3.7. Das Wohnen in gemischtfunktionalen...

8
Kapitel 3 Gemischtfunktionale Hochhäuser 58 3.7. Das Wohnen in gemischtfunktionalen Hochhäusern Eine der Besonderheiten bei Hochhäusern mit Mischnutzung ist das Einbeziehen des Wohnfaktors, der für das Schaffen eines lebendigen Lebensraums unentbehrlich ist. Eine der wichtigsten Absichten, Hochhäuser mit Mischnutzung – besonders mit Wohn- nutzung – in geplanten Zonen des Stadtzentrums zu errichten ist, dadurch zu ver- meiden, dass die Wohnfunktion des Stadtzentrums nicht wegen der sich immer mehr verdichtenden Gewerbenutzung komplett abgedrängt wird. Die angeführten speziellen monofunktionalen Nutzungen unterscheiden sich in ihren An- forderungen und dadurch auch in ihren Auswirkungen auf Gebäude und deren Umfeld. Da Wohnungen anders geplant, ausgestattet und genutzt werden als Büros, resultieren aus der Kombination von Wohnnutzung und Büronutzung in einem Gebäude eine Reihe von erschließungstechnischen, wirtschaftlichen und gestalterischen Besonderheiten, so dass eine zufriedenstellende architektonische Lösung nur schwer zu finden ist. Weiterhin sind die Bedürfnisse der Bewohner auf städtebaulicher Ebene, wie etwa Einkaufsmög- lichkeiten, Krankenhaus, Kindergarten, Spielplätze und Schule in zumutbarer Nähe zu berücksichtigen. Bei den untersuchten Bauprojekten – sowohl in China als auch in Europa, die beide Nut- zungsarten in sich tragen, wurden verschiedene Möglichkeiten aufgezeigt, wie man sich bisher mit diesen Besonderheiten beschäftigt hat. Im folgenden werden einige Projekte – besonders der Typus 2 – im Detail untersucht. 3.7.1. Typus 1 und 3 Nach der im Abschnitt 3.6 erläuterten Bautypologie sehen wir, dass das Wohnen bei Ty- pus 1 und Typus 3 keine Komplikation erzeugen wird. Den Typus 1 mit Wohnnutzung kann man auch als ein „Wohnhochhaus mit gemischtgenutztem Sockelbau“ verstehen (vgl. auch 3.4. Funktionsbildung). Beim Typus 3 ist die Situation ähnlich wie beim Typus 1; es muss jedoch berücksichtigt werden, dass die architektonische Übereinstimmung mit anderen Teilen des Komplexes dabei nicht vernachlässigt werden soll. In diesen beiden Fällen geht es wesentlich um die Akzeptanz des Wohnhochhauses. Das 2001 errichtete Frankfurter Skylight (Architekt: Richard Rogers Partnership, London) beweist, dass sich solche Typen auch in Deutschland bauen lassen. Dieser Büro- und Wohnkomplex sieht eine andere Lösung für die Mischnutzung von Ar- beiten und Wohnen vor. Statt die Wohn- und Arbeitsfunktion in einem Hochhausturm über- einander zu stapeln, teilte sie der Architekt auf einer horizontalen Ebene auf. Der 63 m hohe Wohnturm mit seinen 20 Stockwerken, die insgesamt 40 Wohnungen beinhalten, steht auf der nordwestlichen Ecke des Grundstücks, das innerhalb der historischen Wall- anlagen der Altstadt Frankfurts unweit des Eschenheimer Turms liegt. Der 6- bis 8- geschossige E-förmige Bürokomplex, der das Hauptvolumen des Projektes darstellt, ist mit dem Wohnhochhaus durch Brücken verbunden. Das 8.000 m 2 große Grundstück wird von zwei Hauptstraßen begrenzt: im Norden von der stark befahrenen Bleichstraße und im

Transcript of 3.7. Das Wohnen in gemischtfunktionalen...

Kapitel 3 Gemischtfunktionale Hochhäuser58

3.7. Das Wohnen in gemischtfunktionalen Hochhäusern

Eine der Besonderheiten bei Hochhäusern mit Mischnutzung ist das Einbeziehen desWohnfaktors, der für das Schaffen eines lebendigen Lebensraums unentbehrlich ist. Eineder wichtigsten Absichten, Hochhäuser mit Mischnutzung – besonders mit Wohn-nutzung – in geplanten Zonen des Stadtzentrums zu errichten ist, dadurch zu ver-meiden, dass die Wohnfunktion des Stadtzentrums nicht wegen der sich immer mehrverdichtenden Gewerbenutzung komplett abgedrängt wird.

