaiser nach wie vor als seine Klientel, seine privile-gierten Schutzbefohlenen betrachtet und behandelt, nämlich das Militär,die erforderliche Subsistenz zu schaffen.

In der Tat ist nach Auflösung der sozialen, ethnischen und familiärenBindungen zwischen Militia und Populus und dem dadurch bedingtenVersinken des letzteren in Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit bezie-hungsweise seiner Reduktion auf den Status normaler Provinzialer undUntertanen das aus Söldnern jeder sozialen Herkunft und Volkszuge-hörigkeit, aus Illyrern, Syrern und Afrikanern, aus Hispaniern, Galli-ern und Germanen bunt gemischte Heer der nunmehr einzige Nutz-

nießer des sklavenwirtschaftlich-kolonialistischen Ausbeutungssystemsdes römischen Imperiums und Empfänger seiner Segnungen. In perfek-tem Kurzschluss tritt das Instrument und Faktotum, das der militärisch-strategischen Aufrechterhaltung und bürokratisch-politischen Instand-haltung des Ausbeutungssystems dient, damit dessen Früchte dem heim-lichen Souverän und erklärten Profiteur des Imperiums, eben dem römi-schen Populus, zufließen können, an die Stelle des letzteren und avan-ciert selber zum unmittelbaren Adressaten und Empfängersubjekt derimperialen Beute. Perfekt ist dieser Kurzschluss deshalb, weil er Re-sultat eines von vornherein zum Zirkel angelegten Schlussverfahrens

und insofern eigentlich nur logische Konsequenz aus den Prämissenist. Schließlich firmiert die zum Populus geadelte römische Plebs nurdeshalb als heimlicher Souverän des Imperiums und erklärter Nutznießerseines Ausbeutungssystems, weil sie eben die Söldnerscharen, eben dieLegionen und Garden stellt, die nötig sind, um das System in Gang und

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in Ordnung, funktionsfähig und intakt zu erhalten. Gelingt es der mili-

tärischen Ordnungsmacht, der kaiserlichen Herrschaft, sich ihr Personalauf anderen Wegen als über die Bevölkerung der römisch-italischen Kern-gebiete des Imperiums zu rekrutieren, aus anderen Quellen als aus denReihen des Populus Romanus ihre Mobilmachung und Mobilerhaltungzu organisieren, und schafft sie es nämlich, sich aus dem ebenso entspe-zifiziert anonymen wie generalisiert ubiquitären Fundus des Imperiumsals ganzen ihren personalen Nachschub zu sichern, so ist in der Tat nichteinzusehen, warum sie sich noch den Luxus einer wohlfahrtsstaatlichenSubventionierung und Dotierung jenes zur Systemerhaltung nichts Nen-nenswertes mehr beitragenden römischen Populus leisten und warumsie nicht vielmehr alle durch das Ausbeutungssystem verfügbar gemach-ten Ressourcen in die Selbsterhaltung, sprich, in die Hege und Pflegedieses aus anderen Quellen organisierten materialen und personalenmilitärischen Bestands investieren sollte.

Objektive Grundlage und conditio sine qua non der kaiserlichen Herr-schaft ist ja das sklavenwirtschaftlich-kolonialistische Ausbeutungssys-tem, das sie mit Hilfe der militärischen Unterstützung ihrer plebejischenKlientel seinen ursprünglichen Betreibern und Besitzern abnimmt – unddessen Sicherung und Erhaltung hat deshalb oberste Priorität für sie oderist, besser gesagt, absolutes Gebot. Zwar, solange der römische Populusals militärische Rekrutierungsbasis und politische Akklamationsinstanz

für die kaiserliche Herrschaft unentbehrlich ist und solange das Aus- beutungssystem noch die relative Eigenständigkeit eines wenngleichmilitärisch-politisch von der kaiserlichen Herrschaft beschlagnahmtenund kontrollierten, so doch aber ökonomisch-bürokratisch von der altenNobilität beziehungsweise den equestrischen Verbündeten des Kaisers besessenen und betriebenen Apparats behauptet, hat es in der Tat nichtnur den Anschein, sondern verhält sich auch so, dass die Sicherung undErhaltung des Ausbeutungssystems für die kaiserliche Herrschaft de-ckungsgleich mit der wohlfahrtsstaatlichen Versorgung und gemein-schaftsstiftenden Unterhaltung des Populus, sprich, mit der Dotierung

und Subventionierung des letzteren aus dem Füllhorn des ersteren ist,und kann in der Tat wie der Kaiser als militärisch-politischer Funktio-när des Populus, so dieser als der heimlicher Souverän des Imperiumserscheinen. In dem Maße aber, wie mit Hilfe des auf ihn als cäsarischeVerkörperung des Volkswillens setzenden, ihm göttlich-absolute Macht

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verleihenden Populus der Kaiser die alte Nobilität auch ökonomisch

verdrängt und ihren zu ihm übergelaufenen equestrischen Teil zu abhän-gigen Helfershelfern, zu reinen Angestellten des Hofes degradiert, ändertsich die Situation.

Der Kaiser wird aus einem militärisch-politischen Herrn und Verfügerüber das von anderen geschaffene und in Gang gehaltene imperiale Aus- beutungssystem zum ökonomisch-bürokratischen Betreiber dieses Aus- beutungssystem selbst, wird aus einem staatlichen Vertreter plebejischerInteressen gegenüber dem vom imperialen Expropriationsmechanismusakkumulierten gesellschaftlichen Reichtum zum staatlichen Verwaltereben jenes Expropriationsmechanismus, der bei der Verteilung des durch

letzteren akkumulierten gesellschaftlichen Reichtums gegebenenfalls undnach Möglichkeit auch die plebejischen Interessen waren muss. Gege- benenfalls – das heißt, solange der Populus kraft des unentbehrlichenDienstes, den er als militärische Rekrutierungsbasis der kaiserlichen Herr-schaft leistet, dem Anspruch auf Wahrung seiner Interessen den nötigenNachdruck zu verleihen vermag. Und nach Möglichkeit – will heißen,sofern der Populus nicht durch seine wohlfahrtsstaatlichen Forderungendie ökonomische Leistungskraft des mittlerweile unter kaiserlicher Regie betriebenen Ausbeutungssystems überfordert und dessen Funktionsfä-higkeit in Frage stellt.

Genau dazu aber tendiert der Populus dank der aus effektiver Be-dürftigkeit und konsumtivem Realitätsverlust gewirkten artifiziellenExistenz im Zentrum des Reiches, zu der ihm die kaiserliche Herrschaftverhilft, und lässt so das strukturelle Dilemma der aus ein- und dem-selben Fundus zu bestreitenden wohlfahrtsstaatlichen Zuwendungenan ihn und imperialherrschaftlichen Aufwendungen für das System alszerstörerisch intentionalen Widerspruch sichtbar werden. Was Wunder,dass da der nunmehr primär als Systemerhalter firmierende kaiserlicheHerr jede Gelegenheit nutzt, sich dem Einfluss und der Kontrolle desPopulus zu entziehen und ihn seiner Stellung als heimlicher Souverän

und gehätschelte Klientel zu entsetzen. Im Grunde – in jenem Grun-de, der den scheinbaren Kurzschluss einer Reduktion des popularenCorpus auf nichts als den militärischen Arm als vielmehr logisch konse-quent erweist – folgt der Kaiser damit ja nur dem bewusstlos implizitenWillen oder objektiven Geheiß des Populus selbst: So gewiss dieser seit

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Anfang der tribunizischen Volksbewegung rückhaltlos auf die Partizipa-

tion an dem von der Nobilität, dem politisch-ökonomischen Gegner, ge-schaffenen und betriebenen kolonialistisch-sklavenwirtschaftlichen Aus- beutungssystem setzt und sein Wohl und Wehe an dessen Ausbau undFortbestand knüpft und so gewiss er seinen tribunizisch-konsularischenFürsorger sei’s als imperatorischen Princeps, sei’s als cäsarischen Mon-archen mit der militärisch-politischen Kontrolle beziehungsweise garder ökonomisch-bürokratischen Hege und Pflege jenes von ihm als Re-alfundament seiner realen Subsistenz und sozialen Existenz affirmiertenAusbeutungssystems betraut, so gewiss knüpft er, der Populus, seineigenes Schicksal an das des Systems, macht sich zu dessen Kreatur und

nimmt in Kauf, dass sein kaiserlicher Fürsorger als in eben dieser Für-sorgeeigenschaft wesentlich und primär Sachwalter des Systems sichin dem Maße, wie er, der Populus, das System überstrapaziert und inseiner Funktionsfähigkeit zu negieren, in seinem Bestand zu zerstörendroht, gegebenenfalls – nämlich, sobald er auf die militärischen Diens-te des Populus ohne Gefährdung des Systems verzichten kann – fürdie Kontinuität des letzteren und gegen seine, des Populus, Existenzentscheidet.

Durch die Abdankung des Populus und die Beschränkung der Nutznießerrolle

auf die militärischen und zivilen Funktionäre des Systems findet sich die Ritter-schaft endgültig ihres ökonomisch-kommerziellen Bewegungsspielraums beraubtund auf die Stellung bürokratischer Angestellter, beamteter Repräsentanten derkaiserlichen Herrschaft vereidigt. Ihren Rückzug aus der Ökonomie und ihreBeschränkung auf die Rolle von fiskalischen Eintreibern und bürokratischenRequisiteuren erfahren die Provinzen als Entlastung.

So sehr die instrumentell vernünftige Konsequenz, mit der die nichtin den Cäsarenwahn getriebenen oder sich flüchtenden Inhaber des kai-serlichen Amts ihren Systemerhaltungsauftrag wahrnehmen und mit der

sie deshalb die Gelegenheit nutzen, sich durch Auslösung des Heeresund des Offizierskorps aus den sozialen, familiären und kulturellen Ver-flechtungen und Verpflichtungen des traditionellen Populus Romanusdessen Einfluss und Anspruch auf privilegierte Behandlung zu entzie-hen – so sehr diese keineswegs als Kurzschluss, sondern durchaus als

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sach- und situationsgemäße Folgerung erscheinende Konsequenz zu

Lasten eben des traditionellen Populus geht und seinen Untergang imMeer der Reichsangehörigen oder provinziellen Untertanenheer bedeu-tet, so sehr scheint sie doch aber dem Untertanenheer selbst zum Vorteilauszuschlagen und ihm gleich in mehrfacher Hinsicht eine Besserungseines beschwerlichen Loses zu verheißen. Erstens nämlich besiegelt dieAbdankung der popularen Klientel des Kaisers aus der Meistbegüns-tigtenrolle und die Beschränkung der kaiserlichen Fürsorge und Gnadeauf das für die die Sicherung und Erhaltung des imperialen Systems un-abdingbare und aber nunmehr aus dem gesamten Imperium wahl- undvorurteilslos ausgelesene und eben deshalb dem Reich als bindungslosneutrale Söldnertruppe aufgepfropfte Militär – erstens also besiegelt dieseÜberführung des Kaiserreichs in eine Militärdiktatur reinsten Wassersdie endgültige Vertreibung der mit der Verwaltung des Reiches und dasheißt, mit dem Betrieb des imperialen Ausbeutungssystems betrautenRitterschaft aus der Stellung generalbevollmächtigter Prokuristen odermit Freibrief versehener Pauschalpächter und ihre unwiderrufliche Ver- beamtung, ihre vollständige Unterwerfung unter den persönlichen Willenund das direkte Gebot ihres kaiserlichen Auftraggebers.

 Jener zum neuen imperatorischen Regiment übergelaufene Teil der No- bilität, der für die bürokratische Organisation und ökonomische Fundie-rung der neuen imperialen Herrschaft entscheidende Bedeutung gewinnt

und dafür von ihr mit weitgehender bürokratischer Handlungsvollmachtund ökonomischer Narrenfreiheit belohnt wird – er ist zwar schon durchdas nicht zuletzt dank seiner Aktivitäten effektuierte Verschwinden desPatriziats in seinem Bewegungsspielraum ebenso eingeschränkt wie inseiner Sonderstellung erschüttert und, wie aus der einflussreichen Posi-tion des Mittlers und Koordinators zwischen dem neuen Herrn und deralten Führungsschicht vertrieben, so in eine ebenso unliebsame wie unge-wohnte direkte Abhängigkeit von ersterem und Hörigkeit ihm gegenübergebracht. Ihres letzten Rests von unbeschränkter bürokratischer Prokuraund unkontrollierter ökonomischer Initiative beraubt aber findet sich

die Ritterschaft nun erst durch die Abdankung des Populus Romanusals meistbegünstigten Adressaten und wohlfahrtsstaatlich umsorgtenEmpfängers der Segnungen des kolonialistischen Ausbeutungssystemsund seine mit der Eingliederung der römisch-italischen Kernregion inden Provinzialzusammenhang des Reiches, ihrer Degradierung zu einer

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Kolonie unter anderen, verwaltungstechnisch besiegelte Integration in

die imperiale Untertanengemeinschaft. Was nämlich mit der Nivellie-rung des italisch-römischen Raums zum provinziellen Untertanengebietendgültig gegenstandslos wird und sich erledigt hat, ist die besondereFunktion, die traditionell der Ritterschaft zufällt und deren fortdauerndeWahrnehmung und Erfüllung ihr überhaupt nur ihre ökonomische Gene-ralprokura und bürokratische Handlungsvollmacht, kurz, ihre Positionals vergleichsweise frei schaltende und waltende kaiserliche Kommissäreverschafft: die Aufgabe, den kontraktiv-kommerziellen, in Äquivalenten-tausch und Geldwirtschaft gründenden Marktzusammenhang der Me-tropole und ihres Einzugsgebiets mit dem kompensationslos-extraktiven,

auf Sklavenarbeit und kolonialistischer Enteignung basierenden Ausbeu-tungssystem des Imperiums zu vermitteln, besser gesagt, letzteres imInteresse und Dienste des ersteren zu entfalten und zu organisieren.

