4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode als ... · Kapitel 4 Das...

23
Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie 58 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode als Erhebungs- und Interpretationsverfahren Für die empirische Erhebung wurde die Gruppendiskussion als Verfahren gewählt. Die Daten wurden anhand der Dokumentarischen Methode nach Ralf Bohnsack interpretiert. In diesem Kapitel werden methodologische Basis und methodische Grundstrukturen der beiden Verfahren erläutert. Das Untersuchungsdesign wird in Kapitel 5 geschildert. 4.1 Die Gruppendiskussion als Methode in der qualitativen Forschung Das Gruppendiskussionsverfahren wird in der empirischen Sozialforschung dem Kanon qualitativer Methoden zugerechnet und beruht in diesem Zusammenhang ursprünglich methodologisch-theoretisch auf den drei Prinzipien des Symbolischen Interaktionismus: a) Menschen handeln auf der Grundlage von Bedeutungen, die die Objekte für sie haben; daher muß der Forscher versuchen, diese Perspektive einzunehmen und zu verstehen; b) Interaktionen von Menschen und deren Interpretationen haben stets Prozeßcharakter und c) diese Prozesse sind situationsabhängig (vgl. Blumer 1973, 134ff.). Im Zuge der Weiterentwicklung der Methode positionieren sich die VertreterInnen der verschiedenen Schulen unterschiedlich zu diesen Axiomen, doch ist sie im Sinne der qualitativen Methodologie der empirischen Sozialforschung ein hypothesengenerierendes und nicht hypothesenprüfendes Verfahren. Grundvoraussetzung qualitativer Sozialforschung ist das interpretative Paradigma, das Thomas P. Wilson formulierte, indem er die Theorie des Symbolischen Interaktionismus und die Ethnomethodologie miteinander in Beziehung setzte (vgl. Mayring 1999, 2). Demnach handeln Menschen nicht starr nach kulturell etablierten Rollen, Normen, Symbolen und Bedeutungen (normatives Paradigma), vielmehr ist jede soziale Interaktion selbst ein interpretativer Prozeß, in dem der Mensch jede soziale Situation für sich deuten muß. Jeder muß sich darüber „klar werden, welche Rollen von ihm erwartet werden, welche ihm zugeschrieben werden und welche Perspektiven er selbst hat” (Mayring 1999, 2). Soziale Wirklichkeit besteht somit nicht als objektives Faktum, sondern ist das Ergebnis interpretativer Interaktionsprozesse. Die Theoriebildung selbst ist daher ein

Transcript of 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode als ... · Kapitel 4 Das...

Page 1: 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode als ... · Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie 58 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode

Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie

58

4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode als Erhebungs- und Interpretationsverfahren

Für die empirische Erhebung wurde die Gruppendiskussion als Verfahren

gewählt. Die Daten wurden anhand der Dokumentarischen Methode nach Ralf

Bohnsack interpretiert. In diesem Kapitel werden methodologische Basis und

methodische Grundstrukturen der beiden Verfahren erläutert. Das

Untersuchungsdesign wird in Kapitel 5 geschildert.

4.1 Die Gruppendiskussion als Methode in der qualitativen Forschung

Das Gruppendiskussionsverfahren wird in der empirischen Sozialforschung dem

Kanon qualitativer Methoden zugerechnet und beruht in diesem Zusammenhang

ursprünglich methodologisch-theoretisch auf den drei Prinzipien des

Symbolischen Interaktionismus: a) Menschen handeln auf der Grundlage von

Bedeutungen, die die Objekte für sie haben; daher muß der Forscher versuchen,

diese Perspektive einzunehmen und zu verstehen; b) Interaktionen von Menschen

und deren Interpretationen haben stets Prozeßcharakter und c) diese Prozesse sind

situationsabhängig (vgl. Blumer 1973, 134ff.). Im Zuge der Weiterentwicklung

der Methode positionieren sich die VertreterInnen der verschiedenen Schulen

unterschiedlich zu diesen Axiomen, doch ist sie im Sinne der qualitativen

Methodologie der empirischen Sozialforschung ein hypothesengenerierendes und

nicht hypothesenprüfendes Verfahren.

Grundvoraussetzung qualitativer Sozialforschung ist das interpretative Paradigma,

das Thomas P. Wilson formulierte, indem er die Theorie des Symbolischen

Interaktionismus und die Ethnomethodologie miteinander in Beziehung setzte

(vgl. Mayring 1999, 2). Demnach handeln Menschen nicht starr nach kulturell

etablierten Rollen, Normen, Symbolen und Bedeutungen (normatives Paradigma),

vielmehr ist jede soziale Interaktion selbst ein interpretativer Prozeß, in dem der

Mensch jede soziale Situation für sich deuten muß. Jeder muß sich darüber „klar

werden, welche Rollen von ihm erwartet werden, welche ihm zugeschrieben

werden und welche Perspektiven er selbst hat” (Mayring 1999, 2). Soziale

Wirklichkeit besteht somit nicht als objektives Faktum, sondern ist das Ergebnis

interpretativer Interaktionsprozesse. Die Theoriebildung selbst ist daher ein

Page 2: 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode als ... · Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie 58 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode

Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie

59

interpretativer Prozeß, während die WissenschaftlerInnen als „Interpreten”

handeln und arbeiten (vgl. Bohnsack 2000, Mayring 1999, 2 sowie Loos/Schäffer

2001, 23ff.).

Die Methode der Gruppendiskussion entspricht in mancher Hinsicht stärker als

andere Methoden (wie z.B. das Leitfadeninterview) den Axiomen des qualitativen

Paradigmas: Die Offenheit insbesondere gegenüber der Untersuchungssituation

und den Untersuchungspersonen ist bei der Gruppendiskussion mehr als

beispielsweise bei Interviews gegeben, da die TeilnehmerInnen den Verlauf und

die Themenhierarchie durch die multilaterale Interaktion (im Gegensatz zur

bilateralen im Interview) in großem Maße selbst bestimmen können. Aufgrund

des kommunikativen Charakters von Alltagsinteraktionen wird in der qualitativen

Forschung eine möglichst hohe Kommunikativität und Naturalistizität innerhalb

des Forschungsprozesses angestrebt, um einerseits die Konstitution und

Konstruktion von Wirklichkeit beobachten zu können. Andererseits kann somit

die feldspezifische Kommunikation zwischen Forscher und Teilnehmer, die

aufgrund der nicht-standardisierten Form unvermeidlich ist, möglichst alltagsnah

und nicht-hierarchisch inszeniert werden. Dies ist im Falle der Gruppendiskussion

durch den meist als angenehm und locker empfundenen

Kommunikationsaustausch mit nahezu optimalem Alltagscharakter gegeben. Da

Alltagsinteraktionen Prozeßcharakter haben, ist besonders der Diskussionsverlauf

geeignet, Prozesse der Beobachtung zugänglich zu machen. In der

Gruppendiskussion läßt sich durch den Nachvollzug der Entstehung von

Bedeutungen ein den Handlungen zugrundeliegender Sinn aufdecken, der durch

reflexive Prozesse überprüft werden kann. Damit ist es möglich, auf unerwartete

Entwicklungen im Verlauf der Diskussion adäquat und flexibel zu reagieren, und

zugleich neben der Reflexivität von Gegenstand und Analyse der Reflexivität des

Verhältnisses von Forscher und Erforschten gerecht zu werden (vgl. Bohnsack

1999, 26ff. und 75ff. sowie Lamnek 1998, 39ff.).

