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4. Kochrezepte („Strategien“) für eine erfolgreiche Geldpolitik 4.1 Einführung Die Diskussion der geldpolitischen Transmissionsmechanismen hat uns gezeigt, dass die praktische Geldpolitik kein ganz einfaches Geschäft ist. Konkret sehen sich die Entscheidungsträger in einer Notenbank permanent mit der komplexen Aufgabe konfrontiert, in einer sich stets wandelnden Umwelt ihre zinspolitischen Hebel so einzustellen, dass das Ziel der Geldwertstabilität möglichst dauerhaft – und ohne negative Nebenwirkung auf das Wirtschaftswachstum und die Beschäftigung – gesichert werden kann. 4.1.1 Anforderungen an geldpolitische Strategien und allgemeine Diskussion konkurrierender Strategien Wir werden uns in diesem Absatz zunächst ganz allgemein mit der Bedeutung von Daumenregeln (oder wissenschaftlicher: Heuristiken) in komplexen Entscheidungssituationen auseinandersetzen. Ihr entscheidender Beitrag besteht darin, dass sie den Entscheidungsprozeß auf einige wenige relevante Faktoren reduzieren, die in der Regel zu guten Ergebnissen führen. Auf dieser Basis können wir dann die drei wichtigsten geldpolitischen Strategien diskutieren: Die Geldmengensteuerung, Das Inflation targeting, Die Taylor-Regel. Wir werden sehen, dass weder die Geldmengensteuerung noch das Inflation targeting in der Lage sind, eine echte Entscheidungshilfe für die Geldpolitik zu bieten. Die Taylor-Regel erweist sich demgegenüber als eine recht gute Daumenregel für zinspolitische Entscheidungen.

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4. Kochrezepte („Strategien“) für eine erfolgreiche Geldpolitik 4.1 Einführung Die Diskussion der geldpolitischen Transmissionsmechanismen hat uns gezeigt, dass die

praktische Geldpolitik kein ganz einfaches Geschäft ist. Konkret sehen sich die

Entscheidungsträger in einer Notenbank permanent mit der komplexen Aufgabe konfrontiert,

in einer sich stets wandelnden Umwelt ihre zinspolitischen Hebel so einzustellen, dass das

Ziel der Geldwertstabilität möglichst dauerhaft – und ohne negative Nebenwirkung auf das

Wirtschaftswachstum und die Beschäftigung – gesichert werden kann.

4.1.1 Anforderungen an geldpolitische Strategien und allgemeine Diskussion

konkurrierender Strategien

Wir werden uns in diesem Absatz zunächst ganz allgemein mit der Bedeutung von

Daumenregeln (oder wissenschaftlicher: Heuristiken) in komplexen Entscheidungssituationen

auseinandersetzen. Ihr entscheidender Beitrag besteht darin, dass sie den

Entscheidungsprozeß auf einige wenige relevante Faktoren reduzieren, die in der Regel zu

guten Ergebnissen führen. Auf dieser Basis können wir dann die drei wichtigsten

geldpolitischen Strategien diskutieren:

• Die Geldmengensteuerung,

• Das Inflation targeting,

• Die Taylor-Regel.

Wir werden sehen, dass weder die Geldmengensteuerung noch das Inflation targeting in der

Lage sind, eine echte Entscheidungshilfe für die Geldpolitik zu bieten. Die Taylor-Regel

erweist sich demgegenüber als eine recht gute Daumenregel für zinspolitische

Entscheidungen.

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4.1.2 Geldpolitische Strategie der EZB

Im zweiten Teil dieses Kapitels setzten wir uns mit der „stabiliätsorientierten geldpolitischen

Strategie“ der EZB auseinander. Sie beruht auf zwei Säulen:

• Einem Referenzwert für die Geldmenge M3, und

• einer breit fundierten Beurteilung der Aussichten für die künftige Preisentwicklung.

Es wird deutlich werden, dass beide Säulen im Grunde wenig zum Verständnis der

zinspolitischen Beschlüsse der EZB beitragen. Aus diesem Grund wird die Zinspolitik der

EZB auch anhand einer einfachen Taylor-Regel dargestellt. Sie lässt sich damit über weite

Strecken recht gut erklären.

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4.2 Die Bedeutung einer geldpolitischen Strategie Ein Grundproblem der Diskussion über geldpolitische Strategien (man spricht häufig auch

von geldpolitischen Regeln) besteht darin, dass man sich oft wenig darüber im Klaren ist,

worin deren konkrete Bedeutung zu sehen ist. In diesem Kapitel soll darunter vor allem eine

Entscheidungshilfe für das schwierige Geschäft der Zinspolitik verstanden werden.

4.2.1 „Daumenregeln“ (Heuristiken) machen das Leben einfacher

Im Prinzip verwenden die Notenbanker dazu dieselben Landkarten, die wir im vorangegangen

Kapitel beschrieben haben. Da sie über große Mitarbeiter-Stäbe verfügen, weisen ihre Karten

natürlich einen sehr viel genaueren Maßstab auf als die hier präsentierten Übersichten. Dies

ändert aber nichts an dem Grundproblem,

• dass man nie ganz genau weiß, welche der verschiedenen Karten in einer konkreten

Situation gerade am besten ist, und

• dass es auch bei den detaillierten Darstellungen noch viele ausgedehnte weiße Flecken

gibt.