Indem im Rahmen des von der republikanischen Nobilität geschaffe-nen Kolonialreichs und Sklavenhalterstaats die Ritterschaft diese Organi-sationsfunktion übernimmt und in zunehmendem Maße monopolisiertund indem sich auf die Erfüllung dieser Funktion gleichermaßen ih-re persönliche Bereicherung, ihre soziale Karriere und ihre ständischeMacht gründen, entwickelt sie die kaufmännische Übung, das finanz-technische Knowhow und die unternehmerische Initiative, kurz, die

ökonomische Kompetenz, auf die auch das neue imperatorische Regimentmit seiner Absicht und seinem Programm angewiesen ist, das etablierteökonomische System für Zwecke einer wohlfahrtsstaatliche Versorgungderer nutzbar zu machen, die als interne Opfer des Systems sich dochzugleich als für dessen militärische Aufrechterhaltung unabdingbareAkteure erwiesen haben und deren staatserhaltender Mitwirkung dasneue imperatorische Regiment in der Tat ja seinen Aufstieg und seineMacht verdankt. Zwar bringt die neue wohlfahrtsstaatliche Komponente, bringen die fürsorglich-volksfreundlichen Versorgungsleistungen undUnterhaltungsangebote, zu denen das imperatorische Regiment fortan

verpflichtet ist, ein im Prinzip dem traditionellen, marktvermitteltenAusbeutungssystem Roms abträgliches, ein der spezifisch republikani-schen Kombination aus Distribution durch Austausch, die auf Extrakti-on durch Gewalt basiert, und Extraktion durch Gewalt, die Distributi-on durch Austausch intendiert, eigentlich widerstreitendes Moment ins

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politisch-ökonomische Spiel, aber weil die wohlfahrtsstaatlichen Güter-

massen und Versorgungsleistungen ja im Rahmen und auf dem Bodendes übernommenen, marktvermittelten Ausbeutungssystems beschafftund erbracht werden müssen, führt dieser prinzipielle Widerspruch zwi-schen der marktbestimmt-akkumulationsträchtigen Ausbeutung vonSklavenarbeit und Ausplünderung der Kolonien und der marktfeindlich-kompensationlosen Abschöpfung eines Teils der Beute zu Zwecken wohl-fahrtsstaatlicher Umverteilung zu einer außerordentlichen Dynamisie-rung, einer geradezu pathologischen Hypertrophierung des traditionellenAusbeutungssystems, in deren Zentrum die Ritterschaft steht und die sieals veritabler Zaubermeister ins Werk setzt.

Die Ritter sind es, die kraft ihrer kaufmännischen Übung, ihres fi-nanztechnischen Knowhow und ihrer unternehmerischen Initiative dasimperialen Ausbeutungssystem derart in Schwung bringen, dass es dieihm vom imperatorischen Regiment abgeforderten neuen, marktwidrigenund akkumulationsschädlichen populären Hilfs- und Fürsorgefunktionenerfüllen kann, ohne dass dadurch seine traditionellen, marktdienlichenund akkumulationsträchtigen kommerziellen Angebots- und Zufuhrleis-tungen nennenswert beeinträchtigt werden. Sie sind es, die dem Impe-rator ermöglichen, die subsistenziellen und sozialen Verpflichtungen zuerfüllen, die er mit seinem Aufstieg zur Alleinherrschaft eingegangen ist,

ohne dadurch die materielle Basis seiner Alleinherrschaft, das unter sei-ne militärisch-politische Kontrolle gebrachte ökonomisch-bürokratischeAusbeutungssystem der römischen Nobilität in Gefahr zu bringen odergar zugrunde zu richten. Und für diese, die politische Großtat ihrer De-sertion ins imperatorische Lager krönende ökonomische Glanzleistung,die sie im Dienste des imperatorischen Regiments vollbringen, belohntsie nun der Imperator damit, dass er ihnen freien Hand lässt, dass erihnen als dem Ochsen, der da drischet, das Maul nicht verbindet, dasser ihnen, kurz, bei ihren Steuerpachten, ihren Handelsgeschäften, ihrenkapitalistischen Unternehmungen unbeschränkte Prokura und General-

vollmacht einräumt – welche Vollmacht die Ritterschaft wiederum nutzt,um mit derselben Effektivität, mit der sie dem Imperator Ressourcenzuführt und die für die Erfüllung seiner sozialen Verpflichtungen undseiner militärischen Aufgabe, kurz, für die Festigung der imperatorischenHerrschaft, erforderlichen Finanzmittel zur Verfügung stellt, sich selbst

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zu bereichern und, so gut sie es nur immer versteht, in die eigene Tasche

zu wirtschaften.So sehr, kurzfristig betrachtet, die Erfolgsgeschichte der Ritter als be-vollmächtigter Prokuristen oder freihändiger Intendanten des Imperatorsan den Erfolg geknüpft ist, den sie der imperatorischen Politik auf derBasis des von der republikanischen Nobilität übernommenen marktver-mittelten Ausbeutungssystems sichern, so sehr ist allerdings eben jenerErfolg des imperatorischen Regiments dazu angetan, auf diese von derRitterschaft beherrschte und betriebene Basis zurückzuschlagen und sieals solche bis zur Unbrauchbarkeit für equestrische Bereicherungszweckezu verändern. Wie gesehen, verschafft dem imperatorischen Regimentder ökonomisch-bürokratische Erfolg, den es dank der Ritterschaft er-ringt, im Verein mit der militärisch-politischen Unterstützung, die ihmPlebs und Volksheer gewähren, letztendlich einen vollständigen Sieg überseinen großen gesellschaftlichen Gegenspieler, die traditionelle Nobilitätund ihren harten Kern, das Patriziat, und ermöglicht ihm nämlich nichtnur, diese alte, senatorisch verfasste Oberschicht der Republik politischzu entmachten und durch kaiserliche Kreaturen aus ihren Staatsämternzu verdrängen, sondern sie mehr noch ökonomisch zu ruinieren undnämlich ihre territorialen Besitzungen und kolonialen Pfründen teilsan sich zu bringen und in eigene Regie zu übernehmen, teils herrenloswerden und an Günstlinge und Strohmänner der kaiserlichen Herrschaft

fallen zu lassen. Aber damit findet sich ja nun die Ritterschaft gleich indoppelter Hinsicht um ein tragendes Element ihrer besonderen Reichs-verweserstellung und privilegierten Prokuristenfunktion gebracht. Mitdem Niedergang und Verschwinden der alten patrizischen Oberschichtentfällt nämlich nicht nur der große gesellschaftliche Gegenspieler desImperators, der in dem Maße, wie er mit diesem noch um die Früchte desimperialen Ausbeutungssystems konkurriert, die Ritterschaft politischzu einem wichtigen Verbündeten und unentbehrlichen Mitarbeiter desimperatorischen Regiments aufwertet und ihr deshalb zur relativen Un-abhängigkeit und Eigenmacht des Loyalität und Knowhow, Engagement

für die Zielsetzung der imperatorischen Herrschaft und Vertrautheit mitder Wirkungsweise des patrizischen Systems, miteinander verbinden-den Mittlers und Maklers verhilft. Das Verschwinden der patrizischenOberschicht bedeutet auch und mehr noch den Verlust eines entschei-denden Segments und einer in der Tat maßgebenden Schicht der den

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italisch-römischen Marktzusammenhang konstituierenden Konsumen-

tengesellschaft und damit die Aushöhlung des besonderen Charaktersdes imperialen Ausbeutungssystems selbst, die Unterminierung seinerstaatliche Gewalt mit privatem Austausch, exaktive Expropriation mitkontraktiver Akkumulation verbindenden Marktvermittelheit oder kom-merziellen Bestimmtheit.

Nicht also nur, dass in der Konsequenz des vollständigen und vernich-tenden Triumphs, den mit Hilfe der Ritterschaft das kaiserliche Regimeüber die patrizische Partei erringt, die Ritterschaft politisch in zuneh-mende Abhängigkeit vom kaiserlichen Regime und Botmäßigkeit ihmgegenüber gerät und damit die relative bürokratische Eigenständigkeitund prokuristische Vollmacht, die ihr ihre Mittlerstellung zwischen denKombattanten verleiht, einbüßt, sie sieht sich darüber hinaus ökonomischum einen fundamentalen Bestandteil ihres persönlichen Bewegungsspiel-raums und ihres privaten Bereicherungsstrebens gebracht und, wie inrasch wachsendem Maß nurmehr mit cäsarischen Abnehmern, statt auchund vor allem mit patrizischen Konsumenten konfrontiert, so in ihrer Tä-tigkeit um jegliche in eigener Regie und auf eigene Rechnung betriebenenkommerziell-akquisitorischen Geschäfte gebracht und auf das uneigent-lich so nennende eine Geschäft einer im Dienste und zum Vorteil desKaisers praktizierten fiskalisch-requisitorischen Enteignung reduziert.Und diesen mit dem Untergang der alten patrizischen Oberschicht und

ihrer Klientel, der traditionellen republikanischen Gentry und ihres stadt- bürgerlichen Anhangs, im Prinzip bereits besiegelten Verlust nicht nur anpolitischer Eigenständigkeit und Entscheidungskompetenz, sondern auchund vor allem an ökonomischer Eigeninitiative und Bewegungsfreiheit,den die Ritterschaft in der direkten Konsequenz ihres erfolgreichen Wir-kens erleidet – ihn vollendet und krönt nun aber die vom Kaiser im Zugeseiner neuen, vom italisch-römischen Raum unabhängigen, militärischenRekrutierungspraxis betriebene Abdankung des Populus Romanus inder Rolle des bevorzugten Adressaten und Nutznießers der Früchte desimperialen Ausbeutungssystems und Beschränkung des Meistbegünstig-

tenstatus auf die aus dem ganzen Imperium zusammengewürfelte undihm als ebenso intentions- wie bindungslose Ordnungsmacht aufgehuck-te Legionärstruppe und Söldnerschar.

Nicht, dass der Populus Romanus selbst als eine Stütze der relati-ven Marktvermitteltheit und in distributiver Hinsicht kommerziellen

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Ausrichtung des imperialen Ausbeutungssystems und mithin als ge-

eigneter Entfaltungsraum für ein von der Ritterschaft unverändert ge-pflegtes kaufmännisch-privatives Erwerbsstreben, eine von ihr nach wievor verfolgte unternehmerisch-akkumulative Bereicherungsstrategie gel-ten könnte! So gewiss vielmehr das römische Volk ebenso wie das ausihm rekrutierte Massenheer vom imperatorischen Regime zum Lohn fürseine staatstragende Leistung subsistenziell versorgt und sozial unter-halten zu werden beansprucht, so gewiss zählt es zu jener gewaltigenwohlfahrtsstaatlichen Hypothek, die im Gegenteil auf dem marktver-mittelten imperialen Ausbeutungssystem lastet, an ihm zehrt und esnur zu rasch zerstören würde, wäre da nicht die marktwirtschaftliche

Initiative der Ritterschaft, die aus Eigennutz und Bereicherungssuchtihr ganzes kaufmännisches Knowhow, finanztechnisches Arsenal undunternehmerisches Ingenium aufbietet, um durch Ausschöpfung allerPotentiale und durch Mobilisierung sämtlicher Ressourcen des imperia-len Ausbeutungssystems die Hypothek dennoch erträglich und mit demmarktvermittelt-kommerziellen Bestand des Systems vereinbar werdenzu lassen.

