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Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie
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4 Gruppendiskussion und Dokumentarische Methode als Erhebungs- und Interpretationsverfahren
Für die empirische Erhebung wurde die Gruppendiskussion als Verfahren
gewählt. Die Daten wurden anhand der Dokumentarischen Methode nach Ralf
Bohnsack interpretiert. In diesem Kapitel werden methodologische Basis und
methodische Grundstrukturen der beiden Verfahren erläutert. Das
Untersuchungsdesign wird in Kapitel 5 geschildert.
4.1 Die Gruppendiskussion als Methode in der qualitativen Forschung
Das Gruppendiskussionsverfahren wird in der empirischen Sozialforschung dem
Kanon qualitativer Methoden zugerechnet und beruht in diesem Zusammenhang
ursprünglich methodologisch-theoretisch auf den drei Prinzipien des
Symbolischen Interaktionismus: a) Menschen handeln auf der Grundlage von
Bedeutungen, die die Objekte für sie haben; daher muß der Forscher versuchen,
diese Perspektive einzunehmen und zu verstehen; b) Interaktionen von Menschen
und deren Interpretationen haben stets Prozeßcharakter und c) diese Prozesse sind
situationsabhängig (vgl. Blumer 1973, 134ff.). Im Zuge der Weiterentwicklung
der Methode positionieren sich die VertreterInnen der verschiedenen Schulen
unterschiedlich zu diesen Axiomen, doch ist sie im Sinne der qualitativen
Methodologie der empirischen Sozialforschung ein hypothesengenerierendes und
nicht hypothesenprüfendes Verfahren.
Grundvoraussetzung qualitativer Sozialforschung ist das interpretative Paradigma,
das Thomas P. Wilson formulierte, indem er die Theorie des Symbolischen
Interaktionismus und die Ethnomethodologie miteinander in Beziehung setzte
(vgl. Mayring 1999, 2). Demnach handeln Menschen nicht starr nach kulturell
etablierten Rollen, Normen, Symbolen und Bedeutungen (normatives Paradigma),
vielmehr ist jede soziale Interaktion selbst ein interpretativer Prozeß, in dem der
Mensch jede soziale Situation für sich deuten muß. Jeder muß sich darüber „klar
werden, welche Rollen von ihm erwartet werden, welche ihm zugeschrieben
werden und welche Perspektiven er selbst hat” (Mayring 1999, 2). Soziale
Wirklichkeit besteht somit nicht als objektives Faktum, sondern ist das Ergebnis
interpretativer Interaktionsprozesse. Die Theoriebildung selbst ist daher ein
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interpretativer Prozeß, während die WissenschaftlerInnen als „Interpreten”
handeln und arbeiten (vgl. Bohnsack 2000, Mayring 1999, 2 sowie Loos/Schäffer
2001, 23ff.).
Die Methode der Gruppendiskussion entspricht in mancher Hinsicht stärker als
andere Methoden (wie z.B. das Leitfadeninterview) den Axiomen des qualitativen
Paradigmas: Die Offenheit insbesondere gegenüber der Untersuchungssituation
und den Untersuchungspersonen ist bei der Gruppendiskussion mehr als
beispielsweise bei Interviews gegeben, da die TeilnehmerInnen den Verlauf und
die Themenhierarchie durch die multilaterale Interaktion (im Gegensatz zur
bilateralen im Interview) in großem Maße selbst bestimmen können. Aufgrund
des kommunikativen Charakters von Alltagsinteraktionen wird in der qualitativen
Forschung eine möglichst hohe Kommunikativität und Naturalistizität innerhalb
des Forschungsprozesses angestrebt, um einerseits die Konstitution und
Konstruktion von Wirklichkeit beobachten zu können. Andererseits kann somit
die feldspezifische Kommunikation zwischen Forscher und Teilnehmer, die
aufgrund der nicht-standardisierten Form unvermeidlich ist, möglichst alltagsnah
und nicht-hierarchisch inszeniert werden. Dies ist im Falle der Gruppendiskussion
durch den meist als angenehm und locker empfundenen
Kommunikationsaustausch mit nahezu optimalem Alltagscharakter gegeben. Da
Alltagsinteraktionen Prozeßcharakter haben, ist besonders der Diskussionsverlauf
geeignet, Prozesse der Beobachtung zugänglich zu machen. In der
Gruppendiskussion läßt sich durch den Nachvollzug der Entstehung von
Bedeutungen ein den Handlungen zugrundeliegender Sinn aufdecken, der durch
reflexive Prozesse überprüft werden kann. Damit ist es möglich, auf unerwartete
Entwicklungen im Verlauf der Diskussion adäquat und flexibel zu reagieren, und
zugleich neben der Reflexivität von Gegenstand und Analyse der Reflexivität des
Verhältnisses von Forscher und Erforschten gerecht zu werden (vgl. Bohnsack
1999, 26ff. und 75ff. sowie Lamnek 1998, 39ff.).
4.1.1 Formen der Gruppendiskussion
Es gibt viele verschiedene Definitionen von Gruppendiskussionen, die in der
unterschiedlichen Forschungspraxis von Beobachtungen von Gruppenprozessen
bis hin zum Abfragen von Gruppeninformationen begründet sind. So reichen die
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Begriffe von „Gruppenexperiment” (Dreher/Dreher 1982) , „focus group”
(Merton 1987), „Delphi-Methode” bis hin zum Gruppeninterview. Allgemein läßt
sich mit David L. Morgan (1997) die Gruppendiskussion als eine
Erhebungsmethode bezeichnen, „die Daten durch die Interaktionen der
Gruppenmitglieder gewinnt, wobei die Thematik durch das Interesse des
Forschers bestimmt wird” (Lamnek 1998, 27). Im Vergleich zu
Gruppeninterviews steht in der Gruppendiskussion die „Bedeutung von
Interaktions-, Diskurs und Gruppenprozessen für die Konstitution von
Meinungen, Orientierungs- und Bedeutungsmustern” (Bohnsack 1999, 123) im
Forschungsmittelpunkt. Während bei ersteren das Kollektiv nicht als Gegenstand
der Erhebung wahrgenommen wird und es sich hier in der Regel um eine
rationelle Methode der Einzelbefragung handelt, werden bei letzterer, vor allem in
Zusammenhang mit der dokumentarischen Methode (s. Kapitel 4.2), kollektive
Orientierungen in den Blick genommen.
Die verschiedenen Arten von Gruppendiskussionsverfahren können nach ihrer
jeweiligen Erkenntnisabsicht differenziert werden. Bei Gruppendiskussionen, die
zum Ziel haben, Informationen und Befunde inhaltlicher Art oder über
gruppendynamische Prozesse zu erheben, spricht man von ermittelnden
Gruppendiskussionen. Geht es darum, Verhaltensänderungen bei den Befragten zu
erzielen, hat die Methode vermittelnden Charakter (vgl. Lamnek 1998, 29 im
Anschluß an Koolwijk/Wieken-Mayser 1974).