Diese Unsicherheit ist im Grunde kein spezifisches Problem der Geldpolitik. In eigentlich

allen Bereichen des menschlichen wie des politischen Lebens gilt es häufig, Entscheidungen

in einer sehr komplexen Umwelt zu treffen, ohne dass man jemals über alle Konsequenzen

vollständig informiert ist. Die Erfahrung zeigt, dass sich die Entscheidungsträger in solchen

Situationen häufig damit behelfen, dass sie sich an „Daumenregeln“ (Heuristiken) halten.

Solche Regeln zeichnen sich im Idealfall (Gigerenzer et al. 1999) dadurch aus, dass

• sie eine recht einfache Handlungsanweisung für komplexe Situation bieten,

• und dabei in den meisten Fällen zu ähnlich guten (oder nahezu ähnlich guten) Resultaten

führen wie sehr komplexe Entscheidungsprozeduren.

Bei den geldpolitischen Strategien, die wir im Folgenden darstellen und diskutieren werden,

handelt es im Prinzip um solche „ Daumenregeln“. Im Idealfall tragen sie dazu bei,

• dass es im Innenverhältnis den Mitgliedern des obersten Entscheidungsgremiums einer

Notenbank leichter fällt, zweckmäßige zinspolitische Entscheidungen zu treffen als ohne

eine solche Hilfestellung. Bei einer großen Zahl von Entscheidungsträgern, der EZB-Rat

setzt sich derzeit aus 18 Mitgliedern zusammen, kann eine gemeinsam akzeptierte

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Heuristik auch dazu verhelfen, die gruppeninternen Entscheidungsprozesse zu

strukturieren und sie damit auch zu vereinfachen.

• dass es im Außenverhältnis für die Öffentlichkeit leichter nachvollziehbar wird, warum

sich eine Notenbank für eine ganz bestimmte zinspolitische Maßnahme entschieden hat.

Eine gute Strategie verhilft dann also dazu, dass die Geldpolitik transparent und auf diese

Weise auch glaubwürdig wird.

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4.2.2 Die wichtigsten Daumenregeln in der Geldpolitik und die Strategie der EZB

Es ist naheliegend, dass alle geldpolitischen Strategien auf einer bestimmten Theorie des

Transmissionsprozesses beruhen. Dies gilt in besonderem Maße für die drei besonders

populären Strategien, die wir im Folgenden diskutieren werden:

• Die Strategie der Geldmengensteuerung basiert auf dem quantitätstheoretischen

Transmissionskanal.

• Für die Strategie des Inflation Targeting bietet der erwartungstheoretische

Transmissionskanal die entscheidende theoretische Grundlage.

• Die Taylor Regel bezieht sich auf die zentralen Wirkungsmechanismen des Zinskanals.

Nach einer Darstellung dieser drei elementaren Strategien werden wir die

„stabilitätsorientierte geldpolitische Strategie“ der EZB beschreiben. Wir werden dabei

überprüfen, inwieweit diese als eine Daumenregel betrachtet werden kann, die zu einem

besseren Verständnis der zinspolitischen Entscheidungen der EZB beiträgt.

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4.3 Die Geldmengensteuerung: Simpel, aber leider wenig praxistauglich In Anbetracht der einfachen Struktur der Quantitätstheorie ist es nicht überraschend, dass sich

daraus auch eine recht klare geldpolitische Strategie ableiten läßt (Friedman 1968). Die

Deutsche Bundesbank hat hierbei im Jahr 1974 eine Vorreiter-Rolle übernommen und dieses

Konzept bis zum Jahr 1998, dem Ende ihrer eigenständigen geldpolitischen

Verantwortlichkeit, beibehalten. Wir stellen zunächst das Konzept in seiner Reinform dar und

beschrieben dann die Probleme, die sich bei seiner Anwendung in der Praxis ergeben.

4.3.1 Die Logik der Geldmengensteuerung

Der Ausgangspunkt für die Geldmengensteuerung ist die einleuchtende Idee, dass die

Geldmenge auf mittlere Sicht so wachsen soll, dass ein inflationsfreies Wachstum der

Wirtschaft ermöglicht wird. Die dazu erforderliche normative Wachstumsrate der Geldmenge

( M *) erhält man, wenn man Quantitätsgleichung (3.1) nach der Geldmenge auflöst und sie

dann in Veränderungsraten formuliert:

(4.1) M * = π* + Y – V .

Entscheidend ist nun, wie man die Determinanten auf der rechten Seite konkret definiert. Wir

halten uns dabei an die Vorgehensweise der Europäischen Zentralbank, die fast identisch mit

der der Bundesbank ist (Schächter 1999):

• Für die Preisentwicklung (π*) wird eine normative Größe genommen, konkret der von der

Notenbank angestrebte Zielwert für die Inflationsrate. Es läßt sich ermitteln, dass die EZB

hierbei einen Wert von etwa 1 ½ % angesetzt hat.

• Der zweite Term (Y ) steht für die realwirtschaftliche Entwicklung, da die EZB eine

mittelfristige Ausrichtung verfolgt, setzt sie hier nicht die tatsächliche oder eine

prognostizierte Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts ein; sie verwendet dazu die

jährliche Wachstumsrate des Produktionspotentials, d.h. also der Produktionskapazitäten

der Wirtschaft in Euroland. Diese beläuft sich auf etwa 2 ¼ % und ist nahezu identisch

mit dem Trend des realen Bruttoinlandsprodukts.

