4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

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GURU PADMASAMBHAVA Herausgegeben, kommentiert und mit Übungsanweisungen versehen von Karl Scher er Mit einem Vorwort von Michael von Brück und einem Nachwort von Chhimed Rigdzin Rinpoche KÖSEL

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GURU PADMASAMBHAVA

Herausgegeben, kommentiert und mit Übungsanweisungen versehen

von Karl Scher er

Mit einem Vorwort von Michael von Brück und einem Nachwort von

Chhimed Rigdzin Rinpoche

KÖSEL

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DEM ÜBERLEBEN

DES TAPFEREN TIBETISCHEN VOLKES

MÖGEN MITGEFÜHL UND

WEISHEIT SIEGEN!

Mit 12 Abbildungen aus tibetischen Tankas - aus der Sammlung von Karl Scherer, Freiburg i.Br.

ISBN 3-466-20439-9 © 1998 by Kösel-Verlag GmbH & Co., München Printed in Gernrany. Alle Rechte vorbehalten Druck und Bindung: Ebner, Ulm Umschlag: Elisabeth Petersen, München Umschlagmotiv: Ein tibetischer Tanka aus der Sammlung von Karl Scherer - mit dem Guru Padmasambhava (Mitte), den 3 Buddhas Amitabha, Samantabhadra, Amitayus (oben), dem Abt Shantarakshita (unten links) und dem König Trison Detsen (unten rechts)

1 2 3 4 5 • 02 01 00 99 98

Gedruckt auf umweltfreundlich hergestelltem Werkdruckpapier (säurefrei und chlorfrei gebleicht)

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W U R Z E L N DES E R W A C H E N S (Michael yon Brück) 7

E I N F Ü H R U N G DES HERAUSGEBERS 11

BEMERKUNGEN ZUR ÜBERSETZUNG 11

DANKSAGUNG 17

GURU PADMASAMBHAVA UND SEINE ZEIT 20

Padmasambhava - Leben und Legende 20 Der Buddhismus in Tibet bis Ende des 8. Jahrhunderts 29 Die Übertragung der Lehren 52

DIE GEHEIMEN UNTERWEISUNGEN DES

AUF DIE FRAGEN DES NYANG WEN TIZING ZANGPO 61

Grundlegende Anweisungen 67

Das große Geschenk 71

Tod und Vergänglichkeit 82

Das Gesetz von Ursache und Wirkung 90

Mitgefühl 97

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Was du brauchst 101

Der Glaube 103

Die Hindernisse auf dem Weg 106

Fragen zur Geheimlehre 135

Das Göttliche in uns 140

Der tantrische Weg der Visualisierung 145

Stufen und Pfade des buddhistischen Weges 150

Opfer und Visionen - ein Spiel des Geistes 155

Letzte Anweisungen 160

Essenz 164

DER WUNSCHERFÜLLENDE BAUM 169

DIE KURZE FASSUNG DER LEBENSGESCHICHTE DES

LOTUSGEBORENEN GURU

von Orgyen Chogur Lingpa 169

ANHANG 207

Nachwort des Herausgebers 207

Nachwort von. S.E. Khordong Lerchen Tulku Chhimed Rigdzin Rinpoche 216

Anmerkungen 224

Bibliografie 234

Glossar 236

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ZUM GELEIT

Der Text Guru Padmasambhavas, der in diesem Band erstmals

in deutscher Übersetzung zugänglich gemacht wird, ist im dop­

pelten Sinne ein Wurzel-Text: er ist die Wurzel für die Heraus­

bildung einer Tradition des Geistestrainings, die noch heute

gepflegt und authentisch überliefert wird, und er reicht bis an

die Wurzeln der geistigen Erfahrung heran, zu der jeder Mensch

reifen kann, der sich auf den Übungsweg nach den hier vorge­

tragenen Anleitungen begibt.

Der Buddhismus und ganz besonders der Tibetische Bud­

dhismus haben in den letzten Jahrzehnten ein lebhaftes Echo

in der westlichen Welt ausgelöst, ja, es ist zu einer Begeisterung

für tibetische Riten, Übungswege, Kunstwerke und Schriften

gekommen. Dies ist kein Zufall. Wie kaum eine andere Religion

ist der Buddhismus darauf ausgerichtet, praktikable Wege zu

beschreiben und Übungen zu empfehlen, durch die der Mensch

selber erfahren kann, wer er ist und was - hinter dem Schleier

von Vermutungen, Projektionen, Begriffskonstruktionen und

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Irrtümern - das Bewusstsein eigentlich darstellt. Der Mensch

auf der Suche nach sich selbst, inmitten von Wertewandel,

Unsicherheit, Leiden und Ängsten, das ist die Ausgangssituation,

aus der heraus Karl Scherer den alten Text Padmasambhavas

für heutige Menschen kompetent und einfühlsam neu interpre­

tiert.

Es geht dabei in diesem Buch nicht um äußeres Verstehen

oder historisches Vergleichen, sondern um eine geduldige An­

eignung von Texten, mehr noch, um einen möglichst unver­

stellten Umgang mit spirituellem und psychologischem Wissen,

das zur Zeit der Einführung des Buddhismus in Tibet ebenso

bedeutungsvoll war wir heute. Ganz gleich, ob sich heutige

Menschen als Christen, Buddhisten, Nicht-Gläubige oder als

etwas anderes bezeichnen - jeder muss fragen, was denn solche

Einordnungen genau besagen, was eigentlich hinter jedem »is-

mus« steht, ob die eigene Lebenseinstellung (oder Religion) nur

mit vielen Worten eine innere Leerheit verschleiert, oder ob wir

wirklich versuchen, den Idealen der alten Meister nachzufolgen

und unser Leben entsprechend zu gestalten? Im Bewusstsein der

Vergänglichkeit aller Dinge, angesichts der Frage nach der Be­

deutung des Lebens, des Leidens und des Todes, stellt sich jedem

Menschen irgendwann die Frage: Wer hin ich? Und: Was mache

ich aus meinem Leben?

Wie sehr doch die Menschen einander ähnlich sind, auch

wenn sie äußerlich heute so anders leben als die damaligen

Inder und Tibeter (oder Juden und Griechen), ganz unter­

schiedliche Sprachen sprechen, verschiedenen Religionen an­

gehören und mit anderen Traumbildern umgehen! Und wie

ähnlich die Hindernisse auf dem Weg des Erwachens und der

geistigen Reifung sind - Projektionen, Selbstbehauptung, Stolz,

Trägheit, Ungenauigkeit. Kurz: das Uralte erweist sich als das

ganz Frische!

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Nur einige Sätze Padmasambhavas seien hervorgehoben:

»Erweckt jeden Augenblick den Geist der Erleuchtung und des

Mitgefühls für alle Wesen. Würden die Menschen das tun, dann

würden sie unermüdlich für das Wohlergehen ihrer Mitmenschen

und die Rettung unserer Umwelt arbeiten.« Denn in der Medi­

tation erfährt man, dass diese »Umwelt« in Wirklichkeit »Mit­

welt« ist. Die kontemplative Versenkung nach innen ist nicht

der Gegensatz, sondern die notwendige Kehrseite der liebevoll­

aktiven Tat nach außen! Wie sehr solche Sätze aus der tibetischen

Dzogchen-Tradition dem chinesischen Ch'an (Zen) gleichen!

Und das nicht nur, weil es enge historische Verbindungen

zwischen Ch'an und Dzogchen im 1.18. Jh. n.Chr. gab, sondern

weil die Welt des Geistes eine ist. Und: ist denn die Haltung

Jesu, seine Einsicht in die Einheit von Gottes- und Menschenliebe

etwas völlig anderes? Die Sprache ist anders, die Bilder und die

Vorstellungen, gewiss. Doch die Grunderfahrung ist zumindest

ähnlich.

Aber ähnlich ist auch die stumpfe Gedankenlosigkeit, in die

wir immer wieder zurückfallen können, damals wie heute. So

schreibt Padmasambhava: »Die Menschen schauen nicht auf ihre

Wahre Natur, die immer Eins ist, und deswegen glauben sie,

besser zu sein als ihre Mitmenschen, und sind daher ständig

eifersüchtig auf alle anderen. Die Menschen lesen wenig Wert­

volles, zerstreuen sich, meditieren weder regelmäßig, noch gehen

sie die Neun Stufen des Weges. Daher können sie auch nicht

das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheiden.«

Gewiss, der Übersetzer hat sich nicht zuallererst um die

philologisch übliche Wiedergabe der Texte, sondern vor allem

um eine kongeniale Nach-Dichtung bemüht, die den Geist der

Texte lebendig macht. Aber ganau darauf kommt es an, wenn

die Texte aus der Vergangenheit lebendige Anleitung werden

sollen. Und dieser Anleitung bedürfen gerade heutige Menschen,

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die sich so schnell vom Konsum in der Gegenwart verwirren

oder von der Angst vor der Zukunft lähmen lassen. Denn: »Die,

die ihr Leben für Nichtigkeiten vergeuden, sind zu bedauern.«

Besonders eindrucksvoll ist die »Meditation« über die Dank­

barkeit. Dankbarkeit nicht als höfliches Echo des Ich, das sich

auch noch im Akt des Dankens selbst bestätigen möchte, sondern

als ein Mit-Atmen mit den Elementen, aus denen wir bestehen,

mit der Luft, die durch uns hindurchgeht und die wir weitergeben

an andere Lebewesen. Dankbarkeit als unmittelbare Erfahrung

der gegenseitigen Abhängigkeit aller Dinge, Lebewesen und

Menschen ~ Dank für den Regentropfen auf der Fensterscheibe,

für die freundliche Geste, mit der die Verkäuferin das Brötchen

über den Ladentisch reicht, für das Zwitschern des Vogels vor

dem. Fenster und für die funktonierende Stromversorgung im

Haus. Dank auch für einen Text wie diesen, für den Meister,

der ihn verfasst hat, für den Herausgeber, der ihn vermittelt, für

den Verlag, der sich um den Druck bemüht, für den Leser, der

bereit ist, Herz und Augen zu öffnen. Wer sich in dieser Weise

bewusst auf die kleinen Dinge des Alltags einlässt, wird beglückt.

Wer in dieser Freude seine Tage gestaltet, strahlt Frieden aus.

Und wer Frieden ausstrahlt, findet Frieden. Wer aber Frieden

gefunden hat, stiftet Frieden. Darum geht es.

Der Geist, den Padmasambhava erwecken möchte, ist ein

Geist des Erwachens. Erwachen ist eine Erfahrung von Aufer­

stehung. Möge das Buch nicht nur zur Lektüre, sondern zur

Lebensübung dienen.

München, Ostern 1998 Michael von Brück

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BEMERKUNGEN

ZUR ÜBERSETZUNG

Als mir im April 1987 im Kloster Shechen Ling in Kathmandu

Matthieu Ricard im Auftrag von S. H. Dilgo Khyentse, dem 1991

verstorbenen Oberhaupt der Nyingma-Schule des tibetischen.

Buddhismus, die englische Übersetzung des hier vorliegenden

Textes Die Fragen des Nyang Wen Tingzin Zangpo überreichte,

hatte ich keine Ahnung, welchen Schatz er enthielt. Als ich ihn

jedoch in meinem Zimmer zu lesen begann, ergriff mich große

Freude, ja sogar wilde Ausgelassenheit.

Über die Kluft der Jahrhunderte hinweg zeigt der Text nicht

nur alle Stufen und Stadien des spirituellen Weges, sondern auch

alle Hindernisse und Schlaglöcher, denen jeder auf dem spiri­

tuellen Weg begegnet, zusammen mit den jeweils passenden

Lösungen, die mir praktisch, verständlich und einsichtig erschie­

nen. Mir wurde klar, dass hier ein Kompendium der Bedingungen

spiritueller Übung vorlag: Ein kurzes aber inhaltlich unglaublich

umfassendes Handbuch dieses Weges, mit diagnostischem und

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therapeutischem Wissen über seine Fallen und Barrieren und

deren Überwindung, das der große Meister Padmasambhava im

8. Jh. in prophetischer Weitsicht formuliert und zur Wiederentdek-

kung in unserer Zeit verborgen hatte.

Natürlich wollte ich meine Freude mit anderen teilen und

versuchen, diesen Schatz auch einem weiteren Kreis von Inte­

ressierten zugänglich zu machen. Es war mir klar, dass in der

vorgelegten Fassung nur ein kleiner, ausgesuchter Kreis Zugang

zu diesem Text finden konnte. Es müsste doch möglich sein,

dachte ich mir, die Essenz dieser Aussage sehr frei in eine moderne

Sprache und auf zeitgemäße Probleme bezogen zu übertragen,

um damit den mittlerweile sehr groß gewordenen Kreis von

Wahrheitssuchenden Menschen im Westen anzusprechen.

Ich empfinde bis heute große Dankbarkeit, wenn ich an

Dilgo Khyentse Rinpoches Verständnis und Mitgefühl für meine

Situation zurückdenke. In Retreats, Seminaren und Eserzitien

arbeite ich vor allem mit Menschen, die sich bewusst keiner

Religion und keiner Richtung ausschließlich verschreiben wol­

len. Obwohl sie jeder organisierten Religiosität misstrauen, su­

chen sie dennoch eine direkte Erfahrung ihrer Wahren Natur

und hungern nach gelebter Spiritualität.

Nur mit dem Segen eines Meisters wie S.H. Dilgo Khyentse,

der von anderen Meistern als Manjushri, dem Bodhisattva der

Weisheit selbst, angesehen wurde und als eine Wiedergeburt

von Vimalamitra gilt, konnte dieses Projekt gelingen.

Ein vollendeter Meister wie er konnte mit seinem allumfas­

senden Mitgefühl das universell Gültige jenseits der Grenzen

der eigenen Tradition sehen. So ermächtigte er mich nicht nur,

seine mündlichen Unterweisungen in einem westlichen Kontext

zu vermitteln, sondern auch, diesen Text in eine säkulare Sprache

zu übertragen, die versucht, auf buddhistische Fachwörter und

Begriffe aus dem Tibetischen und dem Sanskrit zu verzichten.

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Ich habe z.B. den in buddhistischen Texten häufig in Sanskrit

beibehaltenen Grundbegriff »Dharma«, der ansonsten gerne mit

»Lehre«, »Gesetz« oder »Ordnung« übersetzt wird, auf seine

tiefere Bedeutung hin untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass

der Dharma die Lehre von der natürlichen Ordnung der Dinge,

wie sie in Wahrheit sind, ist. So habe ich je nach Satzzusam­

menhang »Dharma« entweder als »Wahrheit« übersetzt, wenn

die natürliche Ordnung der Wirklichkeit oder als »Weg der

Wahrheit«, wenn die Lehre und Praxis dieser Ordnung gemeint

war. Den Dharmakaya habe ich als »das Absolute« bezeichnet,

da dies meiner Ansicht nach am ehesten der ungeschaffenen

Natur der Wirklichkeit in unserem Sprachgebrauch entspricht.

Den »Sangha« bezeichne ich konsequenterweise dann als die

»Gemeinschaft der Weggefährten«. »Lama« oder »Guru« habe

ich einfach als »Lehrer« übersetzt, außer im Fall von Padmasamb-

hava selbst, wo ich den Titel als Teil des Namens beibehalte.

Der Wortstamm von Lama deutet zwar im Tibetischen darauf

hin, dass es nichts Höheres gibt, und analog schwingt in Sanskrit

beim »Guru« die Bedeutung von etwas sehr Gewichtigem mit,

aber beide Begriffe sind im deutschen Sprachraum in der allzu

großen Sektenhysterie negativ belastet oder unerträglich bana­

lisiert. Da selbst der archetypische Guru Padmasambhava von

den Tibetern »Lopön Rinpoche« also »kostbarer Lehrer« genannt

wird, halte ich diese Übersetzung für ausreichend.

Kritischer könnte meine Übersetzung von »Yidam« als

»Aspekt des Göttlichen« aufgenommen werden und mir den

Vorwurf einbringen, theistisches Gedankengut einzubringen. Ich

habe mich jedoch in diesem Fall mehr an der Sanskritform

»Deva« orientiert, was im Hinduismus zwar »Gott« im Sinn der

griechischen Olympier bedeutet, in der buddhistischen Sicht

aber eine mitfühlende Erscheinungsform der leeren Buddhanatur

ist. Darüber hinaus finde ich kein anderes Wort, das die tiefen

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religiösen Empfindungen der praktizierenden Yogis und des

einfachen Volkes deutlicher ausdrückt. Denn die kontemplativen

Visualisations- und Mantraübungen sind zwar fest in der bud­

dhistischen Sicht der Leerheit aller - auch göttlicher - Erschei­

nungen gegründet, jedoch in der Praxis kaum von der theisti-

schen Heilsgewissheit z.B. der katholischen Kirche und ihrer

Marienverehrung oder dem Heiligenkult zu unterscheiden.

In diesem Zusammenhang führt Eva Dargyay in ihrer Studie

über das Kun-byed rgyalpo (»Der alles erschaffende König«),

einem wichtigen Tantra der Nyingmaschule aus:

»Er ist der Eine am Anfang und am Ende des Universums.

Er ist immanent in allen vorhandenen oder entstandenen Phä­

nomenen, und zur gleichen Zeit jenseits aller Phänomene. Er

existierte vor allen Buddhas und allen vergänglichen Erschei­

nungen. Sein Gefolge sind die Spiegelungen seiner eigenen Natur

und beinhalten die ganze geschaffene Welt..., die Vajrayanatra-

dition formulierte ein philosophisch genau definiertes Konzept

des Absoluten in theistischer Sprache..., dieses Bild des Absoluten

ist in Übereinstimmung mit dem Grundgedanken der Yogachara-

schule, die sagt, dass der Geist die Nabe des Universums ist.«

Diese Haltung wird zwar von John Reynolds kritisiert - er

führt aus, dass nach den mündlichen Unterweisungen tibetischer

Lamas dieser »König« der ungeschaffene Urzustand des Indivi­

duums selbst ist und der Begriff König nur als Indiz für die

Priorität dieser »Natur des Geistes« (übet, sems-nyid) vor allen

Phänomenen zu verstehen ist - aber eigentlich besteht hier kein

Widerspruch. Schon immer haben Mystiker aller Schulen ver­

kündet, dass das Absolute und ihr allerinnerstes Sein von der

gleichen Natur seien.

So möchte ich betonen, dass ich, wenn ich die visualisierten

Yidams gelegentlich als archetypische Formen des Göttlichen

bezeichne, damit nicht die C.G. jung'schen Urbilder des kollek-

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tiven Unbewussten meine, sondern die Manifestationen des

erwachten Geistes in symbolischen Formen.

Letztendlich ist es das Feuer der meditativen Erfahrung im

Schmelztiegel unseres Geistes, die das persönliche Innerste und

die überpersönliche Manifestation des Göttlichen verschmelzen

lässt.

Meine Absicht bei der Übersetzung war vor allem die, eine

Tür zu diesem geheimen. Reich öffnen zu helfen, das in Wahrheit

die Natur unseres eigenen Geistes ist.

Religionswissenschaftler und Tibetologen werden auch ak­

zeptieren können, dass der Wert dieser Aussagen den Horizont

einer Festlegung auf ein Jahrhundert oder auf eine Schule

überschreitet. Natürlich hängt die Form und die Gestalt einer

Aussage von dem Boden ab, auf dem sie gewachsen ist, und so

ist die Klarheit und Prägnanz dieses Textes sicher ein Ergebnis

buddhistischer Sichtweise. Die Wahrheit selbst geht jedoch jeden

Menschen an, wie Padmasambhava selbst sagte, und liegt immer

jenseits jedes »...ismus«.

Ich habe mich bemüht, die authentische Aussage dieses

Textes in heute verständliche Formulierungen zu fassen und

dabei die bildhafte und lebendige Sprache des Urtextes zu

erhalten, während ich gleichzeitig die in der Symbolik des

esoterischen Buddhismus verschlüsselte Weisheit so frei und

direkt wie möglich auszudrücken versucht habe.

Der eigentliche Wurzeltext wurde dabei durchgehend in

größeren Typen abgedruckt. Auf den Text folgen meine Kom­

mentare, die es dem modernen Leser zusätzlich erleichtern sollen,

den Bezug zu seiner Alltagsrealität herzustellen und die Ori­

ginaltexte zu meditieren.

Stellenweise habe ich hier versucht, Querverbindungen zu

Entwicklungen in der heutigen spirituellen Szene herzustellen.

Auch wenn im. großen Feld des New Age in einer enthusiastischen

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Aufbruchsstimmung häufig gemeint wird, alles neu und besser

machen zu können, zeigt sich gerade bei den bekannt gewordenen

Fehlentwicklungen und am Scheitern gut gemeinter Ansätze,

dass es an Kenntnis der universell gültigen Gesetze des spiritu­

ellen Weges, wie sie die alten Traditionen überliefern, zu mangeln

scheint.

Hier zeigt sich auf das Deutlichste das prophetische Genie

Meister Padmasanibhavas, denn viele der Aussagen könnten nicht

aktueller sein, wenn sie ein Zeitzeuge formuliert hätte. Dieser

Schatz prophetischer Unterweisungen ist keine theoretische

Schrift, sondern die geheimen mündlichen Unterweisungen des

Guru Padma an seine engsten Schüler, um die Lehre in unserer

Zeit zu erhalten. Es handelt sich um höchst konkrete Meditati­

onsanweisungen und Lebensregeln. Wo sich dies nicht deutlich

erkennen lässt, sondern implizite vorausgesetzt wird, habe ich

mich bemüht, die entsprechenden Meditationen und Übungen

in zeitgenössischer Sprachform in die Kommentare einzufügen.

Wir haben in diesem Werk alle Anweisungen für die erfolg­

reiche eigene spirituelle Übung - ein wahrer Schatz!

Meine Absicht war, durch die Kommentare das ungeheure

Know-how dieses Textes lebendig zu machen, damit er als

konkrete Anleitung im täglichen Leben genutzt werden kann,

auch wenn selbstverständlich für alle höheren Meditationen und

Übungen des Vajrayana der Segen und die Begleitung eines

autorisierten Lehrers notwendig sind. Mit der fortscheitenden

Verbreitung des Buddhadharma im Westen ist dies heute zum

Glück für jeden möglich.

Von der Idee zu ihrer Umsetzung dauerte es jedoch seine

Zeit und viele Einzelschritte und Unterstützung waren nötig.

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DANKSAGUNG

Mein größter Dank gilt Dr. Matthieu Ricard (Gelong Könchog

Tenzin), der mir die englische Rohübersetzung zur Verfügung

stellte und über die Jahre ein guter Freund wurde.

Dr. Paul Köppler, der sich als Vorstand des Vereins »Bud­

dhismus im Westen« und als Übersetzer buddhistischer Texte

verdient gemacht hat, half bei der ersten Fassung des Manu­

skriptes und unterstützte meine Versuche - durch Vergleiche

mit der Urbedeutung im Pali-Kanon -, den tiefen Bedeutungs­

inhalt buddhistischer Begriffe in zeitgenössischen Ausdrücken

wiederzugeben.

Ulrich von Schroeder danke ich für die großzügige und

prompte Hilfe bei vielen Fragen bezüglich historischer Einord­

nung. Kerstin Domier schließlich betreute das Manuskript in

mehreren Phasen mit kritischem Engagement und besorgte die

Erfassung am PC. Ohne ihre andauernde Anteilnahme und

Unterstützung wäre das Projekt nie zum Abschluss gekommen.

Prof. Michael von Brück war so freundlich, das Manuskript

zu sichten, viele wertvolle Anregungen zu geben und ein Ge­

leitwort zu schreiben. Für seine Hilfe danke ich ihm herzlich.

Besonders dankbar bin ich für das Nachwort von Chhimed

Rigdzin Rinpoche. Er ist ein echter Experte der Termaliteratur,

da er selbst als der Khordong Therchen Tulku die Reinkarnation

eines bedeutenden Tertöns und ein zeitgenössischer Finder

solcher Schätze ist.

Wie man die zeitlose Wahrheit des Buddhadharma in deut­

scher Sprache ausdrücken kann, erlebte ich bei der Zen-Meisterin

Dharma Prabasha Roshi. Ihre Gabe, die unsagbare Erfahrung

der Nicht-Dualität durchklingen zu lassen, war mir eine bestän­

dige Inspiration.

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Mein Dank gilt auch S.E. Dzongsar Jamyang Khyentse Rin­

poche, der selbst jederzeit traditionelle Gepflogenheiten durch­

bricht, wenn die zeitlose Wahrheit auf überraschende und intui­

tive Weise vermittelt werden muss, um frisch und lebendig zu

bleiben, und der mich immer wieder ermutigt hat.

Ohne die Übertragungen und Ermächtigungen des Konchog

Chidu-Zyklus von Jatshon Nyingpo durch S.H. Dilgo Khyentse,

Shechen Rabjam Rinpoche und Thrangu Rinpoche wäre ich der

Essenz dieses Textes nie näher gekommen. Ihnen bin ich für

immer dankbar und aufs Tiefste verbunden.

Unschätzbar wertvoll ist der Segen von Khyabje Trulshik

Rinpoche. Das von ihm anläßlich der Veröffentlichung verfasste

vierzeilige Wunschgebet schließt den Leser direkt an den Se­

gensstrom der gesamten Übertragungslinie von Guru Rinpoche

bis heute an.

Tulku Pema Wangyal danke ich für seine prompte Hilfe bei

der Übersetzung.

Dennoch hätte ich dieses Buch nie in Angriff genommen,

wenn mich nicht die Teilnehmer der von mir geleiteten Retreats,

denen ich das Manuskript in verschiedenen Rohfassungen vor­

legte, durch ihr enthusiastisches Interesse dazu bewegt hätten.

Ich hoffe, dass dieser Text in der vorliegenden Form jeden,

der mit ihm in Berührung kommt, an sein wahres und eigentliches

Ziel erinnert. Möge dieser kostbare Schatztext jedem, der sich,

ungeachtet seiner religiösen und geistigen Anschauung, auf

diesen Weg begibt, Landkarte, Reiseführer und geistige Nahrung

zugleich sein.

Auf Empfehlung von Shechen Rabjam Rinpoche, dem Dhar-

maerben von S.H. Dilgo Khyentse und Abt der Shechen Klöster

in Boudhanath und Osttibet wurde den Fragen des Nyang Wen

Tingzin Zangpo noch der Text »Die kurze Fassung der Lebens­

geschichte des Lotusgeborenen Guru« aus dem Chogyur Tersar

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angefügt. Auch dieser Text ist ein »verborgener Schatz«, der im

19. Jh. von Chogyur Lingpa wiederentdeckt wurde.

Wer diese visionäre und poetische Biographie wiederholt

liest, erhält von Guru Padma selbst den Segen, alle äußeren und

inneren Hindernisse auf dem Weg rasch zu überwinden und

wahre Errungenschaften zu erlangen.

Da dieser Text für die Rezitation durch eine Sangha oder

einen Yogi gedacht ist, wurde er so nahe am Original und. so

wortgetreu wie möglich übersetzt. Um den mantrischen Klang

des tibetischen Textes zu erhalten, wurde hier bewusst auf die

Übersetzung von buddhistischen Fachwörtern verzichtet. Im

Vertrauen auf den Segen der Meister der Ubertragungslinie

werden sich Sinn und Inhalt durch häufige Rezitation spontan

und von selbst im Geist offenbaren.

Da Guru Rinpoche in diesen von Tibetern als autobiografisch

bewerteten Text auch Licht auf scheinbare Widersprüchlichkei­

ten seiner vielschichtigen Lebensgeschichte wirft, ist er, wenn

auch blumig und barock im Stil, eine sinnvolle Ergänzung zu

seinen äußerst knappen, ja kernigen, prophetischen Unterwei­

sungen im ersten Teil. Gerade durch die Rezitation in der

Ich-Form nimmt der Leser an der archetypischen Entwicklung

und Entfaltung des großen Meisters und Kulturhelden teil, so

dass sich seine persönliche Identität in der Buddhanatur auflösen

kann. Denn wie »Die kurze Fassung der Lebensgeschichte des

Lotusgeborenen Guru« verspricht, wird der Geist des vertrau­

ensvollen Schülers beim Rezitieren mit dem Geist des großen

Meisters vereint!

Dies ist das Ziel aller höheren Meditationen.

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GURU PADMASAMBHAVA

UND SEINE ZEIT

PADMASAMBHAVA - LEBEN UND LEGENDE

In der Person des Meisters Padmasambhava durchdringen sich

historische Persönlichkeit, die Dimension der mythischen Zeit

und die zeitlose Stimme der absoluten Wahrheit. Er hat durch

sein Leben und Wirken nicht nur die Geschichte Tibets nach­

haltig beeinflusst, sondern auch die innere Wirklichkeit »gno-

stischer Erfahrung« symbolisch dargestellt. Gnostische Erfah­

rung ist hier nicht im Sinne der streng dualistischen Gnostik

der ersten nachchristlichen Jahrhunderte gebraucht, sondern,

Gnosis wird als direkte Erfahrung der Einheit des Geistes als

(erkennendes) Subjekt mit dem erkannten Objekt des Geistes

verstanden.

Ob es sich bei den vielen verschiedenen Geschichten und

Legenden, die sich um sein Leben ranken, um historische Fakten,

um Parabeln der buddhistischen Lehre oder um eine archetypi­

sche Darstellung des spirituellen Wegs handelt, war in Tibet

immer gleich wichtig. Sicher ist zwar, dass er aus Indien stammte,

aber ob aus dem tiefen Süden oder einem kleinen Königreich

an den Hängen des Himalaya, ist schon umstritten. Wichtiger

ist, dass Padmasambhava die Verkörperung des spirituellen

Lehrers an sich ist und seine Präsenz bis heute durch jeden

Lama der Alten Schule Tibets wirkt.

Bereits um seine Geburt ranken sich die unterschiedlichsten

Legenden. In einer Version wurde er von Buddha Shakyamuni

prophetisch als zweiter Buddha, dessen Aufgabe die Verbreitung

der geheimen Tantras und des Vajrayana sein würde, angekündigt

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und schon zwölf Jahre nach Shakyamunis Tod als Kind einfacher

Leute in Indien geboren.

Nach anderen Legenden kam er als Prinz von Oddiyana im

5. Jh. zur Welt. Sein Vater soll nach dieser Legende der in allen

tantrischen Übertragungslinien erscheinende König Indrabhuti,

den die Tibeter Dza nennen, gewesen sein. Das Land Oddiyana,

von manchen Gelehrten in Westafghanistan, von anderen in

Kaschmir oder im pakistanischen Swat-Tal vermutet, war eines

der Zentren buddhistischer Gelehrsamkeit und Aufenthalts- oder

Geburtsort vieler großer Meister.

Der Danakosha-See im Lande Oddiyana ist auch der Schau­

platz der schönsten und beliebtesten aller Legenden um die

Geburt von Padmasambhava. Hier soll er aus einer Wolke aus

Licht und Mitgefühl als sechsjähriges Kind auf dem Pollenbett

eines Lotus ohne menschliche Geburt erschienen sein (s.S. 171).

Zwei von allen gläubigen Tibetern als Buddhaworte akzep­

tierte Zitate aus dem tibetischen Kanon belegen sowohl den

frühen Zeitpunkt der Geburt, als auch die wundersame Erschei­

nung Padmasambhavas. Im Nirvana-Sutra steht: »Zwölf Jahre

nachdem ich ins Nirvana übergegangen bin, wird ein Wesen,

das alle anderen übertrifft, auf dem Blütenbett einer Lotusblume

im makellosen Danakosha-See erscheinen.«

Im Sutra der Vorhersagen in Magada verkündet der historische

Buddha selbst die Kontinuität seiner Heilsgeschichte als symbolische

Belehrung: »Ich werde sterben, um die falsche Sicht, dass Dinge

eine dauerhafte Existenz haben, zu zerstören, aber zwölf Jahre

später werde ich, um die ebenso falsche Sicht des Nihilismus

aufzulösen, wieder auf einem Lotus im Danakosha-See erschei-4

nen.«

Nach der Bön-Üb er lieferung wiederum ist der Ur-Guru des

tibetischen Buddhismus einer der beiden Söhne von Drenpa

Namkha, einem berühmten Bönmeister des 8. Jh., der sich auch

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in der buddhistischen Überlieferung unter den 25 engen Schülern

von Padmasambhava wiederfindet.

Diese Legende zeigt, wie tief sich Padmasambhava als Ar­

chetypus im Bewusstsein der Menschen des Landes verfestigt

hat: Selbst die vom Buddhismus beinahe ausgerotteten Bön

können nicht anders, als sich auf den großen Guru zu beziehen,

allerdings indem sie ihn zu einem der ihren machen und seine

Herkunft im westtibetischen Shang-Shung ansiedeln.

Tatsächlich hat Padmasambhava sogar eine Reihe wichtiger

Böntexte vor der Vernichtung bewahrt. Drenpa Namkha, die

Verfolgung der Bön voraussehend, überreichte sie Padmakara,

der sie versiegelte und versteckte, so dass sie in späteren,

ruhigeren Zeiten wiedergefunden und -belebt werden konnten.

So wird Guru Rinpoche heute auch von den Bön sehr verehrt

und der zeitgenössische Dzogchenmeister Tulku Urgyen Rinpo­

che berichtete, dass die umfangreichste Biographie in vier Bänden

Bha'Thang Zab Rgyas von einem Bön-Tertön stamme. Leider

wurden alle bekannten Ausgaben in der Kulturrevolution von

den Chinesen zerstört.

In visionärer Schau wurde dem großen Tertön Orgyen Cho-

gyur Lingpa von Guru Padma selbst die überraschende Lösung

dieser scheinbaren Widersprüche offenbart:

»Ich kam wie fallender Regen in unendlichen Billionen von

Formen auf der ganzen Welt zu denen, die bereit waren, mich

zu empfangen. Die Handlungen der Erleuchteten sind unerklär-

lieh, wer könnte sie bestimmen oder messen!«

Tsele Natsok Rangdrol, ein bedeutender tibetischer Meister

der Nymgmaschule, unterstützt diese Sicht: » Meister Padma war

die höchste Verkörperung aller Buddhas. Deswegen verweilt er

nicht in dem engen Bereich, auf den Menschen fixiert sind, um

sich auf eine solide und dauerhafte Realität zu einigen, sondern

erschien entsprechend (den Vorstellungen) derjenigen, die er zu

22

Page 21: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

bekehren versuchte. Konsequenterweise ist deshalb alles Klam­

mern an absolute Aussagen darüber, ob er aus einem Schoß

geboren wurde oder auf wunderbare Weise erschien, ob die

verschiedenen Taten, die er unter verschiedenen Namen in Indien

und anderen Ländern vollbrachte, miteinander in Übereinstim­

mung zu bringen sind oder ob die Zeitangaben seines Tibetauf­

enthalts inkonsistent sind, nur dazu gut, sich selbst zu erschöpfen

und die eigene Verblendung zu beweisen, denn wer kann schon

das Unfassbare in die Enge rationaler Konzepte zwängen.«

Übereinstimmend sagen jedoch alle Quellen, dass Guru Pad-

masambhava von einer großen Anzahl bedeutender Meister und

yogischer Adepten Einweihungen und Belehrungen erhielt. Dies

ist besonders signifikant, denn es zeigt, dass selbst Padmasamb-

hava, der aus dem Mitgefühl und der Weisheit aller Buddhas

entstanden ist, in die ihm innewohnende Buddhanatur durch

seine eigenen Meister und Gurus eingeführt werden musste.

Jamgon Kongtrul I. beschreibt in seiner kurzen Biographie

des Meisters Padma den Grund, warum er als Manifestation des

Mitgefühls aller Buddhas dennoch die Belehrungen vieler Meister

suchte: »Dann reiste er nach Bodhgaya und vollbrachte viele

Wunder. Als die Menschen daraufhin fragten, wer er sei, und

er antwortete, er sei ein selbstentstandener Buddha, glaubte ihm

niemand und er wurde sogar verhöhnt. So sah er ein, dass es

viele gute Gründe gab, einen Lehrer zu haben.«

Einmal von der Notwendigkeit eines Lehrers überzeugt,

suchte Padmasambhava alle großen Meister der buddhistischen

Lehre auf. Nach Chogyur Lingpa soll er von Ananda, dem

Lieblingsschüler des Buddha Shakyamuni die Einweihung in den

buddhistischen Orden erhalten haben und in die Sutren des

Pali-Kanon eingeführt worden sein, was bedeuten würde, dass

er bereits im 4. Jh. v. Chr. gelebt haben muss. Nach jamgon

Kongtrul I. wurde er von Prabhahasti ordiniert.

23

Page 22: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

Von dem Meister Shantigarbha soll er die Sadhanas und

Tantras des Mahayana erhalten haben, einer buddhistischen

Reformbewegung, die die Verantwortung für alle Wesen lehrt

und im 1. Jh. n. Chr. erstmals erwähnt wird.

Von Garab Dorje, dem Wurzellehrer des Atiyoga, dem als

Dzogchen bekannten Yoga der großen Vollendung, wurde er in

diese höchste aller buddhistischen Meditationen eingeführt und

wurde später auch Schüler von dessen Nachfolger, dem chinesi­

schen Meister Sri Singha, der in einer der Oasen der Seidenstraße

lebte. Sri Singha soll in dem berühmten Höhlenkloster Wu

t'aishan gewirkt haben, das auf den großen Bodhisattva Manjushri

zurückgeht und einer der wenigen Orte im China der Tang-Dy­

nastie war, an dem man tantrischen Buddhismus studieren konn­

te. Dort, sowie in Tun Huang war der Zen-Buddhismus und eine

taoistisch beeinflusste Interpretation des Prajnaparamita-Sutras

zentrale Praxis der vielen klösterlichen Gemeinschaften. Wir

können also mit gutem Grund vermuten, dass Padmasambhava

durch diesen Lehrer auch Kontakt mit dem chinesischen Ch'an

(jap. Zen) in seiner vitalsten Urform hatte. Da diese Lehre dem

indischen Stufenweg geradezu antagonistisch gegenüberstand,

wird überliefert, dass Sri Singha die Belehrungen über Sutra und

Tantra bei Tag und die geheimen Unterweisungen des Dzogchen

bei Nacht gab.12

Da der erste bekannte Maha Ati~Text im 6. Jh. entstand" ,

zeigt sich, dass das Leben von Meister Padma nicht nur alle

buddhistischen Schulen, sondern auch riesige geographische-

und Zeiträume umspannte.

Manche Quellen sagen, dass er hundert, und andere, dass

er tausend Jahre mit Meditation und kontemplativer Übung

verbrachte, bis er schließlich in der Asurahöhle von Yangleyshod

im heutigen Pharping im Kathmandutal zur vollendeten Erleuch­

tung gelangte.

24

Page 23: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

Davor musste er jedoch zuerst in der Maratikahöhle in

Ostnepal lebensverlängernde Yogaübungen durchführen, um die

notwendige Zeit zu gewinnen, denn übereinstimmend heißt es,

dass er über einen sehr langen Zeitraum meditieren musste, um

zur vollständigen Erleuchtung zu gelangen.

Seine Meister schonten Padmasambhava während seiner

Schulung trotz aller seiner herausragenden Qualitäten nicht und

gingen insbesondere auf die, schon allein durch den Gebrauch

einer Sprache konditionierte, gewohnheitsmäßige Trennung in

den Erfahrenden, das erfahrene Objekt und den Prozess der

Erfahrung ein, die in der Dz ogchen-Sicht die Wurzel aller

Verblendung ist. In einer geheimen Autobiographie, die nur

initiierten Yogis zugänglich ist, wird folgender Dialog zwischen

Padmasambhava und Meister Sri Singha überliefert:

Padmasambhava: »Ich hatte die Erfahrung lebendiger Klar­

heit, völliger Reinheit und totaler Freiheit. Die Erfahrung der

Klarheit war wie die Sonne, die in den Himmel aufsteigt, und

die Erfahrung der Wonne fühlte sich wie der große Ozean an.«

Sri Singha antwortete : »Worüber bist du so euphorisch? Ich

selbst erfahre Nichts. Hast du etwas Höheres als das erreicht?

Deine Erfahrungen sind nicht die Errungenschaften der Buddhas

der drei Zeiten. Sich auf eine Erfahrung fixieren, heißt, sich von

der Täuschung verführen lassen. Deine Erfahrungen sind aus

Konzepten fabriziert. Du musst den Knoten dualistischen Den­

kens auflösen [das Erfahrenden und Erfahrenes trennt].«

Die Biographie schließt nach vielen solcher Begegnungen

mit seinem Meister mit folgendem Satz: »Die Belehrungen von

Sutra und Tantra haben mir nicht die dauerhafte Erlösung

gebracht, aber die direkten Anweisungen meines Meisters haben

mich endgültig befreit.«

Hiermit demonstriert Padmasambhava auch exemplarisch die

Grundüberzeugung der Dzogchen-Schule, dass jede Belehrung

25

Page 24: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

nur durch den persönlichen Kontakt und durch den Segen eines

Meisters wirksam wird.