In den letzten Jahren wird in der sozialwissenschaftlichen Forschung vermehrt mit
Gruppendiskussionen gearbeitet, doch sind sie im Vergleich zu anderen
Forschungsmethoden noch weitaus unbekannt. Aus diesem Grunde ist ihre
wissenschaftstheoretische, methodologische und methodisch-technische
Ausarbeitung noch vergleichsweise wenig erforscht (vgl. Lamnek 1998, 11). Dies
scheint auch auf die sozialpädagogische Forschung zuzutreffen. Angesichts der
zunehmenden Verbreitung qualitativer Methoden in der
erziehungswissenschaftlichen Forschung wird die Gruppendiskussion zwar
vermehrt genutzt, doch ist ihre methodologische Diskussion im Vergleich zu
anderen qualitativen Forschungsmethoden noch entwicklungsfähig. Dies liegt
möglicherweise in ihrer noch recht jungen Geschichte und ihrer Nutzung vor
allem im kommerziellen oder außerwissenschaftlichen Bereich begründet.
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4.1.2 Erkenntnisziele und Anwendungsgebiete
Im amerikanischen Raum wurde die Gruppendiskussion erstmals von Kurt Lewin
(1936) und seinen Schülern bei sozialpsychologischen Untersuchungen von
Kleingruppen verwendet. Hier stand eher der experimentelle Charakter und
weniger das methodische Design im Zentrum. In Deutschland wurde 1950/51
erstmalig von Fritz Pollock am Frankfurter Institut für Sozialforschung die
Gruppendiskussion eingesetzt, um die Inhalte von Äußerungen in der
Gruppensituation zu erforschen (vgl. Pollock 1955). Zwar entwickelte sich im
deutschsprachigen Raum eine methodologische Debatte um die
Gruppendiskussion, die sich jedoch seit Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre
trotz des vermehrten Einsatzes dieses Forschungsinstruments nicht wesentlich
weiterentwickelt hat. Im englischsprachigen Raum wurde und wird die
Gruppendiskussion weitgehend pragmatisch verwendet und ist ebenfalls wenig
methodisch und methodologisch geklärt (vgl. Lamnek 1998, 17ff.). Im Bereich
der kommerziellen Markt- und Meinungsforschung wird die Gruppendiskussion
häufig eingesetzt, da sie dort als zeitökonomische Methode anwendungsorientiert
und als leicht durchführbares Mittel zur Gewinnung von Informationen über
Kunden viele Vorteile bietet, jedoch methodologisch kaum diskutiert wird.
Die Gruppendiskussion geht von der kontextuellen Bedingtheit von
Einzelmeinungen aus. In Konfrontation mit anderen Personen, die im ähnlichen
Bereich unter ähnlichen Bedingungen arbeiten, fordert diese Form zur
kompetenten Abgrenzung der eigenen Äußerungen heraus. Nach Werner Mangold
(1960) kommt der situationsbedingten Gruppenkontrolle eine konstitutive
Bedeutung für das individuelle Verhalten und für individuelle Meinungen und
Einstellungen zu. Der Konsens, der über ein bestimmtes Thema durch
wechselseitige Beeinflussung der einzelnen TeilnehmerInnen und der Gruppe
innerhalb der Diskussionsgruppe entsteht, ist die informelle Gruppenmeinung (im
Zusammenhang dieser Untersuchung: da alle Vertreter eines bestimmten Berufes
und bestimmter Arbeitsfelder dieses Berufes sind, die „informelle Berufsmoral”),
die es zu erheben gilt. Durch die Erfassung von Prozessen der Gruppenkontrolle
wird es in der Analyse möglich, individuelle und kollektive Meinungen und deren
Wechselbeziehungen zu beobachten. Insbesondere können somit Meinungen
ganzer Gruppen, gruppenspezifische Verhaltensweisen, die den Meinungen
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zugrundeliegenden Bewußtseinsstrukturen der Teilnehmenden und
Gruppenprozesse, die zur Bildung einer Gruppenmeinung führen, erforscht
werden.
Bisherige Studien mit Gruppendiskussionen verfolgen eine große Bandbreite an
Erkenntniszielen (vgl. Bohnsack 2000, Loos/Schäffer 2001, 15ff. und Lamnek
1998, 51ff.). In den USA und Großbritannien wurden in den 1940er Jahren
Zuschauerreaktionen auf Propagandafilme während des Zweiten Weltkrieges mit
„focus group interviews” erforscht (vgl. Hoveland 1949 u.a., Merton u.a. 1956,
Lazarsfeld u.a. 1948). Robert K. Merton konzipierte „focus group interviews” als
Mittel zur Exploration von Forschungsfeldern. In Großbritannien werden
zunehmend den „survey sampling approaches” auch Verfahrensweisen
entgegengestellt, die mit „naturally occuring groups of like-minded people”
(Livingstone/Lunt 1996, 82) arbeiten, also mit Realgruppen (vgl. z.B. Liebes/Katz
1990). Ein weiterer Bereich findet sich in den „cultural studies“ hinsichtlich der
Jugendforschung (vgl. exemplarisch Willis 1991), der Frauenforschung (vgl.
Brown 1994, Gillespie 1995) und der Medienforschung (vgl. Morley 1980, 1981,
1986, 1996). Hier zeigten sich in Diskussionen von homogen zusammengesetzten
Gruppen, daß die sozioökonomischen Hintergründe der TeilnehmerInnen deren
Deutungs- und Orientierungsmuster prägten.
Die ersten großen Untersuchungen in Deutschland, bei denen das Verfahren der
Gruppendiskussion angewendet wurde, zielten darauf ab, die nicht-öffentliche,
individuelle Meinung von Individuen (vgl. Pollock 1955), die informelle
Gruppenmeinung (vgl. Mangold 1960) bzw. eine situationsabhängige
Gruppenmeinung (vgl. Nießen 1977) zu erforschen. Darüber hinaus können im
Mittelpunkt des Forschungsinteresses Informationen über Konsumentengruppen
(in der kommerziellen Markt- und Meinungsforschung), gruppeninterne Prozesse
oder die Exploration eines Forschungsbereichs (vgl. Merton 1987) stehen. Die
Methode bietet sich auch als Pretest-Methode, zur Instrumentenentwicklung für
ein Forschungsvorhaben (vgl. Morgan 1997), oder für die Evaluation von
Programmen an (vgl. Bortz/Döring 1995) und ist ebenso in Triangulation mit
anderen qualitativen oder quantitativen Methoden (vgl. Schnell/Hill/Esser 1995)
einsetzbar. Vielfach wird die Gruppendiskussion auch als therapeutisches
Instrument verwendet (vgl. Kriz 1985).
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In den letzten dreißig Jahren wurden Gruppendiskussionsverfahren in
verschiedenen Feldern der empirischen Sozialforschung verwendet.
Beispielsweise setzten in der Handlungs- und Aktionsforschung Thomas
Leithäuser u.a. (1977), Ute Volmerg (1977) und Birgit Volmerg (1983)
Gruppendiskussionen in einem psychoanalytischen Erklärungszusammenhang zur
Erschließung von „Alltagsbewußtsein” ein, Reinhard Peukert (1984) und Imbke
Behnken (1984) rekonstruierten Lebenswelten von Lehrlingen mit Hilfe dieser
Methode.
Ralf Bohnsack verwendet Gruppendiskussionen in Zusammenhang mit
rekonstruktiven Milieuanalysen (vgl. Bohnsack 1999, 123ff.). Stefan Schnurr
empfiehlt sie insbesondere für die Erforschung von Berufskulturen oder
beruflichen Teilkulturen (vgl. Schnurr 1997, 62ff.). Weitere Studien untersuchen
verschiedene Bereiche wie z.B. verbandliche Sozialisation, Generationen- und
Geschlechterforschung (vgl. u.a. Nentwig-Gesemann 1999, Loos 1999,
Breitenbach 2000, Nohl 2001).