Die angeführten speziellen monofunktionalen Nutzungen unterscheiden sich in ihren An-forderungen und dadurch auch in ihren Auswirkungen auf Gebäude und deren Umfeld.Da Wohnungen anders geplant, ausgestattet und genutzt werden als Büros, resultierenaus der Kombination von Wohnnutzung und Büronutzung in einem Gebäude eine Reihevon erschließungstechnischen, wirtschaftlichen und gestalterischen Besonderheiten, sodass eine zufriedenstellende architektonische Lösung nur schwer zu finden ist. Weiterhinsind die Bedürfnisse der Bewohner auf städtebaulicher Ebene, wie etwa Einkaufsmög-lichkeiten, Krankenhaus, Kindergarten, Spielplätze und Schule in zumutbarer Nähe zuberücksichtigen.

Bei den untersuchten Bauprojekten – sowohl in China als auch in Europa, die beide Nut-zungsarten in sich tragen, wurden verschiedene Möglichkeiten aufgezeigt, wie man sichbisher mit diesen Besonderheiten beschäftigt hat. Im folgenden werden einige Projekte –besonders der Typus 2 – im Detail untersucht.

3.7.1. Typus 1 und 3

Nach der im Abschnitt 3.6 erläuterten Bautypologie sehen wir, dass das Wohnen bei Ty-pus 1 und Typus 3 keine Komplikation erzeugen wird. Den Typus 1 mit Wohnnutzungkann man auch als ein „Wohnhochhaus mit gemischtgenutztem Sockelbau“ verstehen(vgl. auch 3.4. Funktionsbildung). Beim Typus 3 ist die Situation ähnlich wie beim Typus 1;es muss jedoch berücksichtigt werden, dass die architektonische Übereinstimmung mitanderen Teilen des Komplexes dabei nicht vernachlässigt werden soll. In diesen beidenFällen geht es wesentlich um die Akzeptanz des Wohnhochhauses. Das 2001 errichteteFrankfurter Skylight (Architekt: Richard Rogers Partnership, London) beweist, dass sichsolche Typen auch in Deutschland bauen lassen.

Dieser Büro- und Wohnkomplex sieht eine andere Lösung für die Mischnutzung von Ar-beiten und Wohnen vor. Statt die Wohn- und Arbeitsfunktion in einem Hochhausturm über-einander zu stapeln, teilte sie der Architekt auf einer horizontalen Ebene auf. Der 63 mhohe Wohnturm mit seinen 20 Stockwerken, die insgesamt 40 Wohnungen beinhalten,steht auf der nordwestlichen Ecke des Grundstücks, das innerhalb der historischen Wall-anlagen der Altstadt Frankfurts unweit des Eschenheimer Turms liegt. Der 6- bis 8-geschossige E-förmige Bürokomplex, der das Hauptvolumen des Projektes darstellt, istmit dem Wohnhochhaus durch Brücken verbunden. Das 8.000 m2 große Grundstück wirdvon zwei Hauptstraßen begrenzt: im Norden von der stark befahrenen Bleichstraße und im

Kapitel 3 Gemischtfunktionale Hochhäuser 59

Abb. 3.28:Frankfurter Skylight,2001. Architekt:Richard RogersPartnership, London.Perspektive mit demWohnturm auf derlinken Seite.Aufnahme derVerfasserin.

Süden von der Stephanstraße. Nach Westen liegt die Katzenpforte, die – bedingt durchden Höhenunterschied zwischen der Stephanstraße und der Bleichstraße – als Sackgasseendet; nach Osten liegt die Brönnerstraße, deren Charakter durch Wohnhäuser geprägtwird. Auch hier befindet sich eine Mischnutzung im Erdgeschoss, das Restaurants, Cafesund Einzelhandel beinhaltet. Das Erschließungsproblem, das durch die Überschneidungvon Bewohnern und Büroangestellten in einem Gebäude verursacht wird, findet auch hiernicht statt (Abbildung 3.28).

Als Anreiz für das Wohnen im Zentrum ist ein umfassender Service inbegriffen – vomPförtner bis zum Reparatur- und Reinigungsdienst. Das Projekt ist in besonderer Weisegeeignet, mitten im Großstadtgetriebe attraktive Angebote zu schaffen und auch zur Bele-bung in den Abendstunden beizutragen. Die vorhandene Infrastruktur und die Erschlie-ßung durch den öffentlichen Nahverkehr begünstigen den Gedanken von Mischnutzung,die der Restrukturierung der Innenstadt Frankfurts dient.

