[4] Kantische Handlungstheorie und Ethik · PDF fileImmanuel Kant, also der Entsprechung zur...
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Paul Natterer
[4] Kantische Handlungstheorie
und Ethik 1
In den letzten Jahrzehnten entwickelte sich der geschichtliche Kon-
text der theoretischen Philosophie Kants zu einem Schwerpunkt der
Kantforschung. Ähnliches gilt von der praktischen Philosophie Kants
und ihrem wissenschaftshistorischen Kontext, insbesondere in der Scho-
lastik und bei Thomas von Aquin. Wir haben dies bereits in Kapitel 3
angesprochen. 2 Zur handlungstheoretischen Grundlegung der Ethik bei
Immanuel Kant, also der Entsprechung zur Handlungstheorie und All-
gemeinen Ethik bei Aristoteles und Thomas Aquinas, liegt allerdings
keine Rekonstruktion der Art vor, die erlaubte, beide Grundlegungen
1 Für das erstrangige Journal der Kantforschung Kant-Studien (Berlin/New York) wird durch-
gängig das Kürzel KS verwendet. Für die wichtigste Monographienreihe zu Kant ‚Kantstudi-
en-Ergänzungshefte‘(Berlin/New York) die Abkürzung KSEH. 2 M. Wundt: Kant als Metaphysiker, Stuttgart 1924, 91: „Kants Wandlungen betreffen nicht den
Inhalt seiner Positionen, sondern deren Begründungen: Auch die sogenannte kritische Periode
bedeutet nicht die Preisgabe der Metaphysik, sondern ganz im Gegenteil: ihre endgültige Be-
gründung.“ Und ebd. 186: „Kant hat sein Werk mit vollem Bewußtsein diesem [antimetaphysi-
schen, skeptizistischen, naturalistischen] Zeitgeiste entgegengesetzt. Daß seine Absicht also
nicht sein konnte, die alte Metaphysik zu zerstören, sondern gerade im Gegenteil sie wieder
aufzurichten und neu zu begründen, versteht sich danach beinahe von selbst.“ Vgl. auch Wundt
1924, 191−199, 282−283, 292; sowie Verf. Systematischer Kommentar, v.a. Kap. 17−19.
Vgl. zur scholastischen bzw. thomistischen Seite die Materialaufbereitungen bei Merks, K.-W.:
Theologische Grundlegung der sittlichen Autonomie. Strukturmomente eines ‚autonomen‘
Normbegründungsverständnisses im lex-Traktat der Summa theologica des Thomas von Aquin,
Düsseldorf 1978; Kluxen, W.: Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, Hamburg 21980;
Korff, W.: Rückgriff auf die Natur. Eine Rekonstruktion der thomanischen Lehre vom natürli-
chen Gesetz. In: Philosoph. Jahrb. 94 (1987), 285–296; Rhonheimer, M.: Natur als Grundlage
der Moral. Die personale Struktur des Naturgesetzes bei Thomas von Aquin. Eine Auseinan-
dersetzung mit autonomer und teleologischer Ethik, Innsbruck 1987; Honnefelder, L.: Gewis-
sen als implizite Axiomatik. Zur Lehre vom Gewissen und Gewissensurteil bei Thomas von
Aquin. In: W. Huber et al. (Hrsg.): Implizite Axiome. Tiefenstrukturen des Denkens und Han-
delns, München 1990, 117–126; Anzenbacher, A.: Einführung in die Ethik, Düsseldorf 1992,
43–170; Sala, G.: Kants ‚Kritik der praktischen Vernunft‘. Ein Kommentar, Darmstadt 2004;
Fischer, N. (Hrsg.): Kants Metaphysik und Religionsphilosophie, Hamburg 2004; Bondeli, M.:
Über Ideen, Postulate der praktischen Vernunft und ein wiedererwachtes theologisches Interes-
se an Kant. In: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 53 (2006/07), 766–780;
54, 250–263; Keller, D.: Der Begriff des höchsten Guts bei Kant, Paderborn 2008.
72 4 Kantische Handlungstheorie und Ethik [© Paul Natterer]
systematisch in Parallele zu setzen. Dies soll in diesem Kapitel gesche-
hen, dessen Zielsetzung die Herausarbeitung die der ethischen Grundle-
gung Thomas von Aquins entsprechende Fundamentalethik Immanuel
Kants ist.
Dazu verfahren wir dergestalt, dass wir Kants Allgemeine Ethik
vollständig dokumentieren und die wichtigsten Diskussionen und be-
sonders einschlägige Ergebnisse der Forschungsliteratur bilanzieren.
Die entscheidenden kantischen Bezugstexte sind die Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten (1785), die Kritik der praktischen Vernunft
(KprV, 1788) und die Metaphysik der Sitten (1797). 3 Im Zentrum steht
dabei die Kritik der praktischen Vernunft als Basistext der kantischen
Fundamentalethik sowie – nach der inhaltlichen Seite der Ethik – die
ähnlich wichtige Metaphysik der Sitten. Die Seitenangaben beziehen
sich bei der KprV auf die 1. Auflage von 1788, bei der Metaphysik der
Sitten auf die Akademieausgabe der Werke Kants, Bd. VI.