4.2 Die Dokumentarische Methode als Analyseinstrument für Gruppendiskussionen
Mitte der 1980er Jahre entwickelte Ralf Bohnsack in Zusammenarbeit mit Werner
Mangold eine neue Form und Methodologie zur Interpretation von
Gruppendiskussionen. Hierbei bezieht er sich auf die Wissenssoziologie Karl
Mannheims und führt dessen dokumentarische Methode mit Bezug auf
Prozeßstrukturen der Erhebungs- und Interpretationsgegenstände weiter. Dies
beinhaltet eine Abwendung vom engen Verständnis des Symbolischen
Interaktionismus und damit verbunden von der reinen Prozeß- und
Situationsorientierung in der Analyseperspektive. Darüber hinaus bezieht er
Methoden der Textinterpretation von Schütze und Oevermann mit ein.
4.2.1 Grundlagen der Interpretation
Eine zentrale methodologische Bedeutung für die Analyse von empirischen
Texten, insbesondere von Gruppendiskussionen, anhand der Dokumentarischen
Methode hat der von Karl Mannheim geprägte Begriff der „konjunktiven
Erfahrung”. Gruppen oder Milieus, die über gemeinsames implizites Wissen
(„tacid knowledge”) verfügen, teilen Gemeinsamkeiten des Erlebens. Aufgrund
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dieser gemeinsam geteilten Erlebnisschichtungen ist ein unmittelbares Verstehen
untereinander möglich. Dieses gemeinsame Wissen formt den gemeinsamen
Orientierungsrahmen dieser Gruppen und somit ihren kollektiven Habitus1 (vgl.
Bohnsack 2000). Die Dimensionen der Gemeinsamkeiten können sich auf das
Geschlecht oder bildungs- und entwicklungstypische Erfahrungsräume beziehen.
Gruppen, deren Mitglieder aus dem gleichen sozialen Hintergrund oder einer
ähnlichen Sozialisationsgeschichte kommen, die gemeinsame Erfahrungen haben
oder einer milieuspezifischen Teilkultur angehören, aktualisieren diese im Diskurs
(vgl. Bohnsack 1999, 74, Schnurr 1997, 62 und 64 sowie Dewe/Ferchhoff/Radtke
1992, 87). Dies geschieht in Form von Beschreibungen und Erzählungen erlebter
Interaktionspraxis als auch in den Interaktionen im Diskursprozeß selbst (vgl.
Bohnsack 1999, 74) und erschließt somit kollektive Orientierungsrahmen einer
Analyse. Im Kontrast dazu steht der kommunikative, allgemein verfügbare und
nicht gruppengebundene Erfahrungsraum. Dieser besteht sozusagen aus
„Allgemeinwissensbeständen”. Kommunikativer und konjunktiver Sinn werden in
den Texten als intendierte (kommunikative, bewußt gemachte) und
dokumentarische (unwillkürliche) Äußerungen unterschieden. Diese
unterschiedliche Bewertung erschließt sich aus dem Diskussionszusammenhang.
So bilden sich beispielsweise in Narrationen aus dem Alltag alltagsrelevante
Orientierungen ab, während in Argumentationen und expliziten Rechtfertigungen
tendenziell intendierte Äußerungen gemacht werden, die nicht ohne weiteres als
handlungspraktisch geltend genommen werden können. Das Handeln der Person,
welche die Äußerungen analysiert, ist somit Interpretation, während es für die
Angehörigen des konjunktiven Erfahrungsraumes möglich ist, die Äußerungen
unmittelbar zu verstehen.
Im Zentrum der dokumentarischen Analyse steht der Dokumentsinn, also die
Rekonstruktion des konjunktiven Erfahrungsraumes und der Habitusgenese.
Dieser Sinn wird interaktiv durch die handelnden Individuen konstruiert (vgl.
Mannheim 1980, 232). Aus diesem Grunde ist in der Interpretation die
Rekonstruktion der Diskursorganisation ein zentraler Schritt. Hier wird die
gegenseitige Bezugnahme der DiskussionsteilnehmerInnen aufeinander und die
1 Bohnsack bezieht sich hier ausdrücklich auf den Habitusbegriff von Bourdieu und Panofsky (vgl.
Bohnsack 1999, 173ff.)
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Verfolgung eines Themas bzw. eines Dokumentsinngehalts im Laufe der
Diskussion analysiert und somit die interaktive Konstruktion des kollektiven
Sinns rekonstruiert. In Form von Propositionen (Einführung eines Themas in der
Diskussion durch eine/n Teilnehmer/in), Validierungen (Bestätigung und
Fortführung eines Themas durch andere Teilnehmende), antithetische
Differenzierungen und weitere Formen des Bezugs auf vorangegangene
Äußerungen und Thematisierungen wird die Diskussionslinie, die
„Diskursdramatik” (vgl. Bohnsack 1999, 153ff.) entrollt. Auf diese Weise wird
die formale Diskursorganisation, die ein entscheidendes Moment der
Aktualisierung von gruppenspezifischen Orientierungen darstellt, rekonstruierbar.
Konkret erfolgt dies in verschiedenen Schritten.
Zunächst wird in der formulierenden Interpretation der inhaltliche Verlauf der
Diskussion nahe am immanenten Sinngehalt der Äußerungen nachgezeichnet. Die
formale Bezugnahme der Teilnehmenden aufeinander wird hier ebenso dargestellt
wie das Auftauchen bestimmter Thematiken und Positionierungen. Diese
Interpretation bleibt auf der Ebene des Ausdruckssinns.
In einem nächsten Schritt, der reflektierenden Interpretation, werden nun diese
inhaltlichen Äußerungen mit dem Grundmuster der Äußerungen in der gesamten
Diskussion in Verbindung gebracht und insbesondere mit Blick auf einen
kollektiven Habitus komparativ herausgearbeitet. Auf dieser Ebene wird der
Dokumentsinn, der eigentliche kollektive Orientierungsrahmen rekonstruiert. Dies
kann in Form einer sinngenetischen oder soziogenetischen Interpretation erfolgen.
In der sinngenetischen Analyse werden nur Informationen aus dem Text selbst
betrachtet und in Beziehung gesetzt. Die soziogenetische Interpretation geht hier
weiter und bezieht Hintergrundinformationen über die Sozialisationsgeschichte
der Teilnehmenden mit ein bzw. vergleicht Kontrastgruppen in ihren Äußerungen,
um Rückschlüsse auf die Bedeutung sozialisatorischer Kriterien zu ziehen. Der
komparativen Analyse kommt in der dokumentarischen Methode eine besondere
Rolle zu. Um die Bedeutung von Äußerungen im Gesamtkontext erschließen zu
können, werden zunächst einzelne Diskussionssequenzen miteinander verglichen.
Neben dieser fallinternen Kontrastierung wird auch fallextern verglichen. Aus
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diesem Grunde ist die Erhebung von in den Vergleichskriterien kontrastierenden
Kontrollgruppen erforderlich.