Was aber ungeachtet seiner in der Hauptsache und unmittelbar diekommerziell-marktwirtschaftliche Ausrichtung des Systems belastendenwohlfahrtsstaatlichen Ansprüche den Populus Romanus dennoch zu

einer Stütze, um nicht zu sagen, zu einer Art von Aktivposten für dieMarktorientierung und – zumindest in distributiver Hinsicht – kom-merzielle Bestimmtheit des Systems werden lässt, ist die sekundäre undmittelbare Wirkung seiner Existenz und nämlich dies, dass mit dem imwesentlichen auf die italisch-römische Bevölkerung eingeschränkten Po-pulus Romanus das Imperium immer noch ein topisches Zentrum undeinen organisatorischen Fokus besitzt, in dem, wie das Gros der für wohl-fahrtsstaatliche Zwecke requirierten, sprich, für eine kompensationsloseVerteilung bestimmten Finanzmittel und Ressourcen zusammenströmen,so nolens volens aber auch die übrigen, von der Ritterschaft zwecks

privater Bereicherung in eigener Initiative und mit unternehmerischemEngagement mobilisierten Gelder und Güter ihren natürlichen Sam-melpunkt und ihre Abnehmer beziehungsweise Käufer finden können.So gewiss allein schon die räumlich-demographische Zusammenbal-lung und das gesellschaftlich-organisatorische Zusammenspiel dieser als

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Populus eine wohlfahrtsstaatliche Vorzugsstellung genießenden italisch-

römischen Bevölkerung eine ganze Korona von nicht schon durch diewohlfahrtsstaatliche Distribution und ihre subsistenzielle beziehungs-weise soziale Grundversorgung befriedigten kulturellen Bedürfnissenund auf deren Befriedigung abgestellten ökonomischen Aktivitäten vor-aussetzt beziehungsweise magisch anzieht, so gewiss die Verwaltungund Verteilung der aus den Provinzen nach Rom und Italien strömendenReichtümer Gruppen von Bürokraten und Maklern in die Welt setzt,die sich für ihre Dienste aus dem Reichtumsfundus mehr als schadloshalten und dank solcher Dotierung als potente Konsumenten auf demMarkt erscheinen, so gewiss die geographische und politische bezie-hungsweise ethnische Beschränkung der Rolle des Populus, der vomimperialen Ausbeutungssystem vorzugsweise begünstigten kaiserlichenKlientel, auf die Bevölkerung Roms und des italischen Raums dafür sorgt,dass auch der kaiserliche Hof mitsamt seinen militärischen Garden undseiner zivilen Bürokratie fest und dauerhaft in der römischen Metropoleverankert bleibt und seine ganze gewaltige Konsumkraft dort zum Tra-gen bringt, und so gewiss schließlich die Konzentration der imperialenBeute auf die Metropole und ihr Einzugsgebiet zur Folge hat, dass sichBegüterte aus allen Provinzen dorthin gezogen fühlen, um mit ihremVermögen sei’s lukrative Geschäfte zu machen, sei’s an dem dort herr-schenden konsumtiven Luxus zu partizipieren – so gewiss die Existenz

des wohlfahrtsstaatlich versorgten Populus Romanus alter Prägung alldiese mittelbaren Konsequenzen hat, so gewiss macht sie, dass auch nachdem Untergang der als Eckstein des traditionellen Marktvermitteltheitund kommerziellen Bestimmtheit des imperialen Ausbeutungssystemsfirmierenden Patriziats immer noch genug Marktpotential und kommer-zielle Aktivität erhalten bleibt, um teils dem exaktiv-tributären Systemseine alte, ihm von der Nobilität verliehene kontraktiv-kommerzielleAusrichtung, teils der Ritterschaft ihre gewohnten Akkumulationsstrate-gien und Bereicherungschancen zu erhalten.

Genau das aber ändert sich nun, da das kaiserliche Regiment, der Not

gehorchend und im Interesse der Aufrechterhaltung imperialer Wehr-tüchtigkeit zu einer universalen militärischen Werbepraxis überwech-selnd, aus dieser militärischen Not eine politische Tugend macht undden bislang als hauptsächlicher militärischer Rekrutierungsfonds firmie-renden und aus dieser seiner Funktion exorbitante wohlfahrtsstaatliche

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Ansprüche herleitenden römisch-italischen Populus ebenso sehr in der

Rolle der begünstigten Klientel des Kaisers und der Hauptnutznießerindes imperialen Ausbeutungssystems abdankt wie seinen metropolitanenSiedlungsraum die besondere Stellung eines Dreh- und Angelpunkts derimperialen Herrschaft, einer gleichermaßen subsistenziell-ökonomischund residenziell-bürokratisch bevorzugten Zentralregion des Reichesverlieren lässt und als normalen territorialen Bestandteil des Reiches,als ein Verwaltungsgebiet unter anderen in das imperiale Provinzial-system zurücknimmt und integriert. Indem der Populus Romanus sei-ner Vorzugsbehandlung verlustig geht und der römische Bürger mitdem imperialen Untertanen deckungsgleich wird und indem Hand inHand damit die italisch-römische Metropole ihre Position als ebenso sehrökonomischer Sammel- und Umschlagspunkt wie politischer Zentral-und Organisationspunkt des Reiches einbüßt, fällt die letzte Bastion desmarktvermittelten, kommerziell ausgerichteten Ausbeutungssystems:Was mit dem Untergang des Patriziats und der in ihm und seiner Klientel bestehenden zivilgesellschaftlichen Konsumentenschichten begann, dieVerwandlung des imperialen Ausbeutungssystems aus einem immernoch auf kommerzielle Distribution und Marktchancen abgestellten tri- butären Exaktions- und spekulativen Extraktionsmechanismus in einennurmehr durch die fiskalischen Forderungen und den requisitorischenBedarf des kaiserlichen Staatswesens in Gang gehaltenen bürokratischen

Abschöpfungsapparat, findet mit der Abdankung des als die Bürger-schaft der Hauptstadt und ihres italischen Glacis firmierenden PopulusRomanus seinen Abschluss und seine Vollendung. Durch das Verschwin-den aller neben den Verfahren kaiserlich-staatlicher Steuereintreibungund Güterbeschlagnahmung und komplementär dazu den Eintreibernund Requisiteuren offenstehenden kommerziellen Privatgeschäfte undmerkantilen Absatzchancen jeder ökonomischen Eigeninitiative und je-des privatunternehmerischen Entfaltungsraums beraubt, finden sich diekaiserlichen Faktota, die durch den Untergang des Patriziats ohnehin bereits politisch um ihren Freiraum gebrachten und an die Kandare ge-

nommenen Ritter, endgültig auf die Stellung simpler Befehlsempfänger,weisungsgebundener Staatsdiener reduziert. Als Fiskale und Requisi-teure nicht mehr pro cura, sondern nur noch pro domo ihres cäsari-schen Herrn sind sie diesem zwar ebenso unentbehrlich wie zuvor; aberaus prokuristischen Beauftragten werden bürokratische Angestellte, aus

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 bevollmächtigten Vertretern der kaiserlichen Macht, in eigener Regie

operierenden Sachwaltern des kaiserlichen Interesses, werden beamteteRepräsentanten der kaiserlichen Herrschaft, im Rahmen ihrer Weisungagierende Verwalter der kaiserlichen Privilegien und Liegenschaften.

Und indem so aber durch die Totalisierung der imperatorischen Herr-schaft und Verfügung über das imperiale Ausbeutungssystem und durchdas damit Hand in Hand gehende und mangels ziviler Konsumenten-schichten unaufhaltsame Verschwinden der merkantilen Ausrichtungund kommerziellen Bestimmtheit des Systems, seiner Umrüstung auseinem auch und immer noch auf zivilgesellschaftliche Vermarktung zie-lenden in einen nurmehr und ausschließlich auf die Versorgung des mi-

litärischen und bürokratischen Herrschaftsapparats abgestellten Expro-priationsmechanismus, die Ritter sich aus Bevollmächtigten und Beauf-tragten der imperatorischen Herrschaft in Beamte und Angestellte ihrescäsarischen Herrn, aus Prokuristen des imperialen Staats in Majordomides kaiserlichen Hofes verwandelt finden, geht diese ihre Metamorphosezwangsläufig auch mit einer veränderten Haltung gegenüber dem impe-rialen Ausbeutungssystem selbst einher und hat nämlich ihren Rückzugaus dem Wirtschaftsleben, sprich, den Verzicht auf eigene kaufmännischeAktivitäten, finanzielle Spekulation, unternehmerische Engagements unddie Beschränkung auf eine von bürokratischer Distanz geprägte, rein

fiskalische Eintreibungs- und requisitorische Abschöpfungstätigkeit zurFolge. Ebenso sehr durch das Verschwinden eines neben und außer-halb der kaiserlich-wohlfahrtsstaatlichen Distribution perennierendennennenswerten Marktzusammenhangs ökonomisch aller privaten Ge-schäftsperspektiven und persönlichen Bereicherungschancen beraubt,wie durch den Untergang des Patriziats politisch um jegliche Hand-lungsvollmacht und unabhängige Stellung gebracht und der direktenWeisung und Kontrolle ihres kaiserlichen Herrn unterworfen, verliert dieRitterschaft jedes Motiv und jeden Mut, jede Initiative und jede Chuzpe,sich auf das imperiale Ausbeutungssystem in der alten Weise einzulassen

und es durch den Einsatz kaufmännischen Knowhows, finanztechnischerKompetenz und unternehmerischen Ingeniums zum Gegenstand enga-giertester Bewirtschaftungs- und Profitmaximierungsstrategien, sprich,zum Tummelplatz der rücksichtslosesten Auspressung und Ausplünde-rung zu machen. Fortan überlässt sie das Wirtschaften den Untertanen

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und beschränkt sich darauf, letztere nach getaner Arbeit requisitorisch zu

schröpfen und fiskalisch zur Kasse zu bitten.Für die traditionell von der Ritterschaft als Privatbesitz der Nobilität betriebenen sklavenwirtschaftlichen Latifundien- und Manufakturbetrie- be bedeutet dieser Rückzug der Ritter aus dem kapitalistischen Proku-ristendasein ins bürokratische Intendantentum, diese ihre Verwandlungaus Pächtern und Unternehmern in Beamte und Ministeriale, den raschenNiedergang und den Verlust der wirtschaftlich maßgebenden Stellung,die sie als Mustergüter des imperialen Ausbeutungssystems bis dahininnehaben. Gleichermaßen ihrer merkantilen Absatzchancen und ihrerprivatunternehmerischen Eigentümer beraubt, verlieren diese Betriebeihren Sinn: die intensive Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und ma-nufaktureller Produktivkraft, die sie ermöglichen, zielt ins Leere des mitdem Markt verschwundenen kommerziellen Akkumulationsprospektsund erweist sich mithin als kontraproduktiv. Was vom System der auf Sklavenarbeit basierenden Latifundien und Manufakturen bleibt, sindLandgüter und Vogteien, handwerkliche Ausrüstungsbetriebe und staat-liche Werkstätten, die als nicht mehr für den Markt, sondern nur mehr fürHof und Militär produzierende frondienstliche Unternehmungen ein imVergleich zu früherer Effektivität bescheidenes Dasein fristen und ihrenArbeitersklaven ein fast schon humanes Leben ermöglichen.

Für die Ökonomie der Provinzen andererseits, die nunmehr zur Haupt-

trägerin des imperialen Ausbeutungssystems wird und an die sich die bürokratische Abschöpfungsstrategie des nach dem Untergang des Pa-triziats und der Abdankung des Populus zur konkurrenzlosen Militär-despotie, zum cäsarischen Dominat vollendeten augusteischen Prinzipatsvornehmlich hält – für diese Provinzökonomie also bedeutet die Ver- beamtung der Ritterschaft, ihr Rückzug aus dem Wirtschaftsleben, dieBefreiung vom Würgegriff der bis dahin mit kaufmännischem Knowhow,finanztechnischer Raffinesse und unternehmerischer Initiative betrie- benen kapitalistischen Extraktionsgeschäfte und prokuristischen Pro-fitmaximierungsstrategien. Weil die nicht mehr pro cura, sondern bloß

noch pro domo des Kaisers, nicht mehr als Bevollmächtigte, als Paten-tierte, sondern bloß noch als Beamte, als Ministeriale des cäsarischenStaates funktionierenden Ritter mangels Markt und privativer Berei-cherungschancen und aufgrund der als unmittelbare Weisungsgebun-denheit erscheinenden Abhängigkeit von ihrem kaiserlichen Herrn alles

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Interesse am persönlichen Engagement in den Provinzen und an einer

Übernahme und Kontrolle, Ankurbelung und Intensivierung der dor-tigen landwirtschaftlichen Aktivitäten, handwerklichen Produktionen, bergbaulichen Unternehmungen und kommerziellen Austauschprozes-se verlieren, können die Provinzen aufatmen und sich in dem Maße,wie sich ihre Inanspruchnahme durch das imperiale Regiment auf büro-kratisch festgelegte und regelmäßig eingeforderte Steuerleistungen undZinsabgaben beschränkt, von der dirigierenden Habsucht und interve-nierenden Unersättlichkeit der equestrischen Schergen des Regiments befreit und in ein zwar unter imperialer Aufsicht stehendes und demImperium fiskalisch rechenschaftspflichtiges, aber doch in seinen ökono-

mischen Aspekten, seinen praktisch-technischen Verfahrensweisen undkaufmännisch-kalkulatorischen Vorgaben vergleichsweise selbständigesund ungestörtes Wirtschaften entlassen finden.

Da die Entlastung der provinziellen Ökonomie nicht nur qualitative, die Büro-kratisierung der Ritterschaft betreffende, sondern auch quantitative, eine Ver-kleinerung des Nutznießerkreises implizierende, und modale, die Form der Ab-schöpfung angehende, Folgen hat, erleben die Provinzen die Überführung desReiches in eine des popularen Wasserkopfes ledige Militärdespotie als Gelegen-heit zur wirtschaftlichen Erholung. Der Eindruck, als sei das Römische Reich

nunmehr zur Normalität der alten theokratischen oder ständehierarchischenGesellschaftsordnung zurückgekehrt, trügt allerdings: Die vor Ort der Provinzendas Ausbeutungssystem sichernden und verwaltenden Militärs und Beamteneint funktionell nichts als ihre militärisch-bürokratischen Aufgaben und intentio-nal nichts als die mit solcher Aufgabenerfüllung verknüpfte Aussicht auf Beute.