4.1.1 Formen der Gruppendiskussion

Es gibt viele verschiedene Definitionen von Gruppendiskussionen, die in der

unterschiedlichen Forschungspraxis von Beobachtungen von Gruppenprozessen

bis hin zum Abfragen von Gruppeninformationen begründet sind. So reichen die

Page 3: 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode als ... · Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie 58 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode

Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie

60

Begriffe von „Gruppenexperiment” (Dreher/Dreher 1982) , „focus group”

(Merton 1987), „Delphi-Methode” bis hin zum Gruppeninterview. Allgemein läßt

sich mit David L. Morgan (1997) die Gruppendiskussion als eine

Erhebungsmethode bezeichnen, „die Daten durch die Interaktionen der

Gruppenmitglieder gewinnt, wobei die Thematik durch das Interesse des

Forschers bestimmt wird” (Lamnek 1998, 27). Im Vergleich zu

Gruppeninterviews steht in der Gruppendiskussion die „Bedeutung von

Interaktions-, Diskurs und Gruppenprozessen für die Konstitution von

Meinungen, Orientierungs- und Bedeutungsmustern” (Bohnsack 1999, 123) im

Forschungsmittelpunkt. Während bei ersteren das Kollektiv nicht als Gegenstand

der Erhebung wahrgenommen wird und es sich hier in der Regel um eine

rationelle Methode der Einzelbefragung handelt, werden bei letzterer, vor allem in

Zusammenhang mit der dokumentarischen Methode (s. Kapitel 4.2), kollektive

Orientierungen in den Blick genommen.

Die verschiedenen Arten von Gruppendiskussionsverfahren können nach ihrer

jeweiligen Erkenntnisabsicht differenziert werden. Bei Gruppendiskussionen, die

zum Ziel haben, Informationen und Befunde inhaltlicher Art oder über

gruppendynamische Prozesse zu erheben, spricht man von ermittelnden

Gruppendiskussionen. Geht es darum, Verhaltensänderungen bei den Befragten zu

erzielen, hat die Methode vermittelnden Charakter (vgl. Lamnek 1998, 29 im

Anschluß an Koolwijk/Wieken-Mayser 1974).

In den letzten Jahren wird in der sozialwissenschaftlichen Forschung vermehrt mit

Gruppendiskussionen gearbeitet, doch sind sie im Vergleich zu anderen

Forschungsmethoden noch weitaus unbekannt. Aus diesem Grunde ist ihre

wissenschaftstheoretische, methodologische und methodisch-technische

Ausarbeitung noch vergleichsweise wenig erforscht (vgl. Lamnek 1998, 11). Dies

scheint auch auf die sozialpädagogische Forschung zuzutreffen. Angesichts der

zunehmenden Verbreitung qualitativer Methoden in der

erziehungswissenschaftlichen Forschung wird die Gruppendiskussion zwar

vermehrt genutzt, doch ist ihre methodologische Diskussion im Vergleich zu

anderen qualitativen Forschungsmethoden noch entwicklungsfähig. Dies liegt

möglicherweise in ihrer noch recht jungen Geschichte und ihrer Nutzung vor

allem im kommerziellen oder außerwissenschaftlichen Bereich begründet.

Page 4: 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode als ... · Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie 58 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode

Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie

61

4.1.2 Erkenntnisziele und Anwendungsgebiete

Im amerikanischen Raum wurde die Gruppendiskussion erstmals von Kurt Lewin

(1936) und seinen Schülern bei sozialpsychologischen Untersuchungen von

Kleingruppen verwendet. Hier stand eher der experimentelle Charakter und

weniger das methodische Design im Zentrum. In Deutschland wurde 1950/51

erstmalig von Fritz Pollock am Frankfurter Institut für Sozialforschung die

Gruppendiskussion eingesetzt, um die Inhalte von Äußerungen in der

Gruppensituation zu erforschen (vgl. Pollock 1955). Zwar entwickelte sich im

deutschsprachigen Raum eine methodologische Debatte um die

Gruppendiskussion, die sich jedoch seit Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre

trotz des vermehrten Einsatzes dieses Forschungsinstruments nicht wesentlich

weiterentwickelt hat. Im englischsprachigen Raum wurde und wird die

Gruppendiskussion weitgehend pragmatisch verwendet und ist ebenfalls wenig

methodisch und methodologisch geklärt (vgl. Lamnek 1998, 17ff.). Im Bereich

der kommerziellen Markt- und Meinungsforschung wird die Gruppendiskussion

häufig eingesetzt, da sie dort als zeitökonomische Methode anwendungsorientiert

und als leicht durchführbares Mittel zur Gewinnung von Informationen über

Kunden viele Vorteile bietet, jedoch methodologisch kaum diskutiert wird.

Die Gruppendiskussion geht von der kontextuellen Bedingtheit von

Einzelmeinungen aus. In Konfrontation mit anderen Personen, die im ähnlichen

Bereich unter ähnlichen Bedingungen arbeiten, fordert diese Form zur

kompetenten Abgrenzung der eigenen Äußerungen heraus. Nach Werner Mangold

(1960) kommt der situationsbedingten Gruppenkontrolle eine konstitutive

Bedeutung für das individuelle Verhalten und für individuelle Meinungen und

Einstellungen zu. Der Konsens, der über ein bestimmtes Thema durch

wechselseitige Beeinflussung der einzelnen TeilnehmerInnen und der Gruppe

innerhalb der Diskussionsgruppe entsteht, ist die informelle Gruppenmeinung (im

Zusammenhang dieser Untersuchung: da alle Vertreter eines bestimmten Berufes

und bestimmter Arbeitsfelder dieses Berufes sind, die „informelle Berufsmoral”),

die es zu erheben gilt. Durch die Erfassung von Prozessen der Gruppenkontrolle

wird es in der Analyse möglich, individuelle und kollektive Meinungen und deren

Wechselbeziehungen zu beobachten. Insbesondere können somit Meinungen

ganzer Gruppen, gruppenspezifische Verhaltensweisen, die den Meinungen

Page 5: 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode als ... · Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie 58 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode

Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie

62

zugrundeliegenden Bewußtseinsstrukturen der Teilnehmenden und

Gruppenprozesse, die zur Bildung einer Gruppenmeinung führen, erforscht

werden.

Bisherige Studien mit Gruppendiskussionen verfolgen eine große Bandbreite an

Erkenntniszielen (vgl. Bohnsack 2000, Loos/Schäffer 2001, 15ff. und Lamnek

1998, 51ff.). In den USA und Großbritannien wurden in den 1940er Jahren

Zuschauerreaktionen auf Propagandafilme während des Zweiten Weltkrieges mit

„focus group interviews” erforscht (vgl. Hoveland 1949 u.a., Merton u.a. 1956,

Lazarsfeld u.a. 1948). Robert K. Merton konzipierte „focus group interviews” als

Mittel zur Exploration von Forschungsfeldern. In Großbritannien werden

zunehmend den „survey sampling approaches” auch Verfahrensweisen

entgegengestellt, die mit „naturally occuring groups of like-minded people”

(Livingstone/Lunt 1996, 82) arbeiten, also mit Realgruppen (vgl. z.B. Liebes/Katz

1990). Ein weiterer Bereich findet sich in den „cultural studies“ hinsichtlich der

Jugendforschung (vgl. exemplarisch Willis 1991), der Frauenforschung (vgl.

Brown 1994, Gillespie 1995) und der Medienforschung (vgl. Morley 1980, 1981,

1986, 1996). Hier zeigten sich in Diskussionen von homogen zusammengesetzten

Gruppen, daß die sozioökonomischen Hintergründe der TeilnehmerInnen deren

Deutungs- und Orientierungsmuster prägten.