Von grundlegender Bedeutung ist in der dokumentarischen Interpretation die
Sequenzanalyse. Thematisch entsprechende Textteile werden identifiziert und
miteinander verglichen. Besonderes Gewicht kommt hier „dramaturgisch”
besonders exponierten Diskussionsstellen, den sogenannten
Fokussierungsmetaphern zu. Hier handelt es sich um inhaltlich und interaktive
dichte Sequenzen der Diskussion. Die interaktive Dichte deutet daraufhin, daß es
sich um Themen von großer Bedeutung für die Teilnehmenden handelt. Da hier
von den Diskutierenden der thematische Schwerpunkt – unwillkürlich, d.h.
habituell und nicht intendiert – gesetzt wird, haben diese Sequenzen große
Aussagekraft in Bezug auf kollektive Orientierungsmuster. Auf den fallinternen
und fallexternen Vergleich dieser Fokussierungsmetaphern folgt die
Kontrastierung mit anderen Sequenzen im Text. Auf diese Weise wird eine höhere
Validität der Interpretation sowie weitgehender Aussagen über den Dokumentsinn
der Gruppe möglich.
Der dritte Schritt einer dokumentarischen Interpretation ist die
Diskursbeschreibung. Diese Form wurde in Kapitel 6 für die Darstellung der
Interpretationen gewählt. Hier wird der Diskursverlauf auf inhaltlicher als auch
auf formaler Ebene rekonstruiert und dargestellt. In diesem Zusammenhang ist
wichtig, wie die DiskussionsteilnehmerInnen sich aufeinander beziehen, welche
Themen sich durch die Diskussion verfolgen lassen und wie sich im
Zusammenspiel von inhaltlichen Bezügen und formaler Diskursorganisation ein
kollektiver Orientierungsrahmen entwickelt bzw. rekonstruieren läßt.
Im vierten und letzten Schritt erfolgt die Typenbildung. Idealerweise erfolgt sie
begleitend zu den anderen Schritten, d.h. im Verlauf der Interpretation wird
immer wieder geprüft, inwiefern eine Sättigung der Kontraste erreicht wird und
ob gegebenenfalls noch Kontrastgruppen erhoben werden müßten. Somit können
sich die beschriebenen Schritte in einem längeren Prozeß abwechseln. In dieser
Arbeit lautet die Frage, ob es eine gemeinsame berufsethische Grundlage in der
Sozialen Arbeit gibt. Aufgrund der großen Kontraste bei den zwei erhobenen
Gruppen wurden keine weiteren Gruppen erhoben. In Zusammenhang mit einer
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eingehenden Klärung der Ursachen für die vorliegenden Diskrepanzen bietet sich
eine weitere Forschung mit umfänglicheren Kontrastierungen an.
4.2.2 Analyseeinstellung und Standortgebundenheit der Interpretation
Kern der Dokumentarischen Methode ist die „genetische Einstellung” (vgl.
Mannheim 1980, 85) in der Beobachtung von Prozessen der Herstellung von Welt
(vgl. Bohnsack 2000). Diese aus der Ethnomethodologie entstammende
Grundhaltung bedeutet eine Relativierung dessen, was als objektiv gültig erachtet
wird zugunsten der Akzeptanz von verschiedenen Perspektiven, die in einem
interaktiven Prozeß eine gemeinsame Wahrnehmung von Realität entwickeln. Das
Forschungsinteresse verlagert sich von der Frage nach kulturellen oder
gesellschaftlichen Fakten auf die Frage danach, wie diese gebildet werden, nach
ihrer Genese. Die dokumentarische Methode bzw. die Ethnomethodologie
unterscheiden sich von der wissenssoziologischen Hermeneutik dadurch, daß sie
auch interaktive Prozesse in die Beobachtung miteinbeziehen. Im Gegensatz zur
phänomenologischen Beobachtung richtet sich die Analyseeinstellung der
Ethnomethodologie auf die Herstellung von Sinnzuschreibungen. Sie werden, wie
oben beschrieben, nicht als faktisch angenommen, sondern in ihrer Entstehung
beobachtet. Der Fokus richtet sich hierbei auf die Analyse der interpretativen
Prozesse der Handelnden, die zur Herstellung von Realität führen.
Die Verankerung des Interpretationsprozesses im Sozialen hat für die Haltung der
Forschenden Konsequenzen. Sie verpflichtet sie zur Reflexion der eigenen
Position und der Perspektivität der Wahrnehmung durch sozialisatorisch oder
anderweitig bedingte Vorannahmen. Karl Mannheim spricht hier von der
„Verwurzelung des Denkens im sozialen Raum”, die nicht allein und nicht primär
als eine „Fehlerquelle” betrachtet werden dürfe, sondern zugleich auch als
„größere Chance für die zugreifende Kraft dieser Denkweise in bestimmten
Seinsregionen” (Mannheim 1952, 73). Soziale Existenz entsteht durch die
Teilnahme an einer kollektiven Handlungspraxis und ermöglicht somit Verstehen.
Diese „Seinsgebundenheit” oder „Standortgebundenheit” des Interpreten (jeder
Interpretierende kommt aus sozialen Zusammenhängen, die seinen Blickwinkel
beeinflussen) muß im gesamten Forschungsprozeß mitreflektiert werden. Durch
den kontrastiven Vergleich verschiedener Diskussionsäußerungen miteinander
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wird diese Perspektivität des Forschenden verringert. Grundsätzlich gilt jedoch,
daß es keine „richtigen” oder „falschen” Erkenntnisse gibt, sondern stets
standortabhängige Wahrnehmung, welche begründet sein muß, aber eben keinen
Ausschließlichkeitsanspruch stellen kann. In diesem Zusammenhang findet somit
die Kontrolle des Vorwissens bzw. atheoretischen Wissens während des
Forschungsprozesses durch begleitende Reflexion und einzeln nachvollziehbare
Schritte statt. Die Forschenden gehen im Sinne der Dokumentarischen Methode
(wie auch bei Grounded Theory und wissenssoziologischer Tradition) nicht davon
aus, daß „sie mehr wissen als die Erforschten, sondern zunächst davon, daß die
Erforschten selbst nicht wissen, was sie da eigentlich alles wissen” (Bohnsack
1999, 204). Die prinzipielle Haltung entspricht somit dem methodischen Postulat
der Fremdheit mit dem Ziel, Regelsysteme zu rekonstruieren (vgl. Bohnsack
1999, 204).
4.3 Empirische Moralforschung
In dieser Arbeit wird nur kurz auf die Untersuchungen der Kohlberg-Schule
eingegangen, da diese Forschungsrichtung zwar viel im Bereich der
Moralforschung gearbeitet hat, jedoch andere Schwerpunkte hat als hier angezielt.