Tsele Natsok Rangdrol versucht, die Widersprüche zwischen

Padmasanibhavas vollkommener Buddhaschaft und -seinem lan­

gen Weg zur Manifestation dieser Vollendung zu vereinigen,

indem er betont, dass er nicht als gewöhnlicher Mensch gesehen

werden darf, der die verschiedenen Stufen des Weges nachein­

ander durchschreiten musste, sondern dass er diese vielen Übun­

gen und Entwicklungsstufen vielmehr nur als magisches Schau­

spiel vollführte, einerseits, um den Konventionen der Zeit ent­

sprechend glaubwürdig zu sein, und andererseits, um die bud­

dhistische Grunderkenntnis zu vermitteln, dass jede Tat ein

bestimmtes Resultat bewirkt. Tatsächlich habe er jede Belehrung

beim ersten Hören ganz verstanden und, ohne üben zu müssen,

verwirklicht. Die lange Dauer seiner Übung erkläre sich aus der

immensen Vielfalt buddhistischer Lehren und Meditationen, die

er alle vollendet verwirklichte.

Aber Guru Rinpoche verwirklichte nicht nur das jeweils

höchste Ideal aller buddhistischen Schulen, sondern manifes­

tierte sich, laut Jamgon Kongtrul I., im Laufe seines Lebens

auch als eine der wichtigsten Gestalten der buddhistischen

Überlieferung. So soll er der Mönch gewesen sein, der im 3.

Jh.v. Chr. den großen Kaiser Ashoka zum Buddhismus bekehrte

und aus dem grausamen Tyrannen einen überzeugten Pazifisten

und Tierschützer machte, dessen in Stein gehauene Edikte bis

heute richtungsweisende soziale und ökologische Impulse ge­

ben.13

jamgon Kongtrul I. sieht auch andere bekannte buddhistische

Meister, wie etwa den Brahmanen Saraha, die Mahasiddhas

Dombi Heruka und Virupa, die heute noch als wichtige Glieder

der Übertragungslinie der vier Schulen Tibets bekannt sind, als

mit Padmasambhava identisch an.

26

Page 25: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

Um das Buddhadharma in der Mongolei und China zu

verbreiten, habe sich Padmasambhava dort als König Ngonshe

Chen und als der Yogi Tobden manifestiert.

Kurzum, wo immer die Entwicklung des Buddhismus neue

Impulse erhielt oder wiederbelebt wurde, war es das Prinzip des

archetypischen Ur-Gurus, das seine segensreiche Wirkung ent­

faltete.

Der große Jamgon Kongtrul, der selbst aus einer Bon-Familie

stammte, sagt sogar, dass Padmasambhava sich im Lande Shang-

Shung im 8. Jh. als Lichtkörper in der Form eines achtjährigen

Knaben zeigte. Unter dem Namen Tavi Hricha verkündete er

dort die Dzogchen-Lehren. Dieser Name erinnert sehr an

Tapihritsa, der in der Bön-Dzogchenschule die archetypische

Figur des Ur-Gurus verkörpert. Auch wenn dies als Antwort auf

die oben beschriebene Vereinnahmung des Lotusgeborenen Gu-

rus durch die Bön gewertet werden kann, ist tatsächlich eine

Querverbindung von Padmasambhava und der Bön-Dzogchen-

linie allein schon deshalb vorstellbar, weil die Bön auch in

Kaschmir (Kha Che), Gilgit ('Bru sha) und Khotan (Li) weit

verbreitet waren, und von all diesen Gegenden schon angenom­

men wurde, sie könnten das legendäre Oddiyana sein. Außerdem

haben wichtige Lehrer Padmasambhavas, wie etwa Sri Singha,

an diesen Orten gelehrt, und es wird vermutet, Dzogchen sei

als eigenständige Lehre zuerst dort entstanden.

Man mag sich über die Vielzahl der Legenden mit ihren

tatsächlichen oder scheinbaren Widersprüchen wundern, insbe­

sondere wenn sie von einer geistigen Größe wie Jamgon Kongtrul

gleichrangig mit historischen Fakten wiedergegeben werden. Das

liegt daran, dass Tibetern im Allgemeinen, und den Anhängern

von Dzogchen und den höheren Tantras im Besonderen die

ganze Welt der Erscheinungen ohne essentielle Wirklichkeit

erscheint. Die einzig gültige Wahrheit ist die Essenz der inneren

27

Page 26: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

Wirklichkeit. Deshalb sind für Tibeter die Legenden und Mythen,

die eine spirituelle Wahrheit symbolisch darstellen, zumindest

ebenso authentisch wie historische Fakten. Die Frage, ob sich

ein Ereignis tatsächlich so abgespielt hat, wie berichtet, stellt

sich erst gar nicht, wenn die wichtigere Aufgabe - eine innere

Wirklichkeit zu vermitteln - erfolgreich gelöst ist.

Sicher ist, dass er im 8. Jh. n. Chr. den Ruf hatte, ein

herausragender tantrischer Meister und gelehrter Pandita, wie

auch der mächtigste Magier seiner Zeit zu sein, der den Buddhis­

mus bereits mehrfach vor Angriffen durch Häretiker gerettet hatte,

unter anderem in seinem Ursprungsort Bodhgaya. Dabei waren

seine, wichtigsten Argumente die Manifestation wunderbarer ma­

gischer Kräfte - Siddhis -, die sich als Folge seiner überragenden

spirituellen Praxis freigesetzt hatten; u.a. bewies er die Fähigkeit,

den Ganges-Strom aufwärts fließen zu lassen, unbeschadet in

einem Scheiterhaufen zu überleben; Gift trinken, auf Wasser

wandeln und selbstverständlich auch fliegen zu können. Dies war

bis Anfang dieses Jahrhunderts in Asien die überzeugendste Weise,

Konflikte zwischen spirituellen Schulen zu lösen.

An der ikonographischen Darstellung zeigt sich, unabhängig

von der historischen Wirklichkeit, die symbolische Bedeutung

des Meisters Padma, indem er in seiner Person das Wertvollste

aller buddhistischen Schulen in Vollendung vereinigt und da­

durch die Reinheit und Tiefe der ursprünglichen Intentionen

und Ideale jedes der drei Fahrzeuge offenbart. Er trägt die drei

Roben der drei Fährzeuge übereinander: das orangefarbene Flik-

kengewand des Hinayanamönchs, das blaue Gewand des Yogis

der Mahayanatradition und den königlichen Brokatmantel des

Vajrayanameisters. Darunter trägt er das weiße Untergewand des

tantrischen Adepten geheimer Übertragungen, welches die

Dzogchenlehre symbolisiert. Er ist tatsächlich die »Einheit aller

Buddhas«.

28

Page 27: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

Es nimmt kaum Wunder, dass dem damaligen König von 1R

Tibet, Trisong Detsen, (Regierungszeit 755-97) Padmasamb-

hava die einzige Rettung schien, als er zu dem Schluss kam, den

Buddhismus in Tibet als Staatsreligion durch den Bau eines

Klosters einzuführen, und dieses Vorhaben sowohl am Wider­

stand der Bevölkerung wie auch an schwarzmagischen Störma­

növern scheiterte.

DER BUDDHISMUS IN TIBET BIS ENDE

DES 8. JAHRHUNDERTS

Als Meister Padma, König Trisong Detsens Ruf folgend, nach

Tibet kam, hatte es dort bereits drei Wellen buddhistischer

Missionstätigkeit gegeben. Schon vom 1. Jh. an waren wandernde

Yogis und Siddhas aus Indien, genau wie Hindu-Sadhus es heute

noch tun, zum heiligen Berg Kailash in Westtibet gepilgert, der

nicht nur allen asiatischen Religionen als Achse der Welt galt,

sondern auch der geistige Mittelpunkt des alten Königreichs

Shang-Shung war. Dort trafen sie auf die hoch entwickelte

Bönkultur, die zu dem Zeitpunkt ihrer eigenen Überlieferung

zufolge bereits, mehrere Tausend Jahre alt war, was zu einem

fruchtbaren geistigen Austausch führte. Es gibt eine lebhafte

Diskussion unter Gelehrten, wer nun wen beeinflusste. Tatsache

ist, dass es Hinweise auf eine kulturelle Bereicherung in allen

Richtungen gibt.

Besonders bei der Überlieferung der Dzogchentradition

scheint es entweder synchronistische Parallelen oder Berührun­

gen gegeben zu haben. So findet sich in der Linie der 24

Bönpatriarchen ein Shang-Shung Garab, was die Frage aufwirft,

ob wir es hier mit dem Begründer der buddhistischen Dzogchen-

29

Page 28: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

Linie, Garab Dorje, zu tun haben. Auch wenn der große

Bönmeister Tapihritsa laut Jamgon Kongtrul eine Ausstrahlung

Padmasambhavas gewesen sein soll, könnte der Name ebenso

als Tapiraja gelesen werden, was auf einen Einiluss aus dem

nahe gelegenen Kashmir deuten würde, denn dort entstand

ungefähr zwischen dem 6. und 8. Jh. in einer höchst erstaunlichen

Parallelentwicklung der revolutionäre Kashmir-Shaivismus, der

mit den Shiva-Sutras von Vasugupta eine erste Blüte fand. Hier

finden wir, ganz im Widerspruch zu den früheren, dualistischen

shivais tischen Schulen, auf einmal keine Ablehnung der Welt

als maya, also Täuschung, sondern ein Verständnis, dass sich

die ganze relative Welt als Energie (shakti) oder Spiel (lilas) von

chit, also der ursprünglichen Gewahrheit manifestiert. Dies

erinnert an die Dzogchenlehre, die die ganze manifeste Welt als

Energie der Gewahrheit (Rig-pa'i rtsal) begreift. Wobei es durch­

aus offen bleibt, ob nicht auch der Kashmir-Shaivismus von

tibetischen Bön-Meistern aus der Shang-Shung-Zivilisation am

oberen Sutlejtal oder von buddhistischen Dzogchenlehrern aus

22

Oddiyana berührt wurde.

Es ist jedenfalls nahe liegend, eine Zone kultureller Diffusion

anzunehmen, die vom nordöstlichen Afghanistan im Westen

über Kashmir und Ladakh bis zum Kailash im Osten, über

Khotan im Norden und die Wüstenklöster entlang der Seiden­

straße bis nach Ostturkestan reicht. Hier entstand ein eigen­

ständiger zentralasiatischer Buddhismus, der als Quelle der 23

Dzogchentradition vermutet werden kann. Diese scheinbar so

lebensfeindliche Umwelt aus Schneebergen, Hochwüsten und

Kältesteppen mit ihren wenigen blühenden Oasen ist damit

zugleich die Heimat einer äußerst vitalen Spiritualität, die sich

in einigen der kühnsten geistigen Entwürfe der Menschheits­

geschichte ausdrückte, die allesamt die orthodoxen Konventionen

ihrer Zeit sprengten.

30

Page 29: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

Maha Ati, oder Dzogchen auf Tibetisch, war und ist der

geistige Höhepunkt des Vajrayana, des diamantenen Fahrzeugs,

wie es die Siddhas und Adepten der großen tantrischen Revo­

lution selbstbewusst nannten.

Jahrhunderte zuvor war in Indien das immer enger werdende

Netz aus monastischen Regeln im Äußeren und innerer Verfan-

genheit in eine private Erlösungssuche, wie es sich im Hinayana

oder Theravada entwickelt hatte, von der Mahayanabewegung

gesprengt worden. Nun war das Vajrayana die Antwort auf das

immer intellektueller werdende Geschehen an den großen bud­

dhistischen Klosteruniversitäten, wo Doktrin und Ideologie die

Suche nach der Erleuchtung im Hier und Jetzt verdrängt hatten.

Doch auch das Vajrayana war im 6. Jahrhundert schon von so

vielen kulturellen und sozialen Interessen geprägt, dass es sich

oft in reiner Magie oder Esoterik erschöpfte, worauf Dzogchen

als die höchste Praxis der Buddhas selbst offenbart wurde, in

die alle drei Yanas in ihrer Essenz integriert sind.

Das Hinayana oder Kleine Fahrzeug wird von seinen Anhän­

gern selbst Theravada oder die Schule der Älteren genannt, da

die grundlegenden Lehren und Praktiken bereits zwei Jahre nach

Buddhas Tod in einem großen Konzil aller Schüler unter Vorsitz

von Ananda kanonisiert wurden. Die wesentlichen Lehren sind

die von den Vier Edlen Wahrheiten und die wesentlichen Prak­

tiken sind in dem Edlen Achtfachen Pfad zusammengefasst (siehe

Kommentar Nr. 37 im Haupttext). Wesentlich dabei ist die

Einsicht, dass das Individuum kein eigenständiges und abge­

grenztes Selbst besitzt (Anatta), sondern eine Art offener Prozess

im beständigen Wandel (Annicca, Pali) ist. Deshalb ist es auch

für das eigene Wohlergehen selbst verantwortlich, da es in diesem

offenen System jederzeit auf seinen Zustand Einfluss nehmen

kann, indem es den Pfad betritt. Diese Möglichkeit der Gestaltung

des eigenen Schicksals unterliegt dem karmischen Gesetz von

31

Page 30: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

Ursache und Wirkung. Das Karma ist demzufolge nicht deter­

miniert und wird somit selbst gestaltet.

Wer dies nicht erkennt und sich aus seiner Verblendung

heraus an ein Selbst klammert, dessen Wohlbefinden von äußeren

Umständen abhängig zu sein scheint, schafft sich dadurch leid­

volle Erfahrungen (Duhkha) und verstrickt sich tiefer in den

leidvollen Kreislauf des Samsara.

Deshalb ist die wesentliche Praxis die innere Reinigung,

deren Ziel die Auflösung der blinden Verstrickung in Ablehnung

und Begierde ist, was zum Nirvana führt. Dennoch wird im

Hinayana klar gesagt, dass die höchste Stufe, die auf diesem Weg

erklommen werden kann, die eines selbst erlösten Arhats ist,

der noch weit von der Buddhaschaft entfernt ist. Auch wird der

Buddha nur als historische Person gesehen, die mit der Erleuch­

tung zum Ende kommt. Tatsächlich mündet in dieser Sicht die

Buddhaschaft mit dem Erlöschen aller Prozesse, die man bisher

als Selbst erfahren hat, beim Tod im Nirwana. Keine Spur bleibt

zurück.

Das Mahayana oder Große Fahrzeug sieht dagegen die Rea­

lisierung der allen Lebewesen immanenten Buddhanatur

(Tathagatagarbha) als Ziel an. Über die Befreiung aus den

samsarischen Zwängen oder Verstrickungen hinaus wird die

direkte Erfahrung der bereits vorhandenen Einheit mit dem

Absoluten (Dharmakaya) und damit die Erkenntnis, bereits erlöst

zu sein, gesucht. Hier erkennt man, dass es noch nie ein

eigenständiges Selbst gegeben hat, sondern alles immer nur

Ausdruck des Absoluten gewesen ist. In diesem Zustand ist man

zugleich auch mit der wahren Natur aller anderen Wesen ver­

bunden und erkennt klar, dass auch ihre Verstrickungen und

daraus resultierenden Leiden völlig überflüssig sind, da sie nie

objektiv existent waren. Dies führt zum allumfassenden Mitge­

fühl (Mahakaruna), des sich seiner wahren Natur bewussten

32

Page 31: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

Erleuchtungsgeistes oder Bodhicitta. Der mutige Entschluss des

Mahayana-Anhängers ist es, ein Bodhisattva zu werden, der auf

einem hohen Erleuchtungsniveau die eigene Erlösung zurück­

stellt, um alle anderen Wesen zu erretten. Der Bodhisattva schöpft

aus der Erkenntnis Mut, dass nicht nur die eigene Person leer

von einer abgetrennten Identität, sondern auch die äußere Wirk­

lichkeit leer und damit wandelbar ist. So weiß der Bodhisattva,

dass alle seine Handlungen, wenn sie aus einer liebevollen

Motivation erfolgen, für alle Zeiten wirken werden und heilsame

Umstände für die leidenden Wesen schaffen. Da man sich aus

dieser Sicht auch im alltäglichen Familien- und Berufsleben

bereits auf dem Pfad des Bodhisattvas bewegen kann, fand das

Mahayana großen Zulauf unter den Laien.

Im Lauf der Zeit wurden nun auch noch die magischen

Praktiken der prähinduistischen Mutterkulte des ursprünglich

drawidischen Indiens einbezogen. Diese waren äußerst wirkungs­

volle psychologische Methoden, die mit der .Identifikation des

Yogis mit Gottheiten und heiligen Silben, so genannten Mantras,

arbeiteten. Hatten die Hindugottheiten Buddha Shakyamuni'

bereits bei seiner Erleuchtung Ehrerbietung für seine höchste

Errungenschaft erwiesen, wurden nun auch die ältesten Gott­

heiten Indiens zum Buddhismus »bekehrt« und verkörperten

nun einzelne Aspekte der Erleuchtung. Von der Illusion befreit,

ein abgetrenntes Selbst zu sein, der auch Gottheiten unterliegen,

wurden sie nun zu Sambhogakaya-Erscheinungen, die das Ab­

solute widerspiegeln.

Sich selbst als eine dieser Gottheiten zu visualisieren wurde

nun zum potenten Mittel, diese Erleuchtungsaspekte im Hier

undjetzt selbst zu verwirklichen. Die Aufliebung jeglicher Dualität

ist das Ziel des Vajrayana oder Diamantenen Fahrzeugs. Vajra

wird' hier nicht wie im. Hinduismus als Donnerkeil, sondern als

Diamant aufgefasst, um Unzerstörbarkeit, Klarheit und Reinheit

33

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des Geistes zu symbolisieren, die in 6 aufeinander aufbauenden

Tantras realisiert wird.

Damit geht das Vajra- oder Tantrayana einen Schritt weiter

als das Mahayana, in dem die Buddhanatur nur als »Embryo«

oder »Erleuchtungssame« (Tathagatagarbha) aufgefasst wird,

den es zu entwickeln gilt.

Im Vajrayana ist die Buddhanatur als inhärente Weisheit

oder ursprünglich reines Gewahrsein bereits voll entwickelt und

enthüllt sich als die wahre Natur unseres eigenen Geistes. Deshalb

heißt das Vajrayana auch das »Fahrzeug des Resultates«, denn

während im Mahayana die Natur des Geistes zu erkennen die

Ursache für spätere Buddhaschaft ist, gilt im Vajrayana die Natur

des Geistes bereits als Buddha selbst.

So wird Vajrayana auch als »unverhüllter und müheloser«

Weg beschrieben, der sich dadurch auszeichnet, so viele Metho­

den und geschickte Mittel zu haben, wie es menschliche Anlagen

gibt. Allerdings wird auch betont, dass die Übenden außeror­

dentlich begabt sein müssen und nur nach der Ermächtigung

durch Initiation (abisheka) von einem Meister die - geheimzu­

haltenden - Methoden anwenden dürfen. Dies ist besonders

wichtig, da, anders als im Mahayana, wo die phänomenale

Wirklichkeit letztendlich negiert wird, der Yogi auf dem Weg

der geheimen Tantras die Erscheinungswelt zum reinen Buddha­

feld transformiert, in dem alle Orte Mandalas, alle Wesen

Buddhas, alle Klänge Mantras und alle Gedanken das ungeschaf­

fene Absolute sind.

Die innerste Essenz des geheimen Vajrayana schließlich ist

die Große Vollendung (Maha Ati) oder Dzogchen. Es ist die

Übung des Buddhas selbst. Aus dieser Sicht ist es offensichtlich,

dass es noch nie eine »gesonderte« Erleuchtung zu erringen gab,

sondern alles schon immer rein und frei war. Auch die Welt

der Erscheinungen bedarf keiner Transformation oder anderer

34

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geistiger Anstrengung, denn sie ist das natürliche Erstrahlen der

absoluten unaussprechlichen Wahrheit.

Wer durch die Gnade seines Meisters die Geistübertragung

(dgongs gynd) erhielt, kann sich ohne Anstrengung oder Ziel­

setzung in seiner wahren Natur entspannen.

Da es für den Yogi nichts mehr zu erringen gibt, erkennt er,

dass der ganz alltägliche Geist bereits das Absolute ist. Befreit

von Hoffnung oder Angst erlebt er, wie sich der Knoten aus

Spannungen und Neurosen löst und sich dabei alle karmischen

Verstrickungen mit auflösen, wenn sich alle Phänomene als

gleichwertig zeigen und die gewohnheitsmäßigen Reaktionen

von Anhaftung und Ablehnung sich beruhigen. Wenn alle kar­

mischen Impulse sich so selbst befreit haben, löst sich der Körper

in regenbogenfarbige Lichtstrahlen auf. Allerdings - auch wenn

die Buddhanatur jenseits von Ursache und Wirkung ist und

keiner Entwicklung bedarf - bedarf es der Initiation, in der die

wahre Natur aufgezeigt wird. Auch wenn sie schon immer Buddha

war, wurden wir ohne den Segen des Meisters weiterhin auf das

illusionäre Selbst starren. Da alle Wesen diese Buddhanatur

haben, aber sehr wenige dies direkt erfahren, ist dieser Segen

das Entscheidende. So schreibt Longchen Rabjam im »Khandro

Yangthig«, Padmasambhava selbst habe gesagt: »Dies ist eine

Lehre, die anders ist als alle, die ich je gab. Es ist der Gipfel,

der alle Neun Stufen der Wege übersteigt. Alle geistigen Kon-

strukte und mental fabrizierten Meditationen werden zerschmet­

tert, wenn man diesen Pimkt erkennt. Alle Stufen und Wege

vollenden sich mühelos von selbst, und die störenden Emotionen

befreien sich selbst, ohne sie ändern oder unterdrücken zu

müssen. Dies Lehre bringt dir die Frucht der Verwirklichung

ohne eine vorherige Ursache. Sie bringt augenblicklich die

spontan manifestierte Verwirklichung und befreit den Körper

aus Fleisch und Blut am Ende des Lebens in die strahlende

35

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Gestalt eines Buddhas aus reinem Licht. Ich besitze diese Lehre

und werde sie dir übertragen«.

Diese Aussage musste in der damaligen buddhistischen Welt,

deren Hauptdoktrin das Gesetz von Ursache und Wirkung war,

so schockierend und ketzerisch gewirkt haben, wie die Aussage

Jesu, er und der Vater wären eins, in der Sicht der orthodoxen

Juden seiner Zeit, für die Gott gänzlich außerhalb der Welt ein

rein transzendentes Prinzip war.

Es ist deshalb gar nicht erstaunlich, dass diese revolutionäre

Entwicklung in kleinen spirituellen Gemeinschaften abgelegener

Randgebiete stattfand. Frei vom sozialen und kulturellen Druck

der großen Zentren und ihrer Machtinteressen, konnten neuen

Wege erforscht und beschritten werden.

Während zwischen Shang-Shung, Khotan, Kashmir, Oddi-

yana, Tun Huang in der Wüste Takla Makan und Chang-An in

Nordchina die kreative Entwicklung einiger der bis heute be­

deutendsten buddhistischen Lehren und Meditationspraktiken

wie Dzogchen, Zen oder Shingon stattfand, stieg langsam aber

unaufhaltsam eine Dynastie tibetischer Stammesfürsten im obe­

ren Yarlung-Tal in Zentraltibet, der Gegend des heutigen Lhasa,

zur größten politischen Macht Zentralasiens auf.

Der erste König dieser Dynastie, Nyatri Tsenpo, soll ein

Flüchtling aus dem nordindischen Geschlecht der Shakyas und

damit ein Blutsverwandter Buddha Shakyamunis gewesen sein

- eine Genealogie, die bereits den späteren Anspruch, Dhar-

makönige zu sein, vorwegnimmt. Die erste Begegnung mit dem

Buddhismus wird zur Zeit des 28. Nachfolgers, König Lhatotori,

angegeben. 254 n. Chr. sollen Wandermönche aus Turkestan

dem König mehrere buddhistische Sutras und Ritualgegenstände

überreicht haben. Der König und seine Ratgeber, des Lesens

unkundig, verbargen das rätselhafte Geschenk als Zeichen ma­

gischer Macht in der Schatzkammer, zusammen mit der Anwei-

36

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sung, dass erst der vierte Nachfolger des Königs diese wieder

hervorholen möge.

Dieser vierte Nachfolger Lhatotoris und 32. König der Yar-

lung-Dynastie war Songtsen Gampo (608-649). Zunächst verei­

nigte er die noch unabhängigen tibetischen Stämme und machte

Lhasa zur Hauptstadt. Mit einem riesigen Reiterheer von mehr

als hunderttausend Mann führte er dann Feldzüge, die bis nach

Turkestan im Westen, die Mongolei und Burjätien im Norden,

Kham und dem Kokonorsee im Osten und Nepal und Bengalen

im Süden reichte. Nicht an Sesshaftigkeit gewöhnt, ließen die

nomadischen Reiter keine Garnisonen zurück, sondern forderten

Tribut und zogen wieder ab. Die chinesischen T'ang-Annalen

bezeichnen Songtsen Gampo zwar als primitiven Wilden, aber

dennoch lag den überlegenen Kulturen an einem guten Verhältnis

mit dieser neuen Großmacht.

Sowohl der Herrscher von Shang-Shung wie der chinesische

Kaiser und der nepalesische König nahmen Songtsen Gampo

zum Schwiegersohn, die letzteren beiden unter der Bedingung,

dass er sich zum Buddhismus bekehren lasse. Dennoch lamen­

tieren zeitgenössische chinesische Quellen: »Wie können wir

unsere Klassiker diesen barbarischen Feinden im Westen über­

lassen?...Wäre das anders, als Banditen Waffen oder Dieben das - je

Eigentum zu überlassen?«"

Die chinesische Prinzessin Weng Cheng und die nepalesische

Prinzessin Bhrikuti brachten als Mitgift schließlich nicht nur

kostbare Seiden und Brokate und andere Luxusgüter, den bud­

dhistischen Kanon und Werke über Astrologie und Architektur,

sondern auch zwei berühmte Buddhastatuen nach Tibet mit. Die

Handwerker, Gelehrten und buddhistischen Mönche in ihrem

Gefolge bauten für diese Statuen die ersten buddhistischen

Tempel Lhasas: Ramoche und Rasa Trulnang, der bis heute als

Jokhang Tibets heiligster Schrein ist. Die metallene Buddhafigur

37

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der Prinzessin Weng Cheng ist bis heute als Jowo Rinpoche die

meistverehrte Statue Tibets. Darüber hinaus überzog der König

das Land mit einem Netz von 108 Tempeln, die auf geomantI~

sehen Kraftorten gebaut wurden und Tibet in ein riesiges Mandala

verwandelten.

Zuvor schon war der geniale Minister Tonmi Sambhota mit

der Aufgabe betraut worden, eine tibetische Schrift zu entwickeln,

dazu geeignet, die buddhistischen Texte aus dem Sanskrit zu

übersetzen. Er entwickelte dafür ein eigenes Alphabet und eine

neue Grammatik und Syntax, die darauf zugeschnitten war, die

komplexe Sanskrit-Terminologie exakt auszudrücken. Im Auf­

trag des Königs schuf Sambhota auch einen Gesetzeskodex,

dessen Gebote auf den zehn tugendhaften Handlungen des

Buddhismus beruhte.

Zur gleichen Zeit wurden von ihm auch chinesische Werke

über Medizin, Architektur, Geomantie und Astrologie sowie

Bön-Rituale aus der Sprache von Shang-Shung übersetzt. Mit

der zunehmenden Ausdehnung der Macht flössen immer mehr

kulturelle Strömungen aus China, Nepal und Kashmir zurück

ins tibetische Herzland.

Der zeitgenössische tibetische Meister Chögyal Namkhai

Norbu sieht die Einführung des Buddhismus durch Songtsen

Gampo als den Versuch, sich von dem Machtmonopol der

Bönpriester aus Shang-Shung zu befreien. Die neue Schrift sei

deswegen kreiert worden, weil die Verwaltung des Königreichs

von den Schriftgelehrten der Bön abhängig war, die die Shang-

Shung-Schrift beherrschten. Erst als die buddhistische Kultur

hinreichend stark verankert war, getraute sich Songtsen Gampo,

seinen Schwiegervater, den letzten Shang-Shung-König, zu er­

morden, die Macht auf sich zu vereinigen und die Verwaltung

in Lhasa zu zentralisieren.

Im Jahre 645 wurde dann das bis dahin unabhängige Shang-

38

Page 37: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

Shung, das West-, Nord- und Nordosttibet sowie große Teile

des indischen Himalaya und Westnepals umfasste, annektiert.

Trotz allem verlief zu dieser Zeit die Begegnung zwischen

Buddhismus und Bon in Zentraltibet äußerst friedlich. Im Ra-

moche-Tempel gab es sogar einen Raum für Darstellungen aus

der Bon-Religion. Tatsächlich kam es durch diese Begegnung

zu einer kulturellen Blüte: Das zu kühnen metaphysischen

Schlüssen neigende Naturell der Tibeter fing an, auf einer hohen

Ebene der Abstraktion die vielfältigen und komplexen Einflüsse

zu einem einheitlichen geistigen Entwurf zu synthetisieren.

Während Songtsen Gampo seine Machtbasis in Zentralasien

ständig erweiterte, ereignete sich tief in der arabischen Wüste

etwas, das kaum hundert Jahre später die Entwicklung Tibets

fundamental beeinflussen sollte.

Einem zur Epilepsie neigenden jungen Mann namens Mo­

hammed wurde in einer medialen Trance verkündet, er sei als

»Siegel der Propheten« dazu berufen, die letztgültige Botschaft

Gottes an die Welt zu verkünden.

Als Juden und Christen, an die er sich ursprünglich wandte,

seine Offenbarungen als »letztgültige Wahrheit« wegen zahlrei­

cher Ungereimtheiten nicht glauben konnten, entschloss er sich

zur Bekehrung mit Waffengewalt. Dazu verkündete er die Dokt­

rin, dass Allah bereits die ganze Welt dem Islam geschenkt habe,

die jetzt nur noch in Besitz genommen werden müsse, wenn sie

sich nicht freiwillig bekehre. Mit dieser griffigen Losung vereinte

er die Beduinenstämme Arabiens, die unter seiner Führung bald

die ganze arabische Halbinsel erobert hatten und nach seinem

Tod darangingen, den Rest der Welt in die Umma, die islamische

Gemeinde, einzugliedern.

Bereits um 700 n.Chr. standen islamische Eroberer am Indus

und 711 drangen sie nach Transoxanien ins Gebiet des heutigen

Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisistan vor. Ab Beginn des

39

Page 38: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

8. Jh. brachten islamische Eroberer immer größere Teile Indiens

in ihre Gewalt, und die nicht-islamischen Religionen fielen mehr

und mehr ihren durchgreifenden Zerstörungsmaßnahmen zum

Opfer. Viele Mönche und Meister flohen in den Himalayaraum

oder über die Seidenstraße nach China, wo sie die mitfühlende

Botschaft vom Weg der Befreiung aller Wesen zu bewahren

suchten.

Nur im Osten Indiens blühte der Buddhismus noch, bis 1203

das Kloster Vikramashila und. 1230 die buddhistische Universität

Nalanda zerstört und über 20.000 Mönche und buddhistische

Gelehrte von den Moslems massakriert wurden, was das Ende

des Buddhismus in Indien bedeutete, bis ihn die tibetischen

Flüchtlinge 1959 auf ihrem Exodus nach Indien zurückbrachten.

Hier schloss sich ein Kreislauf, denn es war gerade diese letzte

Hochblüte des indischen Vajrayana-Buddhismus gewesen, die

den größten Einfluss auf Tibet ausgeübt hatte.

Aber als die islamischen Eroberer 713 zum ersten Mal

tibetischen Truppen in Zentralasien gegenüberstanden, hatten

beide Seiten noch keine Ahnung, welche Entwicklungen aus

dieser Konfrontation entstehen sollten:

Der noch nicht einmal 100 Jahre alte Islam hatte bereits eine

Spur der Verwüstung quer durch Vorder- und Zentralasien

gezogen, und Afghanistans blühende buddhistische Zentren, wie

die Höhlenklöster von Bamiyan, waren bereits teilweise zerstört

worden. In Khotan und entlang der Seidenstraße waren Klöster

geplündert worden und erste arabische Vortrupps hatten sich

auf dem indischen Subkontinent im Sind festgesetzt.

Diese explosive Geschwindigkeit der kriegerischen Expansi­

on lässt sich nur zum Teil durch den Hunger nach Reichtümern

der, von Mohammed zu einem disziplinierten Heer von Gottes­

kriegern geeinten, arabischen Wüstenräuber erklären. Vielmehr

ist es die religiöse Ermächtigung, in die Allmacht Allahs einzu-

40

Page 39: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

gehen, indem man ihm hilft, die Welt zu beherrschen, die so

erfolgreich begeisterte. Denn der Koran sagt klar aus: »Hast du

nicht gesehen, dass Gott euch unterworfen hat, was auf Erden

ist?«33

Dabei darf jeder, der vom Koran gehört hat, aber nicht zum

Islam übergetreten ist, dann auch keine Gnade erfahren.

»Wenn sie sich abwenden, packt sie und tötet sie, wo ihr

sie findet« »Wenn ihr die Ungläubigen trefft, schlagt ihnen

die Hälse ab, bis ihr sie niedergemacht habt und (sonst) legt sie

in Fesseln, um sie später zu begnadigen oder zu verkaufen.«

Die Legitimation des Islam war und ist die Legitimation durch

Macht, die erfolgreich ist, denn »Keine Gewalt und keine Macht

außer durch Gott«.

Dieser neue Gott, der unter seinen »99 Namen« solche

wie »Der Eroberer« oder »Der Rächer« hat, war den friedlichen

buddhistischen Bewohnern des mittleren Ostens ein Alptraum,

vor dem sie nach Tibet flohen, in ein Reich, das gerade selbst

hegemoniale Ansprüche auf Zentralasien zu stellen begann. Eine

aufstrebende Dynastie, die buddhistisches Ideengut interessierte,

aber mehr noch nach Expansion und Tributen hungerte, war

da als Schutzherrin die beste Zuflucht in Zentralasien. Insbe­

sondere, da die tibetischen Könige und ihre Heere nur an

Reichtum und Einfluss interessiert waren und die Kultur der

unterworfenen Gebiete nicht zu vernichten, sondern zu assimi­

lieren versuchten.

In Tibet hatte sich bereits in der Zwischenzeit einiges vom

Elan des Großen Dharmakönigs verloren.Von Dusong, Songtsen

Gampos Enkel, der 25 Jahre nach dessen Tod den Thron bestieg,

wird in den spärlichen Quellen das Bild eines unentschlossenen

Mannes gezeichnet, der unter dem Einfluss machtgieriger Mini­

ster stand, denen kurzfristige Vorteile für ihren eigenen Clan

mehr bedeuteten, als das Reich seines Großvaters zu erhalten.

41

Page 40: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

In diesem Machtvakuum gab es 704 einen Aufstand im tribut­

pflichtigen Nepal, und Tibets Einflusssphäre wurde von Revolten

in Shang-Shung und Umwälzungen, die durch den islamischen

Druck in Zentralasien entstanden waren, geschmälert.

In Tibet selbst verfolgten die Minister in einem großen

konservativen Rollback sowohl Buddhisten als auch die refor­

mierten Bön, die ihre Lehren mittlerweile durch die Auseinan­

dersetzung mit buddhistischer Dialektik und Metaphysik als ein

hierarchisches Lehrgebäude durchstrukturiert und ihre magi­

schen Praktiken und uralten Meditationsformen philosophisch 39 untermauert hatten.

Me Aktsom, der seinem Urgroßvater, Songtsen Gampo, fol­

gend auch eine chinesische Prinzessin heiratete und sein Reich

beständig vergrößerte, gelang es zwar 714, Nepal zurückzuer­

obern, aber er hatte mit der Einführung des Buddhismus kein

Glück. Auch trat er ein schwieriges politisches Erbe an. König

Lalitaditya von Kashmir griff ihn offen an und korrespondierte

mit dem chinesischen Kaiser, um ihn zu einem Bündnis gegen

Tibet zu bewegen. Der chinesische Kaiser reagierte diplomatisch

und beehrte Lalitaditya mit dem Titel eines »Fürsten von Kas­

hmir« , was ihn zu einem Vasallen machte, ging aber kein Bündnis

gegen seinen Schwiegersohn ein.

So gelang es Me Aktsom, die Einflusssphäre Tibets nach

Magadha, Bengalen und Uttar Pradesh in Indien zu erweitern.

Politisch noch brisanter war die wachsende Verschiebung des

Machtgefüges im mittleren Osten durch den Einbruch der isla­

mischen Eroberer.

In dem bislang schon von allen durchziehenden Eroberern

und ihren ständig wechselnden Herrschaftsansprüchen gezeich­

neten Gebiet war die Invasion des Islam der erste Einbruch einer

doktrinären und von ideologischer Begeisterung fanatisierten

Armee, die Flüchtlingsströme, wie wir sie eigentlich nur in der

42

Page 41: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

Moderne kennen, auslöste. Hier ging es nicht mehr allein um

Macht, sondern um ein Weltbild mit Alleinvertretungsanspruch,

dem man sich entweder beugen oder vor dem man fliehen

musste.

Nikolazzi führt dazu Folgendes aus: »Unter der Herrschaft

von König Me Aktsom (712-755) wurde auch Tibet von wichtigen

Ereignissen gezeichnet. In der ersten Hälfte des 8. Jh. vertrieben

Muslime Massen von buddhistischen Mönchen aus Khotan. Die

buddhistisch gesinnte Gattin des Königs von Tibet ließ diese

freundlich aufnehmen. Sieben neue Klöster wurden gebaut. Dies

war ein ungeheurer Aufschwung für den Buddhismus.«

Die chinesische Prinzessin hatte bereits zahlreiche Zenmön-

che aus ihrer Heimat zur buddhistischen Mission ins Land

gebracht und nahm nun die Flüchtlinge aus den von islamischen

Raubzügen zerstörten Klöstern entlang der Seidenstraße und aus

Afghanistan wie Bamiyan großzügig auf. Indem sie den neuen

Klöstern gar zu große Pfründe stiftete, brachte sie aber das Volk

gegen sich auf. Dem Herrscherpaar misslang es also, den

Buddhadharma so zu präsentieren, dass er den Bedürfnissen der

Bevölkerung entsprach. Er blieb ein elitäres Hobby der königli­

chen Familie, das ihren Untertanen als Verschwendung erschien

und sie um so mehr entfremdete, als die ausländischen Mönche

hinter den Klostermauern sich nur um ihre eigenen Meditationen

und Rituale zugunsten ihrer hochgestellten Gönner bemühten.

»Als die Prinzessin 740 starb und anschließend im ganzen

Land eine Seuche ausbrach, wurde dies als ein Zeichen der

erzürnten Geister gedeutet.« Das Resultat war, dass König

Me Aktsom ermordet wurde und die mächtigen Adelsfamilien

viele Buddhisten aus Furcht vor dem Einfluss der Mönche 43

vertrieben.

Sein Sohn, Trisong Detsen, war damals gerade 13 Jahre alt,

und wurde unter die Regentschaft der aufständischen Minister

43

Page 42: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

und Adligen gestellt. Daraufhin musste er fünf Jahre lang hilflos

die antibuddhistischen Ausschreitungen, die Zerstörung von

Klöstern und Tempeln, angeführt von seinem Minister Ma-zhang,

mit ansehen. Es scheint, dass er sich diesen Ereignissen schließ­

lich dadurch entzog, dass er an der Spitze tibetischer Armeen

daranging, Zentralasien zu erobern. Als China 763 den Tribut

verweigerte, stürmte er die kaiserliche Hauptstadt Chang-An

und setzte anstelle des Kaisers einen eigenen Kandidaten ein.

783 gab China offiziell seine Ansprüche auf die Mongolei und

Turkestan an Tibet ab und Trisong Detsen war auf der Höhe

seiner Macht.

In dieser Zeit besann sich der König auf seine buddhistischen

Wurzeln und lud 764 den Abt von Nalanda, Shantarakshita, und

auf Anraten von diesem, im darauf folgenden Jahr Guru Padma

nach Tibet ein, um dem Buddhismus in Tibet einen neuen

Anfang zu ermöglichen.

Aus verschiedenen Quellen wird deutlich, dass der König

den Buddhismus aus durchaus machtpolitischen Gründen zur

Staatsreligion machen wollte.

Keith Dowman kommt nach ausführlichem Quellenstudium

zu dem Schluss:

»Die buddhistischen Legenden würden uns gerne glauben

machen, dass diese Inkarnation Manjushris von da an darauf

bedacht war, Tibet in ein buddhistisches Elysium zu verwandeln,

aber sogar der Termatext >The secret Life and Songs of the Lady

Yeshe Tsogyeh stellt den König als zwiespältig in seiner Unter-

Stützung des Dharmas dar.«

Die Eroberung von Tun Huang im östlichen Tarimbecken

mit seinen berühmten Höhlenklöstern mag Trisong Detsen zu

einigen Überlegungen angeregt haben. Er fand in Tun Huang

eine buddhistische Hochburg voller gelehrter Mönche, frei von

Familienbanden und Clan-Loyalität vor, die zugleich eine der

44

Page 43: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

wichtigsten Verwaltungszentralen im westlichen Einflussbereich

Chinas war. Sicher ist, dass er den dort lebenden siebten Zen-

Patriarchen Meister Hua Shang Mahayana mit einer Gruppe

seiner Mönche nach Samye einlud, wo er ihn mit höchsten Ehren

empfing und ihn bat, beim Aufbau des Buddhismus zu helfen.

Offensichtlich suchte der König eine des Lesens und Schrei­

bens kundige Beamtenschaft, die allein ihrem königlichen Gön­

ner Loyalität schuldete und unabhängig vom einheimischen Adel

eine zentralistische Verwaltung ermöglichen würde.