Unsere Untersuchung behandelt wie die kantischen Quellentexte nur
und genau die rationale Prinzipientheorie der menschlichen Praxis. Me-
thodisch handelt es sich dabei um begriffliche Analyse, welche notwen-
dige, nichtempirische [apriorische] Vernunfteinsichten und logische
Zusammenhänge deutlich macht:
„Was Schlimmeres könnte aber diesen Bemühungen wohl nicht begegnen, als
wenn jemand die unerwartete Entdeckung machte, daß es überall gar kein Er-
kenntnis a priori gebe, noch geben könne. Allein es hat hiermit keine Not. Es
wäre eben so viel, als ob jemand durch Vernunft beweisen wollte, daß es keine
Vernunft gebe. Denn wir sagen nur, daß wir etwas durch Vernunft erkennen, wenn wir uns bewußt sind, daß wir es auch hätten wissen können, wenn es uns
auch nicht so in der Erfahrung vorgekommen wäre; mithin ist Vernunfterkennt-
nis und Erkenntnis a priori einerlei.“ (Vorrede KprV 23–24)
Die Diskussion der Parallelen bei Aquinas erfolgt jeweils am Ende der
folgenden Gliederungsabschnitte und wird zur besseren Orientierung
durch andere Schrift (Arial) abgehoben. Auf Literaturhinweise zu Aqui-
nas wird in diesem Zusammenhang in der Regel verzichtet, da diese in
Kap. 3: ‚Aristotelisch-thomistische Handlungstheorie und Ethik‘, im
3 Für die vorkritische Ethik Kants sind maßgebliche Darstellungen A. Schilpp: Kant‘s Precri-
tical Ethics, Evanston/Chicago (1960 [11938]); J. Schmucker: Die Ursprünge der Ethik Kants
in seinen vorkritischen Schriften, Meisenheim am Glan 1961; D. Henrich: Kants früheste
Ethik. Versuch einer Rekonstruktion. In: KS 54 (1963), 404−431; C. Schwaiger: Kategorische
und andere Imperative: Zur Entwicklung von Kants praktischer Philosophie bis 1785, Stuttgart
1999.
4.1 Vorrede zur KprV: Vernunftgesetz und Freiheit 73
Zusammenhang nachgesehen werden können. 4 Deutsche Übersetzungen
aus ethischen und sonstigen Werken Thomas von Aquins stammen von
Verfasser, PN. Zwecks differenzierter Orientierung werden Aus-
lassungszeichen betreffs Wörtern, Satzteilen oder Nebensätzen ohne
Klammern gesetzt: „...“; Auslassungszeichen betreffs satzübergreifender
Auslassungen stehen in eckigen Klammern: „[...]“. Eckige Klammern
dienen ansonsten der Kennzeichnung interpretatorischer Zusätze.
4.1 Vorrede zur KprV: Vernunftgesetz (Kategorischer Imperativ)
und Freiheit (Autonomie)
Die Vorrede zur KprV kann als Zusammenfassung des Ergebnisses
der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten verstanden werden. In die-
sem ersten moralphilosophischen Werk aus der kritischen Epoche Kants
ging es um „die Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der
Moralität“ (Vorrede). Dieses Prinzip wurde als Vernunftgesetz (Katego-
rischer Imperativ, in Folge abgekürzt: KI) identifiziert, das Freiheit (Au-
tonomie) voraussetzt.
Die Gesichtspunkte des obersten Grundsatzes der Moral, also des
Kategorischen Imperativs, wurden in vier verschiedenen Fassungen des
KI ausgefaltet.
Die wechselseitige Zuordnung von Vernunftgesetz (Kategorischer
Imperativ) und Freiheit (Autonomie) befriedigte Kant jedoch noch
nicht, so dass diese in der KprV neu vorgenommen wird dergestalt, dass
nun das Vernunftgesetz die Freiheit beweist (siehe auch in Folge): „Der
Begriff der Freiheit [und …] dessen Realität [ist] durch ein apodikti-
sches Gesetz der praktischen Vernunft [... bewiesen] denn diese Idee
offenbaret sich durchs moralische Gesetz.“ (4–5) Der Zusammenhang
zwischen KI und Freiheit ist letztendlich aber doch wechselseitig,
bikonditional:
„Freiheit ist aber auch die einzige unter allen Ideen der spekulativen Vernunft,
wovon wir die Möglichkeit a priori wissen, ohne sie doch einzusehen, weil sie
4 Unabhängig von der Druckfassung liegt das in Rede stehende Handbuch Handlungstheorie
und Ethik als E-Buch auf http://www.paul-natterer.de/handlungstheorie vor. Das Kapitel 3 der
Druckfassung: ‚Aristotelisch-thomistische Handlungstheorie und Ethik‘ kann dort im Ab-
schnitt ‚Thomas Aquinas zu Handlungstheorie und Ethik‘ in der Verknüpfung Aqui-
nas_Ethik_Grundlegung.pdf. eingesehen und heruntergeladen werden.
http://www.paul-natterer.de/handlungstheorie
74 4 Kantische Handlungstheorie und Ethik [© Paul Natterer]
die Bedingung des moralischen Gesetzes ist, welches wir wissen. Damit man
hier nicht Inkonsequenzen anzutreffen wähne, wenn ich jetzt die Freiheit die Bedingung des moralischen Gesetzes nenne und in der Abhandlung nachher be-
haupte, daß das moralische Gesetz die Bedingung sei, unter der wir uns allererst