Piaget und Kohlbergs genetisch-strukturale empirische Theorien gehen von
gerichteten, durch Reifungs- und Interaktionsprozesse geförderten Dispositionen
aus, die durch entsprechende pädagogische Interventionen entwickelt werden
können (vgl. Brumlik 1986, 56). Unter anderem das Kohlbergsche Stufenmodell
stellt im Vergleich zur neutralen Beobachtung moralischer Orientierungen eine
verkürzte Betrachtung moralischer Haltungen dar. In der Auswertung der Daten
dieser Arbeit wird mit offenen Analysekategorien gearbeitet. In der kognitiven
Psychologie wird eine mögliche Diskrepanz zwischen moralischem Urteil und
Handeln stark diskutiert. Kohlberg u.a. vertreten die These, daß, je höher die
Moralstufe der Entscheidung, desto größer die Übereinstimmung zwischen Urteil
und Handeln sei, da hier die Person, die das Gute weiß, es auch tue – wie bei
Platon (vgl. Garz 1999a, 380ff.). Diese Behauptung wird von verschiedenen
MoralforscherInnen, die mit ähnlichen Mitteln wie Kohlberg arbeiten, zumindest
relativiert oder widerlegt. Gertrud Nunner-Winkler zeigt auf, daß das Verhältnis
zwischen moralischem Urteil und Handeln von der Intensität der moralischen
Motivation bzw. der Bedeutung außermoralischer identitätskonstitutiver
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Wertbindungen abhängig ist (vgl. Nunner-Winkler 1999). Detlef Garz
differenziert Kohlbergs Aussagen dahingehend, daß er darstellt, wie sich anhand
des „Heinz-Dilemmas”2 und einer Betrachtung der Argumentation beim Übergang
zwischen Stufe 4 und 5 individuelle biographisch und sozial bedingte
Unterschiede bzw. Übereinstimmungen zwischen Urteil und Handeln ergeben
(vgl. Garz 1999a und 1999b). Tilmann Habermas kritisiert das starre Stufenmaß,
mit dem die Übereinstimmung von Urteil und Handeln von Kohlberg
vorgenommen wird sowie die unklare Fragenformulierung, die vor allem das
Verantwortlichkeitsurteil als zentrales Maß der Entscheidung relativieren kann
(vgl. Habermas 1999). Abgesehen von der Kritik an der „Schubladenorientierung”
der Kohlberg-Schule geht es in der vorliegenden Untersuchung nicht um eine
Betrachtung der moralischen Stufe, auf der sich die Professionellen
möglicherweise befinden, sondern um eine inhaltliche Bestimmung moralischer
Orientierungen, die anhand des Stufenschemas nicht möglich ist.
Jörg Bergmann und Thomas Luckmann wenden sich gegen eine Moralforschung,
die anhand von Dilemmata moralische Orientierungen beobachten will. Sie
bestreiten, daß sich mit dem Mittel künstlicher Dilemmata tatsächliche
Orientierungsmuster zeigen lassen (vgl. Bergmann/Luckmann 1999, 17ff.). Dem
widerspricht jedoch in der Praxis Sozialer Arbeit, daß in verschiedenen
Zusammenhängen Fallbesprechungen stattfinden, die der Diskussion von
Dilemmata strukturell entsprechen und somit ein quasi-natürlicher
Erhebungsgegenstand vorliegt. Bei der Analyse dieser Erhebungen ist jedoch zu
beachten, daß die Urteils- und Handlungsebene anhand der sprachlichen
Äußerungen unterschieden wird. In Anlehnung an Schützes Unterscheidung der
Textsorten werden somit Äußerungen, die sich auf argumentativer Ebene
bewegen oder Rechtfertigungscharakter haben, nur als Ausdruck eines
2 Das „Heinz-Dilemma“ wird in der Moralstufenforschung der Kohlbergschule verwendet. Es handelt sich
hier um eine Geschichte, in der ein Entscheidungsdilemma thematisiert wird, das zur Begründung von Lösungsvorschlägen anregt. In der Geschichte geht es um die Problematik einer krebskranken Frau, deren Lebenschancen möglicherweise von der Einnahme eines Medikamentes abhängen, das vom Apotheker zu einem unbezahlbaren Preis angeboten wird. Ihr Mann („Heinz“) steht vor der Frage, einen Einbruch zu begehen oder sie sterben zu lassen. Anhand der Lösungen, die von Untersuchungspersonen entwickelt werden, werden diese in Moralstufen eingeteilt (vgl. Kohlberg 1995).
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spezifischen moralischen Urteils betrachtet, während Erzählungen aus dem Alltag
stärker handlungsrelevant gewertet werden (vgl. Schütze 1983, 283ff. sowie
Bohnsack 1999, 69 und 79).
Die bisher vorliegenden Studien der Moralforschung haben noch keine
Untersuchung von Professionshandeln und Professionsmoral auf dem Hintergrund
des Dienstleistungsbegriffes in der Sozialen Arbeit vorgenommen. In
Zusammenhang mir diesem neuen Konzept professionellen Handelns stellt sich
die Frage, ob hiermit neue Schwerpunkte in der moralischen Orientierung von
Professionellen bedingt und neue Formen der Bewältigung des
Spannungsverhältnisses von Hilfe und Kontrolle hervorgebracht werden könnten.
Dies soll mit dieser Arbeit untersucht werden.
4.4 Die sprachliche Analyse moralischer Kommunikation von Bergmann/Luckmann
Jörg Bergmann und Thomas Luckmann haben in einem mehrjährigen DFG-
Forschungsprojekt vielfältige Formen moralischer Kommunikation untersucht. In
diesem Zusammenhang definierten sie den jeweiligen Untersuchungsgegenstand
im Laufe des Prozesses. In Zusammenhang mit beruflichen Moraläußerungen
bezeichneten sie ihren Gegenstand allgemein als Kommunikationsformen und
Deutungsmuster, die in der Berufskultur den Erweis bzw. den Entzug von
Achtung bedeuten (vgl. Bergmann/Luckmann 1999, 32). Konkret definiert
Luckmann an anderer Stelle moralische Kommunikation als eine kommunikative
Tätigkeit, in der eine Handlung, ein Leben, ein Individuum, eine kollektive Person
nach Kriterien wie „gut” und „böse” bewertet wird (vgl. Luckmann 1998, 33).
Alfred Schütz zufolge beruhen subjektive Orientierungen und Handlungen in der
Lebenswelt – einschließlich ihrer moralischen Aspekte – auf verschiedenen
Schichten der allgemeinen Struktur des Bewußtseins. Diese bestehen –
phänomenologisch formuliert – etwa aus der polyethischen Konstitution von
Handlungsentwürfen, dem Ich-Index laufender Erfahrungen und der Konstitution
typischen Sinns von (typischen) Erfahrungen (vgl. Schütz, A. 1974, zitiert nach
Bergmann/Luckmann 1999, 25).
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4.4.1 Elemente moralischer Kommunikation
Bergmann/Luckmann entwickelten eine Reihe von Kriterien zur Analyse
moralischer Kommunikationsstrukturen, die im folgenden kurz vorgestellt
werden.
In diesem Zusammenhang und für das weitere Verständnis zunächst eine
Begriffsklärung: Bergmann/Luckmann sprechen von einer sogenannten
„Protomoral” als jenes universale Strukturelement der Lebenswelt, das in der
historischen und gesellschaftlichen Konstruktion, Aufrechterhaltung und
Vermittlung jeweiliger moralischer Kodes vorausgesetzt ist (vgl.
Bergmann/Luckmann 1999, 27). Sie bezeichnen hiermit eine Art universeller
Grundlage für alles, was an spezifischen Moralen ausdifferenziert ist. Als Moral
wird hier ein gruppenspezifischer Wertehorizont verstanden. Dies entspricht in
den Grundzügen dem, was bei Bohnsack der konjunktive Erfahrungsraum der
Gruppe, die Milieumoral ist.