Dazwischen hatte der als Dharmakönig kanonisierte Trisong

Detsen lange Phasen, in denen er sich aus politischem Kalkül

wieder seinen Ministern beugte. In diesen Phasen wurden nicht

nur wichtige Übersetzer und Meister wie Vairocana und Namkhai

Nyingpo, sondern sogar Guru Padma wiederholte Male für

wechselnde politischen Koalitionen geopfert und in die Verban­

nung geschickt.

Wie wir wissen, nutzte Padmasambhava diese Zeiten im Exil,

so z.B. in den Jahren 766-770, um durch Tibet zu wandern und

Meditationshöhlen sowie alte Kraftorte für den Buddhismus zu

segnen und magisch »aufzuladen«.

Die Legenden, wie er auf seinen Wanderungen die einhei­

mischen Zauberer und Dämonen Tibets im magischen Wettstreit

besiegte, sind ohne Zahl. So soll er dabei unter anderem die

Fähigkeit zu Materialisation, zum Auftauchen an zwei Orten

gleichzeitig - der Bilokation - und die Kunst des Fliegens

demonstriert haben. Besonders hoch angerechnet wird ihm dabei,

dass er die Erdgeister, Lokalgottheiten und Dämonen nicht nur

bezwang, sondern sie zum Buddhismus bekehrte und sie durch

Eide zum Schutz der Lehre verpflichtete. Auf magische Weise

bereiste er ganz Tibet und segnete Meditationshöhlen und Ein­

siedeleien durch die Kraft seiner eigenen Übung, um zukünftigen

Yogis den Weg zur Erleuchtung zu erleichtern.

45

Page 44: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

Wie oft und wie lange er, am Hof in Ungnade gefallen, durch

Tibet wandern musste, wissen wir nicht genau. Verschiedene

Biographien sprechen von drei oder auch 50 Jahren. Wahrschein­

lich ist, da er noch Trisong Detsens zweitem Sohn, Mutri Tsempo

als Ratgeber diente, dass er noch Anfang des neunten Jahrhun­

derts in Tibet weilte. Sicher ist, dass er die Abwesenheit aus

Samye nicht ungern hatte, denn das gab ihm nicht nur Zeit zur

Meditation, sondern auch die Gelegenheit, den Dharma bei

Nomaden und Bauern zu verbreiten. Diese einfachen Dorfpriester

und Schamanen verehrten ihn für die Verbreitung der tantrischen

Lehren und des Dzogchen so sehr, dass es ihre Hingabe und

Treue war, die die tantrischen Übertragungslinien durch die

Wirrungen des 9. und 10. Jahrhunderts retteten, als in Klöstern

und Städten der Buddhismus verfolgt wurde. Vor allem durch

diese Anbindung der ländlichen Bevölkerung an den Buddhismus

wurde sein einzigartiger Ruhm als Heiliger und Erlöser begrün­

det.

Bei seinem Abschied aus Tibet konnte er deshalb sagen: »Ich,

Padmakara, kam, um Tibet zu nützen ... Pässe und Täler, Berge

und Höhlen allerorten bis hinunter zur Größe eines Hufs habe

ich gesegnet, dass dort Meditation erfolgreich sein kann.« und

er verkündete: »In ganz Tibet, von der Mitte bis zu seinen

Grenzen, gibt es kein Tal, und mäße es nur eine Armspanne,

das ich nicht besucht habe. Es gibt keinen Ort in Tibet, den ich

nicht mit liebender Güte schütze.«

Die längste und von ihrer Auswirkung bedeutungsvollste

Rückzugszeit musste er 774 antreten, als ihm die Clanhäuptlinge

und Minister nach dem Leben trachteten. Zum offenen Eklat

mit dem einheimischen Adel war es gekommen, als der König

eine seiner Frauen, Yeshe Tsogyal, die Prinzessin eines der sieben

tibetischen Fürstentümer, Padmasambhava als Guru-Dakshina

zum Geschenk machte. Dieser offene Bruch mit altehrwürdigen

46

Page 45: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

Traditionen und die Unterwerfung des Königs unter einen

»vagabundierenden Wandermönch« führte zur offenen Rebellion

der Minister unter Führung seines alten Widersachers M.a-zhang.

Nun musste Trisong Detsen selbst um sein Leben fürchten.

Tatsächlich ging es aber auch hier wieder nicht allein um

konservative Werte, sondern um die Neuverteilung von Macht

und Reichtum, denn der König hatte für jeden buddhistischen

Mönch sieben Familien zum Tribut verpflichtet und damit eine

Entwicklung in Gang gesetzt, die binnen weniger Jahrhunderte

fast allen Besitz zugunsten der Klöster umverteilte. Auch wenn

dies erst in Umrissen zu ahnen war, widersetzten sich die

mächtigen alten Adelshäuser instinktiv jeder Untergrabung ihrer

Machtbasis.

Nun mussten der Guru und die Prinzessin für drei Jahre

nach Tirdrom flüchten. Padrnasambhava kehrte bereits 776 nach

Samye zurück, um den König und die 25 Mahasiddhas in die

höheren Tantras zu initiieren. Yeshe Tsogyal blieb in Tirdrom

zurück, wo sie in einer bis heute als Pilgerziel berühmten Höhle

die Erleuchtung fand.

Hier kommen wir zu einer weiteren Widersprüchlichkeit in

der Vorgehensweise des Königs, die den tibetischen Buddhismus

bis heute entscheidend geprägt hat. In seinem Bemühen, einen

monastischen Beamtenapparat einzuführen, hatte er zwar äußerst

gelehrte, aber auch orthodoxe Pandits und Äbte aus Indien

eingeladen. Diese vertraten, was politisch opportun war, ein

hierarchisches Modell sowohl der Welt als Ganzes, wie des

spirituellen Weges im Besonderen.. Als Legitimation für einen

»himmlisch« autorisierten König, der unabhängig von der mäch­

tigen Versammlung der Adeligen, dem Thing der Germanen

ähnlich, herrschen wollte, muss dies ähnlich attraktiv erschienen

sein, wie die päpstliche Legitimierung für Karl den Großen in

Europa zur gleichen Zeit. Doch standen die Ziele der Pandits

47

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im Widerspruch zu den persönlichen spirituellen Neigungen des

Königs, der besonders von den geheimen Tantras und der

Dzogchen oder Maha-Ati genannten höchsten aller Meditationen

angezogen wurde.

Diese Schulen und ihre radikale Philosophie waren in Indien

im Zuge der tantrischen Revolution gerade als Gegenentwurf

für die verkrusteten Hierarchien monastischer Institutionen ent­

standen. So waren die größten ihrer Vertreter, die berühmten

Mahasiddhas, äußerst unorthodoxe, manchmal als verrückt gel­

tende, manchmal als Häretiker geächtete vagabundierende Yogis.

Auch wenn es einige angesehene Gelehrte, sogar Äbte unter den

Yogis der »Großen Vollendung« gab, mussten sie diese Methoden

nachts und im Geheimen praktizieren.

Insbesondere Dzogchen verwarf aus einer radikalen, non­

dualistischen Sicht den Stufenweg zur Erleuchtung und verkün­

dete im Gegensatz zu den grundlegenden buddhistischen Lehren,

die alles als Wirkung früherer Ursachen beschreiben, dass die

Erleuchtung akausal sei, da es keinen getrennten Standpunkt

gebe, von dem aus man sie erlangen könnte.

Diesen radikalen Ansatz zusammen mit genau der orthodoxen

Hierarchie, die ihn ablehnte, nach Tibet zu importieren, führte

zu einer äußerst bemühten Umerklärung und Entschärfung der

höheren Tantras und besonders der Dzogchen-Lehren zumindest

in ihrer Darlegung nach außen. Dabei wurde vor allem der

Zugang zu diesen Lehren und Meditationsmethoden nur denje­

nigen eröffnet, die völlig ins orthodoxe System integriert waren.

Es wurde eine Vorschulung eingeführt, die das unvereinbare,

alle Rahmen sprengende Befreiungselement so kanalisierte, dass

es als innerstes, unaussprechliches Geheimnis für immer vor

dem einfachen Volk verborgen blieb und der Yogi sogar in sich

selbst eine innere Spaltung zwischen seinem wahren Wissens­

stand und dem, was er davon zeigen durfte, vollziehen musste.

48

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Dies war besonders für die breite Bevölkerung fatal. In Indien

waren Tantra, Maha-Ati und Mahamudra ob ihrer revolutionären

Einfachheit sowohl von Hirten, Webern, Fischern, Metzgern und

anderen verachteten Kasten praktiziert, ja sogar entwickelt wor­

den, als auch von bedeutenden Pandits und Gelehrten, die, der

Theorie überdrüssig, die direkte Erfahrung suchten. Nun wurden

die befreienden Lehren den unteren Bevölkerungsschichten vor­

enthalten und auf Äbte, Adelige und wiederverkörperte Meister

beschränkt.

Die tantrische Revolution eröffnete die Möglichkeit zur Er­

leuchtung für das ganze Volk, einschließlich der niedrigen

Kasten, die als unrein geltende Berufe ausübten, anstatt den

Mönchsstand und ein Jahrzehnte währendes Philosophiestudium

vorauszusetzen. Gleichzeitig benutzte die tantrische Praxis Me­

thoden, die alle hinduistischen Glaubensvorstellungen nicht nur

so verletzten, dass sie zu einem heilsamen Schock aus dem

konditionierten Konsensusbewusstsein führten, sondern damit

auch bewusst eine Hemmschwelle für pharisäerhafte Gelehrte

bildeten, denen Ruf und Status wichtiger als die Erleuchtung

war. Deswegen wurden die tantrischen Praktiker sowohl von

hinduistischen Brahmanen wie buddhistischen Pandits verfolgt.

Notwendigerweise war Tantra in seiner Urform eine Art spiri­

tueller Revolution, die im Untergrund operierte, Codenamen

und geheime Treffpunkte (hier waren z.B. Verbrennungsstätten,

auf denen es spuken sollte, sehr beliebt) sowie eine metaphorische

Geheimsprache benutzte, in der oft das Gegenteil des Gesagten

impliziert war. Tantriker, die ihre Praxis im Geheimen im

Rahmen einer monastischen Gemeinschaft ausübten, liefen Ge­

fahr, gesteinigt oder verbrannt zu werden, wenn sie enttarnt

wurden. Im besten Ealle wurden sie verstoßen, was für einen

Gelehrten im rigiden Kastensystem Indiens ein Dasein als bet­

telnder Paria bedeutete.

49

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Nun wären die Yogis der Großen Vollendung in Tibet gar

nicht in Gefahr gewesen, da das hinduistische Kastensystem und

seine rigiden Gesetze hier keinen Einfluss hatten, doch unglück­

licherweise trugen die buddhistischen Mönche und Pandits, die

diese geheimen Überlieferungen zusammen mit den kanonisier­

ten buddhistischen Werken nach Tibet gebracht hatten, diesen

verinnerlichten Druck mit sich herum. Ob die Geheimhaltung

nur noch eine romantische Verbrämung war, oder sich mittler­

weile im Zuge des Jahrhunderte langen Außenseitertums ein

gewisses elitäres ßewusstsein entwickelt hatte, Tatsache ist, dass

diese Aufspaltung zusammen mit den Lehren nach Tibet expor-46

tiert wurde. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass das Gefängnis,

dem die tantrischen Yogis zu entrinnen versuchten, von ihnen

selbst mitgebracht wurde.

Bis heute kann der Neuling im tibetischen Buddhismus

deshalb erleben, dass berühmte Meister, auf diese Lehren ange-

sprachen, leugnen, sie überhaupt zu kennen.

So mussten nun Padhmasambhava, Vimalamitra und Vairo-

cana, die die herausragenden Vertreter der Dzogchen-Übertra-

gungslinie in Tibet waren, den König und einen Kreis ausge­

wählter Herzensschüler im geheimen in der Klause von Chimpu

unterrichten. Währenddessen lehrten in dem neu gegründeten

Kloster von Samye die orthodoxen indischen Pandits im Auftrag

des Königs den Stufenweg und seine Hierachie von Mönchen,

Lehrern und Meistern, und verteidigten ihn in langen Debatten

gegen die radikale Lehre der jähen Erleuchtung des Zenbud-

dhismus, die in Tibet seit dem 6. Jh. von chinesischen Wander­

mönchen verbreitet wurde.

Obwohl die meisten tibetischen Quellen von einer vernich­

tenden Niederlage der Zen-Fraktion in dieser mehrjährigen

Debatte sprechen, zeigen die in den Höhlen von Tun-huang

gefundenen Protokolle, dass die Schule der stufenlosen Erleuch-

50

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tung, wie Zen in Tibet auch genannt wird, die besseren Argu­

mente vortrug, der König aber aus Staatsräson die demokrati­

scheren und unkontrollierbaren Zenlehren verbot und den Stu­

fenweg indischer Prägung zur Staatsreligion erhob. Der Zenpa-

triarch Mahayana Hua Shang musste um 800 verkleidet bei Nacht

und Nebel fliehen, da er in Samye seines Lebens nicht mehr

sicher war.

Ebenso radikal wurden ab 788 die einheimischen Bönlehren

verfolgt, obwohl der König deren Dzogchen-Lehren ausdrücklich

schützte und die Übersetzung aus der Shang-Shung-Sprache

durch buddhistische Gelehrte durchaus förderte.

Dies rührte zu der bis heute anhaltenden schizoiden Praxis

des Tibetischen Buddhismus, dass die höchsten Lehren und

damit auch die das größte Potential zur Befreiung für alle Wesen

beinhaltenden Methoden geheimgehalten werden, da sie viele

Aspekte klösterlicher Machtpolitik ad absurdum führen würden.

Der an der Universität von Neapel lehrende tibetische Meister

Namkhai Norbu drückt es so aus: »Wir können in den Lehren

Buddhas tatsächlich Dzogchen spüren. Es gibt eine echte Ent­

sprechung, aber es entspricht nicht der Ordnung eines Klosters.

Wenn du ein sehr großes Kloster mit präzisen Regeln möchtest,

ist es schwer, Dzogchen zuzulassen... In der Institution eines

Klosters gibt es Regeln, Systeme, Programme. Wenn du Dzogchen

folgst, bricht das alles zusammen... Aus diesem Grund halten

einige Lehrer ... ihre Dzogchenpraxis geheim.«

So wurde also eine spirituelle Erneuerungsbewegung nach

Tibet exportiert, die sich dort in die äußere Form hüllte, die zu

überwinden sie aufgebrochen war. Als Europäer könnten wir

uns hier an das junge Christentum erinnert fühlen, das sich

beinahe reflexartig auf das Alte Testament bezog, das Jesus

soeben durch ein »neues Gebot« überwunden hatte.

Auch von König Trisong Detsen wurde von Anfang an ein

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inhärenter Widerspruch zwischen politischem Kalkül und spi­

ritueller Sehnsucht eingeführt, an dessen Spannungen der tibe-52

tische Buddhismus bis heute leidet.

Bedauerlich ist, dass sich unter dem Eindruck der islamischen

Bedrohung die buddhistischen Gelehrten - einmalig in der

Geschichte dieser toleranten Religion - beinahe genauso ideo­

logisch doktrinär verhielten wie die mohammedanischen Erobe­

rer, denen sie entronnen waren. Man kann das nur in dem

Zusammenhang verstehen, dass hier höchst engagierte Menschen

alles tun wollten, um den Vajrayana-Buddhismus indischer Prä­

gung vor der Zerstörung zu bewahren und zum Nutzen zukünf­

tiger Generationen in einer geschützten Enklave möglichst rein

zu erhalten. Mit bestem Gewissen versuchten sie nur das, was

ihrer Überzeugung nach dem Wohl aller Wesen am förderlichsten

wäre, nämlich das unverfälschte Dharma vor Vermischung mit

der indigenen Böntradition und den »häretischen« Zenlehren

zu schützen.

DIE ÜBERTRAGUNG DER LEHREN

fadmasambhava oder Guru Rinpoche - »Kostbarer Lehrer« -,

wie er liebevoll von den Tibetern bis heute genannt wird,

reflektiert in dieser Rolle auch hier wieder durch sein Leben die

ganze Bandbreite aller buddhistischen Schulen und Entwicklun­

gen. Er gab nicht nur die esoterischen Lehren weiter, sondern

fing nach dem Bau von Samye 786 damit an, zusammen mit

dem Abt Shantarakshita, dem großen Gelehrten Vimalamitra,

dem Übersetzer Vairocana und Hunderten von Übersetzern und

Gelehrten, den riesigen Kanon aller buddhistischen Schriften ins

Tibetische zu übersetzen. Das war eine in der Kürze der Zeit

52

Page 51: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

heute kaum mehr vorstellbare Hochleistung der menschlichen

G eistesgeschichte.D

Dieses Jahrzehnte dauernde, gigantische Unterfangen brachte

einige der größten Meister des Buddhismus aus Indien und

China nach Tibet. Deren Begeisterung darüber, jahrelang in ein

kaltes Barbarenland zu gehen, lässt sich nur teilweise mit dem

Enthusiasmus, das Buddhadharma im Schneeland einzuführen,

begründen. Mit Sicherheit war ein anderer Faktor die bereits

erwähnten ersten Einfälle islamischer Horden in Indien. Deren

erklärtes Ziel war neben Plünderung und Landnahme die Zer­

störung des Buddhismus. Um diese Zeit herum tauchten bereits

die ersten prophetischen Schriften wie das Kalachakra-Tantra

über die islamische Bedrohung des Buddhadharma in Indien auf,

die im Licht der Ereignisse in Afghanistan glaubhaft erschienen.

Als tibetische Truppen 790 die islamische Expansion auf­

hielten und bis tief ins persische Sassanidenreich eindrangen,

schien es, dass Tibet das in dem Kalachakra-Tantra und dem

Shambala-Mythos beschriebene verborgene Reich sei, in dem

der Buddhismus den islamischen Sturm überleben und von wo

aus er sich am Ende der Zeit wieder zum Wohle aller Wesen

verbreiten würde.'

Die Tibeter wurden erst durch eine Koalition zwischen den

Chinesen und dem Kalifen Harun AI Raschid in ihrem Vormarsch

an den Ufern des Oxus gestoppt und konsolidierten ihre Macht

in »Splendid Isolation« in ihrem Schneeland.

So erschien es wichtig, dort die buddhistische Lehre für die

Nachwelt zu erhalten.

Diese großen Meister Indiens und Chinas verbrachten Jahre

im Kloster Samye, das für eine kurze Zeit zu einem Treffpunkt

der geistigen Größen Asiens wurde. Neben den buddhistischen

Panditas aus Bengalen waren es die berühmten Ati-Yogis aus

Kaschmir und Turkestan, und chinesische Zenmeister, die seit

53

Page 52: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

Jahren in Tibet missioniert hatten, sowie die einheimischen

Schamanen Tibets und Burjätien, die sich hier auf engstem

Raum begegneten. Selbst Zarathustra-Anhänger, die dem mo­

hammedanischen Druck im Iran entflohen waren, fanden hier

Zuflucht.

In der Tat fand in Samye - wenn auch nur umständehalber —

das erste ökumenische Konzil der Welt statt, während dessen

Padmasambhava, Vimalamitra, Vairocana, Drenpa Namkha und

andere im Geheimen die Dzogchenlehre der Großen Vollendung

aller neun Yanas oder Wege zur Erleuchtung formulierten.

In der Zeit zwischen dem Bau Samyes (Dowman nennt das

Jahr 769, die Tun Huang-Chroniken 775) und der unglücklichen

Debatte zwischen den indischen Anhängern des Stufenweges

und den chinesischen Zenmönchen (Dowman nennt das Jahr

808, die Tun Huang-Chroniken 794), die diesen Geist der

Offenheit beendete, fand ein fast 30 Jahre währendes Experiment

gegenseitiger geistiger Befruchtung statt, dessen Auswirkung bis

heute spürbar ist. Die kurze Zeit, die es währte, mag auch für

heute ein Beispiel geben, welche positive Auswirkung die offene

Begegnung verschiedener spiritueller Traditionen haben kann.

Wir können den Einfluss des Zusammenlebens so vieler

Meister in Samye auf die ganze asiatische Geistesgeschichte nur

erahnen, wenn wir die wichtige kulturtragende Funktion Zen­

tralasiens durch das Medium der Seidenstraßen, und zwar über

große Zeiträume hinweg, verstehen. Sie waren über ein Jahrtau­

send lang nicht nur die wichtigsten Handelsstraßen, die die

wirtschaftlichen und politischen Zentren von Rom, China und

Indien miteinander verbanden, sondern auch die Schlagadern,

durch die kulturelle Entwicklungen und neue spirituelle Ideen

pulsierten. Wie Daisaku Ikeda in »Buddhismus, das erste Jahr­

tausend» darlegt, war das ganze Gebiet »Mittelasiens« zwischen

dem Iran, Afghanistan und Turkestan ein einziger großer kul-

54

Page 53: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

tureller Bereich, der »fortschrittlicher und weltmännischer« war

als die Machtzentren, die er verband. Hier verschmolzen einzelne

Entwicklungen und Einsichten der verschiedenen Räume zu

einem Ganzen und wurden von hier aus verbreitet. Der japanische

Kulturanthropologe Tadao Umesao betrachtet das Gebiet zwi­

schen der Seidenstraße, Indien und dem Mittelmeer sogar als

die kulturelle »Zentralregion« Eurasiens.

Eine Reihe bedeutender japanischer Buddhismus-Forscher

folgen dieser Sichtweise und versuchen, es an der wechselseitigen

Beeinflussung von Buddhismus und Christentum zu beweisen.

Beleg dafür sind ihnen unter anderem der Fund eines Ediktes

des Kaisers Ashoka in Afghanistan., das auf griechisch und

aramäisch, der Muttersprache Jesu, niedergeschrieben wurde.

Wenn wir bedenken, dass bereits zehn Jahre nach seinem Tod

die ersten christlichen Gemeinden an der indischen Südküste

entstanden, ist es äußerst unwahrscheinlich, dass Jesus von

Nazaret nichts von den buddhistischen Lehren gewusst haben

soll, die bereits seit Alexander dem Großen die hellenische

Geisteswelt beschäftigten und von Kaiser Ashoka ganz aktiv

auch nach Westen verbreitet wurden.

Besonderes Indiz ist die große Übereinstimmung der frohen

Botschaft Jesu mit der gerade hundert Jahre alten Erneuerungs­

bewegung im Buddhismus, dem Mahayana, die das Allerbarmen

und die Erlösung aller Lebewesen zu ihrem Leitmotiv gemacht

hatte. In diesem Bestreben, alle Wesen zu erlösen, setzte sich das

Mahayana über die frühere Sicht, die Erleuchtung nur zur Selbst­

befreiung zu suchen, hinweg und verwarf viele der engen Regeln

des Theravada-Buddhismus als egozentrisch. Hier formulierte das

Mahayana ganz kühn, dass es erlaubt sei, diese einengenden

Gesetze zu durchbrechen, wenn es anderen Wesen nützen könn­

te. Sollte man dabei selbst die negativen Folgen solcher Trans-

gressionen zu tragen haben, so wäre dies ein ganz besonders

55

Page 54: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

tugendhaftes Opfer. Dies erinnert sogleich an die ebenso kühne

Auseinandersetzung Jesu mit dem alle Aspekte des Lebens regle­

mentierenden jüdischen Gesetz, dem er Liebe und Barmherzigkeit

als »neues Gebot« gegenüberstellte. Auch scheinen buddhisti­

schen Forschern die Gleichnisse Jesu, wie das vom Sämann oder

vom Senfkorn (Mt 13) und das Gleichnis vom verlorenen Sohn C O

(Lk 10) direkt aus buddhistischen Lehrreden übernommen .

Tatsache ist, dass sich Buddhabildnisse auf griechischen Münzen

finden, eine Buddhastatue sogar in Schweden entdeckt wurde.

Andererseits gibt es Elemente in den tantrischen Langlebens-

pujas, die manche Forscher an den christlichen Abendmahlsritus

nestorianischer Christen erinnern, und tatsächlich gab es über

längere Zeiträume hinweg nestorianische Bischöfe in Tibet.

Dies alles zeigt, dass Zentralasien nicht nur ein Knotenpunkt

für den Handel war, sondern dass entlang der Karawänenstraßen,

die China im Osten, Indien im Süden und Rom im Westen

verbanden, auch neue Ideen und kulturelle Neuerungen verbrei­

tet, ja sogar entwickelt und selbstbewusst zu einer Synthese

verschmolzen wurden.

Es wäre äußerst kurzsichtig, zu glauben, dass Entwicklungen

nur in eine Richtung gehen, wie diese Beispiele uns zeigen.

Genauso wenig transportierte diese Ader den kulturellen und

spirituellen Pulsschlag nur von Indien nach Tibet, sondern

brachte höchstwahrscheinlich auch die bei dem großen Konzil

in Samye neu formulierten Synthesen der bisher separat erfolgten

Entwicklungen und Erkenntnisse in den weit auseinander lie­

genden Zentren der buddhistischen Welt als Maha Ati zurück

nach Arya Desha, das »noble Land«, wie Indien noch heute bei

den Tibetern heißt. Tatsächlich findet sich auch heute noch,

wenn auch in einer leicht degenerierten Form, bei hinduistischen

Sadhus eine Tradition des »Ati-Marga« oder höchsten Weges.

Es gibt weitere Beispiele für die Diffusion tantrischer Riten

56

Page 55: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

und Texte aus Tibet nach Indien. Sir John Woodroffe beschreibt

einen als Chinacara (chinesische Praktiken) bekannten tantri-

schen Kult, der in Bengalen weite Verbreitung fand und aus

Bhotia (Tibet) oder Mahacina (Kham. oder Pemakö in Osttibet)

stammen soll.

Agehananda Bharati weist sogar auf über ein Dutzend tan-

trischer Texte und Traditionen im hinduistischen Indien hin,

die aus dem buddhistischen Tibet oder Kham stammen sollen.

Besonders interessant ist das Sadhanamala, ein buddhistischer

Text aus dem Nepal des 12. Jh., da es den Ritus der Dzogchen-

Schützerin Ekajata beschreibt, die von dem großen indischen

Weisen Nagarjuna aus Tibet gebracht worden sein soll.

AU dies gibt Anlass zur Vermutung, dass Dzogchen tatsächlich

zur Zeit Guru Rinpoches in Samye als höchste Synthese aller

buddhistischen Meditationen entwickelt und nach Indien reim­

portiert wurde.

Denn sein wahres religiöses Genie lag in der Integration der

verschiedenen Traditionen in die buddhistische Weltsicht und

in der Essentialisierung aller buddhistischen Meditationen in der

Dzogchen-Lehre und -Meditation.

Auch wenn die Gelehrten der Nyingma-Tradition dies vehe­

ment ablehnen, weil sie es als Angriff auf die Authentizität ihrer

buddhistischen Übertragungslinie werten, wird es durch viele

Indizien untermauert.

Die Dzogchen-Philosophie beinhaltet viele Anklänge an an­

dere Schulen Asiens wie Bon, Kashmir-Shaivismus und den

chinesischen Ch'an-Buddhismus.

Unter den 25 Mahasiddhas waren, wie bereits ausgeführt,

Drenpa Namkha, ein namhafter Bönmeister, und der bedeutende

Übersetzer Vairocana, beide auch wichtige Glieder in der Bön-

Üb ertr agungslinie.

Darüber hinaus zitiert der Kagyü-Gelehrte Garma C. Chang

57

Page 56: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

historische tibetische Quellen, die die Dzogchen-Lehre als »chi­

nesisches Dharma«, also als Häresie, bezeichnen.

Deshalb musste auch Padmasambhava seine eigenen Beleh-

rungen nach der Vertreibung der Zenmeister aus Tibet in der

Form von Termas und Schatztexten verstecken (s. Anhang). Sein

größtes Geschenk an Tibet, die Formulierung und Übertragung

der Dzogchenlehre, des Yogas der Großen Vollkommenheit,

zusammen mit Vimalamitra und Vairocana blieb auf diese Weise

der Welt erhalten.69

Der vorliegende Text besteht aus prophetischen Belehrungen

des Guru Padmasambliava, die er um 775 in der Einsiedelei von

Chimpu an die 25 Mahasiddhas gab. Darin pflanzt er in den

großen vollendeten Yogis Tibets, auf die die verschiedenen

Traditionen der Nyingmaschule zurückgehen, die Samen des

Verstehens, wie sie bei zukünftigen Wiedergeburten die Probleme

der entsprechenden Epoche lösen können. Zu diesem innersten

Kreis gehörten der König selbst, seine Söhne und die Königin,

Yeshe Tsogyal sowie Nyang Wen Tingzin Zangpo. Die Beleh­

rungen erfolgten auf die Einladung des Nyang Wen Tingzin

Zangpo, eines Meisters von nicht geringer Verwirklichung, der

selbst der Nachfolger Vimalamitras und damit der erste Linien­

halter der tibetischen Dzogchentradition war. Zusätzlich war

Nyang Wen Tingzin Zangpo der persönliche Priester und Zere­

monienmeister des Königs und ein führender Vertreter des C'han

(Zen)-Buddhismus. Aus dem Respekt, den Zangpo in seinen

Fragen ausdrückt, zeigt sich, welche Wertschätzung der Lehrer

des Königs diesen profunden Unterweisungen einräumt.

Trotz der Schirmherrschaft des Königs bei diesen Belehrun­

gen mußten sie aus politischen Gründen niedergeschrieben,

versiegelt und dann sofort als Terma oder geheimer Schatz

verborgen werden, um in der Zukunft verbreitet werden zu

können.

58

Page 57: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

Aus der heutigen Zeit gesehen sind diese Texte nicht nur

hochaktuell, sondern es zeigt sich, dass historisch ein äußerst

erfolgreicher Beitrag Padmasambhavas zur Entwicklung des Bud­

dhismus in Tibet die Vereinigung schamanischer Praktiken mit

der buddhistischen Erleuchtungslehre war. Denn viele bis heute

in Tibet gebräuchlichen Praktiken sind schamanischen Ur­

sprungs: Singen und Trommeln, Beschwörungen und symboli­

sche Magie, Maskentänze und Feuerzeremonien und insbeson­

dere die Visionssuche durch Isolation in der Wildnis oder sogar

der völligen Dunkelheit eines eingemauerten Retreats.

Diese besonders wirkungsvollen schamanischen Techniken

der Visionssuche waren es, die die Kontinuität der Lehre ga­

rantierten, als in den dunklen Zeiten der Religionskriege die

»lange Übertragungslinie« - weil sie von Meister auf Schüler

mündlich über alle Generationen bis heute weitergegeben wurde

- empfindlich gestört war und nur durch die visionäre Offen­

barung der verborgenen Schätze - der Termas - die Lehre

erhalten blieb.

Heute ist es gerade diese visionäre Kraft des tibetischen Bud­

dhismus, die weltweit Inspiration und spirituelle Impulse gibt.

Unter extremsten Umständen, inmitten eines Genozids un­

vorstellbaren Ausmasses, gelingt es den Tibetern, aller Welt die

Kraft des Mitgefühls und des Erleuchtungsgeistes vor Augen zu

führen und - selbst verzweifelt - ein Anlass zur Hoffnung für

die ganze Menschheit zu sein.

Denn genau wie in der schamanischen Initiation oder bei

der tibetischen Chöd-Meditation beginnt die Heilung in der

existentiellen Krise der Todeserfahrung, und Heilkräfte erwach­

sen dem, der sich bewusst den krankheitsverursachenden Dä­

monen von Hass, Angst und Gier opfert. Wer sich von diesen

zerfleischen und fressen lässt, ohne selbst im Bewusstsein von

Furcht oder Abwehr überwältigt zu werden, wächst über sie

59

Page 58: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

hinaus und kann sie nun beherrschen und die Krankheit zu

Wachstumsimpulsen transformieren.

Guru Padmasambhava hatte vorausgesagt, dass zu der Zeit,

wenn »eiserne Vögel fliegen, das Dharma nach Westen ginge«.

Möglicherweise bewirkt die damals vorausgesagte blutrünstige

und brutale Zerstörung Tibets eine globale Initiation in das er­

leuchtete Bewusstsein des Allerbarrnens, deren Same von dem

legendären Guru zur Zeit, als diese Texte entstanden, gelegt wurde.

Um mit den Worten Padmasambhavas selbst zu schließen:

»Ich habe Glück verheißende Umstände geschaffen und ich

werde den Wesen in einen endlosen Strom immer wieder neu

erscheinen. ... Ihr, die Menschen zukünftiger Generationen,

werdet meinen Segen spüren, wenn ihr mit Hingabe und Ver­

trauen an mich denkt.«

Da diese Texte verborgen wurden, um der Zerstörung, in dunklen

Zeiten zu entgehen und zur angemessenen Zeit die richtige

Wirkung zu entfalten, ist unser Gebet, dass dies jetzt und in

dieser Form geschehen möge.

Mögen alle Weggefährten schnell zur Verwirklichung des

Zieles gelangen.

Shechen Ling, Boudhanath, im wunscherfüllenden ersten Monat,

dem März 1998

Karl Scherer

Page 59: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

AUF DIE FRAGEN DES NYANG WEN

TINGZIN ZANGPO

DURCH DIE LIEBENDE GÜTE UND DEN SEGEN DES

VIDYADHARA VON ODDIYANA,

DER DIE VERKÖRPERUNG ALLER OBJEKTE DER ZUFLUCHT

UND UNTRENNBAR VON MEINEM EIGENEN

WURZELLAMA IST,

MÖGE ICH DIE FÄHIGKEIT BESITZEN,

DIESE DIAMANTENEN WORTE IN DIE TAT

UMZUSETZEN.

Dieses Gebet wurde am Glück verheißenden 15. Tag des ersten

Monats des Erd-Tiger-Jahres, dem 12. März 1998, anlässlich der

Veröffentlichung dieses Buches von Waghendhara Dharma Mati

(Khyabje Trulshik Rinpoche), gesprochen u n d von Tulku Pema

Wangyal übersetzt.

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Nyang Wen Tingzin Zangpo war Hofpriester und Minister des Königs und zugleich einer der führenden buddhistischen Meister seiner Zeit der Padmas-abhavas Geheimlehre niederschrieb, verbarg und in seiner späteren Inkarna­tion für unsere Zeit offenbarte. Durch seine spirituelle Praxis erlangte er die Kraft, durch Felsen gehen zu können.

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Entnommen aus dem Könchog Chidu Zyklus, der tiefgrün­digen Lehre von der Großen Vollendung. Mögen diese Fragen und Antworten den Geist erfreuen und erhellen.

Verehrung dem leuchtenden, lotusgeborenen, vollendeten Buddha, Padmasambhava, dem Bewährer des Schatzes allwissender Einsicht, der in der Form von Dorje Thötrengtsal - der unzerstörbaren Kraft befreiter Zwang­haftigkeit - erscheint und die Natur aller Buddhas in sich vereinigt

Diese Einführung ist zugleich Quellenangabe und Segenswunsch. Voller Verehrung wird die Anwesenheit Guru Rinpoches beim Lesen dieses Textes angerufen. So wird der Text dem, der mit wachem Geist liest, genauso unmittelbar zugänglich wie den ursprünglichen Zuhörern.

Der vorliegende Text ist ein Auszug aus dem Könchog Chidu Zyklus, der dem Band I der Six Volumes of jatshon, (T.T. Rinp, Ogyan Kunzang Chokhorling, Darjeeling, India) entnommen ist. Der übersetzte Text findet sich auf den Seiten 307-335. Die sechs Bände enthalten die Sammlung aller Schätze, die von dem großen Tertön Jatshon Nyingpo aufgefunden wurden.

Nyong Wen Tingzin Zangpo: Durch meine ausdauernden Gebete und den Segensstrom, der Kraft der heiligen Eide, die mich mit meinem Lehrer verbinden, entstand, bin ich im Alter von 21 fahren dem großen Guru Rinpoche begegnet, den ich, frei von Täu­schung, als die Verkörperung aller siegreichen Erleuchteten erkannte.

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Die Kraft meiner guten Taten führte mich zur Pilgerschaft nach Bodh Gaya, dem diamantenen Thron, an dem Buddha Shakyamuni unter dem Bodhibaum die Erleuchtung fand, und als Schüler zu vielen der Weisen Indiens. Ich übersetzte zahlreiche ihrer Lehren ins Tibetische. Bis ins hohe Alter von 84 fahren erfuhr ich den Segen, beinahe beständig bei Meister Padma verweilen zu dürfen. Auch wurde allein mir anvertraut, das »Herz der Lehre von Vimalamitra« zu übertragen.

Vimalamitra gilt neben Guru Rinpoche, wie Padmasambhava in Tibet genannt wird, als Begründer der tibetischen Dzogchen bzw. Ati-Yoga-Schule. Allgemein gilt Dzogchen in Tibet als die schnellste und unkonventionellste Methode zur Erleuchtung. Das »Vima Nyingthig« ist einer ihrer essentiellen Texte und Üb ertrag ungslinien.

Da ich König Trisong Detsen durch Einweihung zur Reife geführt habe, wurde ich sein Lehrer und gewann seine Verehrung. In diesem Leben verwirklichte ich die vollkom­mene "Erleuchtung. Es wurde vorausgesagt, dass ich in Zukünftigen Zeiten die verborgenen Schätze spiritueller Unterweisung (s. Anhang) wiederfinden würde und sie großen Nutzen für alle, die sich mit diesen Lehren befassen, bringen würdeii. Dann würde die Dunkelheit, die alle Wesen unter dem Himmel einhüllt, durchbrochen werden. Wie wundervoll!

Die folgenden Unterweisungen und Antworten gab Guru Rinpoche, als der König und die Königin Tsogyal, viele Schüler und ich, in der Einsamkeit der Klause Chimphu

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Tnsong Detsen war der mächtigste König Tibets aller Zeiten. Er lud Hunderte von buddhistischen Lehrern, darunter auch Padmasabhava, den Abt Shanta-rakshita und den Dzogchenmeister Vtmalamitra, nach Tibet ein, den Bud­dhismus zu etablieren

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nahe dem. Kloster Samye versammelt waren, um die gehei­men Unterweisungen des tantrischen Wegs zu erhalten. Auf meine Bitte hin lehrte Guru Rinpoche und klärte anschlie­ßend all unsere Zweifel und Fragen, Solchermaßen fing er zu sprechen an:

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GRUNDLEGENDE

ANWEISUNGEN

ort bitte alle genau und aufmerksam zu! Die Wahrheit der Lehren hat das Leben der Menschen dieses Landes, die sich spirituell nennen, noch in keiner Weise durchdrungen. Ihr Wesen wird von meditativen Einsichten über Tod und Vergänglichkeit nicht im Gerings­ten berührt. Wie wäre es sonst möglich, dass sie ziemlich gleichgültig und faul sind und sich nur gelegentlich ernsthaft bemühen.

Sie haben nicht erkannt, dass sie in dem ewigen Kreislauf von bedingtem Entstehen und Vergehen gefangen sind, sehen deshalb nicht, dass sie das Anhaften am Materiellen los­lassen müssen, um frei zu sein.

Wenn sie bedächten, wie schwierig es ist, derart günstige Bedingungen für eine spirituelle Praxis zu haben, würden sie nur noch tun, was wirkliche Bedeutung hat. Erkennt das Gesetz von Ursache und Wirkung und übt deshalb etwas Zurückhaltung bei euren Handlungen, wenn ihr merkt, dass sie zu weiterem Leid führen. Erkennt die Vorteile und den Segen, die ein verantwortungsvolles und

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Page 66: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

ethisches Handeln bringt und vermehrt täglich das Konto

eurer guten Taten.

Gute Taten zu tun und zu vermehren, hat nichts mit Moralismus

zu tun, sondern ist der Schlüssel zur Erleuchtung, weil wir

essentiell nicht voneinander getrennt sind. Wenn wir jemanden

verletzen, so verletzen wir letztlich uns selbst und ziehen uns

von. der Erfahrung der Erleuchtung, die ja immer eine Einheit

ist, zurück. Wenn wir uns gegenseitig gut behandeln, offenbart

sich diese Einheit, und wir bewegen uns auf die Erleuchtung

zu. Das Anhäufen guter Taten für eine bessere Wiedergeburt

oder sonstige materialistische Vorteile jedoch verstärkt letzten

Endes diesen Geist der Getrenntheit. Deshalb weist Guru Pad-

masambhava in den nächsten Zeilen darauf bin, dass Mitgefühl

und Erbarmen die einzigen realistischen Voraussetzungen dafür

sind, tatsächlich zur Erleuchtung zu gelangen. Sonst kann der

spirituelle Weg leicht zur Sackgasse von Selbstbespiegelung und

-Verliebtheit werden oder zum Irrweg, egoistische Vorteile aus

ihm gewinnen zu wollen. Dann wird, wie Patrul Rinpoche sagt,

selbst die Lehre der Wahrheit zu unserem Verderben.

In äußerster Knappheit umreißt Guru Rinpoche hier die vier

grundlegenden Kontemplationen, die unseren Geist aus der

Verstrickung in die relative Welt bedingter Existenz lösen und

zum Absoluten hinwenden.