Die ersten großen Untersuchungen in Deutschland, bei denen das Verfahren der

Gruppendiskussion angewendet wurde, zielten darauf ab, die nicht-öffentliche,

individuelle Meinung von Individuen (vgl. Pollock 1955), die informelle

Gruppenmeinung (vgl. Mangold 1960) bzw. eine situationsabhängige

Gruppenmeinung (vgl. Nießen 1977) zu erforschen. Darüber hinaus können im

Mittelpunkt des Forschungsinteresses Informationen über Konsumentengruppen

(in der kommerziellen Markt- und Meinungsforschung), gruppeninterne Prozesse

oder die Exploration eines Forschungsbereichs (vgl. Merton 1987) stehen. Die

Methode bietet sich auch als Pretest-Methode, zur Instrumentenentwicklung für

ein Forschungsvorhaben (vgl. Morgan 1997), oder für die Evaluation von

Programmen an (vgl. Bortz/Döring 1995) und ist ebenso in Triangulation mit

anderen qualitativen oder quantitativen Methoden (vgl. Schnell/Hill/Esser 1995)

einsetzbar. Vielfach wird die Gruppendiskussion auch als therapeutisches

Instrument verwendet (vgl. Kriz 1985).

Page 6: 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode als ... · Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie 58 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode

Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie

63

In den letzten dreißig Jahren wurden Gruppendiskussionsverfahren in

verschiedenen Feldern der empirischen Sozialforschung verwendet.

Beispielsweise setzten in der Handlungs- und Aktionsforschung Thomas

Leithäuser u.a. (1977), Ute Volmerg (1977) und Birgit Volmerg (1983)

Gruppendiskussionen in einem psychoanalytischen Erklärungszusammenhang zur

Erschließung von „Alltagsbewußtsein” ein, Reinhard Peukert (1984) und Imbke

Behnken (1984) rekonstruierten Lebenswelten von Lehrlingen mit Hilfe dieser

Methode.

Ralf Bohnsack verwendet Gruppendiskussionen in Zusammenhang mit

rekonstruktiven Milieuanalysen (vgl. Bohnsack 1999, 123ff.). Stefan Schnurr

empfiehlt sie insbesondere für die Erforschung von Berufskulturen oder

beruflichen Teilkulturen (vgl. Schnurr 1997, 62ff.). Weitere Studien untersuchen

verschiedene Bereiche wie z.B. verbandliche Sozialisation, Generationen- und

Geschlechterforschung (vgl. u.a. Nentwig-Gesemann 1999, Loos 1999,

Breitenbach 2000, Nohl 2001).

4.2 Die Dokumentarische Methode als Analyseinstrument für Gruppendiskussionen

Mitte der 1980er Jahre entwickelte Ralf Bohnsack in Zusammenarbeit mit Werner

Mangold eine neue Form und Methodologie zur Interpretation von

Gruppendiskussionen. Hierbei bezieht er sich auf die Wissenssoziologie Karl

Mannheims und führt dessen dokumentarische Methode mit Bezug auf

Prozeßstrukturen der Erhebungs- und Interpretationsgegenstände weiter. Dies

beinhaltet eine Abwendung vom engen Verständnis des Symbolischen

Interaktionismus und damit verbunden von der reinen Prozeß- und

Situationsorientierung in der Analyseperspektive. Darüber hinaus bezieht er

Methoden der Textinterpretation von Schütze und Oevermann mit ein.

4.2.1 Grundlagen der Interpretation

Eine zentrale methodologische Bedeutung für die Analyse von empirischen

Texten, insbesondere von Gruppendiskussionen, anhand der Dokumentarischen

Methode hat der von Karl Mannheim geprägte Begriff der „konjunktiven

Erfahrung”. Gruppen oder Milieus, die über gemeinsames implizites Wissen

(„tacid knowledge”) verfügen, teilen Gemeinsamkeiten des Erlebens. Aufgrund

Page 7: 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode als ... · Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie 58 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode

Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie

64

dieser gemeinsam geteilten Erlebnisschichtungen ist ein unmittelbares Verstehen

untereinander möglich. Dieses gemeinsame Wissen formt den gemeinsamen

Orientierungsrahmen dieser Gruppen und somit ihren kollektiven Habitus1 (vgl.

Bohnsack 2000). Die Dimensionen der Gemeinsamkeiten können sich auf das

Geschlecht oder bildungs- und entwicklungstypische Erfahrungsräume beziehen.

Gruppen, deren Mitglieder aus dem gleichen sozialen Hintergrund oder einer

ähnlichen Sozialisationsgeschichte kommen, die gemeinsame Erfahrungen haben

oder einer milieuspezifischen Teilkultur angehören, aktualisieren diese im Diskurs

(vgl. Bohnsack 1999, 74, Schnurr 1997, 62 und 64 sowie Dewe/Ferchhoff/Radtke

1992, 87). Dies geschieht in Form von Beschreibungen und Erzählungen erlebter

Interaktionspraxis als auch in den Interaktionen im Diskursprozeß selbst (vgl.

Bohnsack 1999, 74) und erschließt somit kollektive Orientierungsrahmen einer

Analyse. Im Kontrast dazu steht der kommunikative, allgemein verfügbare und

nicht gruppengebundene Erfahrungsraum. Dieser besteht sozusagen aus

„Allgemeinwissensbeständen”. Kommunikativer und konjunktiver Sinn werden in

den Texten als intendierte (kommunikative, bewußt gemachte) und

dokumentarische (unwillkürliche) Äußerungen unterschieden. Diese

unterschiedliche Bewertung erschließt sich aus dem Diskussionszusammenhang.

So bilden sich beispielsweise in Narrationen aus dem Alltag alltagsrelevante

Orientierungen ab, während in Argumentationen und expliziten Rechtfertigungen

tendenziell intendierte Äußerungen gemacht werden, die nicht ohne weiteres als

handlungspraktisch geltend genommen werden können. Das Handeln der Person,

welche die Äußerungen analysiert, ist somit Interpretation, während es für die

Angehörigen des konjunktiven Erfahrungsraumes möglich ist, die Äußerungen

unmittelbar zu verstehen.

Im Zentrum der dokumentarischen Analyse steht der Dokumentsinn, also die

Rekonstruktion des konjunktiven Erfahrungsraumes und der Habitusgenese.

Dieser Sinn wird interaktiv durch die handelnden Individuen konstruiert (vgl.

Mannheim 1980, 232). Aus diesem Grunde ist in der Interpretation die

Rekonstruktion der Diskursorganisation ein zentraler Schritt. Hier wird die

gegenseitige Bezugnahme der DiskussionsteilnehmerInnen aufeinander und die

1 Bohnsack bezieht sich hier ausdrücklich auf den Habitusbegriff von Bourdieu und Panofsky (vgl.

Bohnsack 1999, 173ff.)

Page 8: 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode als ... · Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie 58 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode

Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie

65

Verfolgung eines Themas bzw. eines Dokumentsinngehalts im Laufe der

Diskussion analysiert und somit die interaktive Konstruktion des kollektiven

Sinns rekonstruiert. In Form von Propositionen (Einführung eines Themas in der

Diskussion durch eine/n Teilnehmer/in), Validierungen (Bestätigung und

Fortführung eines Themas durch andere Teilnehmende), antithetische

Differenzierungen und weitere Formen des Bezugs auf vorangegangene

Äußerungen und Thematisierungen wird die Diskussionslinie, die

„Diskursdramatik” (vgl. Bohnsack 1999, 153ff.) entrollt. Auf diese Weise wird

die formale Diskursorganisation, die ein entscheidendes Moment der

Aktualisierung von gruppenspezifischen Orientierungen darstellt, rekonstruierbar.

Konkret erfolgt dies in verschiedenen Schritten.

Zunächst wird in der formulierenden Interpretation der inhaltliche Verlauf der

Diskussion nahe am immanenten Sinngehalt der Äußerungen nachgezeichnet. Die

formale Bezugnahme der Teilnehmenden aufeinander wird hier ebenso dargestellt

wie das Auftauchen bestimmter Thematiken und Positionierungen. Diese

Interpretation bleibt auf der Ebene des Ausdruckssinns.