Und dabei ist diese Entlastung der das imperialen Ausbeutungssystemnunmehr vorzugsweise, um nicht zu sagen, ausschließlich tragendenprovinziellen Ökonomie, recht besehen, nicht nur qualitativen Charak-ters, das heißt, sie ist nicht nur im veränderten Verhalten der Agenten

des imperialen Systems gegenüber ihren provinziellen Opfern begründet,hat nicht bloß darin seinen Grund, dass jene Agenten sich nun nichtmehr als profitsüchtige Initiatoren und Organisatoren des ökonomischenProzesses in Szene setzen, sondern die Ökonomie sich selbst überlassenund sich auf die Rolle von an den Früchten des eigenständigen Prozesses

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partizipierenden fiskalischen Eintreibern und bürokratischen Requisi-

teuren beschränken – sie hat vielmehr auch und darüber hinaus einequantitative Seite und resultiert nämlich ebenso sehr daraus, dass mit derEntwicklung des imperialen Regiments zur bürokratisch organisiertenMilitärdespotie die Masse der durch das imperiale Ausbeutungssys-tem Begünstigten schrumpft, der Kreis derer, die aus den Früchten derfiskalisch-requisitorischen Abschöpfungspraxis Nutzen und ihren Unter-halt ziehen, markant kleiner wird. So gewiss die Abdankung des PopulusRomanus in der Rolle der wohlfahrtsstaatlich versorgten kaiserlichen Kli-entel indirekt und in sekundärer Konsequenz dem Ausbeutungssystemdie letzte Bastion seiner Marktvermitteltheit und kommerziellen Orien-tierung raubt und damit aber die equestrischen Betreiber des Systemsdazu veranlasst, sich als initiative Teilhaber und aktive Investoren ausdem Wirtschaftsleben zurückzuziehen und durch die Beschränkung auf die Funktion amtlicher Besteuerer und ministerialer Requisiteure dieprovinzielle Ökonomie in die relative Freiheit einer den fremdherrschaft-liche Zugriff nur mehr als äußerliches Tributverhältnis, als Exaktion,statt wie bis dahin als inneren Aneignungsmechanismus, als Extraktionerfahrenden beziehungsweise erduldenden Produktions- und Distri- butionszusammenhangs zu entlassen, so gewiss ist direkt und im pri-mären Effekt jene Abdankung des Populus Romanus gleichbedeutenddamit, dass der in der Bewohnerschaft der römischen Metropole und

ihres italischen Umfeldes bestehende und von den Früchten des impe-rialen Ausbeutungssystems zehrende konsumtive Wasserkopf schrumpft beziehungsweise verschwindet und der Kreis der durch das System Be-günstigten und Dotierten sich definitiv auf die mit der Hege und Pflegedes letzteren befassten Funktionäre, das Militär und die Bürokratie, dasals förmliche Fremdenlegion rekrutierte Söldnerheer und die equestrischeBeamtenschaft, reduziert.

Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass die Erhebung des imperatori-schen Regiments und kaiserlichen Hofs zum konkurrenzlosen und durchkeinen heimlichen popularen Souverän mehr an die Kandare genomme-

nen und kontrollierten Machthaber den konsumtiven Aufwand dieserabsoluten Herrschaft, ihre Repräsentationswut und Prachtentfaltung,gewaltig steigert und ebenso sehr den Herrscher selbst zu kostspieligenPalastbauten und Großprojekten, zu Ressourcen verschlingenden Ruhme-staten ad majorem gloriam imperatoris, anstachelt wie seine Chargen und

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Günstlinge zu haltloser Verschwendung und Korruption, zu Exzessen

absolutistischer Prunksucht, animiert, bleibt doch die mit der Verabschie-dung des Populus aus der Rolle der kaiserlichen Klientel besiegelte undals radikale Beschneidung und Reduktion erscheinende grundlegendeUmgestaltung des Nutznießerkreises des imperialen Ausbeutungssys-tems eine außerordentliche quantitative Entlastung des Systems underfüllt damit eben die Erwartungen, die im Sinne einer Stabilisierungdes Ausbeutungssystems und Deeskalierung seiner Betriebstemperaturund Extraktionsrate das zwischen den Selbsterhaltungsforderungen desImperiums und den popularen Ansprüchen auf wohlfahrtsstaatliche Ver-sorgung in die Klemme geratene kaiserliche Regiment mit ihr verknüpft.Tatsächlich ist ja diese durch Abdankung des Populus erzielte und dieprovinzielle Ökonomie quantitativ entlastende Verkleinerung des Nutz-nießerkreises des imperialen Ausbeutungssystems auch und zugleich dieVoraussetzung für jene erwähnte, im Rückzug der equestrischen Ausbeu-ter aus dem Wirtschaftsleben bestehende qualitative Entlastung. Wie dieAbdankung der popularen Klientel des Kaisers und die Beschränkungder Begünstigtenrolle auf Militär und Bürokratie dem System struktu-rell das letzte Moment von Marktorientierung austreibt und damit derRitterschaft jede Motivation zum kapitalistischen Engagement in denProvinzen nimmt, so entzieht sie ebenso sehr und darüber hinaus diesemkapitalistischen Engagement der Ritter reell die Grundlage, indem sie

durch die Rückführung der wohlfahrtsstaatlichen Versorgungsansprüchedie mit Rücksicht auf deren Befriedigung sich bis dahin als notwen-dig gerierenden Umfänglichkeit und Intensität der Ausbeutung objektivüberflüssig werden lässt.

Und nicht nur als konditionelle Voraussetzung für jene qualitativeBefreiung des Wirtschaftslebens der Provinzen aus dem Würgegriff derRitterschaft erweist sich die demnach zur zentralen Leistung der mi-litärdespotischen Umrüstung des Imperiums avancierende quantitati-ve Entlastung der provinziellen Ökonomie durch den Ausschluss desPopulus aus dem imperialen Nutznießerkreis, sie stellt sich zu allem

Überfluss auch noch als der funktionelle Grund für eine nachhaltige mo-dale Entspannung des Ausbeutungssystems als solchen heraus, in derenGenuss die Ökonomie der Provinzen gelangt. Nicht nur wird ja durch dieVerabschiedung des Populus die Anzahl der Nutznießer des Systems we-sentlich verkleinert, es erfährt darüber hinaus auch ihre Anordnung und

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zu entwickeln und ohne eine nennenswerte Chance, von ihrem expro-

priierten Reichtum durch die Anwesenheit und Konsumtätigkeit derExpropriateure wenigstens sekundär zu profitieren und so den primärenVerlust zu Teilen wieder wettzumachen, zurück. Wie sollen die so intoto zu Vogteien, Staatsgütern, Plantagen der römischen Herrschaft de-gradierten Provinzen je auf einen grünen Zweig kommen, wie soll ihreWirtschaft unter diesen Umständen etwas anderes sein können, als einim Interesse seiner wiederholten vampyristischen Ausbeutung durchden fernen Zwingherrn gerade noch leben gelassener, am Rande derExistenzfähigkeit gehaltener, zum Nutzvieh degradierter Organismus?

Genau das aber ändert sich nun in dem Maße, wie das kaiserliche

Regiment den Populus Romanus als Nutznießer des imperialen Ausbeu-tungssystems abdankt und die römisch-italische Metropole als solcheabschafft, sie provinzialisiert, sprich, sie in ein uniformes imperiales Sys-tem eingliedert, das im Prinzip nurmehr zwei gesellschaftliche Strataumfasst: die große Masse der als besteuerbare Untertanen firmierendenReichsangehörigen, und die kleine Schicht derer, die den die Besteuerungsicherstellenden, durchführenden und von ihr profitierenden kaiserlichenApparat bemannen und bedienen. Was hiernach die Rolle von Nutz-nießern des imperialen Ausbeutungssystems behält, ist eben jenes denApparat betreibende kaiserliche Personal, sind die des popularen Wasser-

kopfes ledigen Gruppen der Ministerialen und Militärs, die im Einklangmit ihren Befriedungs- und Verwaltungsaufgaben im ganzen Reich ver-teilt sitzen, sich quasi als eine das Imperium überziehende Furnitur demKernholz der Untertanenschaft anlegen und gleichzeitig doch in ihrenGarnisonen und Amtssitzen eine nicht zwar vielleicht gegen Korruptiongefeite, wohl aber mit persönlichem Engagement von ökonomischerTragweite und Privatgeschäften großen Stils unvereinbare Distanz zu ihrwahren, sich darauf beschränken, im Dienste des Kaisers die Untertanenvor äußeren Feinden zu schützen, sie polizeilich zu überwachen, büro-kratisch zu erfassen und ihnen auf requisitorischem und fiskalischem

Wege die für den Unterhalt ihrer selbst und den Bestand des kaiserli-chen Regiments beziehungsweise den Luxus und das Zeremoniell deskaiserlichen Hofes erforderlichen Mittel zu entziehen. So aber vor Ortder Provinzen stationiert und residierend und, was die mit Landlosen be-lohnten Veteranen betrifft, sogar fest Fuß fassend und dauerhaft ansässig

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werdend, können diese als alleinige Nutznießer des imperialen Ausbeu-

tungssystems übrig gebliebenen militärischen und ministerialen Gruppengar nicht anders als sich mit ihren provinziellen Aufenthaltsorten, ihrenRegionen, in einem gewissen Maße zu identifizieren, Empfänglichkeitfür deren Bedürfnisse, Interesse an ihrem Gedeihen zu entwickeln undalso die abstrakt zentralistische Raubperspektive und Extraktionshaltungdurch eine Art Parteinahme für den eigenen Lebensraum zu modifizieren,sie im Sinne einer das imperiale Ganze nurmehr als die Summe seinerTeile wahrnehmenden und deshalb das Bestehen des ersteren in dasWohlergehen der letzteren setzenden Regionalismus zu konkretisieren.

Und gleichzeitig und wichtiger noch sorgt die ständige Anwesenheit jener allein noch durch das imperiale Ausbeutungssystem begünstigten

Gruppen vor Ort der ausgebeuteten Provinzen, dass letztere, wenngleichsie zwar die Last der subsistenziellen Versorgung und finanziellen Aus-stattung der ersteren tragen müssen, doch aber sekundär von ihnen pro-fitieren können und nämlich, statt ihr fiskalisch konfisziertes Geld und bürokratisch requiriertes Gut zur Gänze und auf Nimmerwiedersehenin der fernen römischen Zwingburg verschwinden zu sehen, vielmehrVorteil aus dem von jenen stationären Gruppen über ihre Subsistenzhinaus geübten Konsum ziehen, der immerhin einen Großteil des kon-fiszierten Geldes in die regionale Zirkulation zurückfließen lässt und soauf die zuvor geschröpfte und geschwächte provinzielle Wirtschaft die

Wirkung einer Art von Blutzufuhr, eines nach dem Aderlass halbwegswieder belebenden Tropfes hat. Die Ökonomie der Provinzen dankt demkaiserlichen Regiment diese Hand in Hand mit ihrer Entlastung durchdie quantitative Verkleinerung der Schar der Ausbeuter und die qua-litative Verminderung der Intensität der Ausbeutung gehende modaleEntspannung der Ausbeutungssituation durch eine merkliche Erholung:Während die jahrhundertlang gebeutelten orientalischen und afrikani-schen Provinzen alte regionale Märkte und Austauschzusammenhängewiederentdecken und einen Anflug ihrer alten hellenistischen Blüte zu-rückgewinnen, erleben die Barbarenprovinzen des Westens und Nordensdank ihrer unverbrauchten Naturressourcen und ihres unentwickelten

menschlichen Potentials einen regelrechten ökonomischen Aufschwung.Wenn man will, scheint das Römische Reich im Begriff, zur Normalität

einer Territorialherrschaft alten Stils zurückzukehren, zu jenem Regel-fall einer stratifizierten Gesellschaft, bei dem eine relativ kleine Ober-schicht sich einer relativ breiten Schicht von Untertanen oktroyiert, zu