• Da die Umlaufsgeschwindigkeit nicht konstant ist, sondern einen ausgeprägten Trend

aufweist, ist es schließlich noch erforderlich, diesen bei der Berechnung des normativen

Geldmengenwachstums zu berücksichtigen. In Euroland sinkt die

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Umlaufsgeschwindigkeit mit einer Rate von etwa einem halben bis einem Prozent pro

Jahr.

Addiert man diese drei Determinanten auf, kommt man zu einer normativen Wachstumsrate

der Geldmenge von rund 4 ½ %. Aufgrund ihrer guten statistischen Eigenschaften hat sich die

EZB dafür entscheiden, diese Strategie für die Geldmenge M3 zu formulieren.

Auf der Grundlage einer solchen normativen Wachstumsrate läßt sich nun eine relativ simple

Daumenregel für die Geldpolitik formulieren:

• Liegt das tatsächliche Geldmengenwachstum höher als der Zielwert, bestehen auf mittlere

Sicht Inflationsgefahren. Es ist daher sinnvoll, eine expansivere Zinspolitik zu verfolgen.

• Im umgekehrten Fall eines zu schwachen Geldmengenwachstums wird der „monetäre

Mantel“ auf die Dauer zu eng. Es drohen Inflationsgefahren. In diesem Fall liegt es nahe,

die Zinspolitik zu lockern.

Besonders deutlich wurde diese Logik in der Geldmengensteuerung der Bundesbank, die um

den Zielwert einen Korridor von 3% bis 6 % legte und dann fortlaufend überprüfte, ob die

tatsächliche Entwicklung der Geldmenge noch innerhalb des Korridors verlief.

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4.3.2 Die Praxis der Geldmengensteuerung

In der geldpolitischen Praxis hat sich diese auf den ersten Blick so einleuchtende Strategie

leider nicht besonders bewährt. Dies zeigt sich schon daran, dass es der Bundesbank in der

Regel recht gut gelungen ist, das Endziel der Geldwertstabilität zu erreichen, obwohl sie ihr

Geldmengenziel jedes zweite Jahr verfehlte – mit zum Teil sehr starken Abweichungen. Für

die zinspolitischen Entscheidungen der Bundesbank kann diese Daumenregeln also keine

große Hilfe gewesen sein (Bernanke und Mishkin 1992 sowie Clarida und Gertler 1996).

Auch die EZB war in den ersten drei Jahren nicht sehr glücklich über den von ihr fixierten

Referenzwert für die Geldmenge M3. Trotz einiger statistischer ad-hoc Korrekturen lag die

tatsächliche Wachstumsrate der Geldmenge M3 in dieser Zeit fast durchweg über dem

Referenzwert von 4,5%. Bei genauerem Hinsehen ist die mangelnde Kontrollierbarkeit der

Geldmenge auch nicht besonders überraschend.

Ein Grundproblem besteht darin, dass die Quantitätstheorie sich nur auf die

Zahlungsmittelfunktion des Geldes bezieht, während die Geldmengenziele der Bundesbank

- wie auch der Referenzwert der EZB - für das sehr breit abgrenzte Aggregat M3 definiert

sind. Während es nun noch plausibel ist, dass ein starker Anstieg des Bargelds und der

Sichteinlagen auf eine hohe Ausgabenneigung der Privaten hindeutet, müssen Veränderungen

von M3 sehr viel differenzierter betrachtet werden (Coenen und Vega 1999). Da hierin vor

allem als Wertspeicher verwendete Aktiva gehalten werden (insbesondere Termineinlagen),

kann ein Anstieg von M3 allein darauf zurückzuführen sein, dass die Anleger ihre

Portfoliostruktur verändert haben, ohne dabei jedoch zusätzliche Ausgaben zu planen. Ein

gutes Beispiel hierfür ist die Situation im Sommer und Herbst 2001, in der es zu einem sehr

starken Wachstum vom M3 kam. Dieses war darauf zurückzuführen, dass die Anleger bei

sehr niedrigen Zinsen für langfristige Anlagen und bei einer allgemeinen Verunsicherung über

die weiteren Aussichten am Aktienmarkt einen „sicheren Hafen“ für ihr Vermögen suchten.

Ein zweites konzeptionelles Problem der Geldmengensteuerung, wie sie bisher praktiziert

wurde, liegt darin, dass sie sich immer nur auf die Veränderungen der Geldmenge in den

jeweils letzten zwölf Monaten konzentrierte. Diese sehr kurzfristige Perspektive steht in

einem deutlichen Widerspruch zur langfristigen Orientierung der Quantitätstheorie. Konkret

zeigt sich das in kurzfristigen Schwankungen der Geldmenge, die neben den bereits

genannten systematischen Ursachen auch auf rein zahlungstechnische Instabilitäten

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zurückzuführen sind. Als besonders schwerwiegend erweist es sich dabei, dass weder von der

Bundesbank noch von der EZB bei einer anhaltend zu starken Ausweitung der Geldmenge in

einem Jahr keinerlei Korrekturen im Folgejahr angebracht wurden. Auf diese Weise kann es

zu einer systematisch zu hohen Ausweitung der Geldmenge kommen, ohne dass dies von der

Geldmengensteuerung adäquat berücksichtigt wird.