In einem nächsten Schritt, der reflektierenden Interpretation, werden nun diese

inhaltlichen Äußerungen mit dem Grundmuster der Äußerungen in der gesamten

Diskussion in Verbindung gebracht und insbesondere mit Blick auf einen

kollektiven Habitus komparativ herausgearbeitet. Auf dieser Ebene wird der

Dokumentsinn, der eigentliche kollektive Orientierungsrahmen rekonstruiert. Dies

kann in Form einer sinngenetischen oder soziogenetischen Interpretation erfolgen.

In der sinngenetischen Analyse werden nur Informationen aus dem Text selbst

betrachtet und in Beziehung gesetzt. Die soziogenetische Interpretation geht hier

weiter und bezieht Hintergrundinformationen über die Sozialisationsgeschichte

der Teilnehmenden mit ein bzw. vergleicht Kontrastgruppen in ihren Äußerungen,

um Rückschlüsse auf die Bedeutung sozialisatorischer Kriterien zu ziehen. Der

komparativen Analyse kommt in der dokumentarischen Methode eine besondere

Rolle zu. Um die Bedeutung von Äußerungen im Gesamtkontext erschließen zu

können, werden zunächst einzelne Diskussionssequenzen miteinander verglichen.

Neben dieser fallinternen Kontrastierung wird auch fallextern verglichen. Aus

Page 9: 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode als ... · Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie 58 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode

Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie

66

diesem Grunde ist die Erhebung von in den Vergleichskriterien kontrastierenden

Kontrollgruppen erforderlich.

Von grundlegender Bedeutung ist in der dokumentarischen Interpretation die

Sequenzanalyse. Thematisch entsprechende Textteile werden identifiziert und

miteinander verglichen. Besonderes Gewicht kommt hier „dramaturgisch”

besonders exponierten Diskussionsstellen, den sogenannten

Fokussierungsmetaphern zu. Hier handelt es sich um inhaltlich und interaktive

dichte Sequenzen der Diskussion. Die interaktive Dichte deutet daraufhin, daß es

sich um Themen von großer Bedeutung für die Teilnehmenden handelt. Da hier

von den Diskutierenden der thematische Schwerpunkt – unwillkürlich, d.h.

habituell und nicht intendiert – gesetzt wird, haben diese Sequenzen große

Aussagekraft in Bezug auf kollektive Orientierungsmuster. Auf den fallinternen

und fallexternen Vergleich dieser Fokussierungsmetaphern folgt die

Kontrastierung mit anderen Sequenzen im Text. Auf diese Weise wird eine höhere

Validität der Interpretation sowie weitgehender Aussagen über den Dokumentsinn

der Gruppe möglich.

Der dritte Schritt einer dokumentarischen Interpretation ist die

Diskursbeschreibung. Diese Form wurde in Kapitel 6 für die Darstellung der

Interpretationen gewählt. Hier wird der Diskursverlauf auf inhaltlicher als auch

auf formaler Ebene rekonstruiert und dargestellt. In diesem Zusammenhang ist

wichtig, wie die DiskussionsteilnehmerInnen sich aufeinander beziehen, welche

Themen sich durch die Diskussion verfolgen lassen und wie sich im

Zusammenspiel von inhaltlichen Bezügen und formaler Diskursorganisation ein

kollektiver Orientierungsrahmen entwickelt bzw. rekonstruieren läßt.

Im vierten und letzten Schritt erfolgt die Typenbildung. Idealerweise erfolgt sie

begleitend zu den anderen Schritten, d.h. im Verlauf der Interpretation wird

immer wieder geprüft, inwiefern eine Sättigung der Kontraste erreicht wird und

ob gegebenenfalls noch Kontrastgruppen erhoben werden müßten. Somit können

sich die beschriebenen Schritte in einem längeren Prozeß abwechseln. In dieser

Arbeit lautet die Frage, ob es eine gemeinsame berufsethische Grundlage in der

Sozialen Arbeit gibt. Aufgrund der großen Kontraste bei den zwei erhobenen

Gruppen wurden keine weiteren Gruppen erhoben. In Zusammenhang mit einer

Page 10: 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode als ... · Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie 58 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode

Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie

67

eingehenden Klärung der Ursachen für die vorliegenden Diskrepanzen bietet sich

eine weitere Forschung mit umfänglicheren Kontrastierungen an.

4.2.2 Analyseeinstellung und Standortgebundenheit der Interpretation

Kern der Dokumentarischen Methode ist die „genetische Einstellung” (vgl.

Mannheim 1980, 85) in der Beobachtung von Prozessen der Herstellung von Welt

(vgl. Bohnsack 2000). Diese aus der Ethnomethodologie entstammende

Grundhaltung bedeutet eine Relativierung dessen, was als objektiv gültig erachtet

wird zugunsten der Akzeptanz von verschiedenen Perspektiven, die in einem

interaktiven Prozeß eine gemeinsame Wahrnehmung von Realität entwickeln. Das

Forschungsinteresse verlagert sich von der Frage nach kulturellen oder

gesellschaftlichen Fakten auf die Frage danach, wie diese gebildet werden, nach

ihrer Genese. Die dokumentarische Methode bzw. die Ethnomethodologie

unterscheiden sich von der wissenssoziologischen Hermeneutik dadurch, daß sie

auch interaktive Prozesse in die Beobachtung miteinbeziehen. Im Gegensatz zur

phänomenologischen Beobachtung richtet sich die Analyseeinstellung der

Ethnomethodologie auf die Herstellung von Sinnzuschreibungen. Sie werden, wie

oben beschrieben, nicht als faktisch angenommen, sondern in ihrer Entstehung

beobachtet. Der Fokus richtet sich hierbei auf die Analyse der interpretativen

Prozesse der Handelnden, die zur Herstellung von Realität führen.

Die Verankerung des Interpretationsprozesses im Sozialen hat für die Haltung der

Forschenden Konsequenzen. Sie verpflichtet sie zur Reflexion der eigenen

Position und der Perspektivität der Wahrnehmung durch sozialisatorisch oder

anderweitig bedingte Vorannahmen. Karl Mannheim spricht hier von der

„Verwurzelung des Denkens im sozialen Raum”, die nicht allein und nicht primär

als eine „Fehlerquelle” betrachtet werden dürfe, sondern zugleich auch als

„größere Chance für die zugreifende Kraft dieser Denkweise in bestimmten

Seinsregionen” (Mannheim 1952, 73). Soziale Existenz entsteht durch die

Teilnahme an einer kollektiven Handlungspraxis und ermöglicht somit Verstehen.

Diese „Seinsgebundenheit” oder „Standortgebundenheit” des Interpreten (jeder

Interpretierende kommt aus sozialen Zusammenhängen, die seinen Blickwinkel

beeinflussen) muß im gesamten Forschungsprozeß mitreflektiert werden. Durch

den kontrastiven Vergleich verschiedener Diskussionsäußerungen miteinander

Page 11: 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode als ... · Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie 58 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode

Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie

68

wird diese Perspektivität des Forschenden verringert. Grundsätzlich gilt jedoch,

daß es keine „richtigen” oder „falschen” Erkenntnisse gibt, sondern stets

standortabhängige Wahrnehmung, welche begründet sein muß, aber eben keinen

Ausschließlichkeitsanspruch stellen kann. In diesem Zusammenhang findet somit

die Kontrolle des Vorwissens bzw. atheoretischen Wissens während des

Forschungsprozesses durch begleitende Reflexion und einzeln nachvollziehbare

Schritte statt. Die Forschenden gehen im Sinne der Dokumentarischen Methode

(wie auch bei Grounded Theory und wissenssoziologischer Tradition) nicht davon

aus, daß „sie mehr wissen als die Erforschten, sondern zunächst davon, daß die

Erforschten selbst nicht wissen, was sie da eigentlich alles wissen” (Bohnsack

1999, 204). Die prinzipielle Haltung entspricht somit dem methodischen Postulat

der Fremdheit mit dem Ziel, Regelsysteme zu rekonstruieren (vgl. Bohnsack

1999, 204).