Als die drei konstitutiven Momente moralischer Äußerungen werden in diesem
Kontext folgende genannt: 1) Bewertungsleistungen bzw. Wertzuschreibungen –
allerdings bedeutet eine Wertzuschreibung allein noch keine moralische
Bewertung. 2) Akteursbezug. Das bedeutet, die Bewertung bezieht sich nicht auf
einen Gegenstand oder eine isolierte Handlung, sondern direkt oder indirekt auf
einen Akteur oder eine Gruppe von Akteuren. Als ein weiterer Fall gilt die
Beurteilung einer Handlung oder eines Objekts wenn sie nur die offizielle Form
der („inoffiziellen” – Anmerkung der Verfasserin) Beurteilung des Akteurs in
seiner Gesamtheit ist. 3) Wahlmöglichkeit, d.h. den Akteuren wird zugeschrieben,
daß sie verschiedene Handlungsoptionen hatten. Das liegt in der Annahme der
Reziprozität der Perspektiven begründet, denn hiernach nehmen kompetent
Handelnde für sich in Anspruch, wählen zu können. Indem jemand anderem diese
Fähigkeit (und Verantwortung) zugeschrieben wird, kann er für seine Handlung
verantwortlich gemacht und somit moralisch bewertet werden (vgl.
Bergmann/Luckmann 1999, 25ff.).
Sofern diese drei Komponenten in einer Entscheidung vertreten sind, handelt es
sich nach Bergmann/Luckmann um eine moralische Entscheidung. Anzumerken
ist hier, daß diese Autoren von der Reziprozität der Perspektiven als prinzipielles
Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie
72
Muster jeglicher sozialer Interaktion ausgehen. Insofern setzen sie ein normatives
Moment ab initio. In Zusammenhang mit der Verwendung der
Beobachtungskriterien dieser Verfasser wird diese inhaltliche Definition hier
vernachlässigt, denn das Beobachtungsinteresse im Kontext dieser Arbeit besteht
darin, zu untersuchen, ob überhaupt und wenn ja, in welcher Form, etwa eine
Reziprozität der Perspektiven in moralischen Entscheidungssituationen eine Rolle
spielt.
4.4.2 Inhaltliche Kriterien moralischer Kommunikation
Für die inhaltliche Ebene der Analyse moralischer Äußerungen nennen
Bergmann/Luckmann sechs Merkmale: a) Tendenz zur Personalisierung, d.h.
personale Identität wird in diesen Aussagen als moralische Identität bestimmt und
bestimmte moralische Wertungen mit der Bewertung von Personen selbst
gleichgesetzt oder verbunden; b) Tendenz zur Generalisierung in Form von
pauschalisierenden Aussagen oder Urteilen; c) Abstraktionen, die auf
personalisierende Urteile zugespitzt sind und in denen konkret der Handelnde als
Repräsentant eines Typus betrachtet wird; d) Affektive Ausschmückungen als
emotionale, nicht neutrale Attribuierungen von Personen, Dingen oder
Handlungen; e) Entdifferenzierung und Polarisierung durch plakative
Äußerungen; f) indirekte Aussagen, d.h. scheinbar neutrale und ungezielte
Äußerungen, die jedoch jemand Bestimmten oder etwas Konkretes meinen (vgl.
Bergmann/Luckmann 29ff.).
Zu den weiteren Kennzeichen moralischer Aussagen zählt
Stereotypenkommunikation, oft verbunden mit dem Ausdruck von Entrüstung. Als
möglicher Angriffspunkt von Gegenmoralisierungen (welche die unpräzise
Verurteilung bewerten könnten) wird sie durch die Interagierenden häufig durch
Geschichten, rhetorische Elemente oder Authentizitätsnachweise abgesichert. Auf
diese Weise entwickelt sich in diesem Zusammenhang eine paradoxe interaktive
Dynamik von Übertreibungen und Abschwächungen (vgl. Bergmann/Luckmann
1999, 379). Eine weitere sprachliche Form der Legitimation moralischer
Bewertungen ist die Verwendung von Sprichwörtern oder ”Wer - der”-
Formulierungen. Auch eigene Erzählungen dienen häufig als Vehikel für die
Vermittlung moralischer Normen und Wertungen (vgl. Bergmann/Luckmann
Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie
73
1999, 235ff.). In diesem Zusammenhang bieten Erzählungen aus dem Berufsalltag
innerhalb der Diskussionen die Möglichkeit, berufsmoralische Einstellungen zu
beobachten. Innerhalb von Argumentationen finden sich vielfach kategorische
Äußerungen als Kennzeichen von Konklusionen wieder (vgl.
Bergmann/Luckmann 1999, 106ff.). Darüber hinaus kann sich moralisches
Urteilen auch in der expliziten Nicht-Nennung von Personen ausdrücken (vgl.
Bergmann/Luckmann 1999, 120). Diese Merkmale werden triangulierend zur
Interpretation der Äußerungen in den Gruppendiskussionen herangezogen.
4.4.3 Formen der sprachlichen Kennzeichnung von Moral
Neben den inhaltlichen Kriterien entwickelten Bergmann/Luckmann in ihrem
Projekt einen Katalog sprachlicher Elemente, die moralische Äußerungen
kennzeichnen. Eine Kategorie bilden lexiko-semantische Formen wie
beispielsweise lexikalische Elemente („die pennt”), Entrüstungsformeln („ja,
gibt’s das!”), eskalierende Lexik („er trinkt – er säuft”), Euphemismen,
Extremformulierungen, moralisch aufgeladene neutrale lexikalische Elemente
(„dieser Mann”) und die Verwendung von neutralisierter wertender Lexik
(„deppert”). Darüber hinaus dienen syntaktische Mittel – Satzkonstruktionen, die
Gegensätze darstellen, Ellipsen, Fragen, Umstellungen im Satzbau, Satzabbrüche,
Reformulierungen – ebenso wie prosodische Mittel, d.h. Sprechrhythmisierungen,
Akzentuierungen, Lautstärkenveränderungen und eine bestimmte
Sprechgeschwindigkeit zur moralisierenden Aufwertung sonst neutraler
Äußerungen. Anzeichen dafür können auch paraverbale Mittel wie Lachen,
Weinen oder Gestik sein. Rhetorische Elemente in Form von Kontrastierungen,
Oppositionsbildungen, Reihungen, Verdopplungen, Wiederholungen, Metaphern,
Generalisierungen, Kategorisierungen3, Umschreibungen, Andeutungen, direkten
Präskriptionen („man sollte doch...”) oder expliziten Appellen zum Handeln oder
Denken sind ein weiteres Charakteristikum von Moralkommunikation (vgl.
Bergmann/Luckmann 1999, 46 f).
3 Kategorische Formulierungen „können zu Vehikeln für moralische Kommunikation ernannt werden, die
insbesondere dann ihren Dienst tun, wenn Interagierende mit gewisser Vorsicht die direkte Inkriminierung des moralischen Adressaten vermeiden wollen.” (Bergmann/Luckmann 1999, 124)
Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie
74
4.5 Empirische Forschungen zum professionellen Habitus in der Sozialen Arbeit
Neben verschiedenen Verbleibsstudien und quantitativen Erfassungen des
Bereiches der (Sozial-) Pädagogik von Thomas Rauschenbach liegen in der
sozialpädagogischen Forschung bisher noch relativ wenige Studien zur
Berufspraxis vor. Bernd Dewe und Hans-Uwe Otto stellen noch 1996 fest, daß es
ein „gewaltiges Forschungsdefizit” in berufspraktischen Feldern der
Sozialpädagogik gebe (Dewe/Otto 1996b, 8).