Auch die Umsetzung dieser Strategie in konkrete zinspolitische Maßnahmen ist nicht so

einfach, wie es den Anschein hat. Die oben genannte Regel, „Erhöhe den Zins bei einem zu

starken Geldmengenwachstum und umgekehrt“, ist nur dann zweckmäßig, wenn sich eine

Zinserhöhung dämpfend auf die Geldnachfrage auswirkt. Bei den ganz einfachen Modellen

der Geldnachfrage wird dies durchweg so gesehen. Dabei hat man aber zu berücksichtigen,

dass sich diese auf die Geldmenge M1 beziehen, die nur aus unverzinslichen Komponenten

besteht. In diesem Fall haben höhere kurzfristige Zinsen den Effekt einer „Ökonomisierung

der Kassenhaltung“, die Geldnachfrage sinkt.

Bei einem breiten Geldmengenaggregat wie der Geldmenge M3 ist dies sehr viel komplexer,

da sie neben unverzinslichen auch verzinsliche Komponenten, wie z.B. die Termineinlagen,

umfasst. Bei einem Anstieg der kurzfristigen Zinsen kommt es dann zwar ebenfalls zu dem

Effekt einer geringeren Nachfrage nach Bargeld und Sichteinlagen, da diese jedoch zunächst

vor allem in Termineinlagen umgewandelt werden, bleibt die Geldmenge M3 unverändert.

Die Sache wird nun noch weniger eindeutig, da es für die Anleger bei höheren Zinsen für

Termineinlagen auch attraktiv wird, ihre festverzinslichen Wertpapiere zu verkaufen und den

Erlös in Termineinlagen zu investieren. Somit kann ein Anstieg der kurzfristigen Zinsen also

dazu führen, dass sich die Nachfrage nach der Geldmenge M3 erhöht. Es tritt also genau das

Gegenteil dessen ein, was die Strategie eigentlich unterstellt. In der Tat sah sich sowohl die

Bundesbank als auch die EZB mit dem Phänomen konfrontiert, dass es nach Zinserhöhungen

zu einem noch stärkeren Wachstum von M3 gekommen ist und umgekehrt. Dieser positive

Einfluss der kurzfristigen Zinsen auf die Nachfrage nach M3 zeigt sich auch in komplexeren

ökonometrischen Studien für die Geldnachfrage in der Bundesrepublik wie im Euroraum.

Bei diesen vielfältigen Problemen der Geldmengensteuerung ist es nicht überraschend, dass es

heute – mit der Ausnahme der EZB, die sich ebenfalls nur eine für abgeschwächte Variante

dieser Strategie entscheiden hat,– keine Notenbank mehr gibt, die sich auf diese

geldpolitische Daumenregel stützt.

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4.4. Das Konzept des Inflation Targeting

Die in 4.3 beschriebenen Probleme der Geldmengensteuerung wie auch die Probleme eines

Systems fester Wechselkurse (siehe 5.4.1) waren Anfang der neunziger Jahre für zahlreiche

Länder der Anlass, sich nach einer neuen geldpolitischen Strategie umzusehen. Das zunächst

von Neuseeland, Kanada und Großbritannien entwickelte Konzept des Inflation targeting

erfreute sich dabei einer immer größeren Beliebtheit. Es wird heute von vielen

Industrieländern wie auch von den sogenannten „emerging market economies“ verwendet

(Bernanke et al. 1998). Im Gegensatz zur Geldmengenstrategie wurde das Inflation targeting

nicht durch theoretische Arbeiten vorbereitet, es entstand vielmehr aus der konkreten

geldpolitischen Praxis einzelner Notenbanken.

4.4.1 Die Daumenregel des Inflation targeting

Auf den ersten Blick weist das Inflation targeting alle Vorteile einer einfachen Daumenregel

auf. Der Ausgangspunkt für diese Strategie ist zunächst ein quantifiziertes Inflationsziel

einer Notenbank, in dem sie

• einen konkreten Zielwert (in der Regel ein Zielband) vorgibt,

• den für sie relevanten Preisindex definiert und

• gegebenenfalls auch Ausnahmetatbestände (z.B. Preiserhöhungen aufgrund von

Naturkatastrophen, Erhöhungen indirekter Steuern, massive Verteuerung von Rohstoffen)

festlegt.

Dieser Zielwert wird nun mit einer Inflationsprognose für den Zeitraum der nächsten zwei

Jahre verglichen (Bank of England 2000 und 2002). Dabei ist es wichtig, dass die Prognose

unter der Annahme abgleitet wird, dass die Notenbank ihren derzeitigen Leitzins konstant

hält. Aus dem Vergleich des Zielwerts mit dem Prognosewert kann man nun eine sehr

einfache Heuristik für die Geldpolitik ableiten:

• Liegt der Prognosewert über dem Zielwert, sind die derzeitigen Leitzinsen zu hoch. Es ist

also eine restriktivere Zinspolitik erforderlich.

• Liegt der Prognosewert unter dem Zielwert, sind die derzeitigen Leitzinsen zu niedrig. Es

ist also eine expansivere Zinspolitik erforderlich.

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Von den Anhängern des Inflation targeting wird der große Vorteil dieser Strategie darin

gesehen, dass auf diese Weise eine große Transparenz der geldpolitischen Entscheidungen

erreicht wird.

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4.4.2 Grenzen und Ratio des Inflation targeting

Ähnlich wie bei der Geldmengensteuerung liegen auch bei Inflation targeting die Schwächen

im Detail. Dies wird deutlich, wenn man sich noch einmal die Ratio einer Daumenregel vor

Augen hält: Sie soll es einem Entscheidungsträger erleichtern, in einem komplexen Umfeld

richtige Entscheidungen zu treffen, indem sie den Entscheidungsprozess auf einige wenige

Kriterien reduziert, die in der Regel zu guten Ergebnissen führen. Der simple Vergleich der

Inflationsprognose mit dem Inflationsziel scheint hierfür geradezu ein Paradebeispiel zu sein.