4.3 Empirische Moralforschung

In dieser Arbeit wird nur kurz auf die Untersuchungen der Kohlberg-Schule

eingegangen, da diese Forschungsrichtung zwar viel im Bereich der

Moralforschung gearbeitet hat, jedoch andere Schwerpunkte hat als hier angezielt.

Piaget und Kohlbergs genetisch-strukturale empirische Theorien gehen von

gerichteten, durch Reifungs- und Interaktionsprozesse geförderten Dispositionen

aus, die durch entsprechende pädagogische Interventionen entwickelt werden

können (vgl. Brumlik 1986, 56). Unter anderem das Kohlbergsche Stufenmodell

stellt im Vergleich zur neutralen Beobachtung moralischer Orientierungen eine

verkürzte Betrachtung moralischer Haltungen dar. In der Auswertung der Daten

dieser Arbeit wird mit offenen Analysekategorien gearbeitet. In der kognitiven

Psychologie wird eine mögliche Diskrepanz zwischen moralischem Urteil und

Handeln stark diskutiert. Kohlberg u.a. vertreten die These, daß, je höher die

Moralstufe der Entscheidung, desto größer die Übereinstimmung zwischen Urteil

und Handeln sei, da hier die Person, die das Gute weiß, es auch tue – wie bei

Platon (vgl. Garz 1999a, 380ff.). Diese Behauptung wird von verschiedenen

MoralforscherInnen, die mit ähnlichen Mitteln wie Kohlberg arbeiten, zumindest

relativiert oder widerlegt. Gertrud Nunner-Winkler zeigt auf, daß das Verhältnis

zwischen moralischem Urteil und Handeln von der Intensität der moralischen

Motivation bzw. der Bedeutung außermoralischer identitätskonstitutiver

Page 12: 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode als ... · Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie 58 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode

Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie

69

Wertbindungen abhängig ist (vgl. Nunner-Winkler 1999). Detlef Garz

differenziert Kohlbergs Aussagen dahingehend, daß er darstellt, wie sich anhand

des „Heinz-Dilemmas”2 und einer Betrachtung der Argumentation beim Übergang

zwischen Stufe 4 und 5 individuelle biographisch und sozial bedingte

Unterschiede bzw. Übereinstimmungen zwischen Urteil und Handeln ergeben

(vgl. Garz 1999a und 1999b). Tilmann Habermas kritisiert das starre Stufenmaß,

mit dem die Übereinstimmung von Urteil und Handeln von Kohlberg

vorgenommen wird sowie die unklare Fragenformulierung, die vor allem das

Verantwortlichkeitsurteil als zentrales Maß der Entscheidung relativieren kann

(vgl. Habermas 1999). Abgesehen von der Kritik an der „Schubladenorientierung”

der Kohlberg-Schule geht es in der vorliegenden Untersuchung nicht um eine

Betrachtung der moralischen Stufe, auf der sich die Professionellen

möglicherweise befinden, sondern um eine inhaltliche Bestimmung moralischer

Orientierungen, die anhand des Stufenschemas nicht möglich ist.

Jörg Bergmann und Thomas Luckmann wenden sich gegen eine Moralforschung,

die anhand von Dilemmata moralische Orientierungen beobachten will. Sie

bestreiten, daß sich mit dem Mittel künstlicher Dilemmata tatsächliche

Orientierungsmuster zeigen lassen (vgl. Bergmann/Luckmann 1999, 17ff.). Dem

widerspricht jedoch in der Praxis Sozialer Arbeit, daß in verschiedenen

Zusammenhängen Fallbesprechungen stattfinden, die der Diskussion von

Dilemmata strukturell entsprechen und somit ein quasi-natürlicher

Erhebungsgegenstand vorliegt. Bei der Analyse dieser Erhebungen ist jedoch zu

beachten, daß die Urteils- und Handlungsebene anhand der sprachlichen

Äußerungen unterschieden wird. In Anlehnung an Schützes Unterscheidung der

Textsorten werden somit Äußerungen, die sich auf argumentativer Ebene

bewegen oder Rechtfertigungscharakter haben, nur als Ausdruck eines

2 Das „Heinz-Dilemma“ wird in der Moralstufenforschung der Kohlbergschule verwendet. Es handelt sich

hier um eine Geschichte, in der ein Entscheidungsdilemma thematisiert wird, das zur Begründung von Lösungsvorschlägen anregt. In der Geschichte geht es um die Problematik einer krebskranken Frau, deren Lebenschancen möglicherweise von der Einnahme eines Medikamentes abhängen, das vom Apotheker zu einem unbezahlbaren Preis angeboten wird. Ihr Mann („Heinz“) steht vor der Frage, einen Einbruch zu begehen oder sie sterben zu lassen. Anhand der Lösungen, die von Untersuchungspersonen entwickelt werden, werden diese in Moralstufen eingeteilt (vgl. Kohlberg 1995).

Page 13: 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode als ... · Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie 58 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode

Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie

70

spezifischen moralischen Urteils betrachtet, während Erzählungen aus dem Alltag

stärker handlungsrelevant gewertet werden (vgl. Schütze 1983, 283ff. sowie

Bohnsack 1999, 69 und 79).

Die bisher vorliegenden Studien der Moralforschung haben noch keine

Untersuchung von Professionshandeln und Professionsmoral auf dem Hintergrund

des Dienstleistungsbegriffes in der Sozialen Arbeit vorgenommen. In

Zusammenhang mir diesem neuen Konzept professionellen Handelns stellt sich

die Frage, ob hiermit neue Schwerpunkte in der moralischen Orientierung von

Professionellen bedingt und neue Formen der Bewältigung des

Spannungsverhältnisses von Hilfe und Kontrolle hervorgebracht werden könnten.

Dies soll mit dieser Arbeit untersucht werden.

4.4 Die sprachliche Analyse moralischer Kommunikation von Bergmann/Luckmann

Jörg Bergmann und Thomas Luckmann haben in einem mehrjährigen DFG-

Forschungsprojekt vielfältige Formen moralischer Kommunikation untersucht. In

diesem Zusammenhang definierten sie den jeweiligen Untersuchungsgegenstand

im Laufe des Prozesses. In Zusammenhang mit beruflichen Moraläußerungen

bezeichneten sie ihren Gegenstand allgemein als Kommunikationsformen und

Deutungsmuster, die in der Berufskultur den Erweis bzw. den Entzug von

Achtung bedeuten (vgl. Bergmann/Luckmann 1999, 32). Konkret definiert

Luckmann an anderer Stelle moralische Kommunikation als eine kommunikative

Tätigkeit, in der eine Handlung, ein Leben, ein Individuum, eine kollektive Person

nach Kriterien wie „gut” und „böse” bewertet wird (vgl. Luckmann 1998, 33).

Alfred Schütz zufolge beruhen subjektive Orientierungen und Handlungen in der

Lebenswelt – einschließlich ihrer moralischen Aspekte – auf verschiedenen

Schichten der allgemeinen Struktur des Bewußtseins. Diese bestehen –

phänomenologisch formuliert – etwa aus der polyethischen Konstitution von

Handlungsentwürfen, dem Ich-Index laufender Erfahrungen und der Konstitution

typischen Sinns von (typischen) Erfahrungen (vgl. Schütz, A. 1974, zitiert nach

Bergmann/Luckmann 1999, 25).

Page 14: 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode als ... · Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie 58 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode

Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie

71

4.4.1 Elemente moralischer Kommunikation

Bergmann/Luckmann entwickelten eine Reihe von Kriterien zur Analyse

moralischer Kommunikationsstrukturen, die im folgenden kurz vorgestellt

werden.