Die erste ist die Kontemplation über die verschwindend

geringe Chance, unter den Myriaden von fühlenden Wesen einen

kostbaren Menschenkörper zu erhalten, mit dem tatsächlich die

Erleuchtung leichter als in allen anderen Lebensformen erfahren

werden kann. Das Resultat dieser Kontemplation ist der feste

Entschluss, sein Leben der Erkenntnis der Wahrheit und ihrer

heilenden Kraft für alle Wesen zu widmen.

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Page 67: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

Die zweite Kontemplation ist die Vergegenwärtigung der

Vergänglichkeit aller Erscheinungen. Hier meditiert man darüber,

wie alle Dinge und Erfahrungen aus mehreren Ursachen, Fak­

toren und Elementen zusammengesetzt sind. Da sie zusammen­

gesetzt sind, werden sie auch wieder zerfallen. Da sie eine oder

mehrere vorausgehende Ursachen haben, haben sie keine Eigen­

natur. Sie sind leer von einer unabhängigen Identität oder einem

eigenständigen Selbst. Wir erkennen als Ziel dieser Kontempla­

tion, dass es nichts festzuhalten gibt und dass damit auch alles

offen ist!

Die dritte Kontemplation ist darüber, dass jede Handlung

- ob positiv oder negativ - zu einem Resultat führen wird, das

wir eines Tages selbst erfahren werden. Wir führen uns am

Beispiel irgendeiner Handlung des Tages vor Augen, welche

Wirkungen sie auf andere hatte und wie wir uns in ihrer Haut

fühlen würden. Schritt für Schritt versuchen wir nachzufühlen,

was jede unserer Handlungen bei anderen bewirkt hat. Das

Resultat dieser Übung wurde von einem chinesischen Zen-Meis-

ter so formuliert: »Gutes tun, Böses lassen und den eigenen

Geist klären - ist die Essenz der Lehren aller Buddhas.«

Die vierte Kontemplation besteht darin, sich das Leiden aller

Lebensformen, die aus verschiedenen Faktoren zusammenge­

setzt, von ihrer Umwelt abhängig und dem Wandel unterworfen

sind, zu vergegenwärtigen. Diese Kontemplation ist durchaus

analytisch und wissenschaftlich und führt durch alle Lebensbe­

reiche. Am Schluss müssen wir erkennen, dass sogar die Atome,

deren Teilchen ständig aufeinanderprallen, sich reiben und zer­

fallen. Nichts, was in dieser Welt besteht, ist frei von einem

intrinsischen Leiden!

Alle vier zusammen entsprechen den grundlegenden Übun­

gen der alten Schule, die jeder spirituelle Sucher absolvieren muss,

bevor er initiiert wird! Alle Beispiele der nächsten Kapitel dienen

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Page 68: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

für diese Übungen als Vorstellungshilfe. Sie sollten in der eigenen Imagination nachvollzogen und reflektiert werden, um eine ernst­hafte Motivation für den spirituellen Weg zu haben.

Fangt an, auf dem Weg der Wahrheit zu gehen, dann werdet ihr ohne Kontemplation und Meditation nicht mehr leben können, bis ihr euer Ziel erreicht habt. Erweckt jeden Augenblick den Geist der Erleuchtung und des Mitgefühls für alle Wesen.

Würden die Menschen das tun, dann würden sie unermüd­lich für das Wohlergehen ihrer Mitmenschen und die Ret­tung unserer Umwelt arbeiten.

Die Menschen schauen nicht auf ihre Wahre Natur, die immer Eins ist, und deswegen glauben sie, besser zu sein als ihre Mitmenschen, und sind daher ständig eifersüchtig auf alle anderen.

Die Menschen lesen wenig Wertvolles, zerstreuen sich, meditieren weder regelmäßig, noch gehen sie die Neun Stufen des Weges. Daher können sie auch nicht das We­sentliche vom Unwesentlichen unterscheiden. Selbst wenn sie sich bemühen, unterscheiden sie im Allgemeinen zwi­schen einer anzustrebenden Erleuchtung und dem normalen Alltag, das heißt, sie haben sich einer inneren Sicht noch nicht einmal genähert. Die wahre Natur aller Erscheinungen ist ihnen fremd und sie identifizieren sich mit ihren Wün­schen und Handlungen. Kaum jemand aber hat den Wunsch, den Weg zur Vollendung des Menschen bis zum Ende zu gehen. Wäre es anders, würden die Menschen unendlich viel Nutzloses einfach sein lassen. Kurzum, der Weg der Wahrheit interessiert sie nicht im Mindesten.

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DAS GROSSE GESCHENK

%^Jo sprach Guru Rinpoche, und fuhr dann fort: Es ist aber unbedingt notwendig, den Weg der Wahrheit zu gehen, der die Erlösung aus dem Ozean der Leiden unserer bedingten Existenz mit sich bringt. Ansonsten wird man dieses Leben hier als freier Mensch und unter derartig günstigen Bedingungen nicht noch einmal geschenkt be­kommen.

Die Erleuchtung ist nicht nur an sich schon schwer zu erlangen - unter ungünstigen Umständen wird sie fast unmög­lich. Ungünstige Umstände sind z.B.: Extreme Armut und Hun­ger, die den Menschen zwingen, seine ganze Arbeitskraft und Intelligenz dem Überlebenskampf zu widmen, oder politische oder religiöse Unterdrückung. Wer also meint, dass die Er­leuchtung zu erlangen unabhängig von äußeren Voraussetzungen möglich ist, möge sich vor Augen halten, dass in Tibet seit der Invasion der Chinesen über zwei Millionen Tibeter wegen der Ausübung ihres Glaubens ermordet wurden. Ähnlich erschrek-kende Zahlen von Opfern religiöser Verfolgung finden wir in

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Kambodscha und bis heute sogar in Europa. Selbst in den USA, die die Religionsfreiheit auf ihre Fahne geschrieben haben, konnten bis 1979 Indianer für die Ausübung ihrer traditionellen Religion mit. Gefängnis bestraft werden.

Zu den günstigen Bedingungen zählt darüber hinaus die Möglichkeit, von der Erleuchtung zu hören, dass es einen Weg gibt, sie zu erreichen, kompetente Lehrer, die ihr Wissen teilen und Plätze, wo man ungestört und mit deren Unterstützung üben kann. Eine Gesellschaft muss also schon ein gewisses Ausmaß an Überfluß und Entwicklung besitzen, um sich mit solchen Sinnfragen zu beschäftigen, und eine gewisse materielle Sicherheit, um sich das überhaupt leisten zu können.

Es wird dir eher gelingen, eine Erbse nach oben zu werfen, so dass sie an der glatten Oberfläche eines waagerecht an der Decke hängenden Spiegels kleben bleibt, als dieses Geschenk ein zweites Mal zu erhalten. Eher wird es einer Schildkröte gelingen, die alle hundert Jahre aus den Tiefen des Meeres auftaucht, ihren Kopf durch ein zufällig auf der Wasseroberfläche dahintreibendes Joch zu stecken.

Eher wird es dir gelingen, ein Sesamkorn durch die Luft zu werfen und damit genau durch das Öhr einer Nadel zu treffen.

Wenn alle Lebewesen aus allen vorstellbaren Existenzbe­reichen eine Pyramide bildeten, so wären die gequälten Geister der Hölle und die Tiere der ganze Körper, die Halbgötter wären gerade die Oberfläche und die Menschen und Götter wären nur die oberste Spitze.

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Unter gequälten oder hungrigen Geistern kann man sich die

Teile unseres Bewusstseins vorstellen, die von unerfüllten Be­

gierden und von dem unersättlichen Verlangen geplagt sind,

Befriedigung zu finden. In dem Maße, wie wir mit diesen

Begierden verwoben waren, haben sie eine eigene Existenz

entwickelt und können sich im Augenblick unseres Todes

»selbstständig« machen. In der Hoffnung auf die Erfüllung ihres

Verlangens irren sie auf der Erde als die so genannten »Gespen­

ster« umher. Ein guter Teil der heutzutage »gechannelten«

Wesenheiten sind solche von unerfülltem Ich-Verlangen zerfres­

senen »hungrigen Geister« - ein Seinszustand, der wenig Chan­

cen zur Erleuchtung gibt.

Es mag erstaunen, dass auch Götter und Halbgötter hier zu

den Wesen mit geringeren Chancen für die Erleuchtung gezählt

werden. Wenn wir jedoch nur an die nordischen und griechischen

Göttersagen denken, sehen wir, dass die Halbgötter in einem

ständigen und frustrierenden Kampf gegen die Götter befindlich

sind, deren himmlische Hallen sie ihnen neiden und abtrotzen

wollen. Ein Unterfangen, bei dem sie beständig unterliegen. So

führen all ihre außergewöhnlichen Kräfte nur zu Groll und

Enttäuschung.

Aber, wie wir aus jeder Sage wissen, sind auch die Götter

selbst ständig einem giftigen Gemisch von Hinterlist, Intrigen,

Machtkämpfen, Ehebrüchen und Eifersucht ausgesetzt. Wahr­

lich kein beneidenswerter Zustand, aus dem sie aus Mangel

an Erleuchtungserfahrung auch nicht entkommen können.

Zudem sind Götter trotz ihrer ungeheuren Machtfülle und

Langlebigkeit doch auch sterblich. Ein Umstand, der umso

frustrierender sein rnuss, je mehr Kontrolle man zuvor über

das eigene Leben ausüben konnte. Wo sind denn Odin und

Freya, Aphrodite und Apoll heute geblieben, da sie niemand

mehr anbetet...?

73

Page 72: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

Besonders sollte man hier noch bedenken, dass aus mittel­

alterlicher Sicht - und das Mittelalter dauerte in Tibet immerhin

bis zur Mitte dieses Jahrhunderts —jeder Westeuropäer in einer

Götterwelt lebt. Der verstorbene Meditationsmeister Kalu Rin-

poche hat darauf hingewiesen, dass für uns westliche Praktizie­

rende das größte Problem darin besteht, dass unsere Kontrolle

über die Naturgewalten, die Verfügbarkeit materieller Güter und

die vielfältige Auswahl sinnlicher Genüsse dem Erlebensstand

von Göttern entspricht. Ein Problem ist dies deshalb, weil auch

Götter unter der falschen Vorstellung, ein getrenntes Selbst zu

besitzen, leiden, und ihre überwiegend angenehmen Sinneswahr­

nehmungen sie nicht dazu motivieren, den Weg der Erleuchtung

zu betreten. Dies ist auch der Grund, warum der Mensch unter

allen Wesen die größten Chancen hat, erleuchtet zu werden.

Bei ihm halten sich Freiheit der Wahl und Leiden an der

Bedingtheit die Waage, so dass genügend Leidensdruck entsteht,

die Erleuchtung tatsächlich zu suchen, und es genügend Frei­

raum gibt, diesen Vorsatz zu verwirklichen.

Denkst du daran, dass in einer Schaufel Erde so viele Tiere

enthalten sind, wie es Menschen auf dieser Welt gibt, so

wirst du einsehen, dass die Chancen auf ein menschliches

Leben nicht so groß sein können.

Hier wendet sich Guru Rinpoche gegen die auch heute in

esoterischen Kreisen populäre aber schlecht verstandene Ansicht

von Reinkarnation, die zur Verschiebung der Lösung von Prob­

lemen in zukünftige Leben einlädt. Zunächst müssen wir fest­

halten, dass es aus buddhistischer Sicht kein getrenntes Indivi-

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Page 73: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

duum gibt, das in Form einer Seele von Körper zu Körper

wandert. Der Mensch ist vielmehr als ein Prozess zu sehen, der

sich aus vielen Faktoren ständig neu zusammensetzt. Ähnlich

wie die Wissenschaft festgestellt hat, dass Energie nie verloren

geht, so verwandeln sich diese Faktoren zu immer neuem Sein,

das nicht als kontinuierliche Persönlichkeit begriffen werden

kann. Genau genommen verwandelt sich der Mensch jeden

Augenblick, wird jeden Augenblick neu geboren, so dass die

Frage und Suche nach einem beständigen Ich, das irgendwann

wiedergeboren wird, an sich absurd ist. Kurz gesagt, es gibt zwar

die Erleuchtung aber letztlich niemanden, der erleuchtet werden

kann. Da diese Erleuchtung aber fast nur im menschlichen Leben

zu verwirklichen ist, gilt es diese Chance zu nutzen, bevor man

im ständigen Strom der Wandlungen wieder von den Umständen

bestimmt oder verhindert wird. Als Tier ist man mit den in­

stinktgesteuerten Überlebenskampf beschäftigt. Im zahlenmäßi­

gen Verhältnis ist also eine Geburt als Mensch unwahrscheinli­

cher als sechs Richtige im Lotto. Mit den ungeheuer schnellen

Methoden der Alten Schule, die es möglich machen, in einem

Menschenleben Erleuchtung zu erlangen, hat man also eine

außerordentliche Gelegenheit, die man nutzen sollte, will man

dem ständigen, zwangsläufigen Leiden entkommen.

Aber auch im menschlichen Lehen gibt es noch fast unüber­

windliche Hindernisse auf dem Weg der Wahrheit. So zum

Beispiel, wenn du körperlich und geistig behindert bist,

wenn du in schwierigen materiellen und geistigen Bedin­

gungen und Unfreiheit lebst, wenn keine Lehre der Wahrheit

bekannt ist oder nur falsche Ansichten vorherrschend sind.

Auch dann hast du wenig Möglichkeiten, in die Lehre von

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Page 74: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

der Erleuchtung einzutreten. Wenn du also in dieser Welt

lebst, einen gesunden Körper hast, die Lehre der Wahrheit

hören kannst, autorisierte Lehrer da sind und du frei deinen

Wünschen folgen kannst, dann solltest du nach den höchsten

Lehren der Wahrheit leben, sonst ist dein kostbares mensch­

liches Leben verschwendet. Hier trennen sich die Wege, die

zu Aufstieg oder Niedergang führen. Die, die ihr Leben für

Nichtigkeiten vergeuden, sind zu bedauern.

Fatrul Rinpoche, einer der größten tibetischen Meister des letzten

Jahrhunderts, drückte es noch drastischer aus: »Heutzutage

denken wir gerne, dass wir die Spiritualität neben unseren

weltlichen Aktivitäten üben können, ohne die geringste Not­

wendigkeit, die völlige Entschlossenheit des Herzens für dieses

Ziel zu entwickeln, während wir stattdessen Bequemlichkeit,

Wohlbefinden und menschliche Anerkennung suchen und ge­

nießen. Doch dies ist so ähnlich, wie zu behaupten, man könne

mit einer zweispitzigen Nadel nähen oder Feuer und Wasser in

einem Gefäß aufbewahren.«

Selbst für den unvergleichlichen Buddha Shakyamuni war

es unmöglich, die Erleuchtung zu suchen und gleichzeitig das

weltliche Leben zu verfolgen. Und was ist von Milarepa, dem

größten aller Yogis, zu halten, der von nichts anderem als

Brennesseln und Wasser lebte, um nicht von der Kontemplation

über den Tod abgelenkt zu werden - ist ihm etwas entgangen,

das wir heute besser wissen?

Bevor wir jedoch die Notwendigkeit spiritueller Praxis er­

kennen können, müssen wir erleben, welche ungeheure Dimen­

sion sie erschließt, um dann auf der Basis unserer eigenen

Erfahrung die Prioritäten neu setzen zu können.

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Die folgende Übung ermöglicht es uns, diese tiefe Dimension

unmittelbar zu erfahren, obwohl sie nur zweimal am Tag 10 bis

15 Minuten unserer Zeit kostet. Sie beinhaltet die wichtigsten

Kernbelehrungen des spirituellen Weges. Deswegen müssen wir

uns erst die Mühe machen, einige der philosophischen Grund­

lagen zu verstehen, die jedem tibetischen - oder Indianerkind

durch seine gesamte Sozialisation, ja vielleicht sogar als geneti­

sche Erinnerung völlig klar sind..

Das ganze Universum ist aus Gegensätzen zusammengesetzt:

Hell-Dunkel, Oben-Unten, Materie-Geist, Sein-Nichtsein, Leben-

Tod etc. Doch sind diese Gegensätze immer dynamisch mitein­

ander verbunden.

Man könnte sagen, ein Zustand bedingt den anderen und

entsteht aus ihm. Der Übergang zwischen den Zuständen gilt in

allen alten Traditionen als heilig, geheimnisvoll und voller

Schöpfungskraft. In den Übergängen zwischen zwei Zuständen

wird das Grundbewusstsein offenbart. Auf Sanskrit heißen die

Augenblicke der Einheit mit dem Absoluten Turiya, d.h. zwischen

zwei bedingten Zuständen. Im tibetischen Buddhismus sind die

Wechsel von einem Bardo zum anderen die Augenblicke, in

denen Erleuchtung mit der richtigen Übung möglich ist. Es sind

diese Praktiken, die im Bardo Thödol seit CG. Jung die westlichen

Psychologen faszinieren, und die Indianer nennen sie ganz

einfach »Zeiten der Macht«. Doch finden sich diese Bardos nicht

nur zwischen Leben und Tod, bzw. Sterben und Wiedergeburt,

sondern auch zwischen Wachen und Schlafen, Entspannung und

jähem Schreck, oder zwischen Tag und Nacht.

An jedem dieser Übergänge, sei es morgens der erste Au­

genblick des Aufwachens, die tiefe Stille nach einem. Gesang

oder das unerwartet laute Geräusch eines Glockenschlags, ent­

steht ein solcher Augenblick der Macht. In diesen Übergängen

stirbt der vorherige Zustand tatsächlich. Für einen kurzen Au~

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genblick entsteht eine jähe Lücke zwischen allem, was war,

und dem, was im Entstehen begriffen ist. Dies ist der Zustand

des Mahamudra, über den Milarepa »Hunderttausend Lieder«

sang. Für einen Moment ist der Geist in seinem ursprünglichen,

natürlichen Zustand und wird still. Anstatt eines Abgrundes

erleben wir eine fruchtbare Stille, eine Leerheit, die gleichzeitig

von Schöpfungs-Impulsen überquillt. Die aus dieser Leerheit

entstehenden Gedanken bewusst zu erleben und zu formen,

wird auf Sanskrit Siddhi Sankalpa genannt, was »wunscherfül­

lende Kräfte« bedeutet. Diese Kräfte zum Wohl aller Wesen zu

erringen, ist das Ziel der Yogis und allein dafür gehen Medi­

zinmänner auf Visionssuche.

Der natürlichste und einfachste dieser Bardozustände wird

uns zweimal täglich von Mutter Natur geschenkt: Der Sonnen­

aufgang und Sonnenuntergang! So wie der Augenblick des Todes

in der Tradition der Nyingma-Schule zu einem Durchbruch in

die vollständige Erleuchtung genutzt werden kann, ist auch der

exakte Moment, in dem die Sonne über den Horizont kommt,

bzw. wenn sie ihn beim Untergang berührt, ein Augenblick der

Macht, in dem sich alle natürlichen und geistigen Kräfte frei­

setzen. Materie, Äther und Geist sind in einem Zustand von

Ausgeglichenheit und wechselseitiger Durchdringung. Die Tra­

ditionen der Indianer und die Weisheit der Veden stimmen

diesbezüglich völlig überein!

Beim Aufwachen versuche dir als erstes bewusst zu machen,

wofür du heute morgen dankbar sein kannst. Neben dem vielen,

das allein für dich wichtig ist, sind es vor allem die natürlichen

Dinge, die wir als Selbstverständlichkeiten auffassen. Dass es

eine Erde gibt, auf der wir stehen, liegen und sitzen, erscheint

uns selbstverständlich. Trotzdem ist es ein ungeheures Wunder.

Ohne Erde würden wir einfach durch den Raum fallen, in Spiralen

durch das Nichts treiben. Die Erde zentriert uns und schenkt

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Page 77: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

uns eine grundsätzliche Bezogenheit, die Basis und Hintergrund

für alle anderen Beziehungen und Begegnungen ist.

Die Erde schenkt uns natürlich auch all unsere Nahrung.

Alles was wir essen, selbst wenn wir es im Supermarkt in Dosen

verpackt kaufen, wächst auf dieser Erde.

Da wir alles im Laden kaufen können, weiß kaum einer, was

es heißt, Hunger zu haben und wie dankbar wir für Essen sein

dürfen.

Häufig vergessen wir auch, dass alles, von dem. wir leben,

selbst wenn es sich um vegetarische Rohkost handelt, Leben ist,

das sich hingibt und opfert. Unser Leben lebt davon, dass sich

anderes Leben opfert.

Beim Fasten halten wir vier Wochen ohne Essen schon für

eine Herausforderung, aber vier Tage ohne Wasser auszuhalten,

ist bereits lebensbedrohlich. Gerade deshalb gibt es in der

indianischen Tradition spezielle Zeremonien, in denen man vier

Tage ohne Wasser und Essen meditiert, um die Dankbarkeit für

all das, was man ganz selbstverständlich das Jahr über verzehrt

und trinkt, durch bewussten Verzicht zu erlernen. Danach ist

es völlig klar, welche Gnade und welcher Segen jeder Schluck

Wasser, ja jeder Tau- oder Regentropfen ist. Dankbarkeit ist die

einzige und natürliche Antwort auf dieses Geschenk des Lebens.

Die vier Tage ohne Wasser sind aber noch lange im Verhältnis

zu der Zeit, die wir ohne Luft aushalten können. Dass das, was

wir am nötigsten brauchen, für uns in so einem Überfluss

beständig zur Verfügung steht, ist unfassbar. Erst wenn wir

unfreiwillig lange unter Wasser sind oder uns bei einem Sturz

plötzlich die »Luft wegbleibt«, bemerken wir, wie selbstverständ­

lich wir die größte Lebensnotwendigkeit nehmen und dabei

ignorieren, was für ein unvorstellbares Wunder es ist, dass sich

in unseren Lungen Unterdruck aufbaut, der die lebensnotwen­

dige Luft anzieht, ohne dass wir uns darum kümmern müssen.

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Page 78: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

Ebenso wunderbar ist es, dass unsere verbrauchte Luft für

Pflanzen Leben bedeutet, und deren Ausscheidung unser ge­

schätzter Sauerstoff ist .

Dass diese gleiche Luft auch die Lebensgrundlage für alle

anderen fühlenden Wesen, die Vierfüßer, die Kriechenden und

Grabenden und die Flügelschlagenden, nicht zuletzt für alle

anderen Zweibeiner ist, ist noch mehr Grund zum Danken.

Wenn wir uns nur einen Augenblick lang vorstellen, wie leer

die Welt ohne all die anderen Wesen wäre, haben wir Grund

zur Dankbarkeit, nicht allein sein zu müssen.

Doch, auch wenn das Feuer der Sonne, auf das wir jetzt

warten, die Welt nicht erwärmen und beleuchten würde, könnten

wir nicht sehen, könnten wir uns nicht bewegen, nicht einmal

denken oder fühlen, so dass wir auch diesem Feuer dankbar

sein müssen.

Je öfter wir diese Übung durchführen, desto mehr erkennen wir,

dass eigentlich nichts in unserem Leben selbstverständlich, son­

dern immer ein Geschenk und unendlich kostbar ist. Dies zu

erkennen, heiligt die scheinbar profansten Bestandteile und

Ereignisse unseres Lebens. Selbst die Verkäuferin, die schon

morgens, bevor wir zur Arbeit gehen, im Geschäft steht, und

die Bedienung, die noch auf uns wartet, wenn wir schon Feier­

abend haben, sind nur für uns persönlich da. Die Straßenarbeiter,

die im Sommer zur Ferienzeit endlos die Autobahn auszubessern

scheinen, tun es nur für uns - dabei wissen sie noch nicht

einmal, ob wir überhaupt in diesem Jahr diese Route fahren.

Deshalb sind sie umsichtig und reparieren wohlweislich die'

Straße in allen vier Himmelsrichtungen.

Wenn wir einmal mit Danken angefangen haben, kommen

wir aus dem Staunen nicht mehr heraus. Welche Mühe sich der

Rest der Welt mit uns macht, und das obwohl wir meistens

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Page 79: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

übellaunig oder achtlos alles Angebotene als selbstverständlich

hinnehmen! Manchmal kommt uns dann sogar der Verdacht,

dass selbst unsere Sehnsucht nach Liebe und Wahrheit ein Indiz

dafür ist, dass es sie wirklich gibt, so wie unser Hunger und

unser Durst uns wissen lassen, dass es tatsächlich Nahrung und

Wasser gibt.

Diese Dankbarkeit kann so stark werden, dass die Grenzen

zwischen innen und außen durchlässig werden, und wir spüren,

dass die ganze Welt uns liebt und ausfüllt, und unser Geist

gleichzeitig alles zu berühren, sogar zu durchdringen scheint,

so dass auch für einen Moment lang die Zeit wegfällt und wir

ganz offen im Hier und Jetzt sind.

Mit dieser inneren Haltung warten wir auf den Sonnenauf­

gang, der zum Inbegriff all des Guten wird, das uns geschenkt

wird, um in dem exakten Augenblick, an dem die Sonne den

Horizont übersteigt, zuerst nach Osten und dann im Uhrzeiger­

sinn in die anderen Himmelsrichtungen unseren Dank in die

Vier Winde zu senden. So besiegeln wir die Danksagung und

bauen innere Wertschätzung für das Leben und die vergängliche

Kostbarkeit jeden Augenblicks in uns auf.

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Page 80: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

TOD UND

VERGÄNGLICHKEIT

V fas ich zu sagen habe, geht jedes menschliche Wesen an, aber nur wenige wollen es hören. Wenn du nur wartest, bis der Tod dich packt, hast du die kostbare Zeit vertan, die dirjür die Befreiung zur Verfügung stand. Wenn du in der Stunde deines Todes erkennst, dass du nicht nach der Wahrheit gelebt hast, wirst du es vielleicht bereuen. Ohne ein Jahr, einen Monat, einen Tag, eine Stunde, eine Minute, ja auch nur eine Sekunde zu warten, geht dein Lehen seinem Ende zu. Von Augenblick zu Au­genblick und ohne jede Rast kommt der Tod näher und näher. Letztes Jahr, dieses Jahr, diesen Frühling, diesen Sommer, diesen Herbst, diesen Winter, in diesem Monat, gestern, heute abend, in der Dämmerung, vor Sonnenauf­gang ...

Die folgende Übung hilft, dies zu vergegenwärtigen. Tom Yellowtail, der Sonnentanzhäuptling der Absaroka,

pflegte immer wieder zu sagen: »Frage dich bei jeder Handlung und Entscheidung im Leben, ob du im Angesicht des Todes

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dazu stehen kannst.« Und von dem größten tibetischen Yogi,

Milarepa, ist der Ausspruch bekannt: »Das herausragendste

Zeichen unserer Übertragungslinie ist es, sich im Angesicht des

Todes nicht schämen zu müssen.«

Was diese großen Meister beständig leben, üben wir achtlosen

Wesen langsam bei jedem Sonnenuntergang neu ein, da wir, von

der Vielfalt der Ereignisse unseres hektischen Lebens überwältigt,

tagsüber kaum Zeit haben, über diese Frage zu reflektieren.

Jeden Abend im Angesicht der untergehenden Sonne lassen

wir den Tag vor uns ablaufen und fragen uns als Erstes: Wäre

ich mit mir zufrieden, wenn ich heute Nacht im Schlaf sterben

würde? Habe ich an diesem Tag meinen eigenen Maßstäben

entsprechend gelebt? Wenn der heutige Tag mein letzter wäre,

und ich nichts mehr daran verbessern könnte, morgen nichts

mehr wieder gutmachen könnte, wäre ich mit mir uneins oder

beschämt?

Was habe ich Positives oder Negatives bewirkt?

Habe ich die Ereignisse bewusst wahrgenommen? Habe ich

einfach alles abgelenkt konsumiert?

Versuche weiter, dich in Bezug auf einzelne Ereignisse des

Tages zu fragen:

Habe ich mich zurückgehalten? Habe ich mich ganz einge­

bracht?

Habe ich Dankbarkeit gespürt und das jemandem mitgeteilt?

Habe ich mich um die Wahrheit gedrückt?

Habe ich vielleicht die Wahrheit gesagt, aber auf eine harte

Weise ohne Mitgefühl?

Hatte ich irgendwo die Möglichkeit, mutig Mitgefühl zu

zeigen und konsequent zu sein, und habe ich sie genutzt?

Sind mir an einigen Stellen im Tagesablauf Freiräume auf­

gefallen, wo ich aus dem zwanghaften Ablauf der Dinge, der

Kette von Ereignissen, hätte aussteigen können?

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Page 82: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

Habe ich den Freiraum tatsächlich genutzt, um einen Moment

lang eigene Entscheidungen zu treffen und meiner eigenen

Wahrnehmungen zu trauen, oder habe ich den Begründungen

und Zwangsläufigkeiten geglaubt?

Habe ich mein Leben gelebt oder mich wieder leben lassen?

Mit anderen Worten, hat es für die Welt etwas bedeutet, das

ich heute gelebt habe?

Für mich? Für die Menschen, mit denen ich heute in Kontakt

war? Für die Verkäuferin? Für meine Kinder, meine Mitarbei­

ter...?

Hatte mein Leben irgendeine Bedeutung?

Wer das mit ja beantworten kann, kann ruhig schlafen und

das Risiko eingehen, für immer auszuatmen.

Für den Rest von uns geht der Prozess jetzt eine Stufe tiefer mit

den folgenden Fragen:

Wie habe ich es fertig gebracht, nicht da zu sein in meinem

Leben, sondern so zu leben, als ob ich unwichtig sei, so zu tun,

als ob alles nur ein Probelauf wäre, den man beliebig oft

wiederholen kann. Als ob man das Drehbuch im Nachhinein

umschreiben könnte.

War es Angst oder gar Trotz, dass ich der Welt zeigen musste,

dass sie nicht so ist, wie ich sie haben möchte, indem ich mich

geweigert habe, sie anzunehmen?

Die Dinge, die verhindern, dass wir das Leben ganz zulassen,

sind meistens ganz einfach: Unachtsamkeit, die Gewohnheit,

nach den falschen Dingen zu schauen, Selbstbezogenheit usw.

Doch diese Zeit kommt nicht zurück. Sie ist das wertvollste

Geschenk, das uns unwiderruflich verloren geht, wenn wir nicht

in jedem Augenblick anwesend sind.

Sterblichkeit wahrzunehmen bedeutet zu erkennen, dass jeder

Augenblick immer ganz ist. Was vorher gedrängt und eng er-

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schien, wird auf einmal unendlich weit, und jeder Augenblick leuchtet.

Plötzlich können wir Risiken eingehen, unsere eigenen Ent­scheidungen fällen und nach der Liebe leben. Was vorher langweilig, zwanghaft und vorherbestimmt war, offenbart sich in jedem Augenblick neu und unverbraucht. Unser Leben wird zum Abenteuer.

Erst wenn wir unser Leben mit jeder Faser unseres Seins liebevoll ausfüllen, können wir es beeinflussen. So strahle ich in meine Lebensumstände hinein und verwandle die Welt, indem ich andere Wesen berühre.

Die eigene Sterblichkeit zur Kontemplation zu machen, ist paradoxerweise durch und durch lebensbejahend und realistisch.

Die Sterblichkeit ermutigt uns Schritte zu gehen, die wir sonst für immer auf später verschieben würden.

Die christliche Weisheit sagt uns: »Herr lehre mich bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass ich weise werde.

Erkennst du das nicht, fließt dein Leben ständig an dir vorbei, während du Pläne für die Zukunft schmiedest. Du verschwendest dein Leben voller Freiheit und günstiger Umstände - eine Chance unter Millionen - sinnlos. Nicht einmal alle spirituellen Lehrer, Priester und Mönche bedenken beständig die Gegenwart des Todes. Wenn sie es hin und wieder durch Aufgaben bedingt doch tun, werden sie wieder rasch von- der Macht materialistischer Anzie­hungskraft getäuscht. Eine Wahrheitslehre ohne die Be­trachtung der Gegenwart des Todes ist wie ein Haus ohne Fundament.

Es gibt Menschen, die glauben nicht, dass der Tod jemals zu ihnen selbst kommt. Sie verdrängen sogar, dass all ihre

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Ma Rinchen Chog war unter den ersten 7 Tibetern, die die buddhistische Mönchsweihe empfingen und einer der 25 Hauptschüler von Padmasabhava. Er konnte Steine essen, um die illusionäre Natur aller Erscheinungen zu demonstrieren.

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Vorfahren, ihre eigenen Eltern, Großeltern und Ehegatten

sterben oder schon gestorben sind. Sie ignorieren all die

Leichen, die ständig auf Friedhöfe geschafft werden. Sie

glauben nicht, dass der Tod sie je selbst treffen wird. So

werden sie niemals den Weg zur Befreiung finden.

Der Radikalität dieser Aussage ist eigentlich nichts hinzuzufügen.

Ihr Realitätsgehalt lässt sich unschwer an der Verkehrstotensta­

tistik erkennen. Jedes Mal, wenn wir auch nur mit dem Auto

einkaufen fahren, kann es unsere letzte Fahrt sein. Statistisch

gesehen lebt der moderne Mensch mit mehr Gefahren, als der

Indio im Urwald voller Jaguare, Giftschlangen und Piranhas. Ein

Tibetisches Sprichwort sagt: Es ist ungewiss was näher liegt, der

nächste Morgen oder der Tod.

Trotzdem kennen wir alle Priester oder Pfarrer, die, obwohl

sie einmal in der Woche einen Mitmenschen beerdigen, doch

ihr Leben so voller Kompromisse leben, als ob es ewig währte.

Daran haben wir uns gewöhnt, und diese Diskrepanz und die

daraus entstehende Unglaubwürdigkeit ist sicher eine der Ursa­

chen der neuen spirituellen Bewegungen. Dennoch ist es be­

zeichnend für die Macht der Illusion, wenn wir feststellen, dass

auch in der heutigen Zeit, im spirituellen Aufbruch der New-

Age-Bewegung, gerade solche Methoden vermehrt Bedeutung

gewinnen, die versprechen, unser Leben soweit unter Kontrolle

zu bringen, dass wir Leiden und Tod entkommen können.

Tatsächlich hat die moderne Wissenschaft der Thanatologie

festgestellt, dass uns im Augenblick des Todes unser ganzes

bisheriges Leben bewusst wird. Wenn der Körper stirbt, fällt

unsere Möglichkeit zur Verdrängung weg und unser ganzes

Unbewusstes wird offenbar.

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In diesen zeitlosen Augenblicken erfüllt sich der Sinn unseres Lebens: Jeder Mensch hat in sich ein ureigenes Gefühl von Richtigkeit. Dieses ist eine Reflexion der ewigen Wahrheit und ihrer ethischen Maßstäbe, von der wir nie getrennt sind. Erfüllung empfindet man in dem Ausmaß, wie man sein Leben nach diesen Maßstäben ausgerichtet hat. Himmel und Hölle, Paradies und Fegefeuer, sowie das Urteil über unser Leben schaffen wir durch die Art und Weise, wie wir unser Leben leben, somit selbst.

Die Grundlage jedes rechten Verhaltens ist es nämlich auch, dass man um den Tod und die Vergänglichkeit weiß. Wenn man das vergisst, breitet sich eine geistige Dunkelheit aus, in der der Geist an allen möglichen Dingen haften bleibt, weil er sie als unvergänglich ansieht. Meditiere über den Tod und die Vergänglichkeit. Wenn das Bewusstsein darüber tief in deinem Geist verankert ist, wird sich in dir Licht und Freiheit ausbreiten.

Fehlt dieses Bewusstsein, sonnen sich die gewöhnlichen Menschen in angeberischem Stolz und Hochmut, sind ge­fesselt durch ihre Gier nach Reichtum, suhlen sich in Dummheit und Gemeinheit und gehen sich müßig der Gleichgültigkeit hin, anstatt den Weg der Befreiung zu suchen. Aber auch Menschen, die nach Wahrheit suchen -und große Lehrer — werden sich in trivialen Geschäften und in der Sorge um Gewinn und Verlust, Loh und Tadel, Freude und Leid, Ruhm und Vergessenheit verlieren. Be­gabte Meditierer versuchen in der Tretmühle des Lebens voranzukommen, und selbst wirklich ernsthafte Jünger werden nachlässig. Dies geschieht, wenn die Kontemplation der Vergänglichkeit deinen Geist nicht durchdringt.

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Wer jedoch Tod und Vergänglichkeit verinnerlicht, wird alle Eigenschaften erwerben, die man auf dem Weg der Befreiung braucht:

Du wirst einen ruhigen und ausgeglichenen Geist entwi­ckeln, der eine ernsthafte Meditation überhaupt erst möglich macht.

Du wirst das gewöhnliche Streben aufgeben und den Weg der Wahrheit unermüdlich und geschwind gehen. Du wirst nicht mehr so fasziniert von Besitztümern sein. Du wirst die Vorstellung, dass der Körper mit einem »Seihst« ausgestattet ist, verlieren und erkennen, dass Zerstreuungen nichts anderes als Dämonen sind und be­gehrenswerte Objekte nur zur Täuschung führen. Dir wird unerschütterliches Vertrauen zuteil. Unerschöpf­licher Fleiß, Integrität, Wahrhaftigkeit, klare Absichten und reine Konzentration erwachsen dir. Du wirst die Wahr­heit aus den großen Lehren der Menschheit heraushören, viele positive Eigenschaften entwickeln und schnell befreit werden. Jeder große Weise und Erleuchtete, alle Erlöser und Meister der Vergangenheit fanden die Erleuchtung, indem sie über Tod und Vergänglichkeit kontemplierten.«

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DAS GESETZ VON URSACHE

UND WIRKUNG

iL %. iw/o sprach Guru Rinpoche, und fuhr dann fort: Freude und Leid, Gutes und Schlechtes in diesem Lehen sind ausschließlich das Ergebnis vergangener Handlungen. Es ist sehr wichtig, wirklich einzusehen, dass du unmöglich den Folgen deiner Handlungen entkommen kannst. Die größten Lehrer der Menschheit haben nichts anderes als das Gesetz von Ursache und Wirkung gelehrt, und wie jede Handlung ihre Früchte trägt.

Das Sanskritwort »Karma« heißt einfach »Tat« oder »Werk« und wird im Sinne von gewohnheitsmäßigen Verhaltensabläufen und Gedankenmustern verstanden. Der indische Weise Shan-karacharya verwendet Karma im Sinne des westlichen Begriffs von Neurose als unbewusster Wiederholungszwang. Die Summe vergangener Absichten und Handlungen, Karma, darf man sich also nicht als einen mechanischen Ausgleichsmechanismus, ähnlich wie die Waagschalen der justitia, vorstellen. Es sind vielmehr Bewegungsimpulse, die freigesetzt werden und wie

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alle Dinge im Universum einem Zyklus unterliegen: Sie entstehen,

sie erreichen einen Höhepunkt und sie lösen sich wieder auf.

Das heißt, alles was wir in Bewegung setzen, muss sich erst

entwickeln, zur Wirklichkeit werden, bevor es sich auflösen

kann.

Wenn Resultate manchmal länger auf sich warten lassen,

widerlegt das dieses Gesetz nicht. Es bedeutet nur, dass der

Impuls noch nicht die Umstände getroffen hat, in deren Reso­

nanzkörper er manifestiert wird.

Das Problem so genannter negativer Absichten und Hand­

lungen ist, dass sie auch auf einen Höhepunkt zustreben, bevor

sie sich auflösen können. Wenn wir uns gegen diese negative

Entwicklung zur Wehr setzen, verstricken wir uns noch mehr

in die Negativität, so dass sich die Entwicklung potenziert. Diese

Dynamik bringt also mit sich, dass es an dieser Stelle unsere

Verantwortung ist, wie wir auf die selbst in Bewegung gesetzten

Entwicklungen reagieren. Die Lösung kann nur heißen, alles

was an negativen Lebensumständen auftaucht, so gut wie möglich

anzunehmen, ohne sich groß dagegen zu wehren, andere anzu­

greifen oder überhaupt ablehnende Bewertungen aufkommen zu

lassen.

Ein tibetisches Sprichwort sagt: »Wenn du etwas über deine

vergangenen Leben wissen willst - schau dir deine jetzige

Lebenssituation an. Wenn du etwas über deine zukünftigen

Leben wissen willst, schau dir dein, jetziges Verhalten an.«

Manche fragen sich trotzdem, wieso gewissenlose Schurken

in Saus und Braus leben, während gute Menschen, Heilige fast,

von einer Katastrophe in die nächste geraten. An dieser Stelle

sollte man bedenken, dass es ein Zusammenspiel vieler Faktoren

ist, das die Früchte des Karmas reifen lässt. Es müssen die

gegenwärtigen Handlungen, die Ursache, die an der Wurzel liegt,

die umständehalber beitragenden Gründe sowie die eigenen

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emotionalen Verstrickungen allesamt übereinstimmen, um den

Samen reifen zu lassen. Doch egal wie lange es auch dauert, bis

Ursachen, Begleitumstände, Handlungsweise und Gefühlslage

zusammenschwingen, um das Ergebnis zu bewirken, der Same

geht nie verloren und kommt sicher zur Reifung.

Der spirituelle Weg - einmal angefangen - kann durch den

Segen eines Lehrers diese Samen sogar schneller erblühen lassen.

Doch unter der Obhut eines Lehrers werden selbst aus den

schlimmsten Unkräutern noch nützliche Heiltees gebraut und

unsere Karmas wickeln sich ab, ohne allzu großen Schaden

anzurichten. Vielleicht helfen sie sogar, uns vom Gesetz von

Ursache und Wirkung durch eigene Erfahrung zu überzeugen,

denn es gibt keinen Heiligen ohne Vergangenheit und keinen

Halunken ohne Zukunft.