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dieser eine ebenso offensichtliche topisch-kulturelle Nähe wie ausge-

prägte ständisch-zeremonielle Distanz wahrt und sich zum Lohn fürmilitärische, bürokratische und kultische Leistungen, die sie für sie zuerbringen beansprucht, von ihr aushalten und mit den Früchten ihrerlandwirtschaftlichen und handwerklichen Tätigkeiten, dem Reichtumund Überfluss ihres als Fronarbeit organisierten gesellschaftlichen Repro-duktionsprozesses versorgen lässt. Was mit der Abdankung des PopulusRomanus und mit der Reorganisation des Imperiums als eines einzigen,großen Provinzialsystems ohne wirkliches städtisches Zentrum, ohneMetropole, endgültig überwunden und ad acta gelegt erscheint, ist derfür den Aufstieg und den Erfolg des Römischen Reiches konstitutive Falleiner patrizisch verfassten Marktgemeinschaft, einer dank kommerzi-eller Segnungen und kraft aristokratischer Führung städtische Freiheitgenießenden bäuerlich-handwerklichen Bürgerschaft, die sich insofernals Sonderfall, als völlige Atypie herausstellt, als sie ihre im Dunstkreisdes Marktes erworbenen kommerziellen Fähigkeiten, technischen Fer-tigkeiten und zivilen Tüchtigkeiten mehr und mehr in den Dienst einervon ihrer Nobilität getragenen territorialen Eroberungspolitik stellt, mehrund mehr der ökonomisch-produktiven Verwendung entzieht und zummilitärisch-appropriativen Einsatz bringt, mehr und mehr dazu nutzt,nicht mehr die für einen kontraktiven Austausch mit den territorialherr-schaftlichen Nachbarn nötigen ökonomischen Leistungen zu erbringen,

sondern nur mehr die für die extraktive Ausplünderung jener Territori-alstaaten erforderlichen militärischen Vorrichtungen zu schaffen. Indemsie die, gestützt auf ihre militärische Stärke, Austausch treibende undmit den Nachbarn Transaktionen tätigende Zivilgemeinschaft immermehr zu einer unter Einsatz ihrer militärischen Stärke Tribut nehmendeund sich auf die Ausplünderung der Nachbarn verlegende Kampfgenos-senschaft entwickelt, indem sie also in zunehmendem Maß ihr ganzesIngenium und ihre gesammelte Produktivkraft darein setzt, mit requi-sitorischer Gewalt zu erlangen, was sie sich sonst unter Einsatz ihresIngeniums und ihrer Produktivkraft durch kompensatorische Gegenleis-

tungen verschaffen müsste, treibt die römische Bürgerschaft im Laufeihrer mehrhundertjährigen Geschichte in der Tat einen als imperialesAusbeutungssystem funktionierenden militärisch-bürokratischen Ap-parat hervor, der sie zum Empfänger und Nutznießer der Segnungendes gesamten Mittelmeerraums und der an ihn angrenzenden Regionen

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werden lässt, dem allerdings auch sein Systemcharakter, das Eigenleben,

das er als militärisch-bürokratischer Apparat entfaltet, eine vom Selbs-terhaltungsstreben und Bemühen um systemeigene Stabilität gespeisteinstrumentelle Rationalität eingibt, die ihm die Nutznießerrolle der alskaiserliche Klientel firmierenden Bürgerschaft zunehmend beschwerlichwerden und als unnötige Belastung erscheinen lässt und ihn dazu dis-poniert, sich dieses seines zum bloßen Ballast und überflüssigen Esserdegradierten Erfinders und Initiators bei der ersten sich bietenden Gele-genheit zu entledigen. Indem nun der Apparat, der Not einer andernfallseklatanten Bedrohung seiner Funktionsfähigkeit gehorchend, sein Perso-nal immer weitgehender aus dem imperialen Gesamtfundus rekrutiert

und damit der italisch-römischen Bürgerschaft jene Eigenschaft einer Re-krutierungsbasis für die imperialen Heere und Verwaltungen verschlägt,die letztlich maßgebendes Kriterium für ihre andauernde Nutznießerrollewar, ist diese Gelegenheit da, und der einstige Souverän und Erfinderdes imperialen Ausbeutungssystems, der Populus Romanus, büßt sei-nen Begünstigtenstatus, seinen Rang als Resident der Metropole, einund findet sich zum Provinzialen unter Provinzialen degradiert, in dieMasse der durch das System unterschiedslos ausgebeuteten Untertanenzurückgegliedert.

Seines zur nutzlosen Belastung, zum Wasserkopf verkommenen In-

itiators, der römischen Bürgerschaft, ledig, kann der hiernach ineins alsunbestrittener Souverän und alleiniger Nutznießer des Imperiums übrig bleibende militärisch-bürokratische Apparat in der Tat auf den erstenBlick den Eindruck einer Rückkehr zum territorialherrschaftlichen Nor-malfall traditioneller Theokratien oder ständehierarchischer Ordnungenmachen. Gleichmäßig über das Reichsterritorium verteilt und die Unter-tanen als eine sie ebenso sehr militärisch überwachende und bürokratischorganisierende, wie von ihnen requisitorisch zehrende und von ihrerHände Arbeit sich mittels Besteuerung nährende Schicht überlagernd,mit ihnen in einer aus habitueller Nähe und funktioneller Distanz gewirk-

ten Symbiose verbunden, scheint das Personal jenes Herrschaftsappa-rats des späten Römischen Reiches bruchlos an die Eliten der nicht vomKommerz durchdrungenen und in die politischen oder republikanischenBürgerschaften der Handelsstädte umgekrempelten alten Gesellschaf-ten anzuknüpfen. Nichts falscher indes als dieser Eindruck! Bei aller

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formellen Ähnlichkeit, die der nunmehr im Imperium herrschende Ap-

parat mit früheren Führungsschichten haben mag – weder weist er derenethnische, soziale und kulturelle Homogenität, ihre gemeinsamer Ge-schichte, Sprache und Erziehung entspringende Gruppenidentität, auf,noch besitzt er eine ihrer gesellschaftlichen Begründung oder schichts-pezifischen Berufung, ihrem reaffirmativ-opferkultlichen Ritual oderrepräsentativ-wesenskultlichen Zeremoniell vergleichbare Motivationoder Legitimation. Als ein aus dem ganzen Reich, aus all seinen inter-nen Ethnien und externen Barbarenvölkern bunt zusammengewürfelterHaufe sind die römischen Söldnertruppen und die Reihen der zivilenBeamten, in denen sich alle equestrische Tradition verliert, bar jeden

gewachsenen Zusammenhalts und ohne jede, über den praktischen Ein-fluss, den das Herrschaftsinstrument der römischen Sprache und Kulturausübt, hinausreichende soziale Identität.

Und wie dem Populus Romanus, als dessen Erben und Restposten sieübrig bleiben, fehlt diesen vom imperialen Regiment organisierten Söld-nerheeren und Beamtenscharen, diesen Betreibern des unter kaiserlicherHerrschaft zum Ausbeutungsautomaten verselbständigten Apparats,auch jeder sakrale Grund oder jede ideologische Rechtfertigung für ihrausbeuterisches Tun. Das heißt, sie setzen das gleiche entschädigungslo-se, durch keine religiös-kultische oder sozialstrategische Gegenleistung

gewichtete Ausbeutungsverhältnis fort, halten das gleiche, anfangs internnoch durch Pietas geheiligte und aber extern, gegenüber den Opfern derAusbeutung, von Anfang an durch keinerlei sakrale Gegengabe, keinerleirituellen Gewinn, keinerlei religiösen Trost kompensierte Requisitions-und Konfiskationssystem aufrecht, das die römische Marktgemeinschaftunter Führung ihrer Nobilität aus dem Boden ihres ursprünglich nurmilitärisch flankierten Handelssystems stampft und das in seinem vonnichts als vom Kalkül der Macht bestimmten säkularen Charakter, seinerder Habgier zum Rang des höchsten religiösen Motivs verhelfendenProfanität alle bisherige Herrschaft in den Schatten stellt, besser gesagt,

in die Schranken eines von irrationaler Umständlichkeit und falschenRücksichten geprägten Zwangsrituals weist.Mit den repräsentativen Verpflichtungen und zeremoniellen Bindun-

gen, denen in den theokratischen und ständehierarchischen Gesellschaf-ten die fronwirtschaftlichen Reichtum aneignenden, verwaltenden und

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verbrauchenden Oberschichten zusätzlich zur Erfüllung ihrer militäri-

schen und bürokratischen Aufgaben genügen und gerecht werden müs-sen und in denen sie ihre kulturelle Bestimmung und ihre ständischeIdentität finden – mit solchen Verpflichtungen und Bindungen haben die jenen Gesellschaften quasi als Ausbeuter zweiter Potenz aufgepropftenund auf bloße Tributnahme, die gewaltsame Beschlagnahmung und An-eignung des Reichtums anderer Gemeinwesen, beschränkten, statt mitinnergesellschaftlicher Distribution, das heißt, mit der verbindlichen Ver-fügbarmachung und Sanktionierung solchen Reichtums als Herrenguts, befassten Söldnerheere und Beamtenscharen des römischen Imperiumsnichts im Sinn. Das einzige, was diese aus aller Herren Länder zusam-mengelesene und von allen konkreten Milieus abstrahierte, von allenethnischen, kulturellen oder sozialen Kontexten abgehobene Oberschichtäußerlich-funktionell eint, sind die militärisch-bürokratischen Aufgaben,die sie zum Zwecke der Sicherung ihrer durch keine gesellschaftlicheKonstitutionsleistung sanktionierten tributären Requisitionen und fiska-lischen Konfiskationen, sprich, im Interesse der ganz und gar profanen,ganz und gar vom Pragmatismus einer Aufrechterhaltung der imperia-len Herrschaft um der Herrschaft willen getragenen Hege und Pflegedes imperialen Ausbeutungssystems, erfüllen müssen, sind ihr solda-tischer Dienst, ihre logistischen Vorkehrungen, ihre infrastrukturellenMaßnahmen, ihre städte- und festungsbaulichen Aktivitäten, ihre demo-graphischen und fiskalischen Erhebungen. Und das einzige, was dieseOberschicht innerlich-intentional verbindet, ist die mit der Erfüllung jener pragmatischen Aufgaben verknüpfte Aussicht auf Beute, die Er-wartung, dass das durch jene Aktivitäten instand gehaltene imperialeAusbeutungssystem kraft der in seinem Rahmen routinemäßig durchge-führten requisitorischen Enteignungen und fiskalischen Eintreibungendem imperialen Regiment und seinem gesamten, über das Reich verteil-ten militärisch-bürokratischen Apparat die für ein von subsistenziellerNot beziehungsweise konsumtiver Beschränkung freies Leben erforderli-chen Mittel liefert.

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Die Ungleichverteilung der Lasten und Chancen im Riesenreich bringt es mit

sich, dass die auf die Funktionäre des Ausbeutungssystems reduzierte Ober-schicht in einen Zustand permanenter innerer Wirren und Kämpfe verfällt.Dabei bildet wie zu Zeiten des Populus die Auswechslung des jeweiligen Im-

 perators das Patentrezept im Machtkampf. Da aber mit der Abdankung desPopulus auch die tribunizische Funktion entfallen ist, kann sich jeder ambitiöseOffizier die cäsarische Maske aufsetzen. Die Verheerungen der unablässigenRevierkämpfe treiben das Reich an den Rand des ökonomischen und sozialen Zu-sammenbruchs, so dass sich, auch nachdem dank Kampfesmüdigkeit, kaiserlicherSeilschaften und neuer Religion eine gewisse Beruhigung der Lage eingetre-ten ist, der imperiale Betrieb nur mehr durch die Einführung frondienstlicherZwangsmechanismen aufrechterhalten lässt.

Genau in dieser, als notdürftig inneres Band und restbeständig intentio-naler Konsens firmierenden Erwartungshaltung aber liegt nun auch derKeim des Zerwürfnisses und Verderbens. Sie nämlich kann angesichts dertopischen Zusammensetzung und dynamischen Struktur des Imperiumsgar nicht anders als enttäuscht werden. Als ein von äußeren Feindenumringtes und von raubgierigen beziehungsweise landhungrigen Bar- barenvölkern bedrängtes territoriales Riesengebilde, das sich an seinenGrenzen und in seinen Randregionen in immer neue Abwehrkämpfeverwickelt und zu immer neuen Integrationsanstrengungen oder Zu-

geständnissen gezwungen sieht, bietet das Reich der es verteidigendenund verwaltenden Oberschicht abhängig von der geographischen La-ge, militärischen Situation und strategischen Bedeutung der jeweiligenRegionen stark unterschiedliche Arbeits-, Lebens- und Unterhaltsbe-dingungen. Während in den einen Provinzen friedliche und geordneteVerhältnisse herrschen, herrscht in anderen Aufruhr und Krieg. Wäh-rend aufgrund der politisch-militärischen Situation oder auch klimatisch-natürlicher Bedingungen die einen Provinzen ökonomisch benachteiligtsind oder Mangel leiden, schwelgen andere im Überfluss. Während dieeinen Provinzen ihrer militärisch-bürokratischen Oberschicht die Ge-

legenheit bieten, sich an der Front auszuzeichnen und Kriegsbeute zumachen beziehungsweise unverbrauchte Reichtumsquellen zu erschlie-ßen, verurteilen andere ihren Verwaltungsapparat zu karrierefeindlicherRoutine und wirtschaftlicher Stagnation. Während die einen Provinzensich wegen irgendwelcher ethnischer, regionalistischer oder strategischer

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Voreingenommenheiten des Kaisers und seines Hofes stiefmütterlich

 behandelt und vernachlässigt finden, sehen sich andere ins Zentrum derAufmerksamkeit und Zuwendung des kaiserlichen Regiments gerückt.Aus objektiven Gründen oder aus subjektiver Sicht, weil die staatlicheBeute in dem von ihnen beherrschten Gebiet spärlicher ausfällt als inanderen Landesteilen, weil im Vergleich zur Schwere oder Bedeutungihrer militärisch-bürokratischen Aufgaben oder Leistungen der Lohn zugering ausfällt, weil das imperiale Geschehen an ihnen vorbeiläuft undsie sich zum schieren Provinzdasein verurteilt sehen, weil sie sich in derkaiserliche Gunst und vom kaiserlichen Regiment benachteiligt finden –so oder so sehen sich die einen oder anderen regionalen Gruppen oderstrategischen Verbände der über das Imperium herrschenden Militärsund Ministerialen in ihrer Erwartungshaltung getäuscht und mit einerwirklichen oder vermeintlichen Ungleichverteilung der Beute und Le- benschancen konfrontiert, für die sie natürlich den Herrn und Meisterdes ganzen Systems, den göttlichen Cäsar, ihren imperatorischen Führerverantwortlich machen und deren Korrektur und Behebung sie von ihmmehr oder minder dringlich verlangen. Kommt er ihrer Forderung nach,sind sie zufrieden, und es herrscht Ruhe, bis in der Konsequenz seinerKonzilianz oder unabhängig davon eine andere Gruppe oder ein weitererVerband sich benachteiligt findet und auf eine Revision der Beute- undChancenverteilung dringt. Was aber, wenn er aus objektiven Rücksichten

oder aus subjektiver Borniertheit ihrem Verlangen nicht nachkommenkann oder will?