In diesem Zusammenhang und für das weitere Verständnis zunächst eine

Begriffsklärung: Bergmann/Luckmann sprechen von einer sogenannten

„Protomoral” als jenes universale Strukturelement der Lebenswelt, das in der

historischen und gesellschaftlichen Konstruktion, Aufrechterhaltung und

Vermittlung jeweiliger moralischer Kodes vorausgesetzt ist (vgl.

Bergmann/Luckmann 1999, 27). Sie bezeichnen hiermit eine Art universeller

Grundlage für alles, was an spezifischen Moralen ausdifferenziert ist. Als Moral

wird hier ein gruppenspezifischer Wertehorizont verstanden. Dies entspricht in

den Grundzügen dem, was bei Bohnsack der konjunktive Erfahrungsraum der

Gruppe, die Milieumoral ist.

Als die drei konstitutiven Momente moralischer Äußerungen werden in diesem

Kontext folgende genannt: 1) Bewertungsleistungen bzw. Wertzuschreibungen –

allerdings bedeutet eine Wertzuschreibung allein noch keine moralische

Bewertung. 2) Akteursbezug. Das bedeutet, die Bewertung bezieht sich nicht auf

einen Gegenstand oder eine isolierte Handlung, sondern direkt oder indirekt auf

einen Akteur oder eine Gruppe von Akteuren. Als ein weiterer Fall gilt die

Beurteilung einer Handlung oder eines Objekts wenn sie nur die offizielle Form

der („inoffiziellen” – Anmerkung der Verfasserin) Beurteilung des Akteurs in

seiner Gesamtheit ist. 3) Wahlmöglichkeit, d.h. den Akteuren wird zugeschrieben,

daß sie verschiedene Handlungsoptionen hatten. Das liegt in der Annahme der

Reziprozität der Perspektiven begründet, denn hiernach nehmen kompetent

Handelnde für sich in Anspruch, wählen zu können. Indem jemand anderem diese

Fähigkeit (und Verantwortung) zugeschrieben wird, kann er für seine Handlung

verantwortlich gemacht und somit moralisch bewertet werden (vgl.

Bergmann/Luckmann 1999, 25ff.).

Sofern diese drei Komponenten in einer Entscheidung vertreten sind, handelt es

sich nach Bergmann/Luckmann um eine moralische Entscheidung. Anzumerken

ist hier, daß diese Autoren von der Reziprozität der Perspektiven als prinzipielles

Page 15: 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode als ... · Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie 58 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode

Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie

72

Muster jeglicher sozialer Interaktion ausgehen. Insofern setzen sie ein normatives

Moment ab initio. In Zusammenhang mit der Verwendung der

Beobachtungskriterien dieser Verfasser wird diese inhaltliche Definition hier

vernachlässigt, denn das Beobachtungsinteresse im Kontext dieser Arbeit besteht

darin, zu untersuchen, ob überhaupt und wenn ja, in welcher Form, etwa eine

Reziprozität der Perspektiven in moralischen Entscheidungssituationen eine Rolle

spielt.

4.4.2 Inhaltliche Kriterien moralischer Kommunikation

Für die inhaltliche Ebene der Analyse moralischer Äußerungen nennen

Bergmann/Luckmann sechs Merkmale: a) Tendenz zur Personalisierung, d.h.

personale Identität wird in diesen Aussagen als moralische Identität bestimmt und

bestimmte moralische Wertungen mit der Bewertung von Personen selbst

gleichgesetzt oder verbunden; b) Tendenz zur Generalisierung in Form von

pauschalisierenden Aussagen oder Urteilen; c) Abstraktionen, die auf

personalisierende Urteile zugespitzt sind und in denen konkret der Handelnde als

Repräsentant eines Typus betrachtet wird; d) Affektive Ausschmückungen als

emotionale, nicht neutrale Attribuierungen von Personen, Dingen oder

Handlungen; e) Entdifferenzierung und Polarisierung durch plakative

Äußerungen; f) indirekte Aussagen, d.h. scheinbar neutrale und ungezielte

Äußerungen, die jedoch jemand Bestimmten oder etwas Konkretes meinen (vgl.

Bergmann/Luckmann 29ff.).

Zu den weiteren Kennzeichen moralischer Aussagen zählt

Stereotypenkommunikation, oft verbunden mit dem Ausdruck von Entrüstung. Als

möglicher Angriffspunkt von Gegenmoralisierungen (welche die unpräzise

Verurteilung bewerten könnten) wird sie durch die Interagierenden häufig durch

Geschichten, rhetorische Elemente oder Authentizitätsnachweise abgesichert. Auf

diese Weise entwickelt sich in diesem Zusammenhang eine paradoxe interaktive

Dynamik von Übertreibungen und Abschwächungen (vgl. Bergmann/Luckmann

1999, 379). Eine weitere sprachliche Form der Legitimation moralischer

Bewertungen ist die Verwendung von Sprichwörtern oder ”Wer - der”-

Formulierungen. Auch eigene Erzählungen dienen häufig als Vehikel für die

Vermittlung moralischer Normen und Wertungen (vgl. Bergmann/Luckmann

Page 16: 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode als ... · Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie 58 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode

Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie

73

1999, 235ff.). In diesem Zusammenhang bieten Erzählungen aus dem Berufsalltag

innerhalb der Diskussionen die Möglichkeit, berufsmoralische Einstellungen zu

beobachten. Innerhalb von Argumentationen finden sich vielfach kategorische

Äußerungen als Kennzeichen von Konklusionen wieder (vgl.

Bergmann/Luckmann 1999, 106ff.). Darüber hinaus kann sich moralisches

Urteilen auch in der expliziten Nicht-Nennung von Personen ausdrücken (vgl.

Bergmann/Luckmann 1999, 120). Diese Merkmale werden triangulierend zur

Interpretation der Äußerungen in den Gruppendiskussionen herangezogen.

4.4.3 Formen der sprachlichen Kennzeichnung von Moral

Neben den inhaltlichen Kriterien entwickelten Bergmann/Luckmann in ihrem

Projekt einen Katalog sprachlicher Elemente, die moralische Äußerungen

kennzeichnen. Eine Kategorie bilden lexiko-semantische Formen wie

beispielsweise lexikalische Elemente („die pennt”), Entrüstungsformeln („ja,

gibt’s das!”), eskalierende Lexik („er trinkt – er säuft”), Euphemismen,

Extremformulierungen, moralisch aufgeladene neutrale lexikalische Elemente

(„dieser Mann”) und die Verwendung von neutralisierter wertender Lexik

(„deppert”). Darüber hinaus dienen syntaktische Mittel – Satzkonstruktionen, die

Gegensätze darstellen, Ellipsen, Fragen, Umstellungen im Satzbau, Satzabbrüche,

Reformulierungen – ebenso wie prosodische Mittel, d.h. Sprechrhythmisierungen,

Akzentuierungen, Lautstärkenveränderungen und eine bestimmte

Sprechgeschwindigkeit zur moralisierenden Aufwertung sonst neutraler

Äußerungen. Anzeichen dafür können auch paraverbale Mittel wie Lachen,

Weinen oder Gestik sein. Rhetorische Elemente in Form von Kontrastierungen,

Oppositionsbildungen, Reihungen, Verdopplungen, Wiederholungen, Metaphern,

Generalisierungen, Kategorisierungen3, Umschreibungen, Andeutungen, direkten

Präskriptionen („man sollte doch...”) oder expliziten Appellen zum Handeln oder

Denken sind ein weiteres Charakteristikum von Moralkommunikation (vgl.

Bergmann/Luckmann 1999, 46 f).