Doch dabei würde man übersehen, wie schwierig es in der Praxis ist, eine zuverlässige

Inflationsprognose zu erstellen. Hierbei stellen sich alle in Kapitel 3 genannten

Unsicherheiten über die Struktur des geldpolitischen Transmissionsprozesses. Eine echte

Entscheidungshilfe wäre das Inflation targeting also nur dann, wenn es neben der

allgemeinen, in 4.4.1 genannten Daumenregel auch noch ein Kochrezept dafür bieten würde,

wie die Inflationsprognose erstellt werden soll. Hierzu hat sich jedoch bisher noch keine der

Notenbanken geäußert, die dieses Konzept praktiziert. Im Gegenteil: Es wird immer wieder

betont, dass es hierfür keine einfachen Lösungen gibt (Haldane 1997 und Vickers 1998).

Für eine Notenbank, die sich der Strategie des Inflation targeting anvertraut, wird damit also

das geldpolitische Geschäft kaum nennenswert erleichtert. Der einzige Vorteil kann darin

gesehen werden,

• dass man sich bei zinspolitischen Entscheidungen nicht an der aktuellen Situation,

sondern an der voraussichtlichen Entwicklung der nächsten zwei Jahre orientiert und

• dass dafür ein klar definiertes Inflationsziel zur Verfügung steht.

Auch für die Öffentlichkeit wird dadurch das Verständnis geldpolitischer Entscheidungen

nicht wesentlich verbessert. So lange die Notenbank nicht bekannt gibt, wie sie ihre Prognose

erstellt hat, läßt sich für die Privaten nur schwer nachprüfen, ob die Zinspolitik tatsächlich der

aktuellen Situation angemessen ist. Der Informationsgehalt der Inflationsprognose wird

dabei zusätzlich dadurch beeinträchtigt, dass sie unter der Annahme konstanter Leitzinsen

vorgenommen wird; dies führt vor allem dann zu völlig irrelevanten Werten, wenn man sich

in einer Situation besonders hoher oder besonders niedriger Zinsen befindet, in der für den

Prognosezeitraum mit deutlichen Zinsanpassungen zu rechnen ist.

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Im Grunde ist das Inflation targeting also nur sehr bedingt als eine geldpolitische

Daumenregel anzusehen. Seine gleichwohl sehr hohe Beliebtheit in der Praxis der Geldpolitik

dürfte vor allem damit zu erklären sein, dass damit in der Regel der Eindruck eines klaren und

zeitgemäßen konzeptionellen Rahmens für die Geldpolitik erweckt wird, ohne dass sich

daraus eine nennenswerte Bindung der geldpolitischen Entscheidungsträger ergibt. So

gesehen ist das Inflation targeting vor allem als eine – durchaus erfolgreiche – Marketing-

Strategie von Notenbanken anzusehen.

Im Gegensatz zu dieser sehr pragmatischen Handhabung des Inflation targeting wird darunter

in der theoretischen Literatur ein sehr komplexer geldpolitischer Entscheidungskalkül

verstanden. Vor allem in Veröffentlichungen von Lars Svensson (1997) wird unter diesem

Schlagwort eine Geldpolitik propagiert, die möglichst alle relevanten Größen

modelltheoretisch berücksichtigt und auf dieser Basis eine für einen Prognosezeitraum

optimale Zinspolitik ableitet. Obwohl hierfür auch häufig der Begriff einer „Regel“ verwendet

wird, handelt es sich dabei geradezu um das Gegenteil einer Heuristik oder Daumenregel, wie

sie hier definiert wurde. Anstelle einer Reduktion des Entscheidungsprozesses auf möglichst

wenige Kriterien wird hier ein möglichst umfassender Kalkül gefordert. Dieses

mag seine Berechtigung haben, es ist aber eher irreführend hierfür den Begriff einer Regel

oder des Inflation targeting heranzuziehen.

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4.5 Die Taylor-Regel

Bei einer Untersuchung der Zinspolitik der amerikanischen Notenbank stieß der Ökonom

John Taylor Anfang der neunziger Jahre auf ein relativ stabiles und zugleich einfaches

Erklärungsmuster (Taylor 1993). In der Folgezeit zeigte sich, dass dieser Zusammenhang

nicht nur in der Zinspolitik anderer Notenbanken beobachtet werden konnte (Deutsche

Bundesbank 1999), sondern zugleich auch eine in unterschiedlichsten Situationen sehr

zweckmäßige geldpolitische Daumenregel darstellt.

4.5.1 Die wesentlichen Bestandteile der Taylor-Regel und ihre ökonomische Ratio

Das von Taylor entdeckte Erklärungsmuster für die Zinspolitik der amerikanischen

Notenbank in den Jahren 1987 bis 1992 sah folgendermaßen aus:

(4.2) 2 0,5( 2) 0,5i yπ π= + + − +

Der kurzfristige Zinssatz (i) in den Vereinigten Staaten (konkret: der Satz für Tagesgeld am

Geldmarkt) ergab sich danach als Summe aus:

• Der aktuellen Inflationsrate (π),

• einem Wert von 2%, der dem durchschnittlichen kurzfristigen Realzinssatz (R) entspricht,

• einer mit 0,5 gewichteten Differenz zwischen der aktuellen Inflationsrate und einer

Zielinflationsrate (π*) , die hier gleich 2 gesetzt wurde, sowie

• der mit ebenfalls 0,5 gewichteten Outputlücke (y).