Diesen dynamischen Aspekt des Karma versucht der histori­

sche Buddha mit folgendem Beispiel auszudrücken. Auf die Frage,

warum dieselben Taten nicht immer das gleiche Ergebnis bringen,

antwortete er mit dem Bild, dass die gleiche Prise Salz in einen

Becher mit Wasser, in eine Süßspeise, in ein Reisgericht oder gar

in den Ozean hineingeworfen, verschiedene Resultate bringt.

Es ist ganz einfach. Auf unheilsame Handlungen folgt

Leiden, auf heilsame Handlungen folgt Glück. Ob jemand

die höchsten Stadien der Weisheit erreicht oder in die

niederen Existenzebenen rein instinktmäßiger Realität fällt,

hängt ganz allein vom unfehlbaren Gesetz, dass jede Ur­

sache ihre eigenen Resultate hat, ab. Irgendwann kommen

deine Handlungen, die konditionierten Emotionen, die von

dir geschaffenen Ursachen und die Umstände zusammen,

und du musst die Konsquenzen erleiden, außer wenn du

aktiv die Erleuchtung suchst.

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Daher gibt es Leben ohne Leiden nicht. Älter, Krankheit und Tod sind unvermeidlich. In allen Existenzbereichen gibt es nur einen endlosen Kreislauf des Lebens, in dem die Wesen gefangen sind. In allen sechs Seinsweisen gibt es nichts, das über den endlosen Kreislauf von Werden und Vergehen hinausreicht, in dem die Wesen von den Wellen ihrer eigenen geistigen Gifte und widerstreitenden Emotio­nen in einem wahren Ozean des Leidens hin- und herge­worfen werden. Wer sich nicht aus diesem Kreislauf befreit, der wird im Grunde überall sein Gefängnis mit sich he­rumtragen und sich irgendwann so fühlen, als ob er auf einem Haufen glühender Kohlen sitzt.

Dem Kreislauf des Lebens und des Leidens zu entkommen heißt nicht, sich aufzulösen oder Leben auszulöschen. Leiden ist vielmehr die Folge der Identifikation mit etwas, das wir in Wahrheit nicht sind oder mit einem begrenzten Aspekt des Lebens. Die Summe dieser Identifikationen nennen wir »Selbst-«. Da Leben sich aber ständig wandelt, verändert sich das Selbst ständig mit. In dem Maße, wie wir daran verhaftet sind und uns auf einen bestimmten Aspekt oder vergangenen Augenblick festzuschreiben versuchen, leiden wir an dieser Vergänglichkeit. Der Versuch, ihr zu entkommen, führt zu mehr Leiden, da wir nun die Realität in Konzepte und Ideen zwingen müssen.

Eine der gefährlichsten Identifikationen ist die mit spiritu­ellen Erfahrungen. Da sie immer bis zu einem gewissen Ausmaß eine Einheit mit der Wahrheit widerspiegeln, kann man sich viel besser an sie verhaften als an unser wackliges Konstrukt von Selbstbildern aus der Kindheit. Dementsprechend überpro-

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portional nimmt auch das Leiden, das man sich und anderen

auf diese Art zufügen kann, zu. Im Zen wird dies deshalb als

»Vorgarten der Hölle« bezeichnet, und die zahllosen Skandale

aus dem Umkreis der vielen selbst ernannten Gurus und Meister

ohne Autorisierung oder Übertragungslinie zeigen, wohin es

führt, sich ohne qualifizierten Lehrer auf den spirituellen Weg

zu begeben.

Aber auch der weit verbreitete Glaube an den inneren Meister

kann zum Fallstrick werden. Häufig sagt dann die »Stimme des

höheren Selbst« das, was sich gewohnt und Heb anhört, uns

aber genau in den von Anhaftung und Abneigung konditionierten

Kreislauf der unerleuchteten Existenz weiter verwickelt. Hier

hilft wieder die Kontemplation der Vergänglichkeit, der auch

Meinungen, selbst spirituelle Erfahrungen, unterworfen sind.

Dies ist keine Tragödie, sondern hoffnungsvoll. Erinnere dich

an eine vergangene, umwerfende Einsicht ~ und wie sich deine

Einsicht und Erfahrung seitdem verändert und vertieft hat. Dieser

Wandel war nur möglich, weil im Herzen der Vergänglichkeit

alle Phänomene leer sind! Vergänglichkeit ist also gleichzeitig

der Quell von Leiden, wenn wir anhaften, und die größte Gnade,

wenn wir den spirituellen Weg gehen!

Pas , was dich retten kann, ist:

O Eine ernsthafte Praxis, denn alles andere überträgt den

Keim der Verwicklung.

O Rüchzug an einen einsamen Ort, denn alle anderen Orte

reizen die Geschäftigkeit.

O Die Vermehrung von guten Taten, denn alles sonst

üherlässt die Zügel deines Geistes dem Ego.

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Drenpa Namka war ein Prinz des annektierten Königreiches Zhang Zhung und einer der größten Dzogchenroeister und Siddhas der Bon-Schule - den Bön gilt er außerdem als Vater von Padmasabhava. Tatsächlich befand er sich unter den 25 engsten Schülern und bewahrte so die Bönschriften vor der Zerstörung.

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in qualifizierter Lehrer, dem du vertrauen kannst, denn

alle anderen Gefährten fuhren dich aus Eigennutz in

die Irre.

O Die heiligen Lehren der Weisheit, denn jeder andere Rat

zieht dich nur nach unten.

Der Verstand, der ja aus dem Gewebe der Polaritäten besteht,

kann das Absolute nie verstehen. Deswegen ist es völlig klar,

dass es einer vorübergehenden Abwendung von unserer relativen

Wirklichkeit bedarf und vor allem der Unterstützung eines

Menschen, der schon gelernt hat, jenseits des Verstandes zu

schauen. Dann können wir auch wieder zurück in unseren Alltag

gehen, um diese Einsicht unter allen Umständen zu überprüfen.

Denn auch in unserer relativen Welt der sich gegenseitig bedin­

genden Polaritäten, in der Leid und Glück untrennbar mitein­

ander verwoben sind, gibt es doch in den Kausalketten immer

wieder Lücken, durch die das Absolute hindurchscheint, ähnlich

wie die Tischplatte unter einer gehäkelten Tischdecke als stän­

diger Hintergrund zu sehen ist.

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MITGEFÜHL

.jLJ^ie guten Taten vieler Millionen Jahre können in einem einzigen Augenblick des Ärgers zerstört werden. Arbeite deshalb beständig an der Entwicklung von liebender Güte, Mitgefühl und dem unschätzbar wertvollen Wunsch, allen Menschen zur Erleuchtung zu verhelfen. Es gibt nämlich unter all den unendlich zahlreichen Wesen kein einziges, aus dem du nicht schon einmal entstanden bist. Auf diese Art gesehen, kann man sagen, dass dir jedes Wesen schon einmal Mutter oder Vater war. Denke immer und immer wieder daran, wie diese Wesen, die einmal deine Eltern waren, keine Chance haben, sich selbst zu retten. Deshalb meditiere ununterbrochen, um den Geist des erleuchtenden Mitgefühls für alle Wesen zu erwecken. Es genügt nicht, dass du nur die unkonditionierte Leerheit deines Geistes erkennst - ohne das große Mitgefühl entstehen zu lassen besteht die Gefahr, dass du in den Nihilismus verfällst. Deshalb ist es notwendig, dass du über die Einheit von Leerheit und Mitgefühl meditierst.

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Tibetische Meister sagen, dass das Ausmaß des spontan befreiten

Mitgefühls die Tiefe der Erleuchtung anzeigt. S.H. Dilgo Khyentse

Rinpoche, der als Oberhaupt der Nyingma-Schule der direkte

Nachfolger von Guru Rinpoche war, geht soweit, dass man in

sich den Mut finden muss, zu sagen: »Ich werde, wenn es sein

muss, allein daran gehen, alle Wesen zu befreien und mich so

lange üben, bis ich dazu auch in der Lage bin!«

Eine der schönsten Übungen dafür ist es, sich bei jedem

Einatmen vorzustellen, das Leid eines anderen Wesen in uns

aufzunehmen, es in uns zu heilen und ihm beim Ausatmen

unsere schönsten Erinnerungen, guten Lebensumstände, unsere

Liebe, Kraft und Gesundheit zu widmen. Schritt für Schritt

gelingt es, das Leid von mehr und mehr Wesen in uns aufzu­

nehmen und mehr und mehr von unserem Glück zu teilen. So

wächst unsere Kapazität dafür, Mitgefühl auch tatsächlich frei­

zusetzen. Erstaunlicherweise nimmt dabei unser Glück nicht ab,

sondern zu, und anstatt niedergeschlagen zu werden, finden wir

mehr und mehr Lebensmut und -kraft.

Eine weitere Übung, die tibetische Meister empfehlen, ist,

sich an die Güte unserer Mutter zu erinnern. Egal, wie belastet

die Beziehung sich später auch entwickelt haben mag, gibt es

zumindest aus der frühesten Kindheit Erinnerungen an die Süße

und Liebe, Hingabe und Fürsorge, ohne die wir gewiss nicht

überlebt hätten.

Wenn wir anschauen, wie selbst bei den meisten Tieren die

Mütter ihre Jungen aufopfernd versorgen, ist es klar, dass dies

eine der höchsten Formen der Liebe ist.

Auf geheimnisvolle Weise sind wir tatsächlich aus allen

anderen Wesen entstanden, sowohl genetisch in unserer ewig

langen Ahnenreihe bis zurück zum Einzeller, wie auch jetzt aus

dem Kreis des Lebens, in dem jedes Wesen aus dem Leben der

anderen entsteht. Nun versuchen wir, uns vorzustellen, dass

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jedes Wesen dieselbe selbstlose Liebe wie unsere Mutter als

seinen tiefsten Grund hat, wenn auch die irrtümliche Identifi­

kation mit einem abgetrennten Selbst diese mit Vorstellungen

von Mangel oder Begrenzungen überlagert.

Schon gelingt es uns tatsächlich, mehr Liebe und Güte in

bislang scheinbar ablehnungswürdigen oder bedeutungslosen

Worten und Taten unseres Gegenübers zu erkennen. Indem wir

diese erkennen, gelingt es uns selbst, mehr Güte, Sympathie und

Verständnis aufzubringen. So kann auch eine belastete oder

kühle Beziehung sich verbessern. Auch neutrale Begegnungen

mit Verkäuferinnen oder Bankangestellten gewinnen so eine

menschliche Dimension. Versuchen Sie, diese Übung in jeder

freien Minute zu machen!

Eine Voraussetzung für diese Erfahrung von Mitgefühl ist

die Erkenntnis der Leerheit, das heißt, dass alle Wesen leer von

einem eigenen, getrennten Selbst sind. Diese Leerheit ist dabei

nicht öde, sondern gibt den Raum für die Fülle aller Erfahrungen.

Da wir bei jeder auch noch so intimen Empfindung immerzu

von sowohl geistigen Faktoren als auch äußeren Ursachen ge­

formt werden, können wir auch an keiner Stelle eine feste Grenze

zur Umwelt ziehen. Wenn sich schon unser Körperempfinden

die ganze Zeit aus äußeren Einflüssen zusammensetzt, ist unser

Geist noch mehr durch vorherige Einflüsse geprägt. Versuchen

wir, ein getrenntes Selbst aufrechtzuerhalten, verarmen wir nach

innen und stellen uns mehr und mehr in Widerspruch zur Welt

außen, denn die ist für unser fragiles Selbstbild eine ständige

Bedrohung. So schafft unser künstliches Selbstbild neue Leiden

für uns und andere. Paradoxerweise ist es gerade die fundamen­

tale Offenheit, die entsteht, wenn man die Leerheit erkannt hat,

die es uns ermöglicht, uns zu verändern und Verantwortung für

unser eigenes Leben zu übernehmen. Hätten wir ein festgefügtes,

abgegrenztes Selbst, könnten wir uns nie verändern, da so ein

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Selbst ja ewig und unberührbar wäre. Leerheit ist also die

Voraussetzung zum Wandel und die Möglichkeit, unser Leben

in die Hand zu nehmen, und umgekehrt die neurotische Fixie­

rung auf ein getrenntes Selbst die Ursache des Leidens.

Mitgefühl entsteht spontan, wenn wir erkennen, dass unsere

Mitmenschen ganz überflüssig an ihrem illusionären Selbst leiden

und ihrem eigenen Glück im Wege stehen. Gleichzeitig löst die

Erkenntnis der eigenen Freiheit von einem begrenzten Selbst

ein so tiefes Glücksgefühl und eine reine Liebe aus, dass wir

überströmen und allen Wesen die gleiche Erfahrung wünschen.

Je mehr sich die eigenen Grenzen auflösen, um so tiefere

Potentiale zur Heilung setzen sich frei. Dies ist die Einheit von

Leerheit und Mitgefühl.

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WAS DU BRAUCHST

I

ie einzige Ermahnung, die du brauchst, ist die Erin­nerung an die Unvollkommenheit des ewigen Daseinskreis­laufes. Die einzige Ermutigung, die du brauchst, ist das Bewusstsein •von der Vergänglichkeit. Die einzige Erleuchtung, die du brauchst, ist die Erkenntnis, dass alles, was erscheint, nur ein Spiel des Geistes ist. Der einzige Lehrer, den du brauchst, ist der, dem du dich aus der liefe deines Herzens anvertraust. Dann brauchst du keinen anderen Erlöser mehr. Das Absolute ist bereits in dir, wenn es dir gelingt, alle Gedanken schon an der Wurzel zu erkennen und abzu­schneiden. Die einzige Zuflucht, die du brauchst, ist die Zuflucht zur großm Freude, mit der du alle Wesen erfüllst. Wenn du das alles zusammen erkennst, dann gibt es tatsächlich keinen Unterschied mehr zwischen dem ewigen Daseinskreislauf und der Erleuchtung. Ach, doch haben die Wesen dieser kranken Zeit nur eine kurzlebige Hingabe, deswegen erleben sie alle Arten von selbst verursachten Schwierigkeiten.

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Sie sind zu achtlos und schwach, ihrem Geist die Zügel der geistigen Übung anzulegen. Weil ihre Faulheit so groß ist wie die Ablenkungen vielfältig sind, können sie sich kaum zur Meditation und zu ethischem Handeln motivieren, und wenn, dann halten sie nicht lange durch. Ach, wie traurig das alles ist.

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DER GLAUBE

;V Schließlich fuhr Guru Rinpoche fort: Die einzige Wurzel aller Qualitäten eines Erleuchteten ist der Glaube. Wenn unwandelbarer Glaube aus den Tiefen deines Herzens aufsteigt, wirst du von allen Fehlern und Hindernissen befreit werden. Wenn du nur einen Augenblick lang an die Möglichkeit der vollkommenen Erleuchtung für alle Wesen glaubst, so ist das so verdienstvoll, wie wenn du so viele Erlöser anbetest, wie es Atome im Universum gibt. So werden die wunderbaren Eigenschaften des Glaubens in vielen alten Schriften und Lehren beschrieben!

Es mag seltsam anmuten, den Glauben als die Grundlage aller Eigenschaften eines Erleuchteten zu bezeichnen, da doch Er­leuchtung eher mit Erkenntnis und Gewissheit durch direkte Erfahrung assoziiert wird, Glauben jedoch eher mit diffusen Gefühlen und Hoffnungen zu tun zu haben scheint.

Die geheimen Lehren des tibetischen Buddhismus offenbaren ganz eindeutig, dass Erleuchtung unsere ureigenste Natur ist,

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so wie das hässliche Entlein schon immer ein Schwan war. Sie

kann deshalb nicht erworben oder gemacht werden, sondern

nur von dem Schutt unserer Ablenkungen, Konditionierungen

und Zweifel befreit werden. Tatsächlich befinden wir uns in

einer Trance, in der wir uns selbst täglich neu hypnotisieren,

um unsere erleuchtete Natur zu verleugnen. Der Glaube an

unsere Erleuchtung ist also ganz natürlich, denn er orientiert

uns nur in die richtige Richtung.

Der Glaube ist, genauso wie die Sehnsucht, immer ein Echo

dessen, woran wir glauben oder wonach wir uns sehnen. Para­

doxerweise ist es so, dass Glaube nicht von uns ausgeht, sondern

eine Spiegelung dessen ist, woran wir glauben. Wenn ein Stein

ins Wasser fällt, so erzeugt er Wellen, die sich ausdehnen und

die Schilfhalme bewegen. Wenn die Schilfhalme deswegen an

einen großen Stein glauben, der sie bewegt, ohne ihn zu sehen,

so geht dieser Glaube tatsächlich nicht von ihren Hoffnungen

aus, sondern ist nur möglich, weil sie wirklich von einem Stein

bewegt wurden. Genauso kann man nicht sagen, dass unser

Glaube die Erleuchtung schafft, sondern nur, dass die Erleuch­

tung schon in uns wirkt und der Glaube das offenbart, was

schon von sich aus ist. Es ist unmöglich, etwas zu sehen, wenn

man in die andere Richtung schaut. So orientiert uns Glauben

in die richtige Richtung. Ohne an die Möglichkeit der Erleuch­

tung zu glauben, kann sie nicht verwirklicht werden. Da Er­

leuchtung nie vom Verstand erfasst werden kann, bedarf es

immer eines Aktes des Glaubens oder des Vertrauens, um den

Abgrund zwischen Verstand und Wahrheit zu überspringen.

Thomas von Aquino hat gesagt, gerade weil Gott durch nichts

zu beweisen sei, glaube er an ihn und der japanische Mönch

Shinran ging so weit zu behaupten, dass selbst der Glaube nicht

als Aktivität des Menschen, sondern als Resultat der Gnade des

Buddhas Amitabhas entsteht.

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In der Alten Schule Tibets ist es die Initiation, in der der

Meister dem Schüler die erleuchtete Natur seines Bewusstseins

zum ersten Mal erweckt. Danach ist es die beständige Übung

des Schülers, in der Meditation und im Alltag dieses gnostische

Bewusstsein als einzige Realität zu sehen. Da dies anfänglich oft

nur für kurze Perioden gelingt, und die relative Wirklichkeit

geradezu zynisch das Gegenteil zu beweisen scheint, ist das

unerschütterliche Vertrauen des Schülers in die höherrangige

Wahrheit der Erleuchtung nötig, um die in der Initiation erlebte

Vereinigung mit dem erleuchteten Geist in der Meditation zu

stabilisieren, sie unter wechselnden Umständen zu aktualisieren

und über längere Zeit aufrechtzuerhalten.

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DIE HINDERNISSE

AUF DEM WEG

enn du seihst Wesen helfen willst, ist es wichtig, um die Lehre für die zukünftigen Generationen zu erhalten, die fünger nur zu solchen Übungen und Regeln zu ver­pflichten, die ihrer Natur entsprechen, und ihnen keine Unterweisungen zu geben, die ihr Verständnis überfordern, und keine Einweihungen, deren Verwirklichung ihre Aus­dauer überschreitet. Wenn die Lehrer die Wahrheit ver-breiten, müssen sie geschickt darin sein, die Fähigkeiten ihrer Schüler zu erkennen, sonst sind sie selbst für die Fehler der Schüler verantwortlich. Am besten nimmst du die alten Schriften und Überlieferungen als Maßstab und erfährst für dich selbst, was die Übungen bewirken, die die heiligen Meister gelehrt haben. Dann überwinde den Dämon derAnhaftung an den Ich-Sinn und entwickle unbegrenztes Mitgefühl für alle Wesen und erlaube weder deinem Geist noch deinen Worten oder Taten, einen Augenblick vom spirituellen Weg abzukommen. Das sind die ersten Schritte auf dem Weg, selbst ein Lehrer zu werden.

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In der Tradition des tibetischen Buddhismus kann nur derjenige

selbst Lehrer werden, der die Übungen bis zur direkten Erfahrung

ihres Ziels vervollkommnet und dann von seinem eigenen Meister

den Lehrauftrag erhalten hat. Sich selbst zum Lehrer zu ernennen

oder gar spirituelle Praxis mit dem Ziel zu betreiben, ein Meister

zu werden, wäre undenkbar, da Ehrgeiz die wahre Verwirkli­

chung für immer verhindert. Der Impuls, anderen Wesen zu

helfen, entsteht spontan als eines der Zeichen, wenn tatsächlich

eine bestimmte Stufe der Verwirklichung erreicht ist.

Dann gilt es immer noch, die eigene Motivation von Resten

alter Konditionierung zu reinigen und die geschickten Mittel

beherrschen zu lernen, die in Tausenden von Jahren entwickelt

worden sind. Schließlich darf man nichts mehr für sich selbst

erhoffen, nicht einmal, endlich so weit zu sein!

Hindernisse und Hemmnisse zu erkennen ist ein wesentlicher

Bestandteil der buddhistischen Lehre. Im klassischen Palikanon

aus dem 3. Jahrhundert vor Chr., der ältesten schriftlichen

Aufzeichnung der Lehrreden des historischen Buddha, werden

vor allem fünf Hemmnisse beschrieben.

1. Die Sinneslust oder das Begehren der Sinne nach ange­

nehmen Eindrücken. Sie wird verglichen mit einem Teich, in

den verschiedene Farben geschüttet sind. Das kann schön und

interessant sein, aber man kann weder auf den Grund sehen,

noch sich selbst in der Spiegelung erkennen. Als Gegenmittel

hilft, sich daran zu erinnern, dass alle Objekte unseres Begehrens

vergänglich sind, und dass wir selbst sterblich sind und nur die

positiven und negativen Eindrücke in unserem Geist mitnehmen.

Als Zweites hilft Dankbarkeit: Also danken wir für die freien

und. günstigen Umstände und alles Gute in unserem Leben,

besonders die Möglichkeit, den Weg der Wahrheit gehen zu

können.

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2. Die Faulheit oder Müdigkeit. Sie wird verglichen mit

einem Teich, der von Algen durchwachsen und mit Pflanzen

bedeckt ist. Die Faulheit wird überwunden, indem man sich die

Endlichkeit des Lebens vor Augen hält. Ein buddhistisches

Sprichwort sagt:

»Sicher ist nur, dass wir sterben müssen und dass wir nicht

wissen, wann.-«

3. Ärger und Hass. Sie werden verglichen mit einem Teich,

dessen Wasser kocht und brodelt. Ärger und Hass entstehen,

weil wir uns die umgebenden Umstände und Wesen als fremd

und feindlich gesonnen vorstellen. Üben wir, alle als unsere

Mütter zu sehen, aus denen wir entstanden sind, kommen Ärger

und Hass zur Ruhe und wir können die guten Seiten in anderen

und in unseren Lebensumständen erkennen.

4. Unruhe und Aufgeregtheit. Dies ist ein Zustand, der jede

meditative Konzentration verhindert. Er wird verglichen mit

einem von Wind und Wellen gepeitschten Wasser. Lass die

Unruhe, wie sie ist und konzentriere dich nur auf deinen Atem.

Beim Einatmen sage dir selbst: »Steigen« und beim Ausatmen

notiere innerlich »Sinken«. In kürzester Zeit glättet dies alle

Wogen.

5. Zuletzt steht der schwer zu überwindende Zweifel - vor

allem an der Lehre und den Lehrern. Dieser wird mit einem

trüben und schlammigen Wasser verglichen, aber nur ein ruhiges

und klares Wasser ermöglicht wirkliche Einsicht und Erkenntnis

des Grundes. Schwere Zweifel verbergen meistens ein schlechtes

Gewissen, wider besseres Wissen gegen die eigenen ethischen

Regeln oder Verpflichtungen zum Schaden anderer gehandelt

zu haben. Hier hilft nur, sich an das Gesetz von Ursache und

Wirkung zu erinnern, echte Reue zu entwickeln und alles zu

bekennen, wegen dem wir uns schuldig fühlen. Dabei ist es

wichtig, das Bekenntnis gegenüber konkreten Wesen, die wir

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hochschätzen, abzulegen, seien es ein Baum im Wald oder die

Buddhas der drei Zeiten. Anschließend braucht es unbedingt

das Versprechen, von nun an nur Gutes zu tun und das zu

meiden, was anderen schadet. **

Sehr bald schon entwickeln sich positive Gedanken und

Vertrauen. Bleibt dies aus, so haben wir bei unserem Bekenntnis

etwas übersehen.

Am Schluss wird das Wasser ruhig und klar und ermöglicht

wahre Einsicht und die Erkenntnis des Urgrundes!

Wenn all diejenigen, die den Weg der Wahrheit gehen, so

zahlreich wären wie die Sterne am Himmel, so wären

diejenigen, denen die Dämonen keine Hindemisse in den

Weg legen, weniger als Sonne und Mond. Gäbe es diese

Hindernisse nicht, dann wäre es leichter, die Erleuchtung

zu erlangen, als ein Jahr lang gute Taten zu tun. Deshalb

müssen wir zuerst wissen, wie wir diese Dämonen erkennen

und dann überlisten können.

Von Dämonen zu reden hört sich für moderne Menschen viel­

leicht seltsam an. Doch wenn die moderne Psychotherapie von

Suhpersönlichkeiten, fixierten Geisteshaltungen oder Komplexen

spricht; geht sie auch von Energiemustern aus, die in unserer

Psyche relativ eigenständig leben und sich weitgehend selbst­

ständig, auch gegen unsere Interessen, verhalten. So können wir

den Begriff »Dämonen« vielleicht besser verstehen.

Darüber hinaus heißt es in vielen asiatischen Texten, die

Dämonen und Gottheiten eine eigene Existenz außerhalb unserer

Psyche zuschreiben, dass ein Mensch, der einen inneren Weg

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geht, dabei ist, sich über alle Götter und Dämonen (die himm­lischen und höllischen Hierarchien im christlichen Sprachge­brauch) zu erheben. Deswegen legen diese ihm jeden möglichen Fallstrick in den Weg, um ihn auf seinen menschlichen Stand zurückzuwerfen. Andererseits wird so auch das Abwehrverhalten gegenüber verdrängten Erinnerungen, unbewussten Mechanis­men und Komplexen beschrieben.

Während du noch in der Stadt des Leidens eingekerkert bist und einen Ausweg suchst, entwickelst du vielleicht etwas Vertrauen in den Weg zur Erleuchtung. Dieses kann dir jedoch ganz schnell wieder von einem Dämon namens Faulheit gerauht werden. Wenn du den Wettbewerbsgeist aber beibehältst, fängt dich stattdessen der andere Aspekt des Dämons, die Geschäftigkeit, ein. Indem du dich ständig an die so genannte Realität anklam­merst, und indem du einige Wesen als Feinde bezeichnest und sie ablehnst, während du andere liebst und an ihnen hängst, bist du zu beschäftigt, um an Tod und Vergäng­lichkeit zu denken und verstrickst dich in alles Mögliche. So verschiebst du die Erleuchtung für immer auf später, und das genau ist das Hindernis. Wenn du es dir einmal angewöhnt hast, diese Faulheit zu entschuldigen, wird sie zur Gewohnheit, die immer schwerer zu durchbrechen ist. Das kannst du nur überwinden, wenn du nach einem qualifizierten Lehrer suchst, der dir unerschütterlichen Glauben und stetes Bemühen einpflanzt. Reflektiere über Tod und Vergänglichkeit, die Quelle unerschütterlichen Eifers! Stelle alles Nebensächliche zur Seite und widme dich nur dem großen Ziel der Erleuchtung.

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Der zeitgenössische Siddha-Yogi Swami Muktananda pflegte zu sagen: »Der Verstand ist immer zur Stelle, um uns mit Ausreden zu "überlisten, warum wir morgens nicht zum Meditieren auf­stehen können. Aber wenn wir es einmal fertiggebracht haben, diszipliniert aufzustehen, können wir den Verstand überlisten und ihn für unsere Zwecke einsetzen. Da er nämlich ungern auf der Seite des Verlierers steht, wird er nach einiger Zeit »über­laufen« und uns helfen, früh aufzustehen, und dafür sogar noch gute Argumente anführen«.

Als Nächstes taucht der Dämon namens »Wechselhaftig-keit« auf. Er kann die Form von Familienmitgliedern, wohlmeinenden Freunden und Partnern annehmen, die dir sagen: »Hör doch auf mit dieser Erleuchtungsgeschichte« und dir alle möglichen Schwierigkeiten machen. Hörst du darauf, wirst du auch wieder die Erleuchtung auf morgen verschieben, dann auf den Tag danach und so weiter. So geht ein Lehen voller Illusionen schnell vorbei, und am Ende sitzt du immer noch im Schlamm des Leidens fest. Um diese Hindernisse zu überwinden, vertraue auf den Rat deines Lehrers, nimm Zuflucht zur höchsten Wahrheit, prüfe genau die Ratschläge deiner Mitmenschen und ent­scheide für dich seihst.

Die moderne Familientherapie hat beobachtet, dass, um ein problematisches Kind zu heilen, die ganze Familie in die Therapie einbezogen werden muss, weil das Kind all die unterdrückten und unbewussten Emotionen der ganzen Familie ausdrückt. So ist es auch mit uns. Wenn wir eine tiefe spirituelle Erfahrung erleben, gerät das ganze soziale Netz, in dem wir stehen, ins

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Wanken. Gegenseitige Abhängigkeiten, Lebenslügen, Macht­strukturen und alle anderen Spiele werden durch solche tiefe Erfahrungen bewusst und in Frage gestellt. Das wird natürlich von Familien, Freunden und Kollegen als bedrohlich empfunden. Deswegen sehen sie es als ihre oberste Pflicht an, dich wieder auf den »Boden der Tatsachen « zurückzuholen und dir zu helfen, diese »spirituellen Spinnereien« zu überwinden.

Übe an dieser Stelle, alles was dir gesagt wird, nur noch als Mitteilung deines Gesprächspartners über seine eigenen Ängste und Unsicherheiten zu verstehen. Sage laut oder leise: »Danke für die Mitteilung« und übe Mitgefühl für den Sender. Mache dir klar, dass nur du die Konsequenzen deines Handelns erleben wirst, egal ob andere dich beeinflusst oder beraten haben!

Wenn du trotz alledem bei deinem Lehrer bleibst, kommt der nächste Dämon in der Form des Zweifels. Du fühlst dich deinem Lehrer gleichrangig, bist blind für seine Fä­higkeiten, während dir die kleinsten Fehler auffallen, du entwickelst entgegengesetzte Ansichten und bezweifelst so­gar, ob irgendeine seiner Handlungen von Weisheit bestimmt wird. Deine eigene spirituelle Praxis wirst du vorwiegend dazu verwenden, um Reichtümer anzuhäufen. Obwohl du zu einer spirituellen Reise aufgebrochen bist, wirst du so in einer selbst geschaffenen Hölle landen. Um diesen Dämon zu vertreiben, lass dich nicht davon abbringen, dass dein Lehrer und der vollkommene Weisheitsgeist eins sind.

Dann kommt der Dämon in Form eines Rüchfalls in die Gier. Seine Zeichen sehen so aus: Du hungerst nach Sex und Alkohol, denkst vorwiegend an Geld, an Geschäfte,

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Karriere, Erfolge und diverse Machenschaften. Darüber hinaus lässt du alle spirituellen Bestrebungen fahren, gibst Lehrer und Begleiter auf dem Weg auf und übst überhaupt nicht mehr. Du strebst, nur noch nach weltlichen Genüssen und Herausforderungen und verlierst jedes Interesse an der Wahrheitslehre.

Um diesen Dämon zu unterwerfen, musst du die unerschüt­terliche Entschlossenheit entwickeln, nur den Lehren der Wahrheit zu folgen. Welche Lehre auch immer es ist, die dich inspiriert hat, bleibe dabei. Halte dich fern von allen Ablenkungen und vermeide Handlungen, die offensichtlich im Gegensatz zur Lehre der Wahrheit stehen. Halte dir das Leben all der hedigen und weisen Menschen vor Augen, die vor dir dem Weg der Wahrheit gefolgt sind und ihr Ziel erreicht haben. Das ist sehr wichtig!

Der nächste Dämon heißt »Einbildung« und verleitet dich dazu, die Lehren auf die leichte Schulter zu nehmen. Du behauptest, diese oder jene Lehre erhalten zu haben, aber du verstehst ihre wahre Bedeutung nicht wirklich, du verstehst nur die Theorie. Obwohl du nur wenige Sätze behalten hast, verkündest du die geheimen Lehren lauthals und beginnst, dich als Lehrer aufzuspielen. Wenn du tief­gründigen, echten Lehren begegnest, dann behauptest du nur: »Das kenne ich alles schon«. Aus dieser Haltung kann niemals ein sicheres Verständnis erwachsen. Auf diese Weise gehst du immer am wahren Sinn der Lehren vorbei. Gerade das ist der Dämon.

Um diesen zu überwinden, musst du die erhaltenen Unter­weisungen und die Weisheitslehren immer aufs Neue und von allen Seiten und ohne Vorurteile studieren und beden­ken, bis du wirklich in ihre wahre Bedeutung eintauchst.

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Gerade dieser Dämon scheint in unserer heutigen Zeit sein

Unwesen zu treiben. Im Zuge des New Age gehen manche

Menschen in drei Workshops an drei Wochenenden und bieten

am vierten einen eigenen Workshop im Vertrauen auf ihre

»innere Führung« an. Dabei werden ausgefeilte Methoden und

Systeme, die über Jahrtausende hinweg entwickelt und tradiert

wurden, ohne Zögern einfach verändert und unseren »heutigen

Bedürfnissen« angepasst. Leider stellt sich dabei nur zu häufig

heraus, dass unsere »heutigen Bedürfnisse« vor allem Inkonse­

quenz und Bequemlichkeit sind. Um unserem kurzfristigen

Nutzen zu dienen, werden dabei ganz unbedacht die essentiellen

Punkte einer Lehre oder Methode verkürzt oder ganz weggelas­

sen, ohne die sie nie zum Ziel führen. Dieses Denken ist ähnlich

kurzsichtig wie aus lauter Bequemlichkeit bei einem Auto nie

Motorenöl nachzugießen und dann das rote Warniämpchen mit

Leukoplast zuzukleben, weil es »nervt«.

Besorgniserregender noch ist es, dass viele der heutigen

»Lehrer« und Gruppenleiter von ihren eigenen Lehrern nie

autorisiert wurden und sich häufig sogar nach einem Bruch, der

auf ihrem Mangel an Verständnis beruhte, trennten, um dann

die Lehre zu »verbessern«. Gutgläubige Teilnehmer ihrer Kurse

erhalten dann das Resultat ihres Unverständnisses als »geistige

Führung«. Wer sich dann mit solchem unvollständigen »Kar­

tenmaterial« auf den Weg macht, geht natürlich das Risiko ein,

nie anzukommen oder schlimmer noch, sich böse zu verirren.

Um sicher zu gehen, dass man mündlich erhaltene Unter­

weisungen und die Weisheitslehren der heiligen Schriften wirk­

lich verstanden hat, gibt es mehrere einfache Regeln:

1. Wenn du beim Lesen müde wirst, hast du eine wesentliche

Stelle, die dir unverständlich war, überlesen. Gehe zurück,

bis du die letzte Stelle findest, bei der du wach und klar

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warst. Lies dann langsam weiter, bis du an die Stelle kommst, die dir beim ersten Lesen unverständlich war. Bleibe so lange an dieser Stelle, bis du sie verstehst. Geschieht das Gleiche bei mündlichen Belehrungen, versuche, deine Fragen gleicli klären zu lassen. Stört das den Ablauf, schreibe sie nieder und stelle sicher, dass du später die Gelegenheit zum Fragen hast.

2. Wiederhole die erhaltene Information möglichst genau. 3. Versuche, die Bedeutung innerlich nachzuvollziehen. 4. Stelle dir ein konkretes Beispiel vor. 5. Stelle dir vor, dass alles, was du gelesen oder gehört hast

wahr ist, und stelle dir dann vor, dass alles, was du gelesen oder gehört hast unwahr ist. Stelle dir für beide Möglichkeiten Beispiele vor. Erkenne, dass alle Urteile selbst geschaffen sind!

6. Erkläre, was du verstanden hast, einem spirituellen Freund,

dann entdeckst du, wie tief dein Verständnis wirklich ist. So macht man sich die kostbaren Lehren der Weisheit wirklich ganz zu Eigen.

Wenn dir das gelingt und du schon einige Qualitäten entwickelt hast, taucht schon der nächste Dämon namens »Begehrlichkeit« in der Verkleidung von Gönnern und Schülern auf. Du fühlst dich geschmeichelt, bist in dich seihst verlieht, kommst dir sehr weise vor und denkst, große Reichtümer stünden dir zu. Das hält dich von weiteren Übungen ah und wird zu einem neuen Hindernis auf dem Weg. Das einzige Heilmittel dagegen ist, wenn du in Retreat gehst und dich in die Einsamkeit der Berge zurückziehst. Stelle alle anderen Aktivitäten zugunsten der Erleuchtungs­übungen zurück.

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Der nächste Dämon, der dich angeht, sind die metaphysi­schen Theorien der verschiedenen spirituellen Systeme. Du beginnst in einer gefährlichen Art und Weise, zwischen deinen eigenen Ansichten und denen anderer zu unterschei­den und zu bewerten. Damit verwandelt sich selbst die Wahrheit in Gift. Um das zu verhindern, lass jedes Ver­gleichen und jede Rivalität sein und übe dich darin, ohne Vorurteil den Kern der reinen Wahrheit in allen Systemen zu erkennen.

Da die absolute Wahrheit und die Welt der Dinge nicht wirklich voneinander getrennt sind, ist in jeder Lehre zumindest ein Körnchen Wahrheit. Wenn du dies anzweifelst, rufst du nur Argumente und Widerspruch auf den Plan, auf die du wiederum eingehen und weiterargumentieren »musst«. Ziemlich bald bist du weit weg von jeder eigenen direkten Erfahrung von Wahrheit und nur noch mit toten Meinungen im Verstand identifiziert. Wenn du schon Schüler hast, werden auch die von der Krankheit des dualistischen Denkens angesteckt. Versuche lieber zu erken­nen, wer es ist, der all das wahrnimmt. Welcher Geist unter­scheidet zwischen Richtig und Falsch, mein und dein? Suche diesen Geist und nicht die Unterschiede.

Wenn du in deiner Meditation Fortschritte machst, kann ein neuer Dämon auftauchen, der deine eigenen Erfahrungen anzweifelt und sie in gut oder schlecht unterscheidet. Wenn du auf eine bestimmte Erscheinung des Göttlichen meditierst, indem du deinen Geist mit ihr identifizierst, um ihre Qualitäten einzuüben und ihr Verständnis zu erlangen,

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und du dann zu zweifeln anfängst, wirst du auch die verschiedenen Aspekte Gottes in »gut« und »schlecht« unterscheiden und sie nach ihren Nutzanwendungen be­werten. * Dieses Unterscheiden hingt dich wieder in einen Zustand der Dualität, mit der Versuchung, deine bereits gewonnenen spirituellen Kräfte zu deinem eigenen Nutzen zu verwenden und den Lauf der Dinge durch Rituale und Beschwörungen zu manipulieren, anstatt hingebungsvoll um Erleuchtung zu beten. Damit verfällst du der Magie. Um diesen Dämon, der das Gegenteil von Erleuchtung ist, zu besiegen, erlaube der natürlichen Gewahrheit des Geistes zu erblühen, ohne dich auf Form und Inhalte der Objekte des Bewusstseins zu konzentrieren, und verstärke die heiligen Eide für Kör­per, Sprache und Geist, die zur Erleuchtung führen.

Vielleicht nicht überraschend, verspricht ein Großteil der gän­gigen Systeme und Methoden auf dem spirituellen »Markt« nicht die Erleuchtung, die als zu »abgehoben« abgetan wird, sondern stattdessen die erfolgreichere Manipulation der Lebensumstände. Ob es um Geld, Liebe, Karriere oder auch nur um Parkplatzsorgen geht - alles ist möglich durch »positives Denken«. Das Problem ist jedoch, dass, wer nach gut und böse, begehrenswert und ablehnungswürdig unterscheidet, seinem eigenen Verstand aus­geliefert ist. Je mehr Erfolg er mit dieser Methode hat, umso tiefer verstrickt er sich in ein Netz von Wunschgebilden, ver­deckten Neurosen und Egoprojektionen. Die Grenzlinie zwischen hilfloser Zwanghaftigkeit und Magie wird dann immer fließender.

Denn nicht die Erfüllung aller Wünsche ist das Ziel des Weges, zumal sie in nicht endenwollender Flut über jeden

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hereinfallen, der sie zu befriedigen sucht, sondern innere Freiheit

und Klarheit darüber, wer wir in Wahrheit sind. Hier ist beson­

ders wichtig, alle im Verlauf der Übung entstehenden Kräfte

und Fähigkeiten nur zur Vertiefung der Übung zu verwenden,

um tatsächlich die Erleuchtung zu verwirklichen. Ansonsten ist

es so, als ob wir mit einem gestohlenen Auto auf der Autobahn

falsch fahren - sicherlich spannend, aber letztendlich selbstzer­

störerisch. Nur der erleuchtete Geist kann alle Gesetze erkennen

und wann der Eingriff in den Lauf der Dinge mittels spiritueller

Kraft für das allgemeine Wohl erlaubt ist oder nicht.