3 Kategorische Formulierungen „können zu Vehikeln für moralische Kommunikation ernannt werden, die

insbesondere dann ihren Dienst tun, wenn Interagierende mit gewisser Vorsicht die direkte Inkriminierung des moralischen Adressaten vermeiden wollen.” (Bergmann/Luckmann 1999, 124)

Page 17: 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode als ... · Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie 58 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode

Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie

74

4.5 Empirische Forschungen zum professionellen Habitus in der Sozialen Arbeit

Neben verschiedenen Verbleibsstudien und quantitativen Erfassungen des

Bereiches der (Sozial-) Pädagogik von Thomas Rauschenbach liegen in der

sozialpädagogischen Forschung bisher noch relativ wenige Studien zur

Berufspraxis vor. Bernd Dewe und Hans-Uwe Otto stellen noch 1996 fest, daß es

ein „gewaltiges Forschungsdefizit” in berufspraktischen Feldern der

Sozialpädagogik gebe (Dewe/Otto 1996b, 8).

Während Ulrich Oevermann durch seine Forschungen zu dem Schluß kommt, daß

die Ausbildung der bedeutende Ort der Habitusformation für PädagogInnen sei

(vgl. Oevermann 1996, 123) schließen Werner Thole und Ernst-Uwe Küster-

Schapfl aus ihren Ergebnissen, daß die zugrundeliegenden Orientierungen für

Handeln aus einem Erfahrungshintergrund stammen, der wenig mit

wissenschaftlich gestützter Fachlichkeit zu tun hat und vor allem aus dem

privaten, vor der Ausbildung gewonnenen Erfahrungs- und Sozialisationsbereich

herrühren (vgl. Thole/Küster-Schapfl 1996 und Thole/Küster-Schapfl 1997).

Ähnlich stellen Friedhelm Ackermann und Dietmar Seeck fest, daß keine

disziplinäre Prägung durch das Studium der Sozialen Arbeit stattfindet und auch

keine eindeutig berufliche Identität eruierbar zu sein scheint (vgl.

Ackermann/Seeck 1999).

In Zusammenhang mit der genaueren Betrachtung einer Studie zur

Wissensverwendung in der professionellen Praxis Sozialer Arbeit zeigt sich, daß

die Frage nach dem vorliegenden und verwendeten Wissen nicht zur Erklärung

von berufspraktischen Handlungsweisen ausreicht. Es bleibt ein Desiderat, das

Entscheidungen erklärt und über Wissensbestände hinaus normative

Orientierungen in den Blick nimmt (vgl. Böhm/Mühlbach/Otto 1989, kritisch

hierzu: Dewe/Otto 1996, 8).

Auf dem Hintergrund dieser Forschungsergebnisse stellt diese Arbeit die Frage

nach dem professionellen Profil in der Sozialen Arbeit neu und erstmalig mit dem

Fokus auf die Moralperspektive.

Page 18: 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode als ... · Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie 58 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode

Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie

75

4.6 Die spezifische Methodenkombination in dieser Arbeit

Das Gruppendiskussionsverfahren ist ein bisher kaum genutztes

Erhebungsinstrument in der sozialpädagogischen Habitusforschung. Rita Sahle,

Ackermann/Seeck wie auch Thole/Küster-Schapfl beispielsweise verwenden in

ihren Forschungen narrative und Leitfadeninterviews als empirische Daten, um

Deutungsmuster Sozialer Arbeit zu rekonstruieren (vgl. Ackermann/Seeck 1999,

Thole/Küster-Schapfl 1997 und Sahle 1988), Hans-Jürgen Göppner arbeitet mit

Gruppenbefragungen von Experten sowie Fragebögen, die an (Fach-)

HochschulabsolventInnen gerichtet waren (vgl. Göppner 1988, 40ff.). Dies ist um

so erstaunlicher, da sich die Gruppendiskussion in Verbindung mit der

Interpretation durch die Dokumentarische Methode auf der Suche nach einem

kollektiven Deutungsmuster der Profession als naturnahe und

gruppenmeinungsbezogene Methoden geradezu anbieten. Ähnlich einer

Fallbesprechung oder kollegialen Beratung läßt sich mit den Teilnehmenden eine

ihnen vertraute Situation schaffen. In diesem für sie üblichen Rahmen wird ihnen

ermöglicht, sich weitgehend authentisch mit einem „Fall” auseinanderzusetzen

ohne durch die Form der Erhebung in eine künstliche Situation versetzt zu

werden.

Nicht zuletzt aufgrund der hohen Entsprechung zur Teamstruktur in Institutionen

lassen sich letztere anhand dieser Methode mit einem hohen Grad an Natürlichkeit

beobachten. Da diese Form der Datenerhebung gleichzeitig individuelle und

kollektive Orientierungen erfaßt, bietet sie unter anderem der Erforschung

institutioneller z.B. in Abgrenzung zu etwaigen professionellen oder individuellen

Meinungen und Orientierungsmustern gerade in der Professions- und der

Institutionenforschung viele Möglichkeiten. Insbesondere gegenüber anderen

Verfahren wie dem Einzelinterview ist die Gruppendiskussion weitaus komplexer.

Sie wird gleichzeitig durch Subjekt und Situation gestaltet und ihr Verlauf ist

wenig vorstrukturiert. Ihre Natürlichkeit gilt sowohl für die Erhebungssituation als

auch für die erhobenen Inhalte: „Ein Thema wird aus verschiedenen subjektiven

Blickwinkeln betrachtet, Aussagen werden geprüft, bestritten, bestätigt,

Behauptungen mit Beispielen untermauert, mit Gegenbeispielen neutralisiert und

so fort.” (Schnurr 1997, 53). Meinungen und Einstellungen gewinnen in der

Auseinandersetzung Kontur und dies ereignet sich mit einer situativen

Page 19: 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode als ... · Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie 58 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode

Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie

76

Eigendynamik, in die der Forscher nur begrenzt eingreifen kann, während im

Vergleich dazu im Interview die Situation und somit auch die inhaltlichen

Strukturen vom Forschenden sehr stark gesteuert werden. Gerade der kollektiv

geteilte Anteil des Habitus der Teilnehmenden wird in diesem Zusammenhang

besonders gut beobachtbar. Darüber hinaus können mit

Gruppendiskussionsverfahren ebenso Wirkungsanalysen in Klientelkreisen wie

auch Konzeptevaluationen in Institutionen durchgeführt werden. Diese

verschiedenen Anwendungsbereiche von Gruppendiskussionsverfahren, die

unterschiedliche Formen dieser Methode erfordern, zeigen die Notwendigkeit

einer weiteren methodologischen Diskussion, insbesondere im Bereich ihrer

erziehungswissenschaftlichen Nutzung.

Wie schon oben angesprochen, besteht ein Bedarf danach, professionelle

normative Orientierungen wissenschaftlich in den Blick zu nehmen und ihre

Relevanz sowie ihre Herkunft und ihre mögliche kollektive Bedeutung zu

erforschen. Als Mittel für die Erfassung möglicherweise kollektiv geteilter

Deutungs- und Orientierungsmuster wird in dieser Arbeit als Erhebungsmethode

die Gruppendiskussion und als Analyseinstrument die Dokumentarische Methode

nach Ralf Bohnsack gewählt. Die in dieser Untersuchung verwendete

Kombination von Vignetten und Gruppendiskussion ist ein neuer Schritt in der

sozialpädagogischen Forschung. Zumeist werden entweder Vignetten in

Interviews oder Gruppendiskussion mit Fragen oder einem bestimmten

Anfangsthema verwendet. Dieses bisher unerprobte Vorgehen wurde gewählt, da

es aufgrund seiner Entsprechung zur Alltagsform der kollegialen Beratung oder

Supervision in der Sozialen Arbeit Form als naturnahe Form besonders geeignet

erschien. Eine weitere Frage, die sich innerhalb der Untersuchung stellt, ist die, ob

Entscheidung und Begründung aus demselben Wissenshaushalt stammen (Dewe

u.a. 1993, 197). Dem wird in der dokumentarischen Interpretation nachgegangen,

indem zwischen Bewußtseins- und Handlungsebene differenziert wird, orientiert

an der Unterscheidung der Textsorten nach Schütze.