In allgemeiner Form kann man die Taylor-Regel dann auch für den Realzins (r = i–π)

formulieren:

(4.3) *0,5( ) 0,5r R yπ π= + − +

Die Taylor-Regel wird nun von vielen Ökonomen nicht nur als eine adäquate Erklärung der

amerikanischen Zinspolitik in einer bestimmten historischen Phase betrachtet, sie wird

vielmehr auch als eine ebenso einfache wie zweckmäßige geldpolitische Daumenregel

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angesehen. Konkret heißt das also, dass eine Notenbank ihre Zinspolitik an der Gleichung

(4.3) ausrichten kann, in die sie dann nur noch die jeweiligen Werte für die verschiedenen

Parameter einsetzen muss.

Bevor wir darauf in 4.5.2 eingehen, soll kurz die ökonomische Ratio dieser Regel

herausgearbeitet werden. Als Grundlage hierfür sollen die Schaubilder 3.7 und 3.8 dienen.

Der Ausgangspunkt für die in (4.3) formulierte Taylor-Regel ist zunächst eine am

kurzfristigen Realzins orientierte Geldpolitik, wie sie auch in der oberen Hälfte der beiden

Schaubilder unterstellt wird.

• Geht man zunächst von einer Situation ohne Störungen aus, die durch eine zielgerechte

Inflationsrate und eine Outputlücke von Null gekennzeichnet ist, dann entspricht der

kurzfristige Realzins seinem langfristigen Durchschnitt (R), der als Näherungsgröße für

einen neutralen kurzfristigen Realzins dient.

• In der Situation eines negativen Nachfrage-Schocks (Schaubild 3.7) entsteht eine

negative Output-Lücke und die Inflationsrate ist niedriger als ihr Zielwert. Beide

Parameter in der Gleichung (4.3) weisen also einen negativen Wert aus. Der kurzfristige

Realzins liegt dann also unter dem neutralen Wert. Die Taylor-Regel empfiehlt also eine

expansive Geldpolitik. Im Fall eines positiven Nachfrage-Schocks wäre das Gegenteil der

Fall.

• Bei einem Angebots-Schock erhöht sich zunächst die Inflationsrate im unteren Teil des

Schaubilds 3.8. Da sie jetzt über ihrem Zielwert liegt, legt die Taylor Regel eine Erhöhung

des Realzinses nahe. Durch die Gewichtung mit 0,5 kommt es dabei in der Regel jedoch

nicht zu einer vollständigen Kompensation des Inflationsschocks. Die Taylor-Regel sorgt

bei einer solchen Störung also für eine Kompromiss-Lösung zwischen einer vollständigen

Stabilisierung des Outputs und einer vollständigen Stabilisierung der Inflationsrate. Für

eine exakte Lösung der geldpolitischen Reaktion bei einem Angebots-Schock wäre es

erforderlich, die genauen Verläufe der Phillips-Kurve und der gesamtwirtschaftlichen

Nachfrage-Kurve zu bestimmen.

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4.5.2 Probleme bei der geldpolitischen Anwendung einer Taylor-Regel

Aufgrund der hier beschriebenen Eigenschaften kann man die Taylor-Regel tatsächlich als

eine sehr gute Daumenregel für die Beurteilung der Geldpolitik verwenden. Dabei muss man

sich natürlich stets der Grenzen einer solchen Heuristik bewußt sein. Sie kann immer nur eine

grobe Orientierung bieten, die in der Regel zu guten Ergebnissen führt. Man hat also im

Einzelfall immer zu prüfen, ob nicht spezifische Störfaktoren vorliegen, die der Anwendung

einer solchen Daumenregel entgegenstehen.

Während heute viele Ökonomen die Taylor-Regel heranziehen, wenn sie ein Bild von der

Ausrichtung der Geldpolitik eines Landes machen wollen, hat sich bisher keine Notenbank

dazu durchringen können, eine Konzeption zu entwickeln, die explizit auf dieser Heuristik

basiert (EZB 2001a). Dies liegt wohl vor allem daran, dass damit der Eindruck einer

Berechenbarkeit der Geldpolitik geschaffen würde, der

• der tatsächlichen Komplexität des Transmissionsmechanismus nicht entspräche und damit

• den Handlungsspielraum der Notenbanker zu stark einengen würde.

Bei der wirtschaftspolitischen Anwendung der Taylor-Regel ist außerdem zu berücksichtigen,

dass es auch nicht ganz einfach ist, die konkreten Werte für die einzelnen Parameter in der

Gleichung (4.3) zu bestimmen:

• Bei durchschnittlichem kurzfristigen Realzins kommt es wie bei allen

Durchschnittsgrößen sehr darauf an, welchen Zeitraum man für dessen Berechnung

heranzieht.

• Bei der Inflationsrate besteht die Möglichkeit, die tatsächliche Inflationsrate

heranzuziehen. In der Situation einer starken Rohstoffpreis-Verteuerung kann es aber

sinnvoll sein, die sogenannte „Kern-Inflationsrate“ heranzuziehen, die auf einem

Preisindex für die Lebenshaltung beruht, der die Preise von Rohstoffen und Lebensmitteln

nicht enthält. Auf diese Weise kann eine zu starke Erhöhung des Realzinses vermieden

werden.