Wenn du dich auch von diesem Dämon befreit hast, wirst

du sehr sensibel und kannst die feinstofflichen Kanäle und

das Strömen der Energien und den subtilen Fluss des Atems

in deinem Körper wahrnehmen. Das kann den Dämon

»Abbruch der Übung« herbeirufen. Da du nämlich so

feinfühlig geworden bist, wirst du nicht einmal mehr die

geringste Unbequemlichkeit ertragen und nicht mehr me­

ditieren wollen. Willst du diesen Dämon besiegen, musst

du dich immer wieder daran erinnern, dass es die Natur

der bedingten Existenz ist, leidvoll zu sein.

Gerade die esoterischen oder spirituellen Phänomene, die im

Verlauf konzentrierter Übung auftreten, bereiten ein großes

Problem. Faszinierend wie sie auch sein mögen, sind sie doch

nur indirekte Auswirkungen unserer Absicht, das Absolute zu

erreichen. Man kann die auftretenden Phänomene mit dem

Fahrtwind bei einer Fahrradfahrt vergleichen. Er tritt auf als

Resultat des Fahrens, und wenn du fasziniert anhältst und

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Page 118: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

absteigst, um den Fahrtwind ungestört genießen zu können,

hört der Wind auf und du kommst nicht ans Ziel. Was bleibt,

ist nur die Erinnerung. Gleichermaßen sind die vielen spirituellen

Phänomene, die im Verlauf einer tiefen Praxis entstehen, sozu­

sagen nur ein Nebenprodukt der Reibung unserer Persönlichkeit

mit dem Absoluten. Selbst so faszinierende Phänomene wie das

Erleben der Chakras und femstofflichen Kanäle oder das Sehen

der Aura, sind genau genommen Begleiterscheinungen der Auf­

lösung von unseren psychischen und physischen Unreinheiten.

Wer völlig rein ist, wird keines dieser Phänomene spüren,

sondern nur lichte Klarheit. Deswegen ist es geradezu närrisch,

an ihnen festzukleben. Die wichtigsten dieser Phänomene sind:

Die Wahrnehmung von Aura, Chakren und Energieströmen, das

Gefühl in Vergangenheit und Zukunft sehen zu können, die

Fähigkeit, andere Wesen oder Umstände beeinflussen und. Ge­

danken lesen zu können sowie extreme Feinfühligkeit und

intensive, schwankende Emotionen oder Sinnerfahrung wie

grundlose Trauer oder Zorn, aber auch große Hitze und Kälte,

Schwere oder Leichtigkeit und »innere Filme« voller bunter

Farben. Ebenso sind auch die meisten visionären Zustände sowie

die so genannten »mystischen Klänge« nur Phänomene.

Die Grundübung bei all diesen Phänomenen ist sich zu

fragen: »Wer erfährt dies eigentlich? « oder »Welcher Geist nimmt

das wahr?« anstatt sich durch die schillernden Erfahrungen von

der Übung der eigenen Gewahrheit abhalten zu lassen.

Hast du auch diese Stufe überwunden, wirst du in den

Zustand der »Großen Wonne« gelangen. Hier besteht die

Gefahr, dass ein Dämon in Form von sexueller Energie

über dich kommt. Du empfindest dich selbst als so fortge­

schritten, dass du jenseits von allen Regeln und aller Moral

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Page 119: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

stehst. Daraus folgende unverantwortliche sexuelle Aktivi­

täten werden zu vielen neuen leidvollen Folgen führen.

Schlimmer noch ist es, wenn du dabei Kinder zeugst und

dich dann nicht um sie kümmerst, weil sie deine »geistige

Entwicklung hemmen«.

Wenn du unbeirrt von allen vorher erwähnten Phänomenen

weiter übst, lösen sie sich zusammen mit den Unreinheiten,

deren Folge sie sind, auf, um einer ungeheuren Glückseligkeit

Raum zu schaffen. Diese Glückseligkeit ist ein Aspekt der

universellen Kraft. Es ist die Energie gnostischer Gewahrheit,

die außerhalb des Körpers als die Welt und all ihre Prozesse in

Erscheinung tritt und in unserem Körper als Sexualität wahrge­

nommen wird, wenn sie nicht zur erleuchteten Einsicht genutzt

wird. Wenn du diese Kraft dann als Sexualität auslebst, verlässt

sie deinen Körper während der sexuellen Entladung. Wenn du

aber erkennst, dass diese Kraft universell ist und nur unter

anderem auch die Gestalt von Sexualität annehmen kann, entlädt

sie sich nicht, sondern steigt auf und gibt dir genau die Energie,

die es zur Erleuchtung braucht. Sie hilft dir zu erkennen, dass

das, was in deinem Körper und was außerhalb deines Körpers

ist, nicht zwei sind. Es ist also keine Frage der Moral, sondern

des Energiehaushaltes. Das ist der Hauptgrund, weshalb weltweit

spirituelle Praxis und Zölibat in Verbindung gebracht werden.

Selbst die sehr lebensbejahenden Indianer kennen Zeiten strenger

sexueller Enthaltsamkeit vor und während wichtiger Zeremoni­

en. Grundlegend gilt: Diese Wonne ist Beiprodukt und nicht

Ziel geistiger Übung.

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Page 120: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

Jetzt ist es an der Zeit, den Knoten des Verlangens endgültig

durchzuschneiden.

Verlangen wird deswegen als Knoten bezeichnet, weil es eine

Ablehnung und Verdrehung der Wahrheit ist. Lüsternheit ist

immer ein Resultat von Trennung; Begehren ist der Versuch,

die Illusion der Getrenntheit zu überwinden. Da wir aber schon

längst eins, ganz und vollständig sind, ist die Idee, etwas außer­

halb von uns brauchen zu müssen, eine Illusion. Das heißt auch,

j e stärker wir versuchen, ein illusionäres Bedürfnis zu befriedigen,

desto mehr verstricken wir uns im Wahn der Getrenntheit. Also

nimmt auch das Gefühl der Entfremdung zu, das wiederum

weiteres Begehren auslöst, diese aufzuheben usw. Ein Teufels­

kreis, aus dem es nur ein Entkommen gibt: Gar nicht auf

Entfremdung und Begierden eingehen, sondern einfach beim

bewussten Ein- und Ausatmen bleiben, und sich dabei die Frage

stellen: »Wer fühlt sich getrennt? Wo ist dieses Ich, das sich

getrennt fühlt? Wo ist die Grenze? Woran erkenne ich, was

innen und was außen ist? Ist es zu spüren oder zu sehen? Ist

das, was ich von der Außenwelt spüre, in mir oder außen? Ist

das, was ich sehen kann, tatsächlich außerhalb von mir, oder

befindet sich alles in meinem Bewusstsein?«

Versuche diese Frage durch genaues und sensibles Erfassen

der unmittelbaren Erfahrung zu ergründen und lass davon ab,

die auftretenden Impulse in Handlungen auszuagieren.

Wenn du dich aus diesen Verwirrungen gelöst hast, entsteht

in deiner Meditation eine große Leere, und die Leere seihst

wird zu deinem Gegner. Mit der Behauptung, »nichts exi­

stiert wirklich«, verlierst du jeden Maßstab für ethisches

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Verhalten und relativierst Gutes mit Bösem. Du wirst kein Mitgefühl für die Menschen mehr haben, noch an die Erleuch­tung, die Lehre vom Weg dorthin, oder an diejenigen, die auf diesem Weg sind, glauben. Wenn das geschieht, kultiviere dein ethisches Verhalten und bekenne deine Verfehlungen. Übe dich ausdauernd und hingebungsvoll darin, alle Erschei­nungen als rein zu erkennen, und höre auf, nach positiven Erfahrungen zu greifen. Verstehe, dass die Erfahrung der wahren Leerheit nicht vom großen Mitgefühl getrennt werden kann, denn alles entsteht bedingt auseinander.

Wer die ersten Erleuchtungserfahrungen erlebt hat, erkennt häufig, dass alles schon vollkommen ist, so wie es ist. Daraus entsteht ein Gefühl von großer Freiheit, aber auch Verantwor­tungslosigkeit, ein Gefühl von Ungebundenheit und der Ungül­tigkeit jeglicher Regel kann aufkommen. Dieses Gefühl mag subjektiv stimmen, gilt aber nur in Bezug auf unseren eigenen inneren Zustand. In Bezug zu unserer Außenwelt und unseren Mitmenschen gelten auf alle Fälle andere Maßstäbe. Wenn wir unsere Erkenntnis der inneren Freiheit dazu verschwenden, andere zu verletzen, verletzen wir gleichzeitig unsere Erfahrung von Einheit, die ja die Grundlage der Erkenntnis der Freiheit ist. So verschwindet auch schnell jede anfängliche Erleuchtungs­erfahrung. Tulku Urgyen Rürpoche pflegte zu sagen, man müsse mit der Einsicht auf die Erde kommen und das ethische Verhalten bis zum Himmel steigen lassen.

Aber der Dämon kann auch in Gestalt des Mitgefühls selbst erscheinen. Ohne selbst erleuchtet zu sein, wirst du unge­duldig darauf brennen, anderen zu helfen, und deine eigene

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Erleuchtung zurückstellen. Wenn das geschieht, stelle statt­

dessen deinen Wunsch voreilig zu handeln zurück und

erwecke in dir den Wunsch, den Erleuchtungsgeist zu

entwickeln, was automatisch mehr Mitgefühl mit sich

bringt

Wenn man bemerkt, dass nicht nur man selbst, sondern auch

alle anderen in ihrem Wesen bereits frei sind, aber dennoch

gefangen in ihren dualistischen Illusionen dies nicht wahrneh­

men können, sondern stattdessen leiden, so entsteht tiefes Mit­

gefühl. Wir werden uns bewusst, dass wir nicht voneinander

getrennt sind. So erfahren wir das Leiden der anderen als unser

eigenes, und tiefes Mitgefühl ist die natürliche Folge.

Dieser wertvolle Schritt kann uns aber auch zum Verhängnis

werden, wenn wir vom Mitgefühl motiviert zu helfen versuchen,

ehe unsere Erleuchtungserfahrung stabilisiert und vollendet ist.

Wenn das Ausmaß des Leidens und der Illusion der Menschen,

denen wir helfen, zu groß ist, verlieren wir uns wieder in den

Zustand aus dem wir sie befreien wollten.

Es geht dir wie einer sehr kleinen Wasserschlange, die einen

sehr großen Frosch zu verschlingen versucht. Vielleicht gelingt

es zur Hälfte, aber dann geht es nicht weiter, und da sie noch

fest mit dem Frosch verbunden ist, zieht sie der noch zur Hälfte

freie Frosch dahin, wo er will. Verweile stattdessen bei der

Kontemplation, bis dein Lehrer dich zu lehren beauftragt.

Der nächste Dämon erscheint in der Gestalt einer Vision

deines Lehrers oder der großen Erlöser und spricht falsche

Prophezeiungen aus, wie zum Beispiel: »Geh und erlöse

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Page 123: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

deine Nächsten« oder »Arbeit statt Meditation ist auch eine

Übung«. Wenn sie solche Prophezeiungen aussprechen, ob

im Traum, einer Vision oder als Erscheinung, verschmelze

die tiefste Weisheit deines Herzens mit dieser Vision. Wenn

sie dadurch noch klarer wird, ist es wirklich eine göttliche

Eingebung. Wenn nicht, ist es nur wieder der Dämon, der

dir Hindernisse in den Weg legt. Du solltest auf jeden Fall

selbst zweifelsfrei entscheiden können, was es ist.

Auch bei den Prärie-Indianern Nordamerikas gilt es als unbedingt

nötig, Visionen auf ihre Echtheit hin zu prüfen. Da man so sehr

von ihnen beeindruckt wird, fehlt einem selbst meistens das

klare Entscheidungsvermögen, und man muss sie einem Lehrer

berichten. Außerdem meinen Indianer, dass nur ein Medizin­

mann dir alle darin enthaltenen Erkenntnisse aufschlüsseln kann.

Oft beginnt die wahre Arbeit erst nach der Vision und kann sich

über Monate und Jahre hinziehen, bis man den verborgenen

Keim zum Sprießen gebracht hat.

Selbst Franz von Assisi empfahl seinen Brüdern, wenn ihnen

eine Engelsgestalt erscheine und »himmlische Weisungen« ver­

künde, diese zunächst zu beleidigen, indem man ihr zurufe: »Du

hast Dreck auf der Zunge«. Wenn die Gestalt dann gütig lächle,

wäre es ein Engel, der deine reine Gesinnung kennt; wenn sie

aber wütend würde, wäre es nur ein Dämon. Der schlimmste

Dämon aber liegt darin, dass Visionen wieder einen Anreiz geben,

in die Illusion der Dualität zurückzukehren. Zum einen, weil

die Erscheinung, und der Seher als getrennt gesehen werden,

und zum anderen, weil sich der Empfänger als auserwähit vor

allen anderen Menschen empfindet.

Hier gilt es den Unterschied zwischen Seher, Vision und

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dem Serien selbst zu untersuchen. »Worin liegt er? Wo sind

die Grenzen zwischen dem, was außerhalb ist, und dem, was

sich in mir abbildet? Bin ich getrennt davon? Werde ich

geformt durch das, was ich sehe? Ist es dann auch in mir?«

Dies sind einige der Fragen, die kontemplativ untersucht werden

sollten.

Wenn du auch diesen Dämon überwunden hast, wird dein

nächster Feind in Form von spiritueller Freiheit und Un-

gebundenheit erscheinen. Saufend durch die Dörfer ziehend

wirst du dich wie ein Verrückter benehmen, jeder momen­

tanen Eingehung gehorchend, und dich so außerhalh jeder

Norm bewegen, ohne die Folgen deiner Handlungen zu

bedenken. Wenn dies geschieht, zieh dich wieder einmal in

die Stille zurück und übe dich in der Atembetrachtung, bis

du keinen Unterschied mehr zwischen Glück und Leid,

Gewinn und Verlust oder Lob und Tadel verspürst.

Die Beobachtung des Stroms des Atems ist die einfachste Übung

zur Überwindung jeder Form geistiger Unklarheit, bei Konzen­

trationschwäche und der Empfindung, sich nicht mitteilen zu

können, oder unsicher zu sein, was einen innerlich bewegt.

Der erste Schritt ist, zu bemerken, ob der Atem jetzt gerade

ein- oder ausströmt. Strömt er ein, notiere ich innerlich »steigen«,

strömt er gerade aus, notiere ich »sinken«.

Allein dieser simple Vorgang des Beobachtens, Frkennens

und Benennens trainiert bereits die Konzentrationsfähigkeit und

setzt geistige Klarheit frei.

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Bitte versuche, bevor du weiterliest, eine oder zwei Minuten

lang dies durch eigene Erfahrung zu überprüfen.

Wer völlig konzentriert jedes Ein- und Ausatmen beobachtet,

erkennt und benennt, entwickelt erstaunliche Klarheit und Geis­

tesgegenwart, die jedoch wieder verloren geht, wenn urteilende

Gedanken und reaktive Gefühle unerkannt auftauchen. Verwir­

rung oder Unklarheit herrschen, wenn unbewusste Gefühle oder

Gedanken im Spiel sind.

Was die wenigsten Menschen aus eigener Erfahrung wissen,

ist, dass jeder Sinneseindruck in Bruchteilen von Sekunden nicht

nur wahrgenommen, sondern mit allen früheren ähnlichen Si­

tuationen verglichen und auf dieser Basis beurteilt wird. Da

unser Bewusstsein alles nur gerade jetzt erlebt, ist die unmittel­

bare Erfahrung des Augenblicks gleichzeitig mit einer Vielzahl

von abgerufenen Erinnerungen an frühere Erfahrungen überla­

gert, die in unserem Gehirn als gleichwertige elektrochemische

Impulse ablaufen. Dass die unmittelbare Wahrnehmung der

augenblicklichen Realität auf diese Weise rudimentär und wenig

erfolgreich bleibt, ist offensichtlich. Hinzu kommt, dass die

ständigen Bewertungen und Urteile wegen der blitzartigen Ge­

schwindigkeit, in der sie ablaufen, unbewusst bleiben. Die Er­

innerungen überlagern also nicht nur die Gegenwart und ver­

hindern eine angemessene und wertfreie Reaktion auf die He­

rausforderungen des Augenblicks, sondern führen auch noch zu

Bewertungen, die im Widerspruch zu unseren bewusst erkannten

und formulierten Zielen stehen können. Dadurch entsteht eine

ständige Spannung und innere Zerrissenheit, die die Verwirkli­

chung unserer Ziele hintertreiben und wahres Glück und Erfolg

oft unmöglich machen.

Dieser innere Vorgang erfolgt immer in fünf Schritten. Zu­

nächst kommt die reine, unverstellte Wahrnehmung der Realität.

Ganz unschuldig versuchen wir dann zu erkennen, wie es sich

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Page 126: 4981917 Guru Padmasambhava Die Geheimlehre Tibets

anfühlt,was wir da wahrnehmen. Daraus erwächst die Empfin­

dung von angenehm und unangenehm, die bereits von der

Unmittelbarkeit des Seins trennt. Diese Empfindungen werden

dann die Basis von urteilenden Gedanken. Wobei die Urteile

jede Empfindung in zwei einfachen Kategorien einteilen, die

sich auf Begehren und Ablehnen reduzieren. Diese wiederum

führen zu Gefühlen, die auf drei Grundemotionen zurückzufüh­

ren sind: Begierde nach dem, was wir als angenehm empfinden,

Hass auf das, was wir als unangenehm ablehnen und Verwirrung,

wenn diese Urteile unbewusst und im Widerspruch zu unseren

rationalen Zielen und Plänen sind. Auf dieser Basis erfolgen

dann reaktive oder zwanghafte Handlungen, deren Resultate

unsere Realität formen. Diese Realität wiederum ist es, was wir

wahrnehmen, wodurch sich der Kreis schließt und die unbe-

wussten Urteile und Erinnerungen sich selbst beweisen. So

projizieren wir unsere Vergangenheit auf die Gegenwart und

wundern uns, warum sich Schwierigkeiten immer wiederholen.

Dieser Kreislauf ist jederzeit zu unterbrechen, so beängstigend

automatisch und zwanghaft er auch ist, solange er unbewusst

abläuft. Gerade weil diese Gesetze so mechanisch sind, können

wir sie leicht beeinflussen, wenn sie erst einmal bewusst sind,

während sie uns als überwältigendes Schicksal oder Zwangsläu­

figkeit erscheinen, solange sie unerkannt in uns ihre Kreise

drehen. Die Aufmerksamkeit auf den Atem zu lenken kann

diesen Kreislauf an jeder Stelle unterbrechen und uns damit die

Möglichkeit geben, durch angemessenes Handeln unsere Realität

positiv zu gestalten.

Wenn ich nur ein- und ausatme, und dabei das Steigen und

Sinken des Atems erkenne und benenne, sind die Wahrnehmun­

gen einfach, klar und unverwirrt, und ich tue spontan das

Richtige.

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Fange ich an, vergangenheitsorientierte Gedanken und wi­

dersprüchliche Gefühle zu haben, ist meine Aufmerksamkeit

bereits vom Atem abgelenkt. Wenn es mir gelingt, einfach nur

in der Atembetrachtung zu verweilen, erlebe ich, wie sich Schritt

für Schritt alle unbewussten Urteile und reaktiven Gefühle erst

zeigen, so bewusst werden können und sich dann beim Weiter­

atmen einfach auflösen. Das genügt.

Um es für dich selbst zu erleben, musst du als Erstes mit

einer möglichst aufrechten Wirbelsäule möglichst entspannt

täglich mehrmals 10-20 Minuten mit der Atembetrachtung

verbringen. Wichtig ist, dass du dich nicht anlehnst, da sonst

das Zwerchfell blockiert wird und dein Schwerpunkt vor den

Sitzhöckern Hegt. Da wir uns durch das Sitzen auf Stühlen und

Sesseln ein unnatürliches Zurücklehnen angewöhnt haben, hilft

es, wenn du dich, ein bisschen vorwärts und rückwärts wiegst,

um dann etwas weiter vorne, als du normalerweise sitzen würdest,

zur Ruhe zu kommen, ohne dabei ein Hohlkreuz zu machen.

Das Schambein, das Brustbein und das Kinn sind dabei auf

einer Linie.

Ob du auf einem Stuhl, einem Kissen oder kleinen Hocker

oder auf dem Boden sitzt, ist dabei gleich, solange die Knie beim

Sitzen, nicht höher als die Hüftgelenke sind. Wenn du im

Schneidersitz sitzt, kannst du mehrere zusammengefaltete Dek-

ken oder ein festes Meditationskissen verwenden, um das Becken

zu erhöhen. Beim Sitzen auf einem Stuhl sollten die Fußsohlen

parallel auf dem Boden stehen. Nun kannst du deine Aufmerk­

samkeit ganz auf den Atem lenken.

Versuche, mit jedem Ausatmen den Geist mit fallen zu lassen,

bis du ganz schwer wirst und dich tief gegründet und weit offen

fühlst. Beim Einatmen konzentriere dich auf das spontane Ein­

strömen des Atems, spüre, wie leicht er aufsteigt und wie sich

Nase, Brustraum und Flanken dehnen und weiten und sogar

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der Rücken länger zu werden scheint. Lass diese Bewegung ganz

von selber aufhören ohne sie zu verlängern oder zu vertiefen.

Wenn deine Konzentration gut ist und du dir deutlich

bewusst bist, wann du ein- und wann du ausatmest, kannst du

deine Aufmerksamkeit auch auf die Länge der Atemzüge richten,

ohne sie zu verändern. Nimm einfach wahr, ob sie kurz oder

lang, schnell oder langsam, tief oder flach sind. Gelingt dir dies,

kannst du langsam merken, wie dein Gewahrsein immer größer

wird und gewissermaßen auf dem Atem »reitet«. Schritt für

Schritt gelingt es dir so, dir deines ganzen Körpers von innen

gewahr zu werden.

Dann merkst du, wie sich im Körper immer mehr Ruhe,

Wohlbefinden und Gelassenheit ausbreiten. Wenn du dies bereits

eine Zeit lang aufrechterhalten kannst, ist die Grundlage ge­

schaffen, die ständigen Aktivitäten deines Geistes überhaupt erst

wahrzunehmen. Der oben beschriebene ständige Ablauf von

Wahrnehmungen, Empfindungen, Urteilen und Reaktionen fin­

det nämlich so schnell statt, dass wir ihn nur in einem Zustand

von entspannter Wachheit bemerken. Dies führt dazu, dass du

dich Schritt für Schritt von diesen letztendlich unbefriedigenden

Automatismen loslöst.

Gelingt dies schon ganz gut, breitet sich auch im Geist eine

heitere Zufriedenheit und innere Ruhe aus. Aus dem Hamsterrad

der automatischen Reaktionen befreit, gewinnt der Geist die ihm

innewohnende, wache Klarheit zurück und befreit sich nun

Schritt für Schritt von selbst aus allen inneren Verstrickungen.

Wie ein verheddertes Fischernetz, ins Wasser geworfen, sich

selbst entwirrt, so entspannt sich der Geist nun mit jeder neuen

Welle des Atems tiefer in seine erleuchtete Weite.

Mit wachsender Konzentration ist es möglich, ein- bis zweimal

am Tag eine halbe Stunde lang zu üben. Dann gelingt es auch

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in alltäglichen Situationen, wann immer die Konzentration

schwindet oder die Herausforderungen zu überwältigen drohen,

die Aufmerksamkeit reflexartig aufs Atmen zu richten, während

man seine Tätigkeiten fortführt. Dabei stellt sich schon nach

wenigen Atemzügen ein Gefühl innerer Befreiung ein. Probleme

kehren in die richtigen Proportionen zurück und durch den

gewonnenen Abstand und Überblick lassen sie sich erstaunlich

einfach lösen.

Wer in der Gegenwärtigkeit reiner Gewahrheit im Rhythmus

des sinkenden und steigenden Atems verweilt, ist tatsächlich

befreit davon, das eigene Sein in Erfahrungen von Glücklich-

und Unglücklichsein, gewinnen und verlieren, beliebt oder be­

deutungslos zu sein, anerkannt und abgelehnt zu werden, auf­

zuspalten.

Von den möglichen Zugängen, die Funktionsweise des Geis­

tes zu erkennen und die Entstehungskette aller verwirrten Ge­

danken und. Handlungen an der Wurzel aufzulösen, ist die

Beobachtung des Atems der unmittelbarste und am einfachsten

zugängliche.

Buddha Shakyamuni sagt im Anapanasati Sutta, dass die

Kontemplation über den Atem auf direktestem Wege zur Er­

leuchtung führt. Dies können auch wir nachvollziehen, wenn

wir bedenken, dass in allen alten Traditionen Atem und Geist

identisch sind, was sich etymologisch in dem lateinischen Wort

»spiritus« und dem griechischen »pneuma« zeigt. Das Sanskrit­

wort »Prana« und das tibetische »Lung« heißen sowohl Atem

oder Wind als auch psychische Energie oder geistige Kraft.

Wenn wir Vorgänge im Geist nicht klar erkennen, wird auch

der Atemrhythmus unregelmäßig; zum Beispiel halten wir den

Atem an, wenn wir etwas im Geist nicht wahrnehmen wollen.

Durch feine Regelkreisläufe führt jede Veränderung im einen zu

Reaktionen im anderen.

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Deswegen hat, wer befreit atmet, auch einen freien Geist.

Sobald wir anfangen, bewusst jedes Ein- und Ausatmen wahr­

zunehmen und zu benennen, fallen alle Projektionen in den

Urgrund des klaren Geistes zurück wie die Fontäne eines Spring­

brunnens, wenn das Wasser abgestellt wird. Mit jedem Ein- und

Ausatmen wird der Geist klarer und weiter. Freude, Kreativität

und tatkräftiges Mitgefühl sind die natürliche Folge dieser »In­

spiration« .

Zuletzt kann man sagen: Solange du die vollkommene

Befreiung nicht erreicht hast, werden Hindernisse und

Dämonen in endloser Reihenfolge auftauchen. Wenn du

dich jedoch mit der festen Absicht, bis zur Vollendung

weiterzumachen, deinen Übungen widmest, können dich

kein Hindernis und kein Dämon in deiner Praxis stören.

Sofort nachdem Guru Rinpoche mit dem Sprechen aufgehört

hatte, setzten sich alle fünger und schrieben seine Worte

nieder, welche der Meister dann weihte und als »Schätze«

verbergen ließ.

Kurzum ist jede Errungenschaft ein Hindernis, wenn wir darauf

stolz sind und dabei zu verweilen versuchen. Der Weg ist ohne

Ende und muss jeden Augenblick neu begonnen werden. Au­

ßerdem gibt es bei jeder Stufe des Fortschritts zwei inhärente

Feinde, die uns in der Freude über den Erfolg leicht überwältigen

können. So werden z.B. bei den von Shakyamuni Buddha be­

schriebenen »göttlichen Verweilungen« jeweils ein ferner und

ein naher Feind genannt.

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Der ferne Feind der allumfassenden Liebe ist Hass, der nahe

Feind ist die persönliche, anhaftende Liehe.

Der ferne Feind von Mitgefühl ist Grausamkeit, der nahe

Feind ist falsches, berechnendes Mitleid.

Der Mitfreude entgegengesetzt ist der Neid, der nahe Feind

ist die Schmeichelei.

Der ferne Feind des Gleichmuts ist die Aufgeregtheit, leicht

zu verwechseln mit dem Gleichmut jedoch ist die Gleichgültig­

keit.

Der vortrefflichste Weg, mühelos Fortschritt zu verzeichnen

und nicht an vergangenen Erfahrungen hängen zu bleiben, ist

der, alle Errungenschaften, Einsichten und Erfolge am Ende

jeder Meditationssitzung, jeden Gebetes und jeder guten Tat

dem Wohlergehen aller Wesen zu widmen und sich und ihnen

allen zu geloben, weiterzuüben bis wir allesamt die vollendete

Erleuchtung verwirklicht haben!

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Yeshe Tsogyal, Prinzessin von Kharchen, einem der sieben tibetischen Für­stentümer, wurde von König Trisong Detsen zunächst geheiratet, aber dann als Würdigung seiner Verdienste dem Padmasambhava zur Seite gestellt. Unter seiner Leitung erlangt sie Erleuchtung und gilt den Tibetern bis heute als weiblicher Buddha und Verkörperung der weiblichen Erleuchtungsenergie.

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FRAGEN

ZUR GEHEIMLEHRE

i. 1 achdem dies geschehen war, fingen Nyong Wen Tingzin Zangpo und die Prinzessin Yeshe Tsogyal an, dem großen Meister ihre Fragen zu stellen:

Es heißt, von dem Moment an, in dem man die geheime Unterweisung zur Erleuchtung erhält, solle man in seinem Herzen nur noch seinem Lehrer vertrauen. Was sind dann die Qualitäten eines echten Lehrers, aufweiche Weise kann man sich ihm anvertrauen und was darf man sich erhoffen?

Das Lüften der letzten Schleier vor der Erleuchtung bringt sehr viel Verwirrung mit sich. Nicht weil die Erleuchtung kompliziert wäre - sie ist die Einfachheit selbst -, sondern weil unser Verstand ein kunstvolles Gespinst um die Wahrheit gelegt hat. Diese letzten Unterweisungen, sind nicht deshalb geheim, weil keiner das Geheimnis der Wahrheit erfahren dürfte - diese ist immer offenbar -, sondern weil der Verstand seine letzte verzweifelte Abwehrschlacht vor der Enthüllung der Wahrheit schlägt. Wäre jeder Schritt schon bekannt, wäre der Verstand schon im Vor­hinein in der Lage, zynisch alles zu verneinen. Im Übrigen hat

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das Absolute weder eine Eingangstür noch eine Brücke von hier

nach dort. Den Abgrund überwindet man nur, wenn sich einen

Augenblick lang alles Bekannte und Gewusste auflöst. Dies zu

tun ist die wesentliche Aufgabe des Meisters und ist nur aus

dem jeweils einmaligen und unwiederholbaren Kontakt von

Lehrer und Schüler im Augenblick möglich.

Das banalste Wort kann an der richtigen Stelle die Schleier

der Illusion vernichten, und die größte Weisheit kann unpassend

geäußert auf taube Ohren stoßen. Die überlieferten initiatischen

Dialoge zwischen Meister und Schüler sind heute als Köans, d.h.

Zweifel oder Rätsel, bekannt. Den Zen-Meister Tozan fragt

jemand nach der höchsten Weisheit, während er die Ernte wog.

Er antwortete knapp: »3 Pfund Flachs«.

Dem großen tibetischen Meister Gampopa - Milarepas engs­

tem Schüler ~~ berichtete ein Schüler seine neuesten »Erleuch­

tungserfahrungen«. Gampopa hörte ungerührt zu, während er

weiterhin Brotteig knetete. Als der Schüler geendet hatte, sagte

Gampopa ruhig: »Alle deine meditativen Erkenntnisse sind nicht

mehr wert als dieser Teig in meiner Hand.« Dem Schüler brach

Schweiß aus allen Poren. Schlagartig wurde er erleuchtet!

Offensichtlich konnten das besondere Vertrauen des Schülers,

seine große Begeisterung über seine »Erfahrungen« und Gampopas

Weisheitsgeist, der exakt den Fehler in den geistigen Konstruktio­

nen des Schülers durchschaute, zusammen eine Atmosphäre von

Echtheit, Offenheit und Zielgerichtetheit aufbauen, die tatsächlich

zum Durchbruch führte. Die Anekdote jedenfalls bewirkt das nicht

automatisch, sonst wären wir jetzt auch erleuchtet.

Die gleiche Erfahrung ist aber in einer ähnlich intensiven

und ausgerichteten Atmosphäre im ganz persönlichen Kontakt

auch heute vermittelbar. Deshalb muss das, was in diesen

Begegnungen an Unterweisungen gegeben wird, vertraulich blei­

ben, um anderen Weggefährten nicht die Chancen zu nehmen.

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Geheimhaltung der innersten Anweisungen hat deshalb höchste Priorität im tibetischen Buddhismus und dem indiani­schen Weg.

Um dem Schüler zu helfen, muss der Lehrer Worte und Wege finden, die exakt dem spezifischen »Verschleierungsstil« des Schülers angemessen sind. Was mit Seide verhüllt ist, muss nur enthüllt werden, was mit Papier verklebt ist, muss gewaschen oder verbrannt werden. Wenn es aber mit Beton verschalt ist, sind auch Feuer und Wasser nutzlos. Hier ist Sprengstoff von-nöten. Und manch einer muss nur in die richtige Richtung gedreht werden, so dass er sehen kann. Für wen auch immer die Anweisungen nicht gelten, der wird keinen Nutzen aus ihnen ziehen können oder er wird sich sogar Schaden zufügen, wenn zum Beispiel ein »Seidentyp« die geheimen Unterweisungen für Betonköpfe versucht und Sprengstoff nimmt. So müssen also diese Unterweisungen geheim bleiben und dürfen weder vergli­chen noch geändert werden. Das ist die Essenz von Vertrauen.

Der Meister antwortete: Die Qualitäten eines echten Lehrers sind vielfältig. Die wesentlichen Punkte sind: Er sollte die wichtigsten Schriften gemeistert haben, zusammen mit den geheimen mündlichen Erläuterungen; er sollte eine gründliche Erfahrung in der Übung der Meditation haben. Er sollte genau wissen, was jeweils die richtige Methode für jeden Schüler zur richtigen Zeit ist; er sollte von Mitgefühl durchdrungen sein und unbeschränkte Weisheit besitzen; er sollte durch sein großes Vertrauen selbst die höchste Wahrheit erkannt haben. Wenn du dich auf einen solchen Lehrer verlässt, wird er wie ein wunscherfüllender Edelstein sein und dir die Ver­wirklichung all deiner Ziele ermöglichen. Jedoch, wenn du

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anfänglich versäumst, den Segen für deine Übung durch

die Initiation zu erhalten und du dann die Eide, die dich

mit deinem Lehrer verhinden, nicht hältst, kommst du nie

zur wahren Erleuchtung. Die Initiation zerreißt die Schleier

geistiger Verdunkelung und erfüllt dich mit dem Segen und

der spirituellen Ermächtigung, die entsprechende Übung

auszuführen. Sie ist zusammen mit den heiligen Eiden, die

dich an die Erleuchtung binden, von äußerster Wichtigkeit.

Das Wichtigste an einem Lehrer ist nicht so sehr, ob er unseren

Vorstellungen entspricht, sondern ob er den Mut hat, uns Schritt

für Schritt alle Illusionen, die wir hegen, vor Augen zu halten,

und ob er genug Konsequenz und Ausdauer besitzt, uns nicht

auf irgendwelchen Zwischenstufen verweilen zu lassen, sondern

uns zur endgültigen Befreiung führt. Der große Meister Atisha

hat gesagt, dass der Lehrer am besten sei, der die verborgenen

Fehler des Schülers ans Tageslicht bringt.

Was für uns moderne Mitteleuropäer, die lebendige Erfahrung

suchen, vielleicht befremdlich klingt, ist die Betonung von Ge­

lehrtheit und umfangreichem Wissen. In vielen alten Traditionen,

die die Jahrtausende überlebt haben, wird immer wieder betont,

dass ein Lehrer, dem zwar die eigene Erfahrung fehlt, der aber

alle Theorie verstanden hat, dich weiter führen kann - voraus­

gesetzt, du selbst suchst unbedingt die Erleuchtung - als ein

Lehrer, der wohl tiefe Erfahrungen hat, aber keine Ahnung von

ihrer Bedeutung und Anwendbarkeit. Andererseits sind schon oft

große Gelehrte, die der eigenen Erfahrung entbehrten, durch

einen Analphabeten, der die Wahrheit intuitiv erkannt hat, zur

Erleuchtung geführt worden - was auch die Frage nahe legt, ob

ihr vorheriges Studium sie nicht doch darauf »vorbereitet« hat.

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Amitayus, tib. Tsepame, der Langlebensbuddha.

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DAS GÖTTLICHE

IN UNS

Ä^J^arauf stellten sie die zweite Frage :

Was ist wichtiger: der Lehrer oder der Aspekt des Göttlichen,

der Yidam, in dessen Meditation dich dein Lehrer initiiert

hat?

Diese Frage ist eine Trickfrage des dualistischen Verstandes!

Kurz gesagt ist der Yidam in Essenz der eigene Lehrer, der die

absolute Wahrheit in der Form einer Meditationsgottheit dar­

stellt, deren spezifische Eigenschaften exakt darauf abzielen, das

einzigartige Potential des Schülers zu befreien. Ist die Meditation

wichtiger als der Lehrer, so kann der Schüler jederzeit sagen:

»Meine Erfahrungen sind jetzt tiefer als deine-«, und sich für

überlegen halten. Jeglicher Form der Irreführung durch den

Ehrgeiz des Verstandes ist damit Tür und Tor geöffnet, denn

wie Guru Rinpoche gerade ausführte, ist das heilige Band zwi­

schen Lehrer und Schüler die Quelle der Erkenntnis. Die Praxis

der Visualisation, die so genannte Yidam-Meditation, ist die

Identifikation unseres Geistes mit einem archetypischen Aspekt

des Göttlichen. Da die Natur unseres Geistes mit diesem Yidam

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in Wahrheit identisch ist, können die Übenden durch diese

Projektion einen Aspekt ihrer wahren Natur konkret und be­

greifbar machen, der sich sonst dem alltäglichen Bewusstsein

entzieht. Wenn am Ende der Visualisation die Projektion wieder

zurückgenommen wird, indem die Gestalt des Yidam sich in

Licht auflöst, mit dem der Übende verschmilzt, kann er diesen

Aspekt seiner wahren Natur nun auch bewusst integrieren. Der

erste Schritt jedoch ist die Initiation durch den Lehrer, die die

Natur des Göttlichen zur erlebten Wirklichkeit macht, ohne die

die Praxis der Visualisation nichts anderes als mentale Gymnastik

ist, deren Bilder nicht mehr bedeuten als das Flimmern des

Fernsehers. Insofern ist das, was an dem Yidam als göttlich

erfahren wird, die erleuchtete Dimension des Bewusstseins, der

der Schüler bei der Übertragung teilhaftig geworden ist. Der

visualisierte Aspekt des Göttlichen ist also ein Symbol für das,

was in uns selbst schon immer heilig, gut und rein war, und

andererseits ist das, was am Yidam »wirkt« also der erleuchtete

Geist des Lehrers, der im Lauf der Übung als essentiell gleich

mit der Natur des eigenen Geistes erkannt wird.

Wieder antwortete der Meister:

»Der Lehrer und die Meditation sind letztendlich gleich

~~ aber es ist der Lehrer, der dir zuerst die Natur des

Göttlichen offenbart und dich dadurch in die Meditation

initiiert hat. Wenn du dir vorstellst, dass der Lehrer über

deinem Kopf schwebend immer bei dir ist, werden wahre

Segensströme durch dich hindurchfließen und alle Hin­

dernisse wegspülen.

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Der Lehrer sollte die Meditation, die er lehrt, bis zu ihrem Ende

geübt und Erleuchtung erfahren haben. Dann sind der Lehrer,

die Methode und das Absolute eins. Deshalb sagen viele Tradi-

tionen: »Wenn du dir allein den Lehrer mit Liebe vorstellst, so

hast du bereits das Absolute, den Weg und seine Vollendung in

dir.« In tibetischen Traditionen wird deshalb vorgeschlagen, sich

vorzustellen, dass der Lehrer über dem eigenen Kopf schwebt.

»Betrachte deinen Lehrer als Diadem auf deinem Haupt, und

alle Errungenschaften geistiger und weltlicher Art, fliegen dir

spontan und mühelos zu«, sagte wiederholt S.H. Dilgo Khyentse.

In der Alten Schule Tibets gilt dies als die wirkungsvollste aller

Meditationen, und sie wird zumindest kurz vor dem Beginn

jeder anderen Übung durchgeführt. Dabei stellt man sich auch

gerne vor, dass der eigene Lehrer mit dem archetypischen Meister

- Padmasambhava in dieser Tradition - eins sei. Von ihm fließen

wie aus einer Quelle Segnungen und Heilung in unseren Scheitel.

Sie waschen alle alten, verletzten Erinnerungen und zwanghaften

Muster aus unserem. System aus. Sie werden in der eigenen

Vorstellung durch die Poren und andere Körperöffnungen als

teerig schwarze oder eitrige Flüssigkeit ausgeschieden. Dann

heilt uns der nektargleiche Segensstrom, indem er uns bis zum

Scheitel ausfüllt und mit Wonne und Klarheit erfüllt.

Dann stellten sie die dritte Frage:

Ist die Meditation über einen visualisierten Aspekt des

Göttlichen eine Schöpfung des eigenen Geistes, und warum

gibt es verschiedene Objekte der Meditation?