3.7.2. Typus 2

Wie im Abschnitt 3.6.2 schon analysiert wurde, ist beim Typus 2 ein kompliziertes Vertikaler-schließungssystem erforderlich. Ein beteiligter Wohnfaktor, abgesehen vom vorüberge-henden Wohnen wie etwa im Hotel oder hotelähnliches Wohnen, erschwert die Situationdurch die Auswirkungen, die das Alltagsleben normaler Wohnungsnutzer mit sich bringt.Man muss nicht nur eine Lösung für die Erschließungsprobleme finden, sondern mussauch auf die Gesichtspunkte Rücksicht nehmen, über die sich die Büro- und Wohnungs-nutzer nur wenn überhaupt nur schwierig einigen können:

1. Bei der Komposition der Nutzungsarten auf der Vertikale

Wenn sich Büro-, Hotel-, Geschäfts- und Wohnnutzung aufeinander stapeln, soll dieOrganisation der Nutzungsarten nach den Kriterien des Erschließungssystems, der

Kapitel 3 Gemischtfunktionale Hochhäuser60

Baukonstruktion, des Rentabilitätsfaktors und der psychischen Einstellung der ver-schiedenen Nutzer rationalisiert werden. Abbildung 3.29 zeigt jedoch, dass eine Lö-sung, die allen Kriterien gerecht werden könnte, nur schwer zu finden ist.

a. Die optimale Komposition nach einem effektiven Erschließungssystem

Begründet in dem Versuch den vertikalen Verkehrsweg zu verkürzen und dadurch dieBetriebskosten und den Energieverbrauch zu verringern, werden die verschiedenen

Abb. 3.29:Die Komposition derNutzungsarten aufder Vertikale nachverschiedenerKriterien. Darstellungder Verfasserin.

Kapitel 3 Gemischtfunktionale Hochhäuser 61

Funktionen durch die Nutzerkapazität und die Flexibilität der Nutzer bestimmt sowiedadurch, wie sie aufeinander geschichtet werden sollen.

Da die Nutzerkapazität bei den Geschäften am größten ist und zugleich die Nutzerauch am flexibelsten sind, soll die Geschäftsnutzung in den unteren Geschossen un-tergebracht werden. Dann kommt die Büronutzung, deren Nutzerkapazität zwischenGeschäfts und Wohnnutzung liegt. Hotel oder Wohnappartements, deren Nutzerka-pazität am kleinsten ist und weniger Verkehr erzeugt, bleiben in den oberen Geschos-sen.

b. Die optimale Komposition nach einer rationalen Baukonstruktion

Bedingt durch die Baukonstruktion werden in den unteren Geschossen stärkereTragwerke benötigt. Deswegen sollen die kleinflächigen Räume für die Wohnnut-zung angesichts der Rationalität der Baukonstruktion am besten in den unterenGeschossen bleiben; die Räume mit größerer Aufteilung für Büros in den oberen,und die Geschäftsräume, die eine noch größere Raumaufteilung benötigen, in denobersten Geschossen .

c. Die optimale Komposition nach der Ansicht der Entwickler

Die Logik der Investition ist es, die beste Rendite zu erzielen. Die Etagen in besterHöhenlage sollen so genutzt werden, dass sie beste Preise erzielen. Die Regel ist,dass je höher die Etage liegt, um so teurer die Mieten sowohl bei Büros als auch beiWohnappartements sind. Da die Mieten bei Büros weit höher als bei Wohnapparte-ments liegen, wäre der Idealfall für die Entwickler, dass Büros in den obersten Ge-schossen liegen.

d. Was denken die Nutzer?

Diese Frage ist am schwierigsten zu beantworten, besonders bei den Nutzern ei-nes Hochhauses, unter denen auch nicht unbedingt jeder das Hochhaus mag. Nachden Angaben der verschiedenen befragten Nutzer kann keine objektive Aussagedarüber gemacht werden. Während einigen Bewohnern die schöne Aussicht ganzoben gefällt und die Ruhe weitab vom Straßenverkehr genossen wird, möchten dieanderen lieber bodennäher sein: es handelt sich um das Sicherheitsgefühl; bei ei-nem Notfall kann man wieder schnell den sicheren Boden erreichen. Für die meis-ten Büroangestellten ist die Etagenhöhe eher unwichtig im Gegensatz zu den phy-sikalischen innenräumlichen Bedingungen. Unter den Arbeitgebern bestand zu die-sem Punkt auch keine einheitliche Meinung.