Page 20: 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode als ... · Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie 58 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode

Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie

77

4.7 Überlegungen zum methodischen Aufbau

4.7.1 Die Gruppe

Voraussetzung für die Gruppendiskussion ist, daß „die Diskutanten sich face-to-

face kommunikativ zu einem bestimmten Gegenstand, von dem sie alle betroffen

sind, austauschen, also miteinander interagieren” (Lamnek 1998, 53). Die

Entscheidung für eine natürliche oder eine künstliche Gruppe als

TeilnehmerInnen ist abhängig von der Forschungsfragestellung. Realgruppen

ermöglichen eine höhere Naturalistizität und damit eine höhere externe Validität,

sie sind meist bezüglich Status und Positionen heterogen beschaffen. Dies kann

auch die Unabhängigkeit der Aussagen in der Diskussion einschränken.

Künstliche Gruppen sind frei durch die Methode des Theoretical Sampling (vgl.

Strauss 1994, 70 f) und mit einer maximalen Variationsbreite arrangierbar.

Dadurch sind sie in der externen hierarchischen Positionierung nicht so festgelegt

und ermöglichen erfahrungsgemäß eine offenere und informationsreichere

Diskussion, die von der Moderation stärker beeinflußt werden kann.

Zur Gruppengröße finden sich verschiedene Angaben. Mangold spricht von 3-20

TeilnehmerInnen und präferiert 6-10 Personen (vgl. Mangold 1973, 229), Pollock

schlägt eine Gruppengröße von mindestens 7 und maximal 17 TeilnehmerInnen

vor (vgl. Pollock 1955, 38). In der amerikanischen Literatur werden 3-5

Diskutanten bevorzugt; Lamnek favorisiert 9-12 Personen. (vgl. Lamnek 1998,

101). Grundsätzlich wird über die Anzahl abhängig von Erkenntnisinteresse und

Gegenstand der Untersuchung entschieden. Insbesondere bei kleinen Gruppen ist

es darüber hinaus sinnvoll, eine ungerade Anzahl an TeilnehmerInnen zu wählen,

um bei Frontenbildungen Pattsituationen zu vermeiden.

4.7.2 Durchführung

Ein Problem stellt sich bei der Vorinformation der Gruppen. In der Einladung der

TeilnehmerInnen zur Gruppendiskussion ist es notwendig zu schildern, worin das

Forschungsvorhaben besteht, allerdings ohne den TeilnehmerInnen zu detaillierte

Anhaltspunkte zu geben, denn dies kann in der Diskussion zu eingeschränkten

Orientierungen an den antizipierten Erwartungen des Forschers führen. In der

Page 21: 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode als ... · Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie 58 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode

Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie

78

Diskussionssituation selbst kann es zu Nachfragen der TeilnehmerInnen kommen,

ob dies oder jenes noch zum Thema der Diskussion gehöre oder „erlaubt” sei. In

solchen Momenten liegt es an der Moderation, durch permissives Agieren und

Reagieren die Orientierung an den Erwartungen des Forschers/Moderators

abzubauen (zur Rolle des Moderators vgl. Kapitel 5.4 sowie Bohnsack 1999,

212ff. und Lamnek 1998, 118, 128).

In den Diskussionsbeiträgen spiegeln sich sowohl individuelle als auch

gruppenspezifische Orientierungen (auch z.B. in Abgrenzung zu einer Institution),

in den Interaktionen korrigieren und bestätigen die TeilnehmerInnen sich

gegenseitig. Hierbei werden sowohl die Gruppenrollen der einzelnen

TeilnehmerInnen als auch die spezifische Erhebungssituation bedeutend. Somit

sind notwendigerweise die Inhalts- und die Strukturebene der Kommunikation

Gegenstand der Erhebung und der Interpretation.

4.7.3 Datenerfassung und Transkription

Die Diskussion wird auf Tonband aufgezeichnet und zusätzlich auf Videoträger

mitgeschnitten, um den Verlauf von gruppendynamischen Prozessen besser

rekonstruieren und unklare akustische Ereignisse besser einordnen zu können..

Die Audio- (und evtl. Video-) Daten werden transkribiert.

Es gibt verschiedene Systeme für Transkriptionsregeln, die die Kommunikation je

nach Fragestellung an die Daten mehr oder weniger detailliert erfassen. In diesem

Fall werden dialektale Äußerungen lautnah und in Anlehnung an die

Transkriptionssysteme von Kallmeyer/Schütze sowie Bohnsack wie folgt

dargestellt (vgl. Bohnsack 1999, 233 f, Kallmeyer/Schütze 1977, 263):

Page 22: 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode als ... · Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie 58 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode

Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie

79

Transkriptionsregeln

. . Pause (1-5 Sekunden)

GESAGT Betonung

äh-äh schneller Anschluß

((...)) unverständlicher Text

(oder sagen wir) Unsicherheit bei der Transkription, schwer verständliche Äußerungen

(Geräusche) Geräusche wie Klopfen, Husten oder das Bellen eines Hundes, das Schlagen einer Uhr, Telefonklingeln etc., da solche Geräusche die Befragten oft zu einem Kommentar veranlaßt hat oder teilweise sogar den Gesprächsverlauf beeinflußt

(lacht) Lachen der TeilnehmerInnen im Gesprächsverlauf

(Lachen) Lachen im Hintergrund

Ew Großbuchstaben sind die Kennung für die/den jeweilige/n TeilnehmerIn, ”w” bzw. ”m” als Zusatz bezeichnen das Geschlecht: w für weiblich, m für männlich

-ja Unterbrechung durch die/den Sprechende/n

ja- Unterbrechung durch andere TeilnehmerInnen

In den Transkripten sind die einzelnen Personen mit Großbuchstaben

gekennzeichnet, um sie zu anonymisieren. Somit sind die großen Buchstaben „E”,

„H”, ... Bezeichnungen für die verschiedenen TeilnehmerInnen der Diskussion,

der kleine Buchstabe jeweils dahinter bezeichnet das Geschlecht der Sprechenden:

„m” für männlich, „w” für weiblich. Die Zahlenangaben beziehen sich auf die

Zeilennumerierung im Transkript. Die Gruppen bzw. Institutionen erhalten

neutrale anonymisierte Namen: „Fluß” und „Baum”. Diese sind ohne jeglichen

Bezug zu inhaltlichen Bestimmungen gewählt, um die

Interpretationswahrnehmung offen zu halten und somit etwaige Einschränkungen

Page 23: 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode als ... · Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie 58 4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode

Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie

80

der Analyse während der Interpretation zu vermeiden. Die Videoaufnahmen

werden ergänzend zu den Tonbandaufnahmen zur Interpretation herangezogen,

um Uneindeutigkeiten bezüglich der Sprecherpersonen und akustische

Unklarheiten zu ermitteln.

4.7.4 Interpretation und Aufbereitung des Datenmaterials

In der Gruppendiskussion haben die Interaktions- und Gruppenstrukturen neben

den inhaltlichen Äußerungen eine große Bedeutung und wirken auf die

Ergebnisse. Auf formaler Ebene geht es daher um eine Rekonstruktion des

Diskursverlaufs (vgl. Bohnsack 1999, 148ff.), der Kommunikationsstrukturen

sowie der Rollen der Beteiligten. Diese Analyse ermöglicht es, die inhaltlichen

Äußerungen in ihrer Bedeutung für die Gruppe einzuordnen. Dabei ist von

Bedeutung, ob individuelle oder kollektive Meinungen betrachtet werden sollen

und je nachdem bieten sich unterschiedliche Interpretationsmethoden an. Als

Interpretationsverfahren wurde die Dokumentarische Methode nach Ralf

Bohnsack (1992 und 1997b) sowie ergänzend die Analyse sprachlicher Formen

moralischer Äußerungen nach Bergmann/Luckmann gewählt.