Hier zeigt sich nun, dass bei aller ökonomischen Erleichterung undEntlastung, die die Abdankung des Populus und die Beschränkung desStatus der durch den imperialen Ausbeutungsapparat Begünstigten auf die militärischen Erhalter und bürokratischen Betreiber des Apparatsselbst mit sich bringt, das imperiale Regiment doch aber die politischeBürde und Hypothek der dem tribunizisch-konsularischen Imperatorübergestülpten Maske des Gottkaisertums dadurch mitnichten los ge-worden ist. Jene cäsarisch-göttliche Natur, die das römische Volk seinem

tribunizisch-konsularischen Führer attestiert und kultisch an ihm verehrt,um ihn der qua Prinzipat beschworenen Einbindung ins Patriziat zuentreißen und als ebenso selbstherrlichen wie quasi natürlich, eben durchsein göttliches Cäsarentum, den Interessen seiner popularen Klientelverpflichteten Autokraten zu etablieren – sie wird auch von der um den

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Wasserkopf des Populus Romanus gekürzten militärisch-bürokratischen

Funktionärsschicht, die als alleinige Nutznießerin des imperialen Aus- beutungssystems übrig bleibt, bereitwillig akzeptiert und, obwohl dasPatriziat längst das Zeitliche gesegnet hat und der Imperator mit autokra-tischer Befehlsgewalt, mit absolutem imperium, regiert, als nach wie vorzwingendes kultisches Erfordernis hochgehalten. Der Grund für diesesFesthalten am Kult des göttlichen Cäsar ist dabei das haargenau gleicheund unverändert zweideutige Motiv, das schon dem Populus jenen Kultlieb und teuer machte: So effektiv sich die Maske der cäsarisch-göttlichenNatur dem Imperator überstülpen und zu einem unwiderstehlichen Pal-ladium oder Apotropäon im Kampf gegen die patrizischen Gegner desAlleinherrschers machen lässt, so umstandslos lässt sie sich dem Impera-tor aber auch herunterreißen und einem anderen, die empirische Person,die sie trug, spurlos ersetzenden oder vernichtend anonymisierendenIndividuum zuwenden. Weil, wie oben ausgeführt, zwischen der cäsa-rischen Maske und ihrem empirischen Träger kein spezifisches Band biologischer oder sozialer Zusammengehörigkeit, genealogischer oderpersönlicher Kontinuität existiert, bleibt der empirische Träger der cäsari-schen Maske ein abstraktes Substrat, ein das Kultbild tragendes Podest,dessen Austausch und Ersetzung sich in einem bloßen Standortwechseldes im übrigen immer gleichen Kultbilds erschöpft.

 Jene Maske des Gottkaisertums gibt also dem Populus nicht nur das

Zuckerbrot an die Hand, mit dem er sich das Wohlwollen des Imperatorserkaufen, sondern auch die Peitsche, mit der er dessen Wohlverhaltenerzwingen kann, sie dient mit anderen Worten dem Populus nicht nurals Kampfinstrument, um ihn bei seinem Ringen um die Alleinherrschaftzu unterstützen, sondern auch als Pressionsmittel, um ihn als Allein-herrscher in Schach oder besser gesagt bei der Stange seiner als Heer-und Volksführer eingegangenen Verpflichtungen zu halten. Und mag dieerstere, positive Rolle der cäsarischen Maske sich, weil dem Imperatorniemand mehr die Alleinherrschaft bestreitet und er keiner parteilich-fraktionellen Unterstützung durch eine Volksbewegung, keiner besonde-

ren Klientel, mehr bedarf, mittlerweile erledigt haben, in ihrer letzteren,negativen Funktion als Kontroll- und Disziplinierungsinstrument, alsdem Herrscher ebenso leicht zu entziehendes wie zu verleihendes Unter-pfand seiner Macht, bleibt sie, auch nachdem der Populus abgedankt istund die militärisch-bürokratischen Betreiber des Ausbeutungsapparats

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als dessen alleinige Nutznießer übrig geblieben sind, unverändert erhal-

ten und in Kraft. Angesichts der unvermeidlichen, weil gleichermaßenin der Struktur und Dynamik des imperialen Riesengebildes angelegtenUngleichverteilung der Beuteaussichten und Karrierechancen rekurrierendie wirklich oder vermeintlich benachteiligten Gruppen der Söldner undMinisterialen, wenn sie sich selber hinlänglich stark beziehungsweisedie Umstände günstig und ihre territoriale Basis tragfähig genug glau- ben, geradeso wie einst der Populus und das Volksheer angesichts ihrerwirklichen oder vermeintlichen Vernachlässigung durch den kaiserli-chen Patron auf das bewährte Mittel, diese ihre Benachteiligung oderVernachlässigung als schlagenden Beweis für einen Verrat des impera-torischen Amtsinhabers an seinem Amt, als unmissverständlichen Belegdafür zu nehmen, dass der Maskenträger an der Spitze des imperialenAusbeutungssystems seiner göttlich-cäsarischen Maske, sprich, seinemVertrag mit denen, die das System direkt oder indirekt tragen und deshalbAnspruch auf die Nutznießerschaft am System erheben, nicht gerechtwird und folglich sein Recht auf die Herrschaft verwirkt hat. Wie zuvorder römische Populus und sein militärisches Instrument, das Volksheer,sind auch die unter Verzicht auf die römisch-populare Basis aus derUntertanenmasse des gesamten Imperiums rekrutierten und dieser alsebenso egale wie abstrakte militärisch-bürokratische Oberschicht oktroy-ierten Söldnertruppen und Beamtenschaften allzeit bereit, im gegebenen

Fall ihren kaiserlichen Herrn für einen unechten Cäsar, einen bloßenMaskenträger zu erklären und ihn entweder, falls sie sich stark genugfühlen, die Maske herunterzureißen, um sie einem anderen aufzusetzen,dem sie angeblich besser zu Gesicht steht, oder aber eine Gegenmaske insTreffen zu führen, einen konkurrierenden Cäsar auf den Schild zu heben,dem dann die Aufgabe zufällt, seinen Nebenbuhler zu überwinden undsich als Alleinherrscher durchzusetzen.

Die Hoffnung auf eine Stabilisierung der imperialen Herrschaft undgrößere Bewegungsfreiheit für das kaiserliche Regiment, die der Im-perator ursprünglich mit der Entmächtigung seiner römisch-popularen

Klientel und der Befreiung des Heeres und Verwaltungsapparats vonderen Einfluss verbindet, erfüllt sich demnach nicht. Die bindungslos-freischwebenden Militärs und Ministerialen, auf die der Kaiser nun seineHerrschaft gründet, sind nicht weniger eigensüchtig und im Falle ei-ner vermeintlichen oder wirklichen Benachteiligung nicht weniger zur

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Meuterei geneigt als zuvor der Populus beziehungsweise das aus ihm

rekrutierte Volksheer alter Prägung. Und warum sollten sie auch? Schließ-lich ist es das unverändert gleiche, qua Imperium dem Mittelmeerraumoktroyierte und ihn mit jeder Kompensationsleistung barer militärischerGewalt und bürokratischer Systematik zur Ader lassende Ausbeutungs-system, das sie aufrecht zu erhalten dienen und im Blick auf dessenFrüchte sie dafür die Nutznießerrolle beanspruchen. Und schließlichsind, so gesehen, sie nicht anders als zuvor der Populus und das ausihm rekrutierte Volksheer der heimliche Souverän des Systems, der, wieer sich voll und ganz in den Dienst seines Repräsentanten und Füh-rers, des Hüters und Organisators des imperialen Ausbeutungssystems,stellt, diesem unbeschränkte Vollmacht, die absolute Herrschaft überträgtund sich bedingungslos und mit kultischer Hingabe seinem Willen, demWillen des cäsarischen Imperators, unterwirft, so aber auch darauf insis-tiert, dass kraft seiner cäsarischen Konstitution der Wille des Imperatorsnichts anderes sei, als der vom heimlichen Souverän, der Gefolgschaftdes kaiserlichen Herrn, aufgeopferte Wille in manifester Gestalt oderepiphanischer Reproduktion, dass mit anderen Worten die dem kaiser-lichen Herrn übertragene Vollmacht nichts weiter darstelle als die in dieebenso kompakte wie opake und ebenso effektive wie irrationale Formindividueller Entscheidungsbefugnis und persönlicher Selbstherrlichkeitgebannte Volksmacht.

An dieser durch das imperiale Ausbeutungssystem und die Modalitä-ten seiner Nutzung gegebenen Grundkonstellation, die aus dem Impera-tor eine amphibolische Kombination aus sakralem Zweck und profanemMittel, eine vergöttlichte Kreatur, einen relativen Funktionsträger in Ge-stalt eines absoluten Kultobjekts, kurz, einen Fetisch, macht und dieihn für den Fall, dass er den an ihn als Funktionsträger sich richtendenAnsprüchen nicht gerecht wird, die ihm als profanem Mittel gestelltenAufgaben nicht erfüllt, der üblichen Gefahr aussetzt, die jedem Fetischdroht, nämlich dem Schicksal, von seiner enttäuschten Kultgemeinde als bloße Kreatur, bloßes maskenhaftes Machwerk entlarvt und durch einen

neuen Fetisch ersetzt zu werden – an dieser Grundkonstellation ändertsich dadurch, dass die Riege der durch das imperiale Ausbeutungssys-tem Begünstigten um den Wasserkopf des römischen Populus gekürztwird und sich auf die wirklichen Funktionsträger des Systems, die ander Pflege und Hege des Systems aktiv Beteiligten reduziert, nicht das

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geringste. Das einzige, was sich ändert, ist dies, dass die Abdankung des

Populus und die Beschränkung der als kaiserliche Klientel firmierendenNutznießer des Systems auf eine Art Fremdenlegion oder internationaleBrigade, ein buntes Völkergemisch aus Militärs und Ministerialen, dieAnfechtbarkeit und Austauschbarkeit des kaiserlichen Maskenträgerserheblich vergrößert. Solange der Populus und die von ihm okkupier-te Metropole noch eine politische Rolle spielen und eine strategischeBedeutung behalten, wahrt der Kaiser in wie auch immer routinierterund abgestumpfter Form seine anfängliche Doppelfunktion als Feld-herr und Volksführer, sein ihn als den Imperator ursprünglich an dieMacht bringendes tribunizisch-konsularisches Format. Das heißt, seinAmt weist eine Qualifikation, eine Stellenbeschreibung auf, die sich für jeden Versuch, den Amtsinhaber zu stürzen und zu ersetzen, als Hürdeoder zumindest als Komplikation erweist. So gewiss nämlich der Ersatz-mann für einen Imperator, der sich als seiner cäsarischen Maske odergöttlichen Natur unwürdig erweist, in erster Linie ebenfalls Heerführer,ein mit Imperium ausgestatteter Militär, ein das besoldete Volksheer zuführen fähiger Konsul, sein muss, so gewiss muss er aber auch zweitensimstande sein, die soziale Basis des Volksheeres, die metropolitane Plebs,seine populare Gefolgschaft zu lenken, kurz, den Volksführer zu mimen,den Tribun zu geben.

Auch wenn diese tribunizische Zusatzbestimmung, diese die Impe-

ratorenrolle volksführerschaftlich einschränkende Bedingung natürlichnicht verhindert, dass sich im Zweifelsfall immer ein Kandidat für dasvakante beziehungsweise zur Vakanz ausgeschriebene Imperatorenamtfindet – sie schließt aber immerhin aus, dass sich jeder Haudegen imImperium, jeder strebsame Offizier für das Amt berufen wähnen kann.Mit der Abdankung der römisch-popularen Klientel des Kaisers und derBeschränkung seiner Gefolgschaft auf die militärischen und bürokrati-schen Funktionäre des imperialen Ausbeutungssystems verschwindetindes die tribunizisch-volksführerschaftliche Komponente des impera-torischen Amtes. Der Imperator ist hiernach nichts mehr als Heerführer,

die römischen Legionen befehligender konsularischer Offizier, mit ab-solutem Imperium ausgestatteter Militär. Das heißt, von den übrigenOffizieren des römischen Massenheeres unterscheidet ihn nichts mehrals eben nur das imperatorische Amt, das er bekleidet, beziehungsweisedie mit dem Amt verknüpfte und es qua Sanktionierung legitimierende,

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extraktiv-unternehmerisch oder profitorientiert-ausbeuterisch, so jeden-

falls doch nach Intendantenart präskriptiv-organisatorisch oder restriktiv-dirigistisch eigenen Hände zu nehmen. Weit entfernt davon, sich auf reineAbschöpfungsökonomie, das heißt, auf die einfache, distanzierte Funkti-on fiskalischer Eintreibungen und requisitorischer Beschlagnahmungen beschränken zu können, sieht sich die Oberschicht angesichts des imperi-umsweiten Zusammenbruchs des Wirtschaftslebens und Leerlaufens deres routinemäßig schröpfenden Ausbeutungsapparatur in zunehmendemMaße gezwungen, militärisch-bürokratisch Hand anzulegen und selberdie für eine wenigstens notdürftige Aufrechterhaltung der traditionellenReichtumsproduktion nötigen Maßnahmen zu treffen und in die Tatumzusetzen.