Bei der Untersuchung wurden fast alle Kompositionsarten in der Realität gefunden. Dabeihaben alle Projekte eines gemein: die Geschäftsnutzung wurde im Sockelbereich ange-ordnet. Die Unrationalität der Baukonstruktion wurde durch eine Zwischenetage gelöst;

Kapitel 3 Gemischtfunktionale Hochhäuser62

also mit mehr Kosten. Bei den Projekten wie Jin-Mao Buiding und Tomorrow Square (Ar-chitekten: John Portmann & Associates, 2001) wurde es bevorzugt, die Wohnfunktion indie obersten Etagen einzubringen, während bei den anderen wie dem New World Center(Architekten: B+H Architects International Inc., 2001) die Büronutzung für die oberstenEtagen bestimmt wurde.

2. Grundriss-planerische Aspekte

Die Grundriss- und Baukörperentwicklung des Wohnhochhauses wird sehr stark durchOrientierungsnotwendigkeiten beeinflusst. Alle Wohnräume sollen an der Süd-, West-oder Ostseite liegen und natürlich belichtet werden. Im Gegensatz zu Bürohochhäu-sern sind Wohnhochhäuser in der Regel wesentlich stärker gegliedert; eine Wohnein-heit teilt sich in viele kleine Räume, was einen größeren Außenwandanteil bedeutet.Um die größtmögliche Fassadenabwicklung an den Sonnenseiten zu erreichen, ent-stehen häufig Fächerformen und Fassadenvor- und -rücksprünge. Die meisten Nut-zer wünschen sich Balkone bzw. Loggien.

Die Grundriss- und Baukörperentwicklung des Bürohochhauses verlangt dagegen ausökonomischen und architektonisch-gestalterischen Gründen Einfachheit, Klarheit undsymbolische Repräsentation. Besonders bei Super-High-Rises steht die architektonisch-gestalterische Betonung ausnahmslos an erster Stelle. Das bedeutet, bei dem Versuch,auf dem Grundriss eines Bürohochhauses Wohnungen zu errichten, ist es nicht zu ver-meiden, manche wichtigen wohnhygienischen Anforderungen zu vernachlässigen. So ent-stehen z. B. Wohnungen nur mit Nordzimmern (siehe Abbildung 3.20 auf Seite 48).

3. Statisch-haustechnische Aspekte

Die Unterschiede der Grundrisse des Wohnhochhauses und des Bürohochhauseswerfen bei vertikaler Stapelung auch zu viele statische und konstruktionstechnischeProbleme auf. Eine vertikale Stapelung von Büros und Wohnungen besitzt in Bezugauf die Versorgungs- und Erschließungsstruktur (z. B. Wasser, Abwasser, Elektrik,Be- und Entlüftung und Zugang) zu viele unterschiedliche Komponenten. Die Folgesind eingeschränkte Nutzungsmöglichkeiten der Grundrisse.

4. Architektonisch-gestalterische Aspekte

Eine hochwertige und repräsentative Gestaltung der Architektur des Hochhauses istvon den Büronutzern – und bei wichtigen Projekten auch von der Stadtplanung – er-wünscht. In der Regel sind die Büronutzer auch bereit, die dadurch erhöhten Baukos-ten bzw. hohe Büromiete in Kauf zu nehmen. Für Wohnungen in demselben Haushingegen, die bezahlbar bleiben müssen, sind solche kostentreibenden Extras meistunerwünscht. Einfachere Ausführungen im Wohnteil des Hauses könnten aber ausder Sicht der Büronutzer einen Imageverlust bedeuten.

Kapitel 3 Gemischtfunktionale Hochhäuser 63

5. Wirtschaftliche Aspekte

Um weiterhin noch erschließungstechnische Probleme zu lösen und verschiedeneSicherheitssysteme zu erstellen, muss man mit steigenden Bau- und Betriebskostenrechnen, die bei monofunktionalen Hochhäusern nicht entstehen würden. Eine Wohn-nutzung in einem heute sehr aufwendig ausgeführten Bürogebäude wird als zu teuerin der Erstellung und zu wenig rentabel in der Vermietung eingestuft.

All dieses scheint zur Folge zu haben, dass sich am Ende nur noch luxuriöse Apparte-ments in einem Bürohochhaus vermarkten lassen, wenn trotz aller Schwierigkeiten undUnwirtschaftlichkeit dennoch solche Hochhäuser gebaut werden sollen. Es lässt sich je-doch nicht übersehen, dass z. B. unvermeidbare Nordzimmer-Appartements als Wohnun-gen langfristig nur schwierig zu vermarkten sind. Aus all diesen Gründen sind die Investo-ren eher vorsichtig, sich auf diesen besonderen Bautyp einzulassen. Dass sich trotz einesBonussystems aus den planungsrechtlichen Vorgaben (zugunsten des Wohnungsbaushöhere Grundstücksausnutzung bei sehr hohen Bodenpreisen) zum Beispiel in Frankfurtdieser Typus für die Investoren nicht attraktiver machen lässt, dürfte wohl ein Beweis dafürsein.