• Die Output-Lücke wird errechnet, indem man das tatsächliche Bruttoinlandsprodukt mit

dem Produktionspotential, d.h. dem Bruttoinlandsprodukt bei Vollauslastung der

Produktionskapazitäten, vergleicht. Da eine solche Größe jedoch nur sehr schwer zu

ermitteln ist, kommt es zu erheblichen Divergenzen in den Schätzungen, die für die

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Output-Lücke von unterschiedlichen Institutionen (z.B. der OECD oder dem

Internationalen Währungsfonds) vorgenommen werden.

• Schließlich wird in der Literatur immer auch die Frage diskutiert, ob man für eine Taylor-

Regel die aktuell verfügbaren Werte der Inflation und der Output-Lücke einsetzen soll,

oder ob es nicht besser wäre, hierfür Prognose-Werte einzusetzen. Letzteres wird vor

allem mit den langen Wirkungsverzögerungen der Geldpolitik begründet.

Trotz dieser Schwierigkeiten bei der konkreten Anwendung ist die Taylor-Regel sehr viel

eher als die Geldmengenstrategie und das Inflation targeting in der Lage,

• den Notenbankern im Innenverhältnis eine relativ robuste Entscheidungshilfe zu bieten

und auch

• den Privaten eine Richtschnur dafür zu liefern, ob die aktuelle Zinspolitik einer

Notenbank angemessen auf Angebots- und Nachfrageschocks reagiert.

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4.6 Die „stabilitätsorientierte geldpolitische Strategie“ der EZB

Wie kaum eine andere Notenbank hat sich die Europäische Zentralbank sehr früh darum

bemüht, einen umfassenden konzeptionellen Rahmen für ihre Geldpolitik zu entwickeln. Die

„stabilitätsorientierte geldpolitische Strategie“ wurde erstmals im Januar 1999 präsentiert,

also ganz unmittelbar nach dem Startzeitpunkt der Europäischen Währungsunion.

4.6.1. Die zwei Säulen

Neben der bereits in 1.4.4 präsentierten Definition des Inflationsziels, die durchaus auch mit

einem Inflation targeting (siehe 4.4) vereinbar wäre, umfasst die Strategie der EZB „zwei

Säulen“:

• „Eine herausragende Rolle der Geldmenge, die in der Verkündung eines Referenzwerts

für das Wachstum eines breiten monetären Aggregats zum Ausdruck kommt,“ (EZB 1999, S.

50), sowie

• „eine breit fundierte Beurteilung der Aussichten für die künftige Preisentwicklung

und die Risiken für die Preisstabilität im Euro-Währungsgebiet insgesamt.“ (EZB 1999, S.

50).

Wir werden beide Säulen darstellen und diskutieren und dabei außerdem überprüfen,

inwieweit die Zinspolitik der EZB auch mit einer Taylor-Regel erklärt werden könnte.

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4.6.2. Die erste Säule: „Herausragende Rolle der Geldmenge“

Die erste Säule deckt sich nahezu vollständig mit der in 4.3 präsentierten

Geldmengenstrategie. Allerdings hat die EZB mit dem Ausdruck „Referenzwert“ von Anfang

an klar zum Ausdruck gebracht, dass sie diese Säule nicht im Sinn einer engen Regelbindung

versteht:

„(...) beinhaltet das Konzept des Referenzwerts nicht eine Verpflichtung seitens des Eurosystems, kurzfristige Abweichungen des Geldmengenwachstums vom Referenzwert zu korrigieren. Die Zinsen werden nicht „mechanistisch“ als Reaktion auf solche Abweichungen angepaßt, um das Geldmengenwachstum auf den Referenzwert zurückzuführen.“ Trotz dieser Einschränkung ist es nach mehr als drei Jahren nach dem Start der EWU nur

schwer möglich, den Einfluß dieser Säule in den konkreten zinspolitischen Entscheidungen

der EZB auch nur annäherungsweise zu identifizieren. Wie das Schaubild 4.1 verdeutlicht lag

das Geldmengenwachstum

• von Januar 1999 bis Juli 2000 oberhalb des Referenzwertes, was nach dem

Selbstverständnis der EZB eine restriktive Zinspolitik erfordert hätte,

• von September 2000 bis April 2001 war das Geldmengenwachstum im Vergleich zum

Referenzwert zu gering, dies hätte also Zinssenkungen nahe gelegt,

• von Mai 2001 an ging das Geldmengenwachstum weit über den Referenzwert hinaus,

somit hätte man wieder Zinserhöhungen erwarten müssen.

Geldmengenwachstum und Referenzwert

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Wachs tum s rate der Geldm enge M3

Referenzwert von 4,5 %

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Wie das Schaubild 4.2 zeigt, verlief die tatsächliche Zinsentwicklung nahezu völlig losgelöst

von den Signalen der „ersten Säule“:

• Von Januar 1999 bis Oktober 1999 kam es zu rückläufigen Zinsen, obwohl das

Geldmengenwachstum ein gegenläufiges Handeln erfordert hätte,

• von November 1999 bis April 2001 kam es zu einer Zinserhöhungsphase, obwohl es von

der Geldmengenentwicklung her bereits ab September 2000 zu Zinssenkungen hätte

kommen müssen,

• von Mai 2001 an wurden die Zinsen deutlich zurückgenommen, obwohl sich von genau

diesem Zeitpunkt an die Geldmenge immer mehr vom Referenzwert nach oben weg

bewegte.