So wird von Staats wegen das Kolonat, der Schollenzwang eingeführt,der die ackerbautreibenden Untertanen nicht nur in die Kontinuität ihrergesellschaftlichen Tätigkeit zwingt, sondern mehr noch auf den Fleck derAckerfläche bannt, auf der sie ihre Tätigkeit ausüben, und durch den derLandflucht und chaotischen Migrationsneigung, die Folge der militäri-scher Zerstörung und ökonomischem Elend entspringenden allgemei-nen Entwurzelung und Auflösung ist, ein Riegel vorgeschoben werdensoll. Desgleichen wird über die Handwerker und Gewerbetreibendenein Berufs- und Organisationszwang verhängt, um sie unter staatlicherKontrolle zu halten und daran zu hindern, ihre ihnen durch ständigeRequisitionen verleidete Profession an den Nagel zu hängen, und umauf diese Weise die Produktion handwerklicher Güter wenigstens in derrudimentären Form, in der sie noch existiert, zu gewährleisten. Darüberhinaus finden sich die Untertanen Zwangsverpflichtungen, Fronleis-tungen, unterworfen, um den Bedarf an öffentlichen Arbeiten, an derErrichtung staatlicher Bauten, militärischer Festungen, infrastrukturellerAnlagen zu decken. Und schließlich bildet das späte imperiale Regime einSystem von Staatsagenten, Dekurionen, aus, die als eine Art von Minia-turvögten vor Ort der jeweiligen Untertanengemeinde persönlich dafürhaften, dass diese ihre Steuerabgaben entrichtet und ihre Fronpflichten

erfüllt.

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Die frondienstliche Vereinnahmung der Untertanenschaft ist ebenso wenig ei-

ne Rückkehr zu traditionellen territorialherrschaftlichen Verhältnissen wie diespätrömische Funktionärsschicht eine Anknüpfung an alte theoretische oderständehierarchische Oberschichten. Die Schollenbindung und der Innungs-zwang sind vielmehr schiere Notveranstaltungen zur Aufrechterhaltung eines

 Minimums an ausbeutbarem Wirtschaftsleben. Die innere, existenzielle Ab-wendung der Untertanenschaft von ihren gewohnten weltlichen Geschäftenhat ihren Grund nicht nur in der Doppelbelastung, der sie von Seiten ihrereigenen und der römischen Herrschaft ausgesetzt sind, und auch nicht nurin der Widersprüchlichkeit einer Herrschaft, die die Saaten derer zertrampelt,von denen sie dann das Korn eintreiben will. Die abgründige Verzweiflung der

Untertanenschaft an der Welt und ihrem Treiben hat ihren Grund auch und vorallem in der Nachdrücklichkeit, mit der die im Kaiserkult bestehende ideologische Absicherung der römischen Herrschaft die den Völkerschaften der Provinzeneigenen religiösen Rechtfertigungssysteme und Sinnstiftungen untergräbt undzerstört.

Wie schon die Reduktion der Nutznießer des imperialen Ausbeutungs-systems auf eine das Imperium flächendeckend überziehende und kon-trollierende militärisch-bürokratische Funktionärsschicht, so könnte auchdie frondienstliche Vereinnahmung der Bevölkerung des Imperiums,

die diese zu einer auf den Fleck ihres demographischen Orts gebannten beziehungsweise an die Kette ihrer ökonomischen Aktivität gelegtenUntertanenschaft homogenisiert und nivelliert, auf den ersten Blick denEindruck einer simplen Rückkehr zu den traditionellen Machtübungs-formen und Herrschaftsverhältnissen theokratischer oder ständehier-archischer Provenienz machen. Tatsächlich aber wäre der Eindruck inAnsehung der fronenden Untertanen nicht weniger falsch und irrefüh-rend als hinsichtlich der herrschenden Nutznießerschicht aus Militärsund Bürokraten. Weit entfernt davon, dass diese imperialen Militärsund Bürokraten die Tradition der theokratisch verfassten oder stände-

hierarchisch geordneten alten territorialherrschaftlichen Oberschichtenwiederaufnähmen und deren religiös sanktioniertes, durch opferkultlicheBeschwörungen der Objektivität dieser Welt, rituelle Gewährleistun-gen ihrer Wirklichkeit und ihres Wertes erfülltes Vertragsverhältnis mitder Gesellschaft fortsetzten, stehen sie vielmehr voll und ganz in der

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Kontinuität der profanen, kompensationslosen, das heißt, aller religi-

ösen Gegen- und sozialen Garantieleistungen baren Ausbeutungspraxisder aus einer kontraktiv-kommerziellen Erzeugergemeinschaft in einenexpansiv-imperialen Kampfverband umgerüsteten und jetzt ebenso mi-litärdespotisch organisierten wie ursprünglich familiär-aristokratischverfassten, städtischen Marktgesellschaft.

Wenn diese in eine militärisch-bürokratische Funktionärsschicht unterFührung eines nur durch seine göttlich-cäsarische Maske vom Kondottie-re unterscheidbaren Imperators mutierte Marktgesellschaft Ähnlichkeitmit alten territorialherrschaftlichen Oberschichten theokratischer oderständehierarchischer Provenienz aufweist, dann deshalb, weil sie amEnde dieser von ihr gewahrten Kontinuität einer maßgeblich säkula-ren, wesentlich profanen, will heißen, in ihrer militärisch-bürokratischenRationalität aller opferkultlich-rituellen Begründung, wenn auch nicht jeglicher ahnenkultlich-initialen Motivation, entbehrenden Ausbeutungsteht und ihr, beziehungsweise der Funktionärsschicht, in die sie mutiertist, vor dem Scherbenhaufen, in den ihre rücksichtlose Ausbeutungspra-xis die von ihr betroffenen Territorialstaaten und vorstaatlichen Gebieterund um das Mittelmeer verwandelt hat, gar nichts anderes übrig bleibt,als um einer wenigstens rudimentären Aufrechterhaltung des imperia-len Ausbeutungssystems willen Formen einer symbiotischen Lebens-gemeinschaft mit den Ausgebeuteten oder parasitären Nähe zu ihnen,

Mechanismen einer auf die direkte fiskalische und requisitorische Inan-spruchnahme der jeweiligen lokalen Bevölkerung abgestellten stationärenmilitärischen Präsenz und vor Ort etablierten bürokratischen Kontrolleauszubilden, die in der Tat an die Lebensweise der Oberschichten deralten, theokratisch oder ständehierarchisch stratifizierten Gesellschaftenerinnern. Die Ähnlichkeit bleibt indes eine bloß äußere Parallele, eineder substantiellen Übereinstimmung gänzlich entbehrende funktionelleAnalogie, die durch die Tatsache, dass sie Resultat der imperiumswei-ten realen Zerstörung eben dessen ist, wozu die phänomenale Affinität bestehen soll, unschwer als von der Überlebensnot diktierte, zerr- und

vexierbildliche Mimikry erkennbar ist. Dass und wie sehr die militärisch- bürokratische Oberschicht spätrömischen Zuschnitts bloßes Zerr- undVexierbild der Oberschichten alter Prägung ist, beweist nicht zuletztihre schier unbezwingliche Rastlosigkeit und Instabilität, ihre von derständigen Angst vor Benachteiligung und Vernachlässigung geplagte,

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vom permanenten Verdacht der Ungleichverteilung der Beute und Kar-

rierechancen heimgesuchte Geistesverfassung, die sie in den fraktionellenKrampf einer als Soldatenkaisertum firmierenden Rottenbildung hinein-treibt und in jene aufreibenden, zerstörerischen Revierkämpfe verwickelt,an deren Ende der ebenso endgültige wie vollständige Zusammenbruchder alten Wirtschaftsordnungen und ihrer letzten, provinziellen Markt-strukturen und die als Notveranstaltung, nämlich als Mittel zur Aufrecht-erhaltung eines wenigstens rudimentären Wirtschaftslebens, unschwererkennbare Rückkehr zu fronwirtschaftlichen Verhältnissen stehen.

Ebenso wenig wie die militärisch-bürokratische Oberschicht der Spät-phase des Kaiserreichs in irgendeinem substanziellen, die funktionelle

Analogie inhaltlich fundierenden Sinne an die Oberschichten der altenterritorialherrschaftlichen Theokratien und ständehierarchischen Ge-sellschaften anknüpft, steht demnach auch die mit militärischer Gewaltund bürokratischem Zwang frondienstlich organisierte Untertanenschaftdieser Spätphase in der mindesten, über eine vexierbildliche Parallelehinausgehenden Kontinuität mit den fronwirtschaftlich Reichtum pro-duzierenden Untertanen der alten Territorialherrschaften. Sie ist im Ge-genteil das ebenso diskrete wie heterogene Resultat einer Entwicklung,die in den beiden Etappen der systematischen Ausbeutung des Imperi-ums durch die prätorianisch-equestrische Gefolgschaft des Kaisers und

des chaotischen Streits der auf eine militärisch-bürokratische kaiserlicheFunktionärsschicht reduzierten Ausbeuter um die schwindende Beute zurZerstörung und zum Zusammenbruch all jener wirtschaftlichen Struktu-ren und gesellschaftlichen Ordnungen führt, an die sie bei oberflächlicherBetrachtung anzuknüpfen beziehungsweise auf die sie zu rekurrierenscheint. Dabei ist der Zusammenbruch, dem die mittels Schollenbindungund Frondienst zwangsverpflichtete Untertanenschaft des ausgehen-den Römischen Reichs als ein von aller reproduktiven Wiederaufnahmeweit entferntes regressives Vexierbild der alten territorialherrschaftlichenKnechtschaft entspringt, vollständig und endgültig in dem Sinne, dass

auch die militärisch-politische Beruhigung der Situation und Stabilisie-rung der kaiserlichen Macht, die im 4. Jahrhundert dank der allgemeinenKriegsmüdigkeit, der Bildung kaiserlicher Seilschaften und dem Sie-geszug einer neuen Religion eintritt, und die damit gegebene Chancezur ökonomisch-sozialen Erholung oder Restauration nichts mehr retten

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können und keine Umkehr zu früheren Zuständen oder Fortsetzung alter

Traditionen mehr zu bewirken vermögen.Tatsächlich ist der Umstand, dass die als Notveranstaltung zur Auf-rechterhaltung eines Minimums an ausbeutbarem Wirtschaftsleben wohl-verstandene und mit Mitteln militärischer und Gewalt und bürokrati-schen Zwangs durchgesetzte frondienstliche Rekrutierung und Arretie-rung der Untertanen in eine Zeit fällt, in der, militärisch-politisch oder for-mell gesehen, Gelegenheit für eine Wiederherstellung der zerstörten Wirt-schaftsformen und zersprengten Marktzusammenhänge wäre, weil sounangefochtene Herrscher wie ein Diokletian oder Konstantin für längerePhasen relativer Ruhe und Ordnung im Imperium sorgen, schlagenderBeweis dafür, dass der alle Provinzen umfassende Zusammenbruch derüberkommenen autochthonen ökonomischen Strukturen und regionalenkommerziellen Zusammenhänge, der in der Konsequenz der von denRotten des Soldatenkaisertums ausgetragenen zerstörerischen Revier-kämpfe stattfindet, sich nicht in einer äußeren Demontage oder objektivenFunktionsstörung des imperialen Systems erschöpft, sondern vielmehrAusdruck einer inneren Demotivierung und radikalen Entfunktionalisie-rung der als Untertanen ebenso sehr am Systemzerfall beteiligten wie vonihm betroffenen Subjekte selbst ist. Wie der faktische Zusammenbruchder das imperiale Ausbeutungssystem bis dahin tragenden traditionel-len, territorialherrschaftlichen Strukturen der unter römische Herrschaft

gebrachten und ihren Bedürfnissen zwar angepassten, aber doch struk-turell unangetastet gelassenen provinziellen Ökonomien und Märkte denäußeren Anlass für die als Notstandsverordnung unschwer erkennbarefronwirtschaftliche Umrüstung des Imperiums bildet, so stellt den inne-ren Grund für diese Umrüstung die Tatsache dar, dass die Untertanenals an der traditionellen herrschaftlichen Reichtumsproduktion im Rah-men ihrer politisch-institutionellen Loyalitäten und ethnisch-kulturellenBindungen mehr oder minder freiwillig mitwirkende Akteure, als in derErzeugung jener Güterfülle, die den römisch-imperialen Ausbeutern zu-gleich mit den eigenen Oberschichten ein erwartungs- beziehungsweise

standesgemäßes Auskommen sichert, ihre mehr oder minder affirmativeBestimmung findende Werktätige, aufgehört haben zu existieren.Nachdem sie jahrhundertlang die doppelte Belastung, zwei Strata von