Guru Padma antwortete:

Zunächst musst du dir ein Objekt deiner Meditation aus­

wählen, das dir als Inbild des Absoluten gilt, und dabei

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bleiben. Dann werden dir alle anderen Früchte von selbst zufallen, wenn du dich ganz darauf einlässt. Wenn du kein Objekt der Meditation hast, hast du auch nichts, was dich aus dem gewöhnlichen Zustand der Verstrickung heraus­führt, in dem du alle Wahrnehmungen in innen und außen, gut und schlecht, angenehm und unangenehm aufspaltest. Um die unterschiedlichsten Menschen anzusprechen und zu ändern, muss es auch eine Vielfalt von verschiedenen Methoden und Meditationsgottheiten geben. Da im Bereich des Absoluten alles aus dem gleichen Stoffe ist, genügt es, sich auf eine Meditation zu konzentrieren. Sie bringen zwar alle verschiedenen Aspekte zu Tage, tatsächlich aber macht es keinen Unterschied, ob du eine oder mehrere übst. Wenn du durch eine Methode die Einheit und die damit verbun­denen wunderbaren Kräfte verwirklicht hast, hast du auch alle anderen Meditationen und den göttlichen Aspekt, den sie zu verwirklichen versuchen, verstanden. Wenn du er­kennst, dass du und das Objekt deiner Meditation eins sind und du dann noch einsiehst, dass das Objekt nicht nur ein Aspekt des Göttlichen, sondern das ungeschaffene Absolute selbst ist, dann kommst du der Essenz des Göttlichen schon sehr nahe.

Es ist jedoch ein schwerer Fehler, wenn du dir das Bild des Göttlichen so weit außerhalb von dir erschaffst, dass du immer wieder in der Gewohnheit, an dualistischen Subjekt-Objekt-Beziehungen festzuhalten, bestärkt wirst. Damit entstehen wieder Vorlieben und Abneigungen, und du bleibst weiterhin gefangen im steten Wechsel deiner Bewertungen. Dies ist ein schwer wiegender Fehler. Eine Übung bis zum Ende zu machen heißt zum einzigen Ziel aller Übungen zu gelangen. Alle Erleuchteten, die in der Wonne des Absoluten aufgegangen sind, sind eins, auch

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wenn sie sich in verschiedenen Erscheinungsformen und

geistigen Familien zeigen.

Wenn du dies erkennst, wirst du großen Segen erfahren,

wenn du auf alle heiligen Erleuchteten und göttlichen

Erscheinungen meditierst; aber größer noch ist der Segen,

auf einen allein zu meditieren.

Dies ist eine der wichtigsten tibetischen Praktiken: Die Visuali-

sation eines göttlichen Aspektes oder eines Buddhas, für die man

durch Einweihung ermächtigt wurde, dem man die entsprechen­

den Mantras und Gebete widmet. Am Schluss der Übung löst

sich das visualisierte Objekt in das strahlende Leuchten des

Absoluten auf und wir stellen uns vor, mit ihm im Absoluten

jenseits von Begrifflichkeit zu verschmelzen. Dann verweilen wir

in diesem Zustand, bis er sich wieder verflüchtigt und das

Alltagsbewusstsein wieder einsetzt.

Alle gewonnenen Einsichten, Segnungen und Glücksmomen­

te widmen wir allen Wesen. Übrigens ist diese Visualisation

auch für jeden Christen möglich, denn jeder getaufte Christ hat

diese Ermächtigung bereits für Jesus als Meditationsobjekt er­

halten. Aussagen Jesu wie: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und

das Leben«, zeigen, dass diese Übung im Orient allgemein

bekannt war und von allen Religionen gepflegt wurde. Dies gilt

unabhängig von der laufenden Diskussion, ob Jesus in den

»verlorenen Jahren« ein buddhistisches Training durchlief oder

nicht.

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DER TANTRISCHE WEG DER

VISUALISIERUNG

f # eiterhin stellten sie die vierte Frage: Wenn man einen hohen Grad an Einsicht hat, kommt man dann ohne ein Objekt der Meditation aus?

Der Meister antwortete: Wenn du die völlige Gewissheit in der vollkommenen reinen Einsicht, alle Phänomene als Erscheinungen des Geistes zu sehen, erreicht hast, ist das an sich schon das Göttliche. Die untrennbare Einheit von Meditationsgottheit und er­leuchteter Einsicht bedeutet nämlich, den Aspekt des Gött­lichen, über den du meditierst, nicht als Form zu verstehen, sondern zu erkennen, dass er selbst schon das ungeschaffene Absolute ist.

Dann stellten sie die fünfte Frage: Ist es nicht ungehörig, wenn wir, wie es im geheimen tantrischen Weg geschieht, über die vielarmigen und mehr-köpfigen rasenden Buddhas meditieren, die wir so visuali-sieren sollen, dass sie sogar Brahma und die anderen Hüter der Himmelsrichtungen unter ihren Füßen zertrampeln?

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Gyalwa Chokyang konnte durch die tantrische Praxis des Hayagriva einen Pferdekopf aus seinem Scheitel wachsen lassen wie die Gottheit des Mandalas selbst.

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Guru Rinpoche antwortete: Diese Visualisation ist nur ein Symbol für die Aufgabe aller Anhaftungen an die Unterscheidung zwischen Selbst und anderen, ebenso dafür, wie die dualistschen Gedanken im Raum des Absoluten niedergetrampelt werden, und für die Vernichtung von Arroganz und Zweifeln, Was dergestalt als Fundament der rasenden Gottheit unterlegt wird, ist der gewöhnliche Geist, der nichts anderes als ein einziger, eingefrorener und undurchsichtiger Irrtum ist. Darüber hinaus haben alle Attribute der Meditationsgott­heit, wie Arme und Köpfe, symbolische Bedeutung. Drei Köpfe bedeuten z- B. die drei Kayas, sechs Arme bedeuten die sechs Paramitas, und vier Beine sind gleich den vier Unermesslichkeiten. Die Vielfalt der symbolischen Objekte, die sie tragen, zeigt die mannigfachen Aspekte des Buddhadharma; jedes Objekt steht für eine der Qualitäten des erleuchteten Geistes. Vor allem aber darf man die visualisierten Buddhas nicht für berührbare Körper halten. Wenn sie nur ein Gesicht und zwei ineinander ruhende Hände haben, steht dies für das eine unwandelbare Absolute und die darin enthaltene Vereinigung von Weisheit und geschickten Mitteln, die allen Wesen die Erlösung bringt. Zwei Beine repräsentieren die Untrennbarkeit von Raum und Gewahrheit. Worüber du auch immer meditierst, jeder Aspekt ist Ausdruck des Absoluten, das alle Gegensätze von klein oder groß, gut oder böse überwindet. Einige tantrische Gottheiten werden tierköpfig dargestellt. Auch dies ist nur ein Hinweis auf die Vielfältigkeit ihrer Qualitäten, denn jedes Tier symbolisiert einen bestimmten Charakterzug. Sie werden auch als Kreuzungen oder Hy­bride bezeichnet, denn sie werden von den in sexueller Vereinigung dargestellten männlichen und weiblichen

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Buddhas als »Fresser und Zerstörer von Hindernissen« ausgestrahlt. Deshalb werden sie auch Legierung oder Intarsie genannt, denn, wie eine Intarsienarbeit aus Gold und Silber werden sie aus dem Mitgefühl des Vaters ~~ den Mitteln und Methoden - und der Weisheit der Mutter -der Erkenntnis, dass alles ohne ein getrenntes Ich ist -zusammengesetzt. Nur zum Wohle aller Wesen mit ihren vielfältigen Bedürf­nissen und unterschiedlichen Anlagen erscheinen all diese Aspekte des ungeborenen Absoluten in jeder erdenklichen Form, von jedem Geschlecht und mit Attributen, Ornamen­ten und Gefolge, wie es den Glaubensvorstellungen des jeweils Übenden entspricht.

Diese Ausführungen sind für die Initiierten des Vajrayana, des geheimen tantrischen Weges im tibetischen Buddhismus be­stimmt.

Im esoterischen Buddhismus gibt es eine Unzahl von Me­thoden, Meditationen und Visualisationen, die dabei helfen, in jedem unheilsamen, verdrängten oder neurotischen Teil des Geistes den gesunden Kern freizulegen, und die darin gebundene geistige Energie dem Erleuchtungsweg zur Verfügung zu stellen. Deshalb wird er auch als »Pfad der Transformation« bezeichnet. Er gilt jedoch als äußerst gefährlich und darf nur mit größter Disziplin und Achtsamkeit und unter der Anleitung eines er­leuchteten Meisters begangen werden. Die populären Tantra-Workshops sind nach tibetischer Ansicht das beste Beispiel für die Fehler, die sonst entstehen. Der esoterische Buddhismus hat ein System hoch konzentrierter Symbole für sehr komplexe Konzepte und tiefer geistiger Zustände entwickelt. So sind die drei Kayas die drei Aspekte vollkommener Buddhaschaft:

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Der Dharmakaya ist das ungeschaffene, von Ego freie und

von Eigenschaften leere Absolute, ähnlich wie Meister Eckharts

»wüster Gott«. Der Samboghakaya ist leuchtende Klarheit, die

unbehindert und spontan alles erkennt, und wird auch als

himmlischer oder visionärer Körper bezeichnet. Er entspricht

dem verklärten Erscheinen Christi nach seiner Wiederauferste­

hung. Der Nirmanakaya ist die Energie der Buddhaschaft. Sie

ist immer Mitgefühl, das sich in Form jedes Weltenlehreres,

Buddhas, Erlösers und Erleuchteten als Fleisch gewordener Logos

manifestiert. Dieses Allerbarmen verkörpert sich so oft und so

vielfältig wie nötig, bis jedes Wesen erlöst ist. Jesus als Men­

schensohn ist die christliche Ausformung.

Die sechs Paramitas sind die sechs transzendentalen Vervoll­

kommnungen: Großzügigkeit, Disziplin, Geduld, Beharrlichkeit,

Konzentration und Weisheit. Transzendent heißen sie deshalb,

weil nur der sie vervollkommnen kann, der die Leerheit von

Ego erkannt hat. Wer sich in diesen sechs Vollkommenheiten

geübt hat, wird zum Bodhisattva, einem Wesen, das gelobt hat,

so lange zu üben, bis es fähig ist, alle Wesen, mit denen es in

Berührung kommt, zu erretten!

Die vier Unermesslichkeiten sind: Liebende Güte, Mitgefühl,

Mitfreude am Glück anderer und Gleichmut.

Die in Vereinigung meditierenden männlichen und weibli­

chen Buddhas werden auf tibetisch »Yab-Yum« genannt, was

»Vater-Mutter« heißt. Sie symbolisieren nicht nur die Aufhebung

der Dualität von Geist und Materie, Absolutem und Relativem,

sondern auch die zwei Aspekte des buddhistischen Weges: Die

Vielfalt geschickter Mittel von Meditation bis Rezitation und die

alles durchdringende Einsicht höchster Weisheit, die erkennt,

dass alles aus allem anderen entsteht und so nirgendwo ein

separates Selbst ausgemacht werden kann.

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STUFEN UND PFADE

DES BUDDHISTISCHEN

WEGES

ann stellten die Schüler die sechste Frage: Wn sprechen von neun aufeinander folgenden Stufen oder Pfaden. Entsprechen diese den Anlagen der verschiedenen Wesen?

Guru Rinpoche antwortete: Als Erstes gibt es den weltlichen Pfad der Götter und Menschen. Seine Übung beinhaltet, sich die zehn heilsamen Handlungen zu Eigen zu machen und die zehn unheilsamen abzulegen.

Dann kommt der Pfad der Hörer - der Sravakas -, die über die vier edlen Wahrheiten meditieren und, da die monastische Gemeinschaft die Grundlage des Buddhadhar-ma ist, auch die 253 Regeln der ordinierten Mönche — die Vinaya - einhalten, und zwar so sorgfältig, als ob sie ihr Augenlicht hüteten.

Es folgt der Pfad der Pratyekahuddhas, die für sich allein in Höhlen die Erleuchtung suchen, indem sie die »Zwölf Glieder der Kette des bedingten Entstehens« kontemplieren.

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Die zehn unheilsamen Handlungen sind:

1. Leben nehmen

2. Nehmen, was nicht gegeben ist

3. Um sexueller Befriedigung willen sich oder anderen schaden

4. Lügen

5. Zwietracht säen

6. Harte Worte sagen

7. Wertloses Geschwätz

8. Begehrlichkeit

9. Böswilligkeit und Schadenfreude

10. Falsche Sichtweisen - insbesondere nicht an die Vergäng­

lichkeit, das Gesetz des Karmas und die Möglichkeit der

Erleuchtung zu glauben -

wobei 1. und 10. als die schlimmsten Verfehlungen ange­

sehen werden.

Die zehn heilsamen Handlungen zu begehen heißt zunächst,

Zuflucht zu einem autorisierten Lehrer zu nehmen, wobei allen

unheilsamen Handlungen entsagt wird, und sich darüber hinaus

der zehn positiven Gegengifte zu bedienen, als da sind:

1. Leben schützen

2. Großzügig sein

3. Diziplin, andere wichtiger zu nehmen als sich selbst

4. Die Wahrheit sagen

5. Streitigkeiten schlichten

6. Freundliche und sanfte Rede

7. Beten und wahre Worte sprechen

8. Teilen lernen

9. Anderen helfen

10. Die wahre Sicht der Dinge in sich verankern.

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Die vier edlen Wahrheiten sind:

1. Die Wahrheit vom Leiden, das alle relativen Erfahrungen

durchdringt, • *

2. die Wahrheit von der Entstehung des Leidens durch das

Gesetz von Ursache und Wirkung,

3. die Wahrheit von der Aufhebung des Leidens,

4. die Wahrheit vom Weg, der das Leid beendet.

Der Weg, der das Leiden beendet, ist der so genannte achtfache

Pfad, der aus rechter Einsicht, rechter Entscheidung, rechter

Rede, rechtem Handeln, rechtem Lebenserwerb, rechtem Bemü­

hen, rechter Achtsamkeit und, schließlich, rechter Sammlung

in den vier Stufen der Meditation besteht.

Die Lehre von den »zwölf Gliedern der Kette des bedingten

Entstehens« erklärt, wie sich die Lebewesen in der leidvollen,

relativen Wirklichkeit verstricken.

Das erste Glied ist das Nichterkennen der vier edlen Wahr­

heiten.

Aus dieser Unwissenheit über unsere wahre Natur entstehen

als zweites Glied Tatabsichten, die jeder körperlichen, geistigen

oder sprachlichen Tat vorausgehen.

Diese Absichten werden gespeichert und formen als drittes

Glied das Bewusstsein für das nächste Leben jedes fühlenden

Wesens.

Dieses Bewusstsein wird nach seinem Tod von einem Mut­

terschoß angezogen, dessen Qualitäten mit den Mustern seiner

früheren Tatabsichten resonieren. Als viertes Glied entsteht dann

im Mutterschoß eine neue Form mit einem neuen Namen.

Das fünfte Glied sind die sechs Bereiche der Sinnesorgane.

Es handelt sich um die Objekte des Sehens, Hörens, Riechens,

Schmeckens, der Berührung und der geistigen Vorgänge, die von

den Sinnesorganen nach der Geburt wahrgenommen werden.

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Das sechste Glied ist der Kontakt mit der Umwelt. Dieser ruft als siebtes Glied eine Empfindung hervor. Die Empfindung ruft als achtes Glied Begehren hervor, wobei

Begehren auch als gewohnheitsmäßige Reaktionsmuster verstan­den werden muss, aus denen sich unser illusionäres Selbstbild zusammensetzt. Zusammen mit dem Begehren entsteht auch intensive Ablehnung von unangenehmen Empfindungen, also Hass oder auch Verwirrung.

Im neunten Glied führt dies nach dem Tod zum Wunsch nach einem neuen Körper und damit zur erneuten Anziehung durch einen Mutterschoß.

Das Werden im Mutterschoß ist das zehnte Glied. Darauf folgt als elftes Glied die Geburt in ein wiederum von

Unwissenheit gezeichnetes und damit leidvolles Leben. Dieses leidvolle Leben, das wieder mit Alter, Krankheit und

Tod endet, bildet das zwölfte Glied, womit der Kreislauf von vorn beginnt.

Als Nächstes folgt der Pfad der Bodhisattvas, der Wesen des erleuchteten Mitgefühls, die den Wunsch, allen Wesen zu helfen, in sich wachgerufen haben und dies tatsächlich tun. Sie bemühen sich darum, sowohl die relative wie die absolute Wahrheit zu verstehen und zu erkennen, dass sowohl Seihst als auch Phänomene nicht aus sich selbst entstehen, sondern Prozesse sind, die immer mit allem verbunden sind.

Der Pfad des Kriyatantra dann, arbeitet mit der Reinigung durch die Befreiung von den vier extremen Standpunkten: zu sein, nicht zu sein, gleichzeitig zu sein und nicht zu sein, und weder zu sein noch nicht zu sein.

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Upatantra vereint die Methoden des Kriyatantra mit der Sichtweise des Yogatantra. Yogatantra ist der Pfad der Reinigung des Geistes durch, Meditation über Aspekte des Göttlichen. Dies geschieht durch die fünf wahrhaftigen Reinigungen, die Visualisation von:

1. Lotus 2. Sonnen- und Mondscheibe 3. Der Keimsilbe 4. Diesen drei zusammen. 5. Der Meditationsgottheit

Im Mahayoga werden die Entwicklungs- und Vollendungs­stufen geübt, namentlich die Vereinigung und Befreiung. Im Anuyoga gilt es, die untrennbare Einheit von Raum und gnostischer Erkenntnis durch Übung zu erkennen. Atiyoga schließlich, die unübertreffliche höchste Stufe, ist uranfängliche Reinheit, spontane Verwirklichung, alles durchdringende Energie und die Erschöpfung des dualisti­schen Intellektes.

Die neun Stufen oder Pfade sind schließlich die Gesamtheit des buddhistischen Weges der Alten Schule Tibets. Sie umfassen alle Bereiche von Hinayana, Mahayana und Vajrayana in nichtsek­tiererischer Weise.

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OPFER UND VISIONEN

EIN SPIEL DES GEISTES

F l J i ^ a n n stellten die Schüler die siebte Frage: Wenn wir den verschiedenen Aspekten des göttlichen Ab­soluten Opfer darbringen und Gebete sprechen, und die Buddhas sich darüber freuen, wäre das dann auch gewöhn­liches Begehren, das sie bewegt? Andererseits, sind diese rituellen Handlungen nicht über­flüssig, wenn sie die Gottheiten nicht erfreuen?

Der Meister antwortete: In der Tat werden die Gottheiten weder durch die Lobprei­sungen noch durch Opfer beglückt. Der Zweck ist vielmehr der, deinen eigenen Geist zu reinigen, und zwar durch die glühende Hingabe, mit der du die Gottheiten visualisierst, sie einlädst und ihnen Lob und Opfer anbietest. Denn deine Hingabe löst deinen Geist von Änhaftungen und weltlichen Verstrickungen und macht dich für den Segen empfänglich, den du brauchst, um den Weg zu vollenden.

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Schließlich fragten sie: Was soll man tun, wenn aus der Meditation Visionen entstehen, in denen man göttliche Vollmacht und Belehrun­gen erhält?

Der Meister .antwortete:

Obwohl diese Visionen in der Welt der Formen erscheinen, kommen sie aus dem Absoluten. Deswegen ist es ein Irrweg, diese Visionen nur für Erscheinungen zu halten. Tatsächlich sind diese Visionen das Absolute selbst und ihre Formen entstehen aus dem Ungeschaffenen wie die Spiegelung des Mondes im Wasser. Wenn sich deine Meditation vertieft und du erkennst, dass die Visionen keine unabhängige Existenz haben, führt das dazu, dass Meditationsgottheiten dir in Visionen die göttliche Wahrheit verkünden. Wenn du aber solche Ereignisse herbeisehnst und an ihnen hängst, verwandeln sie sich in Dämonen. Ohne euphorisch zu werden, solltest du erkennen, dass sie nur Spiegelungen deines eigenen Geistes sind.

Eine Vision zu haben ist so gut, wie sie alle gehabt zu haben. Im ungeborenen Absoluten gibt es keine Vergleichs­maßstäbe. Visionen sind nichts als ein Spiel des Geistes. Wenn du göttliche Erscheinungen auf diese Weise erkannt hast, darfst du auf keinen Fall mehr den Weg verlassen, und koste es dich dein Leben. Lass diese Einsicht nie mehr los, bis du die unübertreffliche Erleuchtung erreicht hast. Mit diesem festen Entschluss verwirklichen sich alle Ab­sichten von allein.

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Narakhai Nyingpo durchschaute nach der tibetischen Überlieferung die illu­sionäre Natur aller Erscheinungen und demonstrierte dies, indem er auf Sonnenstrahlen lief.

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Hier wendet sich Guru Rinpoche gegen das, was der zeitgenös­sische Meditationslehrer Chögyam Trungpa »spirituellen Mate­rialismus« nannte. Anstatt tiefer und tiefer in die Essenz der Erfahrung hineinzugehen, die Selbstauflösung heißt, klammern wir uns an die »spirituellen« Erfahrungen, ja sammeln sie geradezu, um.uns so ein neues »Selbst«-bild zu gestalten.

Wenn du Beständigkeit sowohl in der Entwicklung als in der Vollendung deiner Übung erreicht hast, so mag dein Körper immer noch der eines normalen Menschen sein, aber dein Geist ist zum Göttlichen gereift Im Augenblick, in dem du den Körper verlässt, hält dann dein Geist immer noch die Einheit mit dem Göttlichen aufrecht. Wenn du in diesem Bewusstsein stirbst, erscheint im gleichen Augenblick das Göttliche so wie eine Glocke, wenn man die Gussform zerschlägt. Das nennt man dann »Das Netz des Körpers auflösen«. Du lässt den Körper hinter dir und gehst ein in das Absolute.

Wer ohne Anhaftung stirbt, wer alle Unreinheiten geläutert und alle psychischen Knoten gelöst hat, wird im Augenblick des Todes nicht von seinem verdrängten Unterbewusstsein überfal­len, sondern findet nur das Absolute.

Wer in diesem Augenblick vollkommene Gewahrheit auf­rechterhält, verschmilzt mit dem Absoluten. Wer in diesem Augenblick Seher und Gesehenes trennt, verliert die Gelegenheit, auf die unser ganzes Leben hinstrebt. Deswegen wird in vielen Märchen dem Helden geraten, wenn er in das Reich des Todes

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oder in die Höhle des Teufels gehen muss, um dort seine

Heldentat zu vollbringen: »Schau immer nur geradeaus und gehe

immer nur vorwärts. Schaue nicht zur Seite und drehe dich

nicht um!« Das ist eine sehr schöne Intuition unseres Bewusst-

seins von dem, was auch im Augenblick des Todes nötig ist:

Bist du frei von Anhaftungen, verschmilzt du mit dem großen

Licht. Zögerst du einen Moment, schaust du zur Seite oder drehst

dich nochmals um, setzt der dualistische Verstand ein und die

Möglichkeit der Einheit ist dahin. Das allein schon ist ausreichend

Inspiration für spirituelle Praxis.

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LETZTE

ANWEISUNGEN

•Selbst wenn du dich noch so sehr anstrengst, wird es dir schwerfallen, mit anderen Übenden Schritt zu halten, wenn du dort übst, wo es laut und hektisch zugeht. Deshalb kümmere dich zuerst um einen ruhigen Ort und fördernde Umstände für deine eigene Vollendung.

Selbst wenn du schon einige Male die absolute Wahrheit direkt erfahren hast, wird dich das alltägliche Gift immer wieder krank machen, solange du die Erfahrungen nicht in Handlungen umsetzen kannst Darum vermeide den Weg der gewöhnlichen Menschen.

Wenn du nur so tust, als ob dir etwas an dem Weg und der Übung der liebenden Güte läge, wirst du jede Motivation verlieren und du wirst wieder in das weltliche Leben zurückgeworfen. Deswegen verschwende keine Gedanken und keine Bemühung mehr an rein weltliche Angelegenhei­ten wie Ruhm oder Schande, Gewinn oder Verlust, Freude oder Leid und Lob oder Tadel

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Wir müssen verstehen, dass weltlich nichts anderes als dualistisch heißt. Es ist nicht das Problern, dass wir Leid und Freude, Lust und Schmerz empfinden, sondern dass wir an angenehmen Empfindungen haften und unangenehme ablehnen. Sich vom Weltlichen, abzuwenden heißt nicht, dass wir weitabgewandt asketisch leben müssen, sondern dass wir uns nicht länger durch ständiges Bewerten aus der Einheit von Erfahrung und Erfah­rendem trennen. Diese Trennung ist der Quell immer neuer Illusionen.

Deshalb heißt das Weltliche aufgeben die Dualität aufgeben. Dann verschwindet das so genannte Weltliche, obwohl wir immer noch in der gleichen Welt leben. Was aber zuvor gewöhnlich war, ist nun heilig. Jede alltägliche und unscheinbare Handlung wird so zur sakramentalen Handlung.

Obwohl du vielleicht tiefgründige Meditationsanweisungen erhalten hast, wird der Pfad, der zur direkten Erfahrung führt, gesperrt, wenn du dich von der Bemühung trennst. Also halte dich an die Methoden, die Fortschritt gewähren.

Selbst wenn du schon eine ganz gute Konzentration beim Meditieren erreicht hast, solange du nicht weißt, wie du auch schwierige Lebensumstände zu einem fruchtbaren Teil deines Weges machen kannst, wird der Strom der gewohn­heitsmäßigen Muster und Geisteshaltungen niemals aufhö­ren. Also erhalte dir deine Einsicht, von Natur aus eins mit dem Absoluten zu sein, im Alltag!

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Dies ist der entscheidende Punkt, an dem sich echte Erleuch­

tungsarbeit vom. Herumkurieren an Symptomen, das letztlich

doch nur zu besseren Illusionen führt, unterscheidet. Die Wahr­

heit schließt Schwierigkeiten und Rückschläge nicht aus. Im

Gegenteil, sie erwartet von uns, dass wir unser Netz aus Kon­

zepten öffnen und die Dinge so sein lassen, wie sie wirklich

sind, um dann angemessen auf sie zu reagieren, Die Idee, dass

die Erleuchtung alle Probleme aus der Welt schafft und man

ein spiritueller »Superman« wird, dem alles gelingt, der alles

weiß und kann und vor allem, dem es nie schlecht geht, ist eine

Fabrikation unseres Verstandes. Der historische Buddha starb

an einer Lebensmittelvergiftung. Keine Spur von mystischer

Voraussicht oder positiver Affirmation, »Ich bin immer und

überall sicher und wohl behütet«, etc.

Nicht nur, dass diese idealistische Falle viele von uns der

Erleuchtung wieder entreißt, indem durch die Spannung zwi­

schen Ist- und Sollzustand der Verstand mit seinem dauernden

Unterscheiden und Abwägen wieder an Macht gewinnt, der

Idealismus ist auch der tragische Hintergrund fast aller Religi­

onskriege. Denn wer selbst ständig scheitert, muss seine eigenen

Schuldgefühle auf eine andere Religion projizieren. Nicht von

ungefähr spricht Meister Eckehart von »Istigkeit« und der

Buddha von »Soheit« als Synonym für die direkte Erfahrung

von Wahrheit oder Erleuchtung. Alle Dinge sehen zu können,

wie sie tatsächlich sind, ist der Schlüssel zur Verwirklichung.

Denn dann werden Grenzen zu Berührungspunkten mit der und

Hindernisse zu Sprungbrettern in die Dimension des Absoluten.

Dann wird der Alltag tatsächlich zum Weg.

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Wenn du deine Meditationspraxis fortsetzt, ohne deinen Intellekt von Ideen und Konzepten zu befreien, dann wird die Frucht deiner Bemühungen von Hoffnung und Furcht aufgefressen werden. Befreie dich deshalb von bewertenden Konzepten und zerschlage den Knoten der Dualität, denn Erleuchtung ist jenseits von Zweifel oder Gewissheit.

Selbst wenn du bereits ein weit reichendes Wissen der Lehren der Wahrheit hast, musst du akzeptieren, dass du nach wie vor ein normaler Mensch bist mit allen Fehlem und Unvollhommenheiten, solange du nicht im natürlichen Zustand der Erleuchtung bist. Also suche die direkte Er­fahrung.

Selbst wenn dir die tiefsten Unterweisungen zur Verfügung stehen, wirst du den Weg zu tiefen Erfahrungen versperrt finden, wenn du dich nicht immer wieder aufrichtig bemühst.

Wenn du die Hoffnung hegst, dass du dich ohne innere Verpflichtung und ethisches Verhalten vollenden kannst, wirst du dich auch trotz beständiger Übung in der Medi­tation zuletzt wieder im unterscheidenden Bewusstsein ver­fangen. Also halte dich an Gebote und Eide.

Wenn du schon eine hohe Ebene erreicht hast, dann ver­schleudere deine Einsichten nicht mehr durch Geschwätz. Bist du auf einer mittleren Ebene, dann gib Acht, dass deine Übung nicht durch Gleichgültigkeit zum Stocken kommt. Bist du auf der Grundstufe, dann untersuche den Strom deines Bewusstseins und verwickele dich nicht in negative Gefühle.

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ESSENZ

.1 Alle Lehren können in Sichtweise, Meditation und Hand­lung zusammengefasst werden. Die höchste Sichtweise ist die Freiheit von Überzeugungen. Der Gipfel der Meditation ist die Ruhe des Geistes. Die Majestät allen Handelns ist die Freiheit von Anziehung und Abneigung. Die Essenz ethischer Verpflichtung ist die Abwesenheit von Heuchelei. Die absolute Verwirklichung ist die Einheit von Einsicht, Meditation, Handeln und Vollendung. Sobald er gesprochen hatte, schrieben die Schüler jedes seiner Worte nieder. Dann wurden diese kostbaren Lehren, für die zukünftigen Generationen in Schatztruhen verbor­gen.

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Kolophon Im 12. Monat des Affenjahres entnahm Rigdzin Jatshon Nyingpo in einem exaltierten Zustand, hochfliegend wie ein Vogel und flink wie ein Fisch, diesen Schatz aus dem eisernen Tor von Hom Trang in Kongpo. Mögen die Sonnenstrahlen des Meisters aus Oddiyana die Dunkelheit der Verblendung durchdringen, in die sich die Wesen der Welt verirrt haben. Mögen alle grausamen Kriege dieser Zeit beendet werden.

Diese Lehren sind durch heilige Eide dreifach versiegelt. Samaya Gya Gya Gya.

Möge alles glückverheißend sein!

Durch den Segen von Khyäbje Dilgo Khyentse wurden die Worte von Gelong Könchog Tendzin, einem abgerissenen französischen Vagabunden im Dharmaschloss der großen Wonne, Dechen Choling Phodrang, in Bhutan 1982 ins Englische übersetzt und 1996, im wunscherfüllenden ersten Monat des Feuer-Maus-Jahres im Shechen hing Kloster in' Nepal von dem Yogin Könchog Dorje ins Deutsche über­tragen und mit Kommentaren versehen, in der Hoffnung, die Lehren der großen Vollendung mögen im Westen Wurzel fassen...

Terton jatshon Nyingpo (Die Essenz des Regenbogens) gilt selbst sowohl als Wiedergeburt von Nyang Wen Tingzin Zangpo als auch als Ausstrahlung von Padmasambhava selbst. Für die Tibeter ist er außerdem zuvor bereits ihr erster König, Nyatri Tsenpo, gewesen, der, so die Legende, an einem Seil aus Regenbogenlicht vom Himmel stieg.

Von Padmasambhava selbst stammt die Prophezeihung, dass Tingzin Zangpo in der Zukunft im Lande Nyang als Jatshon

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Nyingpo wiedergeboren werden würde. Sollte er sich den welt­

lichen Wissenschaften zuwenden und der Spiritualität gegenüber

gleichgültig sein, werde er mit 25 Jahren dahingerafft. Wenn er

jedoch einen authentischen Yogi der Dzogchentradition träfe,

würden seine mitfühlenden Handlungen unendlich vielen Wesen

helfen. Da jedoch »Götter, Dämonen und Menschen Hindernisse

in den Weg legen werden«, müsse er die wieder gefundenen

Schätze der prophetischen Unterweisungen wachsam hüten.

Wenn er dann »die Rüstung der Geduld« anlege und Meister

Padma um Hilfe anflehe, würde er diese kritische Phase über­

winden und seine Bemühungen für das Wohl aller Wesen auf

der ganzen Welt zum höchsten Ziel führen.

Nach nur einer weiteren Inkarnation im Lande Dogo soll

Nyang W~en Tingzin Zangpo nach einem unbestimmt langen

Zeitraum, den er meditierend in einem »reinen Land« verbringen

wird, selbst zu einem Buddha werden.

Der folgende Text ist ebenfalls ein verborgener Schatztext, der,

in einem Schatzkästchen liegend, von dem großen Tertön Cho~,

gyur-Dechen Lingpa vor einer großen Menschenmenge aus einem

Felsen gesogen wurde. Chogyur Lingpa, als einer der drei

Begründer der ökumenischen Rime-Bewegung Osttibets bekannt,

war einer der größten Finder solcher verborgener Schätze, und

lebte von 1829 bis 1870. Seine Biographie wurde von Orgyen

Tobgyal auf Englisch veröffentlicht (vgl. Orgyen Tobgyal: »The

Life and Teachings of Chogyur Lingpa« Rangjung Publications,

Kathmandu 1982). Es wird berichtet, wie er vor großen Men­

schenmengen in Felsen hineinlangen konnte, als ob sie aus

Joghurt wären, um aus ihnen Schatzladen voller Texte, Buddha­

statuen und heiliger Ritualgegenstände hervorzuholen. Einmal

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ritt er voll bekleidet mit seinem Pferd in die gewaltigen Fluten

der Tsangposchlucht, um 10 Minuten später völlig unbenetzt

mit einem Schatztext wieder aus den Fluten aufzutauchen.

Seine Sammlung wieder gefundener Lehren von Guru

Padmasambhava war immens, obwohl er selbst, wie Jamgon

Kongtrul I. bemerkte, beinahe ein Analphabet war. Als einfacher

Fürte war ihm das Geistmandat Guru Rinpoches, seine Stell­

vertretung zu übernehmen, in Visionen übertragen worden.

Von da an setzte sich die ganze Weisheit der buddhistischen

Überlieferung in seinem Geist frei und seine Verwirklichung

war so vollkommen, dass selbst der 14. Karmapa, Thekchog

Dorje, sein Schüler wurde.

Alle späteren Karmapas blieben mit den Nachfolgern Chogyur

Lingpas auf das Engste verbunden. Sein Urenkel, Kyabje Urgyen

Tulku war sogar der Wurzellehrer des 16. Gyalwa Karmapa.

Heute werden seine Lehren vor allem von der Karma-Kagyü-

und der Nyingmaschule am Leben erhalten.

Der vorliegende Text soll einerseits das Guruprinzip - also

die Verbindung zum Geist zeitloser Wahrheit in uns selbst -

stärken und dadurch andererseits in Zeiten von Not und Gefahr

alle äußeren und inneren Hindemisse überwinden helfen. So

wird es auch wegen der mantrischen Macht, die in dem Text

ruht, rezitiert, wann immer in kritischen Situationen Hilfe be­

nötigt wird.

Um diese Kraft zu bewahren, wurde hier auf die Übertragung

von Sanskrit- und tibetischen Begriffen abgesehen. Auch die

Namen der Meister und Buddhas bleiben unkommentiert. Den

Text laut zu rezitieren, wird hier mehr erhellen als erklärende

Worte.

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Padmasambhava, auch Padma oder Padmakara sowie Guru Rinpoche genannt.

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DIE KURZE FASSUNG DER LEBENS­

GESCHICHTE DES

LOTUSGEBORENEN GURU

VON ORGYEN CHOGYUR LINGPA

HIERIN IST DIE SELBSTBEFREIENDE LEBENSGESCHICHTE DES LO­TUSGEBORENEN GURU VON ORGYEN, DIE WIE EIN WUNSCHER­

FÜLLENDER BAUM IST. SIE STAMMT AUS DEN 7 TIEFGRÜNDIGEN THEMEN DES GROSSEN

TERTÖN ORGYEN CHOGYUR LINGPA.

Sei willkommen Freude! Ich, Padma, der Lotusgeborene Guru,

werde in dieser Darstellung meiner spirituellen Praxis und

selbstbefreienden Existenz darlegen, wie ich die geheime Unter­

weisung der drei Wege meisterte und beständig zum Glück und

Wohl aller Wesen wirkend in Vergangenheit, Gegenwart und

Zukunft unablässig das Rad des Dharma drehe.

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DAS ERSTE KAPITEL

DER SELBSTBEFREIENDEN LEBENS­

GESCHICHTE DES LOTUS­

GEBORENEN GURU VON ORGYEN,

WELCHE EIN WUNSCHERFÜLLEN­

DER BAUM IST.

Worin er in dieser Welt erscheint und in den Künsten und Wissenschaften

geschult wird

\ h^J'chon immer sind fühlende Wesen in Unwissenheit und Verblendung in den samsarischen Bereichen der Götter, Menschen, Titanen, Tiere, gefolterten Geister und Höllen­wesen herumgeirrt. In diesem Zeitalter jedoch, dem »eisernen« Kaliyuga der Konflikte und der Zwietracht, suhlen sich die Wesen un­terschiedslos in einem giftigen Schleim aus Hass, Wollust, Verwirrung, Eifersucht und Stolz-

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Besonders um jenen Weseii zu helfen, denen am schwersten zu helfen ist, erschufen mich die Buddhas, die die absolute Wahrheit verkörpern - die unendliche Einfachheit seihst -durch die Konzentration des Geistes; die Buddhas, die die visionäre Freude - die leuchtende Klarheit — verkör­pern, ordinierten mich zu einer Seinsweise, die ihre mit­fühlende Grundhaltung ausdrückt und die Buddhas in-karnierten Mitgefühls — alle Erscheinungen nämlich — bekräftigten meine Verkörperung durch die Macht ihrer Vereinigung.

So erschien ich, Orgyen Padma, der Lotusgeborene Guru, in dieser Welt. Einige Maischen glauben, dass ich zuerst auf einer Lotus-hlüte auf dem Dhanakoscha-See im Land Orgyen erschien; einige glauben, dass ich als Prinz von Orgyen geboren wurde; und andere glauben, dass ich hei Blitz und Donner auf dem Gipfel des Namchak-Hügels erschien: Es gibt viele unterschiedliche Ansichten, die von verschie­denen Menschen und Völkern vertreten werden, denn ich hin in vielen Formen erschienen.

Vienindzwanzig fahre nach dem Parinirvana des Buddha Shakyamuni jedoch empfing Amitabha, der Buddha des grenzenlosen Lichts, den Gedanken der Erleuchtung in Gestalt des Großen Mitfühlenden - Avalokitesvara - und aus dem Herzen des Großen Mitfühlenden strahlte ich, Padma, der Lotusgeborene, als die Silbe HRJ aus. Ich kam wie fallender Regen in unendlichen Millionen von Formen auf der ganzen Welt zu denen, die bereit waren, mich zu empfangen.

Die Handlungen der Erleuchteten sind wahrhaftig uner­klärlich, wer könnte sie bestimmen oder messen! Eine meiner Formen inkamierte als Prinz von Orgyen in

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Jambudvipa, und es war mir bestimmt, das Land Orgyen zu regieren. So predigte ich den Dharma dort, bis jedes einzelne Wesen vollkommene Buddhaschaft erlangt hatte. Danach brach ich nach Indien auf, wo ich Meisterschaft in den »fünf Künsten und Wissenschaften«, namentlich denen der Sprachen, Dialektik, Metaphysik, Heilung und bildenden Künste erlangte.

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DAS ZWEITE KAPITEL

Worin er demütig um die Regeln der buddhistischen Lehre bittet und seine

Zweifel beseitigt werden

"I ̂ Won Ananda, dem Schüler des Buddhas Shakyamuni,

erbat ich die Sutren. Dann wurde ich, der Lotusgeborene Guru, von Prabhahasti ordiniert und lernte, mich mit den drei Yogas von Körper, Sprache und Geist zu beherrschen. Danach kam ich mit großer Verehrung zum Meister Garab Dorje und erhielt die Herztropfenbelehrung der großen Vollkommenheit, das höchste der Tantras. Vom Großen Meister Sangyey Sangwa erhielt ich die Hundert Fmanationen des Heiligen Herzens, die friedlichen und zornvollen Gottheiten. Zu Füßen des Großen Meisters Sri Singha erhielt ich die Tantras des höchsten Heruka des Geistes mitfühlender Fkstase. Zu Füßen des Großen Meisters Jampal Shenyen erhielt ich die Tantras von jampal Shinye, dem Zerstörer des Todes.

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Zu Füßen des Großen Meisters Ludup erhielt ich die Tantras und Sadhanas der Lotussprache, das Brüllende Pferd. Zu Füßen des Großen Meisters Hung-Chenkara erhielt \ch%

die Sadhanas und Tantras der Realität des Geistes. Zu Füßen des Großen Meisters Vimalamitra erhielt ich die Sadhanas und Tantras der nektargleichen Vortrefflichkeit des Buddhas Tugend.

Zu Füßen des Großen Meisters Dhanasamskrita erhielt ich die Sadhanas und Tantras der Vollkommenen Handlung des Heiligen Dolches.

Wiederum zu Füßen von Prabhahasti erhielt ich die Hun­derttausend Verse der Phurha Vitotama. Zu Füßen des Großen Meisters Shantigarbha erhielt ich die Sadhanas und Tantras der rituellen Verehrung und Besänftigung.

Ich, Padma, der Lotusgeborene Guru, erhielt von vielen großen Meistern, Adepten und anderen zahlreiche Initia­tionen, Erklärungen und Regeln vieler verschiedener Tan­tras, zusammen mit der Erlaubnis, die äußeren, inneren und geheimen Traditionen des Vajrayana und der Tripitaka zu studieren und dann auszuüben.