Während Ulrich Oevermann durch seine Forschungen zu dem Schluß kommt, daß
die Ausbildung der bedeutende Ort der Habitusformation für PädagogInnen sei
(vgl. Oevermann 1996, 123) schließen Werner Thole und Ernst-Uwe Küster-
Schapfl aus ihren Ergebnissen, daß die zugrundeliegenden Orientierungen für
Handeln aus einem Erfahrungshintergrund stammen, der wenig mit
wissenschaftlich gestützter Fachlichkeit zu tun hat und vor allem aus dem
privaten, vor der Ausbildung gewonnenen Erfahrungs- und Sozialisationsbereich
herrühren (vgl. Thole/Küster-Schapfl 1996 und Thole/Küster-Schapfl 1997).
Ähnlich stellen Friedhelm Ackermann und Dietmar Seeck fest, daß keine
disziplinäre Prägung durch das Studium der Sozialen Arbeit stattfindet und auch
keine eindeutig berufliche Identität eruierbar zu sein scheint (vgl.
Ackermann/Seeck 1999).
In Zusammenhang mit der genaueren Betrachtung einer Studie zur
Wissensverwendung in der professionellen Praxis Sozialer Arbeit zeigt sich, daß
die Frage nach dem vorliegenden und verwendeten Wissen nicht zur Erklärung
von berufspraktischen Handlungsweisen ausreicht. Es bleibt ein Desiderat, das
Entscheidungen erklärt und über Wissensbestände hinaus normative
Orientierungen in den Blick nimmt (vgl. Böhm/Mühlbach/Otto 1989, kritisch
hierzu: Dewe/Otto 1996, 8).
Auf dem Hintergrund dieser Forschungsergebnisse stellt diese Arbeit die Frage
nach dem professionellen Profil in der Sozialen Arbeit neu und erstmalig mit dem
Fokus auf die Moralperspektive.
Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie
75
4.6 Die spezifische Methodenkombination in dieser Arbeit
Das Gruppendiskussionsverfahren ist ein bisher kaum genutztes
Erhebungsinstrument in der sozialpädagogischen Habitusforschung. Rita Sahle,
Ackermann/Seeck wie auch Thole/Küster-Schapfl beispielsweise verwenden in
ihren Forschungen narrative und Leitfadeninterviews als empirische Daten, um
Deutungsmuster Sozialer Arbeit zu rekonstruieren (vgl. Ackermann/Seeck 1999,
Thole/Küster-Schapfl 1997 und Sahle 1988), Hans-Jürgen Göppner arbeitet mit
Gruppenbefragungen von Experten sowie Fragebögen, die an (Fach-)
HochschulabsolventInnen gerichtet waren (vgl. Göppner 1988, 40ff.). Dies ist um
so erstaunlicher, da sich die Gruppendiskussion in Verbindung mit der
Interpretation durch die Dokumentarische Methode auf der Suche nach einem
kollektiven Deutungsmuster der Profession als naturnahe und
gruppenmeinungsbezogene Methoden geradezu anbieten. Ähnlich einer
Fallbesprechung oder kollegialen Beratung läßt sich mit den Teilnehmenden eine
ihnen vertraute Situation schaffen. In diesem für sie üblichen Rahmen wird ihnen
ermöglicht, sich weitgehend authentisch mit einem „Fall” auseinanderzusetzen
ohne durch die Form der Erhebung in eine künstliche Situation versetzt zu
werden.
Nicht zuletzt aufgrund der hohen Entsprechung zur Teamstruktur in Institutionen
lassen sich letztere anhand dieser Methode mit einem hohen Grad an Natürlichkeit
beobachten. Da diese Form der Datenerhebung gleichzeitig individuelle und
kollektive Orientierungen erfaßt, bietet sie unter anderem der Erforschung
institutioneller z.B. in Abgrenzung zu etwaigen professionellen oder individuellen
Meinungen und Orientierungsmustern gerade in der Professions- und der
Institutionenforschung viele Möglichkeiten. Insbesondere gegenüber anderen
Verfahren wie dem Einzelinterview ist die Gruppendiskussion weitaus komplexer.
Sie wird gleichzeitig durch Subjekt und Situation gestaltet und ihr Verlauf ist
wenig vorstrukturiert. Ihre Natürlichkeit gilt sowohl für die Erhebungssituation als
auch für die erhobenen Inhalte: „Ein Thema wird aus verschiedenen subjektiven
Blickwinkeln betrachtet, Aussagen werden geprüft, bestritten, bestätigt,
Behauptungen mit Beispielen untermauert, mit Gegenbeispielen neutralisiert und
so fort.” (Schnurr 1997, 53). Meinungen und Einstellungen gewinnen in der
Auseinandersetzung Kontur und dies ereignet sich mit einer situativen
Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie
76
Eigendynamik, in die der Forscher nur begrenzt eingreifen kann, während im
Vergleich dazu im Interview die Situation und somit auch die inhaltlichen
Strukturen vom Forschenden sehr stark gesteuert werden. Gerade der kollektiv
geteilte Anteil des Habitus der Teilnehmenden wird in diesem Zusammenhang
besonders gut beobachtbar. Darüber hinaus können mit
Gruppendiskussionsverfahren ebenso Wirkungsanalysen in Klientelkreisen wie
auch Konzeptevaluationen in Institutionen durchgeführt werden. Diese
verschiedenen Anwendungsbereiche von Gruppendiskussionsverfahren, die
unterschiedliche Formen dieser Methode erfordern, zeigen die Notwendigkeit
einer weiteren methodologischen Diskussion, insbesondere im Bereich ihrer
erziehungswissenschaftlichen Nutzung.
Wie schon oben angesprochen, besteht ein Bedarf danach, professionelle
normative Orientierungen wissenschaftlich in den Blick zu nehmen und ihre
Relevanz sowie ihre Herkunft und ihre mögliche kollektive Bedeutung zu
erforschen. Als Mittel für die Erfassung möglicherweise kollektiv geteilter
Deutungs- und Orientierungsmuster wird in dieser Arbeit als Erhebungsmethode
die Gruppendiskussion und als Analyseinstrument die Dokumentarische Methode
nach Ralf Bohnsack gewählt. Die in dieser Untersuchung verwendete
Kombination von Vignetten und Gruppendiskussion ist ein neuer Schritt in der
sozialpädagogischen Forschung. Zumeist werden entweder Vignetten in
Interviews oder Gruppendiskussion mit Fragen oder einem bestimmten
Anfangsthema verwendet. Dieses bisher unerprobte Vorgehen wurde gewählt, da
es aufgrund seiner Entsprechung zur Alltagsform der kollegialen Beratung oder
Supervision in der Sozialen Arbeit Form als naturnahe Form besonders geeignet
erschien. Eine weitere Frage, die sich innerhalb der Untersuchung stellt, ist die, ob
Entscheidung und Begründung aus demselben Wissenshaushalt stammen (Dewe
u.a. 1993, 197). Dem wird in der dokumentarischen Interpretation nachgegangen,
indem zwischen Bewußtseins- und Handlungsebene differenziert wird, orientiert
an der Unterscheidung der Textsorten nach Schütze.
Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie
77
4.7 Überlegungen zum methodischen Aufbau
4.7.1 Die Gruppe
Voraussetzung für die Gruppendiskussion ist, daß „die Diskutanten sich face-to-
face kommunikativ zu einem bestimmten Gegenstand, von dem sie alle betroffen
sind, austauschen, also miteinander interagieren” (Lamnek 1998, 53). Die
Entscheidung für eine natürliche oder eine künstliche Gruppe als
TeilnehmerInnen ist abhängig von der Forschungsfragestellung. Realgruppen
ermöglichen eine höhere Naturalistizität und damit eine höhere externe Validität,
sie sind meist bezüglich Status und Positionen heterogen beschaffen. Dies kann
auch die Unabhängigkeit der Aussagen in der Diskussion einschränken.
Künstliche Gruppen sind frei durch die Methode des Theoretical Sampling (vgl.
Strauss 1994, 70 f) und mit einer maximalen Variationsbreite arrangierbar.
Dadurch sind sie in der externen hierarchischen Positionierung nicht so festgelegt
und ermöglichen erfahrungsgemäß eine offenere und informationsreichere
Diskussion, die von der Moderation stärker beeinflußt werden kann.
Zur Gruppengröße finden sich verschiedene Angaben. Mangold spricht von 3-20
TeilnehmerInnen und präferiert 6-10 Personen (vgl. Mangold 1973, 229), Pollock
schlägt eine Gruppengröße von mindestens 7 und maximal 17 TeilnehmerInnen
vor (vgl. Pollock 1955, 38). In der amerikanischen Literatur werden 3-5
Diskutanten bevorzugt; Lamnek favorisiert 9-12 Personen. (vgl. Lamnek 1998,
101). Grundsätzlich wird über die Anzahl abhängig von Erkenntnisinteresse und
Gegenstand der Untersuchung entschieden. Insbesondere bei kleinen Gruppen ist
es darüber hinaus sinnvoll, eine ungerade Anzahl an TeilnehmerInnen zu wählen,
um bei Frontenbildungen Pattsituationen zu vermeiden.
4.7.2 Durchführung
Ein Problem stellt sich bei der Vorinformation der Gruppen. In der Einladung der
TeilnehmerInnen zur Gruppendiskussion ist es notwendig zu schildern, worin das
Forschungsvorhaben besteht, allerdings ohne den TeilnehmerInnen zu detaillierte
Anhaltspunkte zu geben, denn dies kann in der Diskussion zu eingeschränkten
Orientierungen an den antizipierten Erwartungen des Forschers führen. In der
Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie
78
Diskussionssituation selbst kann es zu Nachfragen der TeilnehmerInnen kommen,
ob dies oder jenes noch zum Thema der Diskussion gehöre oder „erlaubt” sei. In
solchen Momenten liegt es an der Moderation, durch permissives Agieren und
Reagieren die Orientierung an den Erwartungen des Forschers/Moderators
abzubauen (zur Rolle des Moderators vgl. Kapitel 5.4 sowie Bohnsack 1999,
212ff. und Lamnek 1998, 118, 128).
In den Diskussionsbeiträgen spiegeln sich sowohl individuelle als auch
gruppenspezifische Orientierungen (auch z.B. in Abgrenzung zu einer Institution),
in den Interaktionen korrigieren und bestätigen die TeilnehmerInnen sich
gegenseitig. Hierbei werden sowohl die Gruppenrollen der einzelnen
TeilnehmerInnen als auch die spezifische Erhebungssituation bedeutend. Somit
sind notwendigerweise die Inhalts- und die Strukturebene der Kommunikation
Gegenstand der Erhebung und der Interpretation.
4.7.3 Datenerfassung und Transkription
Die Diskussion wird auf Tonband aufgezeichnet und zusätzlich auf Videoträger
mitgeschnitten, um den Verlauf von gruppendynamischen Prozessen besser
rekonstruieren und unklare akustische Ereignisse besser einordnen zu können..
Die Audio- (und evtl. Video-) Daten werden transkribiert.
Es gibt verschiedene Systeme für Transkriptionsregeln, die die Kommunikation je
nach Fragestellung an die Daten mehr oder weniger detailliert erfassen. In diesem
Fall werden dialektale Äußerungen lautnah und in Anlehnung an die
Transkriptionssysteme von Kallmeyer/Schütze sowie Bohnsack wie folgt
dargestellt (vgl. Bohnsack 1999, 233 f, Kallmeyer/Schütze 1977, 263):
Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie
79
Transkriptionsregeln
. . Pause (1-5 Sekunden)
GESAGT Betonung
äh-äh schneller Anschluß
((...)) unverständlicher Text
(oder sagen wir) Unsicherheit bei der Transkription, schwer verständliche Äußerungen
(Geräusche) Geräusche wie Klopfen, Husten oder das Bellen eines Hundes, das Schlagen einer Uhr, Telefonklingeln etc., da solche Geräusche die Befragten oft zu einem Kommentar veranlaßt hat oder teilweise sogar den Gesprächsverlauf beeinflußt
(lacht) Lachen der TeilnehmerInnen im Gesprächsverlauf
(Lachen) Lachen im Hintergrund
Ew Großbuchstaben sind die Kennung für die/den jeweilige/n TeilnehmerIn, ”w” bzw. ”m” als Zusatz bezeichnen das Geschlecht: w für weiblich, m für männlich
-ja Unterbrechung durch die/den Sprechende/n
ja- Unterbrechung durch andere TeilnehmerInnen
In den Transkripten sind die einzelnen Personen mit Großbuchstaben
gekennzeichnet, um sie zu anonymisieren. Somit sind die großen Buchstaben „E”,
„H”, ... Bezeichnungen für die verschiedenen TeilnehmerInnen der Diskussion,
der kleine Buchstabe jeweils dahinter bezeichnet das Geschlecht der Sprechenden:
„m” für männlich, „w” für weiblich. Die Zahlenangaben beziehen sich auf die
Zeilennumerierung im Transkript. Die Gruppen bzw. Institutionen erhalten
neutrale anonymisierte Namen: „Fluß” und „Baum”. Diese sind ohne jeglichen
Bezug zu inhaltlichen Bestimmungen gewählt, um die
Interpretationswahrnehmung offen zu halten und somit etwaige Einschränkungen
Kapitel 4 Das Gruppendiskussionsverfahren – Methode und Methodologie
80
der Analyse während der Interpretation zu vermeiden. Die Videoaufnahmen
werden ergänzend zu den Tonbandaufnahmen zur Interpretation herangezogen,
um Uneindeutigkeiten bezüglich der Sprecherpersonen und akustische
Unklarheiten zu ermitteln.
4.7.4 Interpretation und Aufbereitung des Datenmaterials
In der Gruppendiskussion haben die Interaktions- und Gruppenstrukturen neben
den inhaltlichen Äußerungen eine große Bedeutung und wirken auf die
Ergebnisse. Auf formaler Ebene geht es daher um eine Rekonstruktion des
Diskursverlaufs (vgl. Bohnsack 1999, 148ff.), der Kommunikationsstrukturen
sowie der Rollen der Beteiligten. Diese Analyse ermöglicht es, die inhaltlichen
Äußerungen in ihrer Bedeutung für die Gruppe einzuordnen. Dabei ist von
Bedeutung, ob individuelle oder kollektive Meinungen betrachtet werden sollen
und je nachdem bieten sich unterschiedliche Interpretationsmethoden an. Als
Interpretationsverfahren wurde die Dokumentarische Methode nach Ralf
Bohnsack (1992 und 1997b) sowie ergänzend die Analyse sprachlicher Formen
moralischer Äußerungen nach Bergmann/Luckmann gewählt.