Herren, die theokratisch oder ständehierarchisch eigene Herrschaft unddie imperialen Besatzer, aushalten und bedienen zu müssen, geduldig

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ertragen haben, haben sie nun, salopp gesagt, die Faxen dicke, haben

allen Glauben an einen Sinn und Nutzen ihres Tuns, alle Hoffnung auf eine Rückkehr zu normalen, nicht schon ins imperiale Quadrat geho- benen, sondern auf der Ebene der ursprünglichen, theokratischen oderständehierarchischen Gesellschaftsverträge verhaltenen Ausbeutungs-verhältnissen verloren und empfinden ihre ökonomischen Aktivitätenund sozialen Leistungen als eine Bürde, die sie nurmehr das Interessehaben, in toto abzuschütteln, betrachten ihre Arbeits- und Lebenswelt alseinen Kerker, dem zu entfliehen, zu ihrem zunehmend obsessiven, immerausschließlicheren Bedürfnis wird. Sie sehen sich mit den Bedingungenihres natürlichen Daseins und ihrer gesellschaftlichen Praxis zerfallen,finden in dem, was sie wirken und vollbringen, weder Halt noch Perspek-tive und werden von einem Gefühl der Vergeblichkeit und Sinnlosigkeitergriffen, das in tiefe Verzweiflung an ihrer irdischen Existenz in ihrerganzen gegenwärtigen Beschaffenheit einmündet und sie zur Weltflucht,zur Bereitschaft, sich allen realen Bindungen und sozialen Verpflichtun-gen zu entziehen, disponiert. Sie verfallen in eine Art von Stupor, ineine Haltung der Teilnahmslosigkeit und Indifferenz gegenüber allen sieokkupierenden weltlichen Geschäften und der Verantwortungslosigkeitund Indolenz gegenüber sämtlichen sie reklamierenden kollektiven An-sprüchen, die in der Tat dem imperialen Regiment, wenn es sich ihreArbeitskraft erhalten und ihre sozialen Mitwirkung sichern will, gar keine

anderen Wahl lässt, als sie mit militärischer Gewalt und bürokratischemZwang der relativen individuellen Bewegungsfreiheit und habituellenSelbstbestimmung, über die sie im Rahmen der Anforderungen des im-perialen Ausbeutungssystems immerhin noch verfügen, zu beraubenund in vollständige frondienstliche Unterwerfung und Abhängigkeit zuversetzen.

Dabei ist der Hauptgrund für ihr radikales Degagement, ihren innerenAusstieg aus dem Weltgeschäft gar nicht so sehr die rein quantitative Lastdes ihnen abgeforderten Beitrags zur Reichtumsproduktion, der größen-mäßige Umfang der Steuern und Abgaben, die das zu ihrer eigenen Herr-

schaft hinzutretende oder sie vielmehr überlagernde imperiale Regimentihnen aufbürdet. Harte Belastungen, die sie an den Rand ihrer ökonomi-schen Leistungsfähigkeit bringen und ihnen kaum mehr als das nackteÜberleben konzedieren, sind die Untertanen auch aus ihren angestamm-ten theokratischen oder ständehierarchischen Gemeinschaften gewöhnt,

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in denen die Prunksucht, die Habgier oder der Größenwahn Herrscher

immer wieder zu schlimmsten Ausbeutungs- und Enteignungsexzessenantreibt. Außerdem ist, wie gesehen, nach der Abdankung des römischenPopulus, der Entfernung des metropolitanen Wasserkopfes, und der Ein-schränkung der imperialen Nutznießerrolle auf eine für den Betrieb desimperialen Ausbeutungssystems unabdingbare Oberschicht aus Soldatenund Beamten, Militärs und Ministerialen, die ökonomische Belastung derUntertanen eher rückläufig und dazu angetan, den Provinzen die Gele-genheit zur wirtschaftlichen Regeneration und sozialen Reorganisationzu bieten.

Was vielmehr die Untertanen endgültig zur Verzweiflung treibt undfür sie zum Auslöser und Anlass wird, sich aller freiwilligen Mitwir-

kung an einem durch das imperialen Ausbeutungssystem bestimmtenLeben mehr und mehr zu enthalten und in der Tat alles Interesse an denDingen und Zusammenhängen dieser Welt zunehmend zu verlieren, istdie modale Form, die in diesem nurmehr von Soldaten und Beamtenkontrollierten und organisierten späten römischen Reich die herrschaft-liche Belastung annimmt, sind mit anderen Worten die mörderischeninternen Konflikte, in die sich Soldateska und Bürokratie bei der Wahr-nehmung ihrer Herrschaftsfunktion verstricken. Durch die dynamischenVerwerfungen und spannungsreichen Ungleichgewichte im Aufbau desReiches in den paranoiden Wahn permanenter regionaler Benachteili-

gung und personaler Vernachlässigung getrieben, sieht sich diese dankder Verabschiedung des römischen Populus jeder Bodenhaftung, jederethnischen Anbindung an eine disponierende Herkunftsgruppe und jeder topischen Ausrichtung auf ein organisierendes Reichszentrum ver-lustig gegangene Oberschicht aus Funktionären dazu gebracht, sich zuständig wechselnden regional, funktional oder strategisch besondertenGruppen zusammenzurotten und einander ihre als Repräsentanten ih-res Anspruchs auf Beute und Macht jeweils zum neuesten Imperatorgekürten hauseigenen Militärs, ihre mit der cäsarisch-göttlichen Maskegekrönten Rottenführer um die Ohren zu schlagen, sprich, unablässigezerstörerische Revierkämpfe auszutragen, die das Reich ebenso sehr

ökonomisch in Mitleidenschaft ziehen, wie politisch ins Chaos stürzen.Wie dieses wahnsinnige, vom unheilbaren Widerspruch zwischen ge-

meinsamem Ausbeutungsinteresse und partikularem Machtstreben ge-zeichnete Treiben der militärisch-bürokratischen Oberschicht alle Aus-sichten auf eine ökonomische Erholung im Keim erstickt, so raubt es

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auch den Untertanen jede Hoffnung auf eine unter solch widersprüchli-

chen Herrschaftsbedingungen mögliche sozial gedeihliche oder jedenfallserträgliche Existenz. Dass die imperiale Herrschaft eben die territori-alherrschaftlich vorgefundenen wirtschaftlichen Strukturen und sozia-len Ordnungen, die sie fiskalisch und requisitorisch auszubeuten bean-sprucht, durch ihre unablässigen internen Kriege vielmehr zertrümmertund verwüstet, dass sie die Saaten, von denen sie leben will, regelmäßigvielmehr niedertrampelt, den Gewerken, auf deren Produkte sie baut,durch Rekrutierungen und Zwangsverpflichtungen die Arbeitsfähigkeitraubt, die kommerziellen Beziehungen, von denen sie profitieren möchte,permanent zerreißt und unterbindet – das ist es, was die Untertanenam Sinn und Nutzen einer unter den Bedingungen des imperialen Aus- beutungssystems stattfindenden herrschaftlichen Reichtumsproduktionendgültig verzweifeln lässt und sie disponiert, jenen inneren Ausstiegaus ihren ökonomischen Verpflichtungen und sozialen Bindungen zuvollziehen und jene Indifferenz und Negativität gegenüber den vom Rö-mischen Reich organisierten irdischen Geschäften auszubilden, die demimperialen Regiment, will es die Abtrünnigen dennoch bei der Stangeihrer Untertanenpflichten halten, gar keine andere Wahl lässt, als siemit militärischer Gewalt und bürokratischem Zwang an ihre Scholle zu binden beziehungsweise an ihr Gewerke zu ketten.

Dabei scheint allerdings die Endgültigkeit und epochale Unwiderruf-

lichkeit der Verzweiflung der Untertanenschaft des späten RömischenReiches aus der widersprüchlichen und selbstzerstörerischen Art undWeise, wie das Soldatenkaisertum die herrschaftliche Reichtumspro-duktion betreibt und vielmehr konterkariert beziehungsweise wie esdas imperiale Ausbeutungssystem handhabt und vielmehr malträtiert,noch nicht hinlänglich erklärt. Warum sollten, nachdem das imperialeRegiment sich gefangen hat und zu geordneteren politischen Verhält-nissen zurückgekehrt ist, nicht auch die Untertanen zur Tagesordnungihrer früheren Geschäftigkeit und Weltzugewandtheit zurückkehren, stattauf dem traumatischen, alles Vertrauen in den Sinn und Nutzen irdi-

schen Handels und Wandels von Grund auf erschütternden und nichtsals nackte Verzweiflung an der conditio humana als solcher erzeugen-den Charakter ihrer jüngsten Erfahrung zu beharren und so das wiederstabilisierte imperiale Regiment zu zwingen, zwecks Erhaltung des im-perialen Ausbeutungssystems seine Zuflucht zu einer vom römischen

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Staat selbst durchgeführten und sich auf alle Provinzen erstreckenden,

ebenso abstrakten wie regressiven fronwirtschaftlichen Reorganisati-on des imperialen Wirtschaftslebens zu nehmen? Warum sollte es denUntertanen nicht möglich sein, zu ihren alten territorialherrschaftlich-autochthonen Produktionsverhältnissen und Organisationsformen unterrömisch-imperialer Oberherrschaft zurückzufinden, nachdem das impe-riale Regiment beziehungsweise dessen Personal seinen ausgedehntenAnfall von paranoider Streitsucht, von entfesseltem Verfolgungswahnund unbezwinglicher Revierkampflust, überwunden und sich wiederauf seine Aufgabe besonnen hat, unter der Führung eines cäsarischenAlleinherrschers beziehungsweise einer Alleinherrscherseilschaft zwecks

Erhaltung und Betreibung des imperialen Ausbeutungssystems und sei-ner auf den Unterhalt eben nur des imperialen Regiments und seinesPersonals gerichteten Abschöpfungsökonomie für einen militärisch ge-sicherten Frieden und bürokratisch geordnete Verhältnisse im Reich zusorgen?

Tatsache aber ist, dass die ebenso kompensationslos-profane wie präten-tionslos-säkulare Herrschaft, die die aristokratisch verfasste römischeMarktgesellschaft, sich zur imperialen Militärmacht mausernd, über denMittelmeerraum gewinnt, gerade in der pseudoreligiösen Entwicklungzum Gottkaisertum, die sie zwecks interner Konfliktbewältigung nimmt,

und in den soldatenkaiserlich-rottenführerschaftlichen Wirren, in denendiese Entwicklung kulminiert, weit mehr ist als ein den autochthonenProduktionsverhältnissen und Organisationsformen der eroberten Ge- biete bloß aufgesetzter und ebenso ideell wertneutraler wie materiell beutehungriger Ausbeutungsapparat, ein den traditionellen Territorial-herrschaften und ihrer Expropriationspraxis einfach nur übergestülpterfunktionalistisch sekundärer Abschöpfungsmechanismus, und vielmehrnichts Geringeres darstellt als ein hochnotpeinliches Gericht über dieinnersten Motive und heiligsten Überzeugungen, die der primären Ex-propriationspraxis der traditionellen Territorialherrschaften zugrunde

liegen! Tatsache ist, dass das von der römischen Imperialmacht aus in-nenpolitischen Gründen kreierte Gottkaisertum, indem es sich in denrömischer Macht unterworfenen Gesellschaften als religiöser Faktor unddogmatische Sanktion zur Geltung bringt, die Bedeutung eines vernich-tenden Offenbarungseides auch und gerade für die religiöse Konstitution

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und sakrale Begründung der jenen Gesellschaften eigenen Herrschaftsfor-

men gewinnt! Tatsache ist, dass der gottkaiserliche Supremat, unter demherrschaftliche Reichtumsproduktion imperiumsweit stattfindet, in seinerpseudoreligiösen Profanität, seiner aus Pragmatismus und Fetischismusgemischten idolatrischen Verfassung die zerstörerische Kraft beweist,die götterkultlichen Begründungen und opferkultlichen Legitimierungenvon herrschaftlicher Reichtumsproduktion überhaupt und in allen ihrentraditionellen Formen zu untergraben und zum Einsturz zu bringen.Tatsache ist, dass die Untertanen, weit entfernt davon, sich unter demEindruck des gottlosen römischen Kaiserkults und der in seinem Namenmit militärisch-bürokratischem Zynismus geübten Ausbeutungspraxis

auf eigene intakte religiöse Rechtfertigungssysteme und durch sie gehei-ligte Formen der kollektiven Schöpfung und herrschaftlichen Aneignungvon Reichtum zurückziehen und aus dieser als Widerstandsbastion wohl-verstandenen Rückzugsposition heraus die römische Fremdherrschaftals eine ebenso äußerlich verhängte wie gründlich verhasste Landplageertragen zu können, diese eigenen Legitimationssysteme durch eben jenen Kaiserkult vielmehr zutiefst desavouiert und bis in ihren innerstenKern hinein um ihre Glaubwürdigkeit gebracht erfahren und deshalbam Ende der als Soldatenkaisertum firmierenden Phase machtparanoi-den Wahns und rottenführerschaftlicher Wirren nichts mehr in Geltung

finden als eben jene zur traurigen Wahrheit und zum factum brutum jeglicher herrschaftlichen Reichtumsproduktion erhobene zynische Pro-fanität einer durch die cäsarische Maske den religiösen Vorwand immer