Es ist dann wichtig herauszufinden, ob alle die oben erwähnten Nachteile bei Typus 2 zuvermeiden sind. Folgende Fragen sind zu beantworten: muss es unbedingt teuer sein? Istdas Nordzimmerproblem zu lösen? Kann diese Art der Mischnutzung noch energiespa-rend sein? Darauf wird anhand ausgesuchter Bauprojekte in den folgenden Abschnittenausführlicher eingegangen.

3.7.2.1. Torre Velasca: Mischnutzung ohne großen Aufwand?

Abb. 3.30:Torre Velasca heute,Mailand. Architekten:BBPR. Aufnahme derVerfasserin.

Wohnungen

Kapitel 3 Gemischtfunktionale Hochhäuser64

Ein seltsames Beispielprojekt aus der Vergangenheit zeigt, wie es auf einfache Weisefunktioniert. Der 1958 in Mailand errichtete Torre Velasca (Architekten: Lodovico Barbiano,di Belgiojoso, Enrico Peressutti, Ernesto Nathan Rogers) ist ein Büro- und Wohnkomplex,der bis heute noch in der Originalform genutzt wird (Abbildung 3.30).

Abb. 3.31:Torre Velasca,Schnitt.Quelle: Kallmann, 2 /1958.

Der 99 m hohe Torre Velasca befindet sich im Stadtzentrum Mailands (nahe des Doms).In den zwei Untergeschossen befinden sich die Tiefgarage und technische Anlagen; dasErdgeschoss beinhaltet eine Eingangshalle, Läden und ein Cafe, und das erste Oberge-schoss ist für Ausstellungsräume bestimmt. Vom 2. bis 11. Obergeschoss folgen Büros,auf 7 weiteren Geschossen Büros mit Wohnungen, und im vorspringenden 6-geschossigenOberteil schließlich Wohnungen. Sechs Duplexwohnungen bilden das 25. und 26. Stock-werk, die beide zurückversetzt liegen (siehe Abbildung 3.31).

Abb. 3.32:Torre Velasca,GrundrissWohngeschoss.Quelle: Samona,1959, S. IV 665.

Kapitel 3 Gemischtfunktionale Hochhäuser 65

Die insgesamt 66 Einheiten sind ganz normal ausgestattete Wohnappartements, die allemit Loggien ausgerüstet sind (auch hier gibt es Nordzimmer-Wohnungen, siehe Abbil-dung 3.32). Sie haben eine Wohnfläche von 80 m2 bis zu 240 m2, dienen trotz der privile-gierten Zentrallage des Gebäudes und der einzigartigen hohen Lage der Wohnungen alsnormale Mietwohnungen und sind sehr gefragt. Die darunter liegenden Büros sind vonmehreren Firmen angemietet (Informationen über den Nutzzustand des Immobilieninha-bers: RAS (Riunione Adriatica di Sicurta), eines der größten Versicherungsinstitute Itali-ens). Beide Parteien benutzen separate Eingänge und Aufzüge: die Bewohner den Rück-eingang auf der Nordseite des Hochhauses und dazu zwei Aufzüge, die Büronutzer denHaupteingang auf der Südseite und weitere vier Aufzüge. Beide Bereiche sind nicht strengvoneinander getrennt (siehe 3.33: Teil des EG). Dies scheint auch niemanden gestört zuhaben, da für die Fremdkontrolle und die Hausverwaltung ein Portier zur Verfügung steht,der alle Bewohner persönlich kennt. Störungen wegen eventuellen Kinderlärms gibt esnicht, da es im ganzen Haus zur Zeit nur ein einziges Kind gibt.

Dieser vor mehr als vierzig Jahren gebaute Hochhaustypus zeigt, dass sich die Hochhäu-ser mit Mischnutzung auch ohne besonders großen Aufwand bauen lassen. Erstaunli-cherweise wurde er trotz der Zufriedenheit aller Nutzer nicht weiter kopiert. Er war nur einerwähnenswerter Versuch, die damalige Wohnungsnot unter der staatlichen Subventionauf diese ungewöhnliche Art zu bekämpfen. Heute werden sich die Büronutzer (vor allemdie Investoren) mit solch architektonisch-gestalterischer Zurückhaltung und besondershaustechnischer Bescheidenheit kaum noch zufrieden stellen lassen.

Abb. 3.33:Torre Velasca,Grundriss desEingangsbereichs.Quelle: Samona,1959, S. IV 666.