Schaubild 4.2 einfügen

Damit ist es wohl kaum noch möglich, von einer „herausragenden Rolle“ der Geldmenge in

den zinspolitischen Entscheidungen der EZB zu sprechen. Diese Beobachtungen decken sich

weitgehend mit den bereits erwähnten Ergebnissen der Geldmengenpolitik der Bundesbank,

die ebenfalls keinen erkennbaren Einfluss auf die zinspolitischen Entscheidungen hatten.

Zinsentwicklung in Euroland

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4.6.3 Die zweite Säule: eine breit fundierte Beurteilung der Aussichten für die Preisentwicklung Was sich hinter der zweiten Säule verbirgt, wird am ehesten in den Worten der EZB deutlich: „Diese Beurteilung stützt sich auf eine breite Palette von Konjunkturindikatoren. Diese breite Palette von Indikatoren umfaßt viele Variablen, die Vorlaufindikatoreigenschaften für zukünftige Preisentwicklungen besitzen. Diese Variablen beinhalten u. a. die Löhne, den Wechselkurs, die Anleihekurse und die Zinsstrukturkurve, verschiedene Meßgrößen für die reale Wirtschaftstätigkeit, fiskalpolitische Indikatoren, Preis- und Kostenindizes sowie Branchen- und Verbraucherumfragen. Offensichtlich wird es auch nützlich sein, die Inflationsprognosen, in die all diese Variablen eingegangen sind, bei der Beurteilung zu verwenden, ob der geldpolitische Kurs angemessen ist.“ (EZB 1999, S. 54f.) Natürlich ist es richtig, wenn sich eine Notenbank bei ihrer Beurteilung der zukünftigen

Preisentwicklung auf eine möglichst „breit fundierte Beurteilung“ stützt. Im Zusammenhang

mit einer geldpolitischen Strategie hat man sich jedoch zu fragen, inwieweit die EZB damit

auch dem Anspruch gerecht wird, eine Reduktion der Komplexität des geldpolitischen

Entscheidungsprozesses zu leisten, der zinspolitische Entscheidungen im Innenverhältnis

erleichtert und sie damit zugleich im Außenverhältnis besser verständlich macht. Durch eine

bloße Aufzählung unterschiedlichster Indikatoren, wie sie in dem obigen Zitat vorgenommen

wird, ist beiden Zwecken wenig gedient.

Die zweite Säule der EZB-Strategie kann damit lediglich als eine Beschreibung einer

Selbstverständlichkeit angesehen werden, nicht jedoch als eine Heuristik, wie sie

beispielsweise durch eine Geldmengenregel oder eine Taylor-Regel geboten wird.

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4.6.4 Was macht die EZB wirklich?

Somit bietet die 2-Säulen-Strategie keine wirkliche Hilfestellung für das Verständnis der

zinspolitischen Entscheidungen der EZB. Während die erste Säule keinerlei Kontakt zur

tatsächlichen Zinspolitik aufweist, ist die zweite Säule so allgemein gehalten, dass man damit

alles und nichts begründen kann. Dies führt zu der Frage, ob es nicht möglich ist, die

zinspolitischen Entscheidungen der EZB mit einer Taylor-Regel zu erklären.

Schaubild 4.3 zeigt, dass es bis April 2001 relativ gut möglich ist, die Zinspolitik der EZB mit

einer typischen Taylor-Regel zu erklären. Die entscheidenden Parameter wurden dafür wie

folgt bestimmt:

• Für den durchschnittlichen kurzfristigen Realzins wurde ein Wert von 2,8 % gewählt.

Dies entspricht dem Durchschnitt der deutschen kurzfristigen Zinsen im Zeitraum von

1960 bis 1998.

• Für die Inflationsrate wurde die Kerninflationsrate eingesetzt, d.h. eine Inflationsrate ohne

Rohstoffe und Nahrungsmittel.

• Für die Outputlücke wurden die von der OECD in ihren halbjährlichen Surveys

prognostizierten Werte für die jeweils nächsten zwölf Monate verwendet. Da es sich

hierbei um Jahreswerte handelt, wurden sie anteilig auf die entsprechenden Monate

umgerechnet. Konkret wurde beispielsweise für den Mai 2000 ein Durchschnitt aus 8x

dem Wert für 2000 und 4x dem Wert für 2001 errechnet.

• Die Gewichtungsfaktoren für die Output-Lücke und die Inflationsabweichungen

entsprechen mit jeweils 0,5 den Werten der ursprünglichen Taylor-Regel.

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Schaubild 4.3

Von Mai 2001 an kommt es zu einem deutlichen Auseinanderlaufen der tatsächlichen Zinsen

und den mit dieser Taylor-Regel berechneten Werten. Dies spricht dafür, dass die EZB von da

an eine deutlich expansive Geldpolitik eingeschlagen hat. Dieser Eindruck wird auch dadurch

gestützt, dass man das Zinsniveau bis April 2001, wie auch im Dezember 2001, recht gut mit

einer Taylor-Regel erklären kann, bei der die Output-Lücke mit dem Faktor 1 gewichtet wird,

während die Abweichung der Inflation von ihrem Zielwert einen Gewichtungsfaktor von Null

erhält.

Chart 9: Taylor interest rates and the Euro overnight rate

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Taylor 0.5/0.5 (HICP)Taylor 0.5/0.5 (Core inflation)Taylor 1.0 GapEuro overnight rate