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DAS DRITTE KAPITEL

Worin die Lehre in Indien bewahrt und die Länder mit dem Dharma

geschmückt werden

J JLch, Padma, vollendete meine Meditation an den acht Begräbnis- und Verbrennungsstätten Indiens und anderen heiligen Plätzen. Nachdem ich die Macht des Bösen durch Losgelöstsein bezwungen hatte, gipfelte meine Praxis in der Offenbamng Glück verheißender Zeichen der Errungenschaft. Als in Vajrasana, Indiens heiligstem Ort, Furcht vor den schwarzen Tirthikas aufkam, vernichtete ich, Padma, ihre Streitsucht mit meiner Zauberkraft. Die 55 Gelehrten von Vajrasana baten mich, ihr Meister und Lehrer zu werden, und die Lehre des Buddha wurde dort 100 Jahre lang bewahrt, während der große Gelehrte Vimalamitra als mein Vertreter zurückblieb. Alsdann reiste ich, Padma, nach Zahor. Vom König von Zahor missverstanden, sollte ich lebendig verbrannt werden, aber durch die Entfaltung meiner ma­

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gischen Kräfte verwandelte ich das Feuer, das mich ver­schlingen sollte, in einen See, der Rewalsar genannt wurde. Danach wurde das Land Zahor übersät mit Yogis und die Lehre des Buddha blieb 200 Jahre im Land erhalten. Von Zahor reiste ich zu der Höhle von Maratika in Nepal, um das Sadhana des ewigen Lebens zu üben. Buddha Amitayus erschien mir in einer Vision und über­mittelte mir die 108 rituellen Texte, die Unsterblichkeit gewähren.

Ich harn in das Reine Land des Akanistha Himmels und zu den Reinen Landen der fünf Buddhafamilien. Ich erbat heilige Schriften von den Sugatas und beriet mich mit den Buddhas des manifestierten Mitgefühls, die mich lehrten, dass mein eigener Geist der einzige Buddha sei, den es zu entdecken gilt.

In der höchsten Meditationshöhle in Yangleyshod begann ich mit dem Prozess der Gewahrwerdung der vollendeten Heruka-Realität des Geistes, um die relativen Kräfte der Zuneigung und das absolute letztendliche Mitgefühl der Erleuchtung im Mahamudra zu erlangen, aber das Leid der Menschen in Indien und Nepal wurde zu einem solchen Hindernis, da es mich davon ablenkte, meine Meditation zu vollenden, dass ich meine Gurus bat, mir die Mittel zu geben, um die Trauer der Menschen zu lindern. Der Text des Phurbo Vitotama, den ein Mann kaum tragen konnte, wurde mir zugesandt.

Unmittelbar, nachdem er über die Grenze Nepals gebracht wurde, löste sich alles, was den Fortschritt meines Sadhana behinderte, und ich erlangte das relative und absolute Mitgefühl des Mahamudra.

Als ich, Padma, auf dem Berg Yah meditierte, erhob sich ein Konflikt mit den Tirthikas in Vajrasana, und den 500

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Gelehrten wurde durch die Dakinis geraten, um meine Rückkehr zu bitten. Der indische König Suryasingha sandte einige Schüler mit einem Hilferufzu mir und, nach Vajrasana zurückgekehrt, unterwarf ich die Tirthikas,

Dann ging ich, Padma, mit den acht Vidyadharas zu der »Kühler Garten« genannten Begräbnisstätte und wir me­ditierten.

Um Mitternacht am siebten Tag durchgängiger Konzentra­tion wurde spontan eine große Stupa, Entzücken ausstrah­lend, erzeugt.

Indem wir über die Stupa meditierten sahen wir sie voller Licht glitzern und strahlen. Die Dakini Senge Dongma persönlich übergab mir eine Schatztruhe und die ursprünglichen Anweisungen über die Einheit der Sugatas.

Ein jeder der Vidyadharas erhielt die ihm entsprechenden und notwendigen Eide und Ermächtigungen. Somit wurde der Buddhadharma für mehrere Zeitalter in Vajrasana gesichert.

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DAS VIERTE KAPITEL

Worin er nach Tibet eingeladen wird und die Götter und bösen Geister

dort unterwirft

I l JL-^ie Wohltäter, die die Boudhanath Stupa in Nepal erbaut hatten, erbaten als Lohn den Segen, dass sie wiedergeboren würden, um den Buddhadharma in Tibet zu etablieren. Durch die Kraft dieses Gebetes wurde einer von ihnen als König Trisong Detsen von Tibet wiedergeboren, der von religiösen Zielen erfüllt und entschlossen war, ein großes Kloster zu erbauen. Entsprechend diesem Wunsch wurde der Abt von Nalanda, Shantarakshita, nach Tibet eingeladen, um den Platz zu weihen. Bei seiner Ankunft in dem Tal, in dem das Kloster erbaut werden sollte, täuschte Shantarakshita vor, obwohl es in

seiner Macht stand, den Baugrund zu segnen, die Aufgabe nicht erfüllen zu können, denn es war bestimmt worden, dass ich, Padma, nach Tibet reisen sollte, um den Dharma zu etablieren.

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König Trisong Detsen sandte drei Boten aus, mit Geschenken aus Gold und der Bitte, dass ich nach Tibet kommen möge und so bat ich den indischen Dharmaraj und seine brüder­lichen Untertanen um Erlaubnis. Nach einiger Überlegung wurde entschieden, dass mir, trotz der durch die Tirthikas in Indien drohenden großen Gefahr, erlaubt werden sollte, zu reisen, denn die Prophezeihung über die Verbreitung der Lehre sollte zu dieser günstigen Zeit erfüllt werden.

Die Boten kehrten mit dieser Nachricht zu König Trisong Detsen zurück. Bald danach verließ ich Indien und reiste ins Kathmandutal in Zentralnepal. Dann ging ich weiter zur tibetischen Grenze und wurde dort im Lande Mang von fünf Boten begrüßt, die im weiteren Verlauf Glauben und Vertrauen in meine magischen Transformationskräfte entwickelten.

In der Vorhersehung meiner Ankunft in Tibet und ihres Untergangs, wurden die menschenfressenden Wilden und Götter jenes Landes von ihrer eigenen Bosheit und ihren Zweifeln gekrümmt.

An den Ufern des Nyimakhud-Sees in Tibet unterwarf ich die grausamen Berggötter und menschenfressenden Geister: Sie alle wurden unter Eid an den Dharma gebunden. Am Khala Pass unterwarf ich die zwölf Schutzgöttinnen der Pässe. Im Norden band ich Samed, die Schutzgöttin des Weißen Berges und die Schützerin Tinglomen. Ich unterwarf alle Herren der Erde der nördlichen Regionen. In Tsang unterwarf ich die Pestilenzgeister von Oyug, sie alle wurden unter Eid dem Dharma verpflichtet. In Phuru unterwarf ich Dorje Legpa, den König der gemeinen und gierigen Geister; in Yasru und Yonru unterwarf ich Gespenster und barbarische, menschenfressende Geister;

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in Osam unterwarf ich Thanglha, den Herrn der Pest und des schwarzen Todes: Sie alle wurden unter Eid an den Dharma gebunden.

Auf dem Berg Kaüash band ich die Sternenkräfte der Uerrschaftshäuser des Mondes und auf Targo unterwarf ich die dunklen Einflüsse der Planeten dem Einfluss des Dharma.

Am Namtsochukmo-See und am Namtsongonmo-See unter­warf ich mächtige Wassernixen; am Damtiktrak Fels unterwarf ich den Herrn der Wasser­pestilenz; bei Rotamnagpo unterwarf ich die Mutter der ansteckenden Krankheiten:

Sie alle wurden verpflichtet, dem Dharma zu dienen. In Atarong unterwarf ich die verhexenden Geister; auf dem Melungtrak Fels unterwarf ich den Geist eines abgefallenen Upasaka, der vom Buddha geweiht worden war; bei Wangshumarpo unterwarf ich einen tierfönnigen Gott; auf dem Berg Kam unterwarf ich einen bestialischen Was­sergeist;

bei Shangralhatse unterwarf ich den Schutzgott einer kö­niglichen Linie; bei Thodkarnakpo unterwarf ich einen tierfönnigen Gott: Sie alle wurden unter Eid an den Dharma gebunden. In Trigonakpo unterwarf ich die Göttin des Meeres; in Changramuhpo unterwarf ich einen hoch entwickelten aber rachsüchtigen Herrn der Erde; auch in Tsawarong unterwarf ich die Herren der Erde; bei Lawakakchik unterwarf ich die gierigen, gemeinen Geister;

bei Boirong unterwarf ich einen tierhaften Wassergeist: Sie alle wurden unter Eid an den Dharma gebunden.

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Daraufliin wurde ich hei der Burg Anchungdzong von dem Geist des gefallenen Upasaka, der in Melungtrak geschworen hatte, dem Dharma zu dienen, willkommen geheißen; hei der Löwenhurg Sengedzong unterwarf ich den Geist von Yahpang;

hei der Feste Namkhadzong unterwarf ich den Gott der Pestilenz; auf dem Dudtrak Fels unterwarf ich die Höchsten der Berggötter; auf dem Berg Mayo unterwarf ich einen mächtigen Pesti­lenzgeist; auf dem Poitrakfelsen unterwarf ich eine Teufelin; hei Khyudonakpo unterwarf ich einen hestialischen Teufel; hei Dudrinakpo unterwarf ich den Herrn des Bösen: Sie alle wurden unter Eid an den Dharma gebunden. Bei Buchu unterwarf ich einen kleinen Wassergeist; hei Lharutseru unterwarf ich einen hösen Gott; bei Maldro unterwarf ich viele Wassergeister; im Land Mon an der Südgrenze Tihets unterwarf ich viele Geister, die den hösen Blick hatten; hei Trasmosong unterwarf ich den Teufel des Abgrunds: Sie alle wurden unter Eid dem Dharma verpflichtet. Auf der nepalesischen Seite des Mount Everest unterwarf ich vier Dämoninnen;

hei Kyirong Chamtin unterwarf ich rasende, lustbesessene Göttinnen:

Sie alle wurden unter Eid verpflichtet, dem Dharma zu dienen. Dann wurde ich im Tsang Tal von einem Mann mit einem Pferd empfangen, und in der Stadt Todlung wurde mir von allen Bewohnern ein Empfang gegeben.

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Deshalb flössen zu jener Zeit die Wasser des Brunnens bei Dongpa wie der Nektar der Allmächtigkeit hervor. Schließlich wurde ich in einem Tamariskengarten am Roten Felsen vom König empfangen;

der jedoch, obwohl er eine Inkarnation von Manjusri war, konnte auf Grund der schweren Verdunklungen durch seine Geburt aus einem menschlichen Schoß nicht die Art und die Qualitäten meiner Tugend erkennen. Seine Arroganz und sein Stolz hinderten ihn daran, sich vor mir niederzuwerfen. Ich zeigte meine zauberhafte Ver­wandlungskraft und ließ ihn meine machtvolle Melodie vernehmen;

Glaube wurde in ihm geweckt und er konnte sich vor mir niederwerfen. Er schmückte für mich den Löwenthron und überhäufte mich mit großen Geschenken. Da verehrten mich alle Götter und Menschen von Tibet,

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DAS FÜNFTE KAPITEL

Worin das Kloster von Samyeling errichtet und geweiht wird

1. iLHe untei"worfenen Götter und bösen Geister des Landes versammelten sich gehorsam unter meinem Kommando. Durch meinen Segen reinigte ich den Boden, auf dem das Kloster gebaut werden sollte, und, indem ich die Silbe HUM hervorrief, zwang ich die Götter und bösen Geister des Ortes, indem ich mein Vajra wie im Tanz bewegte, zum Gehorsam.

Männer arbeiteten bei Tag und Götter und Geister bei Na.cht, um die Fundamente von Samyeling zu legen. Die vier Wächterkönige, Dhritarashtra, Virudaka, Viru-paksha und Vaishravana leiteten und beschützten den Bau. Während der Nacht arbeiteten die Götter und bösen Geister schwerer und bauten die Mauern höher als die Menschen bei Tag, und der Lärm, den die Arbeit verursachte, war ohrenbetäubend.

In der Zwischenzeit hatte König Trisong Detsen sich mit den Nagas - schlangenförmigen Wassergeistern - versöhnt und sie mit der Aufgabe betraut, genügend Gold zu sammeln,

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um dem Tal Überfluss zu bringen und die königliche Schatztruhe aufzufüllen.

Das Kloster Samyeling, was so viel bedeutet wie »Das Unbegreifliche«, wurde nach dem universellen Plan der Dinge an sich gestaltet und seine Entstehung schritt voran wie ein Kind, das zum Mann heranwächst. Der große Zentraltempel mit seinen drei Stockwerken wurde dem Berg Meru entsprechend entworfen und der obere und untere Yaksha Tempel flankierten im Osten und Westen den Haupttempel, gerade so, wie Sonne und Mond dem Berg Meru zur Seite stehen.

Vier große Tempel in den vier Himmelsrichtungen und acht kleinere Tempel dazwischen, welche die vier Kontinente und die acht Inselkontinente repräsentierten, schmückten das Gebiet, das den Ozean symbolisiert, innerhalb der kreisförmigen Mauer, welche den Ring der Berge, die den Kosmos enthalten, repräsentierte.

108 Stupas, die alle einen Vajra umschlossen, welcher auf magische Weise vom Schützer Vajrasadhu materialisiert worden war, erhoben sich auf der Mauer, und vier in Bronze gegossene Hündinnen, die auf vier Steinsäulen ruhten, t bewachten die vier Tore.

Gerade so, wie der Palast der Götter den Berg Meru krönt, so formte der große zentrale Tempel mit seinen drei Stock­werken und den Dächern in den drei unterschiedlichen Stilen Indiens, Chinas und Tibets, das Zentrum von Samyeling. Im höchsten Schreinraum des Tempels ruht der Buddha Saman thabhadra;

in der Mitte des Mandalas sind die Emanationen von Vairochana;

in der Zentralkammer ruht Vairochana, umgeben von den Emanationen des Vajradhatu Mandalas;

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in der Kammer des Erdgeschoßes ruht Mahäbodhi, umgehen von den Schülern des Buddha und allen Bodhisattvas der zehn Richtungen. Bei der Weihe des Klosters wurden überall Blumen gestreut. Die Götter erschienen, ihre Weisheit offenbarend, alles durchdringende Lichter strahlten, Zimbeln erklangen spon­tan in den Händen der Göttinnen der Befreiung und, während die Götter Blumen herabregnen ließen und die Schlangen Juwelenopfer darbrachten, war die ganze Welt erfüllt von Glück verheißenden Ankündigungen und Jubel.

Zornvolle Dahinis und Dharmaschützer beehrten wie Brü­der und Schwestern die Feierlichkeiten. Aus den vier Steinsäulen loderte Feuer und die vier Hün­dinnen bellten.

Dreimal fiel alles heilender Nektar vom Flimmel, um dem Land Tibet Tugend und Glück zu bringen, und sowohl den Menschen als auch den Göttern immer währende Freude zu gewähren.

Das Banner der himmlischen Gäste kündigte im ganzen Universum Pracht und Ruhm an.

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Shantarakshita, Abt von Nalanda, war vora König Trisong Detsen 764 einge­laden, um zusammen mit dem ein Jahr später folgenden Padmasabhava in Tibet den Buddhismus erneut zu etablieren - von den Tibetera wird er Khenpo Bodhisattva genannt.

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DAS SECHSTE KAPITEL

Wie die Übersetzer und Gelehrten empfangen und die Heiligen Texte der Sutras und Tantras

übersetzt werden.

achdem ich, der große Meister Padma, und der Abt Shantarahshita, einige Zeit in Tibet verbracht hatten, wur­den wir unzufrieden, wie wenig empfänglich diese Maischen für den Dharma waren.

Wir besprachen uns und waren uns einig, dass Tibet ein Land böswilliger Wilder sei, die ungeeignete Behältnisse für den Dharma wären und Kannibalen, die nicht zwischen Tugend und Laster zu unterscheiden vermochten. In ihrer Eifersucht hatten die Minister Tibets unsere Be­mühungen, die Wünsche d.es Königs zu erfüllen, durch­kreuzt, und wir überlegten, in unser eigenes Land zurück­zukehren.

Wir sprachen mit dem König über unsere Überlegungen und er war äußerst bedrückt und weinte. Später, während er uns mit Goldgeschenken und anderen Wertgegenständen beehrte, bat er uns beide, wohlwollend seiner Bitte zu lauschen.

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Da sein Geist offen war, sagte König Trisong Detsen: »Dieses Land Tibet ist die Heimat maischenfressender Wilder, ein Land der Dunkelheit, wo der Dharma noch nie vernommen wurde. Obwohl ihr entmutigt seid, seid doch mitfühlend! Durch eure Erleuchtung seid uns gnädig gesonnen! Bleibt als inharnierte Buddhas in diesem bösen Land! Der Bodhisattva arbeitet zum Wohl anderer, und es gibt kein höheres Werk als anderen die Befreiung zu ermöglichen-Deshalb bitte ich, König Trisong Detsen, euch, mein Gebet zu erfüllen. Ich habe vergeblich Stupas gebaut, Bücher geschrieben und Statuen errichtet, aber wenn die Heiligen Texte des Sutra und Tantra nach Tibet gebracht und übersetzt werden, sehe ick die Verbreitung des Dharma voraus. Die Erläuterung der Lehre wird gehört werden können und Viele werden gemäß der Überlieferung Meditation ausüben

können. Ich bitte euch zwei großen Meister, zur Erfüllung dieser Aufgabe in Tibet zu bleiben. Ich bitte euch, nicht nach Indien zurückzukehren.« Wir erhörten Trisong Detsens Flehen und entschlossen uns, die Schuften von Indien nach Tibet zu bringen und sie zu übersetzen. So wurden, gemäß der Prophezeihung, alle jungen Adligen Tibets versammelt, um die Kunst der Übersetzung zu erlernen und einhundert von ihnen wurden ausgewählt und nach Indien geschickt, um Sanskrit zu lernen. Unter ihnen waren Kawa Paltsek, Chokro Lui Gyaltsen,

Shangpo und besonders Vairocana. Ich, Padma, übersetzte die inneren und äußeren Tantras, und der Abt Shantaraks-hita übersetzte die Sutras und das Vinaya.

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Elftiundert tibetische Jugendliche, die als Mönche ordiniert worden waren, halfen zusammen mit den hundert tibeti­schen Übersetzern, die aus Indien zurückgekehrt waren, in der beständigen Erinnerung an ihre Lehrer bei der Über­setzung mit einhundert indischen Gelehrten, einschließlich Vimalamitra und Buddhagupta, die nach Tibet eingeladen worden waren.

Wir alle, die Übersetzer, Gelehrten, der Abt und ich, der Meister, zogen uns in das Kloster zurück, wo wir auf hohen Thronen mit seidenen Kissen saßen, in edle Gewänder gekleidet.

Uns wurden Konfekt angeboten und Goldgeschenke überreicht. Die Heiligen Schriften des Montrayana und der Sutren wurdeii sodann übersetzt: Die drei Teile der Tripitaka: das Vinaya, die Sutren und das Abhidharma; die prägnante, kurze und umfassende Form der Prajnapa-ramita;

die Mahaparinirvana-Sutra, die unstrittige Lehre, die von des Buddhas Übergang ins Nirvana berichtet; der Kriyayoga-Text von Dorjetsemo und alle äußeren und geheimen Montray ana-Tantras;

die Ashtaguhyamulamaya-Tantras; die Schriften über die Geistaspekte der Großen Vollkommenheit; das Astavachanadharmamula-Tantra in fünf, zehn und fünfzehn Tantras;

die Gesamtheit der Belehrungen und unzähligen internen und geheimen Montray ana-Tantras. Die Übersetzung dieser Sutras und Tantras schritt Tag und Nacht voran.

Die Gelehrten gaben eine gründliche Erläuterung der Texte und die Übersetzer, sorgfältig zuhörend, übertrugen deren Bedeutung ins Tibetische.

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Auf diese Weise wurde die erleuchtende Lehre in ganz Tibet eingeführt und unzählige Bände der Sutras und Tantras wurden kopiert.

An dem Glück verheißenden Tag, an dem die Schriften im Tempel niedergelegt werden sollten, wurden der himmlische Baldachin, das Siegesbanner, die Standarten der Götter, das Mandalaopfer und ungezählte Arten von Opfergaben vorbereitet und auf die sorgfältigste und gefälligste Weise angeordnet.

Sie wurden von vollständig geweihten Mönchen hoch ge­halten, die die Übersetzungen auf ihren Rücken trugen. Oberhalb dieser Prozession fuhren die Wagen der Überset­zer und Gelehrten, über denen himmlische Baldachine schwebten.

Rechts und links der Wagen wehten Siegesbanner. Mannigfaltige Melodien erklangen und Weihrauch schwebte der Prozession um den Tempel wie ein Herold voraus. An diesem Tag, an dem die Bände der übersetzten Schuften in der Tempelkammer im mittleren Stockwerk niedergelegt wurden, entfaltete Akashagarbha seine magischen, trans­formierenden Emanationen.

In der Yobok Ebene, vor dem Kloster Samyeling, wurden gepolsterte Sitze für die Übersetzer und Gelehrten aufge­stellt.

Als sie im Halbkreis saßen, wurde jedem das symbolische Modell des Universums aus Gold überreicht, ein Ewiger Knoten, feine Wäsche, seidene Roben, wollene Gei,vänder, ein Pferd, ein Maultier, ein männliches und ein weibliches Dzo, je eine Ladung feinen und groben Tuches, ein Sack Tee, einhundert Goldstücke und eintausend Silberstücke. Dann stieg König Trisong Detsen von dem Thron, stand vor ihnen und sprach von seiner eigenen Dynastie, den

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Vimalamitra war als direkter Schüler Sri Singhas einer der ersten Dzogchen-meister und einer der größten indischen Gelehrten. Er war sowohl der Meister des Nyang Wen Tingzin Zangpo als auch einer der Lehrer des Guru Rinpoche selbst. Er zählte zu den 8 Vidyadhara genannten »Wissenshaltern« Indiens.

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hiesigen Bräuchen und der unermesslichen Großzügigkeit und der heiligen Absicht von Übersetzern und Gelehrten. Vimalamitra, der bedeutendste der Gelehrten, sprach über den Ursprung des Dharma und über seine große Kostbar­keit.

Daraufhin sprach Vairocana, der bedeutendste unter den Übersetzern, von der Übermittlung des Dharma durch die Gelehrten.

Gos, einer der tibetischen Minister, brachte jedem ein Opfer dar und drückte aus, wie erfüllt die Minister des Königs seien. Die Untertanen des Königs opferten alle Luxusgüter, die sie angesammelt hatten und erwiesen den Übersetzern Dienste und Gastfreundschaft.

Die Gelehrten kehrten jeder in sein eigenes Land zurück und hinterließen in Tibet die religiöse Überlieferung wie das Strahlen der Sonne.

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DAS SIEBTE KAPITEL

Wie die Schüler eingeweiht werden, Reife erlangen und sich die Zeichen

ihres Erfolgs offenbaren

W ¥ f ährend ich, Padma, mein Sadhana in Abgeschiedenheit

an den oberen Hängen bei Chimpu, oberhalb des Klosters Samyeling übte, kamen König Trisong Detsen und Namkhai Nyingpo, Sangye Yeshey, Gyalwa Chokyang, Yeshey Tso-gyalma, Palgyi Wangchuk, Dorje Dunjom, Vairocana und andere der fünfundzwanzig Schüler zu mir, brachten mir das übliche Goldopfer dar und baten mich inständig um die Entfaltung des Mandalas der Einheit aller Sugatas. Nachdem ich das Mandala eröffnet hatte, gab ich ihnen die Einweihung in die Einheit aller Sugatas. Als während der Initiation bestimmt wurde, welcher der acht Herukas besänftigt werden sollte, fiel des Königs Blume auf Chemchok Heruka; Namkhai Nyingpos Blume fiel auf Yangdak; Sangye Yesheys Blume fiel aufjampe Shinjeshey ; Gyalwa Chokyangs Blume fiel auf Mamo;

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Dorje Dunjoms Blume fiel aufChoto und Vairocanas Blume fiel auf Drdknäk. So erschuf jeder Schüler sein eigenes Mandala. Nachdem die Übung vollendet war, offenbarte jeder Schüler ein anderes Zeichen des Erfolgs. König Trisong Detsen war allein kraft seiner strahlenden Erscheinung in der Lage, Menschen zu unterwerfen; Namkhai Nyingpo konnte auf den Strahlen der Sonne reiten; Sangye Yeshey konnte mit seinem Phurbadolch Felsen zerschmettern; Gyalwa Chokyang konnte aus dem Scheitel seines Hauptes einen Pferdekopf wiehern lassen; Yeshey Tsogyalma konnte Tote wieder zum Leben erwecken; Palgyi Wangchuk konnte durch das Erheben seines Phurba

Tod durch Fieber bewirken; Dorje Dunjom konnte sich unbeschränkt wie der Wind bewegen; Vairocana konnte einem Sklaven den Stolz zurückgeben: Diese und viele andere Zeichen wurden von dm Schülern

verwirklicht. Später wurden die erfahrenen Schüler in das allumfassende Mandala der Einheit des Geistes des Lamas eingeweiht, in die Einheit des Geistes des Heruka, in die Einheit des Geistes der Dakini, in die Einheit des Geistes des Dharmapala. Dann befreiten sie sich vom karmischen Zyklus von Geburt und Tod durch das Befolgen der Regeln, die sie erhalten

hatten. Die Übungen wurden durch Meditationsschulen in ganz Tibet verbreitet.

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Vairocana war nicht nur einer der ersten Dzogchenmeister, sondern auch Linienhalter der Bön-Tradition und der Wichtigste unter den tibetischen Übersetzern von buddhistischen Schriften.

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DAS ACHTE KAPITEL

Wie der Inbegriff des Dharmaozeans offenbart und in einem geheimen Lager

verborgen wird

ch, Padma, entwickelte in meinem mitfühlenden Geist die Absicht, dem König und anderen Schülern die Einwei­hung in die Kurzfassung vom Inbegriff des Dharmaozeans selbst zu gewähren.

Weil die Schüler in Tibet, obwohl sie die Lehre in erhellender Weise erklärt bekommen hatten, Meditation geübt und deren Früchte geerntet hatten, Zeichen der Errungenschaft offenbart hatten, die zeigten, dass sie die Belehrungen des Tripitaka, der Tantras und sowohl die innere als auch äußere und sogar die tiefgründigste Essenz der geheimsten mündlichen Unterweisung des Mantrayana beherrschten, hatten sie den­noch keine Einweihung in die unerlässliche Quintessenz der Belehrung vom Inbegriff des Ozeans des Dharma. Zu dieser Zeit kamen König Trisong Detsen und seine drei Söhne zu mir nach Chimphu mit dem drei Tage alten Leichnam ihrer Tochter und Schwester mit der Bitte, sie wieder zürn Leben zu erwecken, und sie flehten mich um. die Einweihung an.

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Ich legte ihnen den Inbegriff des Dharmaozeans vollständig dar. Später, als ich die Absicht hatte, die Schätze meines Geistes zu verbergen, indem ich sie in die geheime Schicht des Verstehens einpflanzte, versammelte ich König Trisong Detsen und seine drei Söhne, die Prinzen Munetsempo, Murubtsempo und Mutriktsempo um mich; die Übersetzer Langdro Konchohjungney, Nyakchen Gyana Kumara, Vairocana und Suba Palgyisengey; Nyang Wen Tingdzin Zangpo, Dorje Dunjom, Palgyi Wang-juk, Otren Wangyuk und Atsara Saley; die Yoginis Seikar Dorjetso, Trokpanlo und Yeshey Tsogyal; die drei Gemahlinnen der Prinzen und andere; sie alle kamen zur ätherischen Festung der Provinz Kham. Dort entfaltete ich für sie den Inbegriff des Dharmaozeans und gewährte den reifen Schülern die Einweihung. Sodann setzte ich für sie die essentielle mündliche Unter­weisung frei, deren Richtlinien und Regeln vollständige Befreiung von Samsara gewähren, woraufhin sie sieben fähre meditierten, bis sie die Einspitzigkeit der Konzentra­tion des Geistes erreichten, deren Erringen durch große Zeichen geistiger Fähigkeit offenbart wurde. Die Schüler enthüllten große Macht:

König Trisong Detsen konnte völlig frei durch Berge hin­durchgehen;

Munetsempo konnte das Mandala derHerukas visualisieren; Mumbtsempo hatte die Einheit von Einsicht und Glückse­ligkeit erlangt;

Mutriktsempo hatte die wahre Natur seines Geistes gefunden; Vairocana stieg wie ein Vogel in den Himmel auf; Gyalwa Chokyang konnte seinen Körper in eine rasende Feuersbrunst venvandeln;

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Langdro Konchok Jungney wurde zu einem weiten Raum aus Licht;

Sangye Yeshey konnte augenblicklich jedes Ziel erreichen; Nyakchen Yeshey Shonnu erreichte die letztendliche Ver­wirklichung am Ende des Weges;

Kharchen Tsogyal ließ aus Felsen das Wasser ewigen Lebens hervorquellen;

Atsara Saley konnte mit seinen bloßen Händen Felsen zerschmettern; Trokmi Palgyiyeshey konnte mit seinem feurigen Auge ganze Wälder verbrennen; Dorje Dunjom konnte mit seinem Blick den Ozean aus­trocknen; Nyong Wen Tingdzin Zangpo konnte sich ungehindert durch Felsen hindurchbewegen; Selkaza konnte zornige Dakinis einfangen. Die Schüler offenbarten am Ende ihrer Übung viele wun­derbare Zeichen ihrer Vollendung, die in der magischen Schrift der Dakinis niedergeschrieben wurden, um dann in geheimen Lagern an sieben heiligen Orten verborgen zu werden.

Ich weissagte, dass dieselben Schüler wiederkehren würden, um die Schätze, die sie verborgen hatten, wieder zu bergen und gab ihnen besondere Anweisungen, wie diese geheimen Belehrungen aus den geheimen Lagern mit Wunschgebeten für ihre Verbreitung herauszuziehen seien. Während der degenerierten Zeit des Kaliyuga, wenn das Lebensalter eines Menschen nicht mehr als dreißig Jahre beträgt, wird es weitere Hinweise über die Natur des Pfads geben, wenn die Schätze in der vorletzten Ära vor der letztendlichen Zer­störung wiedergefunden werden.

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DAS NEUNTE KAPITEL

Wie die Schätze verborgen und ihre Entdeckung vorausgesagt wird

_ „ ie Gesamtheit der essentiellen Lehre wurde in den fünf Schriften der fünf Übertragungslinien auf den fünf Arten von Pergament niedergeschrieben und in ausgesucht wun­derbare Truhen gelegt.

Diese Schatztruhen, sowohl große als auch Meine, wurden in Lhasa, Samye, Yoru und Tradruk versteckt, den vier Klöstern, in denen alle Unreinheiten vollständig ausgeräu­chert worden waren, sowie in den acht Klöstern, die teilweise geheiligt worden waren.

Ungezählte Schätze wurden in geheimen Schichten und Erzlagern in Yarlung, Seitrah, Lhotrak, Kharchu, Drakyi Yangdzong, Yerpa Dawaphuk, Yamalung, Tsangi Zabpu-ling, Riwotrazang, Tsangin Woche, Gangri Lachi, Yolmo Gangra, Namkechen, Mongyi Negye, Tsari Gyalasengdam, Puwoiny und besonders Tidro Drakar verborgen. In Ober-und Unter Kham verbarg ich Schätze an fünfundzwanzig heiligen Orten; fünf im Buddhakörper, fünf in der

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Buddhasprache, fünf im Buddhageist, fünf in seinen himm­lischen Attributen und fünf in seiner vollendeten Handlung. Ich verweilte an diesen verschiedenen Plätzen, meine Sad~ hanas ausübend, um die Schätze zu weihen, bevor ich sie in den Geheimlagern verbarg. Zur Zeit Trisong Detsens und seiner Söhne breitete sich die Lehre über das Land aus wie das Tageslicht in der Morgendämmerung, aber ich sah vorher, dass es nur drei Generationen dauern würde, bis der rachsüchtige König Langdarma, der Ochshäuptige, die Reinkarnation eines missbrauchten Lasttieres, das Streben der Menschen um­kehren würde.

Ich weissagte, dass das durch Langdarmas Minister Trayi Gochen, den Habichtköpfigen, angerichtete Chaos die Basis des Buddhadharma zerstören würde. Zu dieser Zeit würde der Bedarf für die Lehre groß sein. Die Reinheit des Geistes der fünfundzwanzig Schüler und die Kraft ihrer Bodhisattvagelühde, auf die Erleuchtung aller Wesen hinzuarbeiten, würden jedoch zu ihrer Wie­dergehurt als Tertöns führen, verkörperte Ausstrahlungen meiner Seihst, welche die Schätze aus ihren Verstecken heben würden und die magische Schrift der Dakinis zum Verständnis eines jeden, der Unterweisungen benötigte, übersetzen würden.

Ich sagte vorher, dass die zwei großen Tertöns, Guru Chokyi Wangjuk und Nyong Nyima Özer, zuerst kommen würden, gefolgt von zwanzig Tertön Lingpas, wie Orgyen Lingpa, Karma Lingpa, Padma Lingpa und so weiter, zusammen mit einhundert. Tertöns, allesamt Meistern der Lehre. Danach, ihren Vorgängern folgend, würden zweiundzwan-zigtausend geringere Tertöns erscheinen und erneut unzäh­lige Schätze finden.

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Wann immer ein großer Tertön erscheint, wird es Hunderte von Dharmaerben geben, um die Belehrungen zu meistern und sie zu verbreiten. Es würde einen Tertön für jedes Tai geben, und wo immer ich Meditation praktiziert habe, würden einige verborgene

Schätze gefunden werden; in jedem Kreis gäbe es einen berühmten Siddha; in jeder Stadt gäbe es einen Meister der Rituale, einen würdigen Empfänger der Opfergaben; in jedem Haushalt gäbe es einen, der die spirituelle Disziplin ausübt, jemand der Verehrung würdig; und außerdem gäbe es in jedem Haushalt einen tantrischen Yogi, der böse Kräfte unterwirft und austreibt. Auf diese Weise bestimmte ich, dass die Lehre sich bis in den letzten Winkel der Erde durch meine verkörperten

Formen ausbreiten würde. Mögt ihr Menschen Vertrauen gewinnen, indem ihr sie mit reiner, unvoreingenommener Wahrnehmung erkennt!

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DAS ZEHNTE KAPITEL

Worin den Menschen Tibets ein Vermächtnis hinterlassen wird, als Padmasambhava abreist,

um die kannibalischen Wilden des südwest­lichen Inselkontinents zu unterwerfen

ff

i ln dem Sutra der Prophezeiung sagte Buddha Shakyamuni vorher, dass die wilden Rakshasas des südwestlichen Insel­kontinents nach Dzambuling herabkommen und es zerstör ren würden. Nun, da die Feinde der Buddhanatur unterworfen worden waren, entschied ich mich, in den Südwesten abzureisen, um jene Wilden zu unterwerfen. Ich teilte meine Entscheidung dem Prinzen Murubtsempo mit, der mich tränenüberströmt und voller Trauer anflehte, nicht zu gehen, da die Menschen nicht ohne mich sein könnten. Aus großem Mitgefühl vertagte ich meine Abreise, um den Menschen Tibets zu helfen, indem ich ihnen die wesentlichen Belehrungen für die Zukunft vermittelte.

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Ich sagte die Erscheinung meiner Stellvertreter voraus, welche die bevollmächtigten Vertreter meiner mitfühlenden Macht sein würden; ich verbarg das Echo meiner Rede in geheimen Lagern zum Wohl zukünftiger Generationen; ich übertrug denjenigen meiner Schüler, die entsprechend veranlagt waren, meine Erkenntnisse. Auf diese Weise beschwichtigte ich den verzweifelten Prin­zen, entschlossen, nun unverzüglich zum Land der Wilden aufzubrechen. Eine große Menschenansammlung geleitete mich zu dem Pass des Landes Mangyul, wo ich dem Prinzen und den Menschen Tibets mein letztes Geschenk übergab. Dieses Vermächtnis, das ich auf dem Khalarong Pass in Mangyul und an anderen Orten verbarg, bestand aus drei­zehn Regeln, welche alle Hindernisse überwinden würden, die dem Fortbestand der tantrischen Linie von Trisong Detsen entgegenstanden.

Wunschgebete, innere Übungen und Techniken waren in diesen Texten enthalten. Dann gab ich, Padma, meinen Anhängern und jenen, die alle als Schatzfinder in der Zukunft wieder geboren werden würden, letzte Anweisungen : Zukünftige Generationen, die mir nicht begegnen können, müssen die Ausführungen dieses Textes über meine spiri­tuelle Praxis und selbstbefreiende Existenz in dieser Welt lesen, und, eine klare Sicht seiner Bedeutung gewinnend, gemäß seinem ihm innewohnenden Befehl leben und da­durch in allen Dingen vollkommen werden. Erinnert euch an mich, während ihr diese selbstbefreiende Geschichte sechsmal täglich lest, und sprecht folgendes Wunschgebet:

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E ma ho!

Kuntuzangpo und Dorjechang sind mein Körper unendlicher Einfachheit! Dorje Sempa und Sakya Tuhpa sind meine Lehrer! Tsepame und Chenrezig sind meine Beschützer! Ich bete zum Lotusgeborenen Guru, mit dem sie vereint sind. Mein Buddhakörper istjampey Shinjeshey! Meine Buddharede ist Wangchen Taketserpa! Mein Buddhageist ist Yangdak Heruka! Ich bete zum wunscherfüllenden Guru! Mein göttliches Merkmal, der Strahlende Unter­werfer des Bösen, ist Chemchok Heruka! Meine vollkommene Handlung wird von dem Buddhakörper Dorje Shonnus ausgeführt! Ich bete zum glorreichen Thödtrengtsal, dem siegreichen Meister der zornvollen Dakinis! In der Sphäre des Buddhakörpers sind zornvolle und friedliche Emanationen; im melodischen Klang der Buddharede sind die zwölf Töne;

mein Geist, alles umarmend, ist ohne Hindernis! Ich bete zum erhabenen Herrn der Dakinis!

Prophet himmlischer Herrscher, der die geheimen Beleh'ungen verborgen hat, und das Usprüngliche Gewahrsein all denen überträgt, die initiiert sind und entsprechend gutes Karma dafür haben.

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Erblasser eines freundlichen Vermächtnisses an die Menschen der Welt, ich bete zu dir, gnadenvoller Körper des Mitgefühls! Deiner Liebenswürdigkeit gedenkend, kostbarer Guru, den Bund mit dir erhaltend, bitte behalte uns in deinem Geist! Keine andere Hoffnung kann in die­ser sorgenvollen Zeit entstehen! Sieh auf uns mit Mitgefühl, Orgyen Tidku! Weise den Aufruhr und die Verwirrung dieser bösen Zeit durch deine Geschicklichkeit und Macht zurück! Bitte gewähre uns den Segen der Einweihung in das Verständnis unserer wahren Natur! Bitte erweitere unsere Fähigkeit, die Natur unseres Geistes und der Erfahrungen zu verstehen! Bitte gewähre uns die Fähigkeit, allen Wesen durch die Lehre zu helfen, so dass wir Buddhaschaft in die­sem. Leben erlangen]

Nachdem ich, Padma, die Menschen ermahnt hatte, sich auf diese Weise um die Buddhaschaft zu bemü­hen, bestieg ich das magische Pferd und wurde so­dann von den vier Dakinis empor getragen. Nochmals sprach ich zu den Menschen: Ich werde am zehnten Tag nach Neumond eines jeden Mondes, besonders jedoch am zehnten Tag des Affenmonats kommen, um das Leid der Menschen auf der Welt aufzuheben.

Gebt nicht auf, zu beten! Dann wandte ich mein Gesicht nach Südwesten und ließ alles zurück. Der Prinz Murubtsempo und seine Untertanen kehrten zurück, ein jeder in sein eigenes Haus, ein jeder zu seiner eigenen Übung.

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Kolophon

Diese Lebensgeschichte des Guru Orgyen Padma wurde von

Yeshe Tsogyal niedergeschrieben und in einer Geheimlade ver­

borgen. Möge sie in einer gnädigen Zeit in den Besitz von jemand

mit spirituell entwickelter Persönlichkeit gelangen! Möge un­

endlicher Nutzen daraus entstehen zum Wohl aller Wesen!

Diese Lehren sind durch heilige Eide dreifach versiegelt.

Samaya Gya Gya Gya. Gehorche dem Wort des Guru.

Postscript des Entdeckers und Übersetzers:

Der große Tertön Orgyen Chogyur Lingpa zog dieses Terma aus

dem Karmai Damchen Felsen. Auf Anraten des Abtes Shechen

Rabjam wurde der Text von Könchog Orgyen ins Deutsche

übersetzt und von Guru Rinpoches Könchog Dorje überarbeitet,

in der Hoffnung, den Segen für alle Wesen zugänglich zu machen

und bald die Sonne seiner Emanation wieder aufgehen zu sehen.

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TERMA - VERBORGENE GEHEIMLEHREN

UND VISIONÄRE OFFENBARUNG

Die vorliegenden Texte gehören zur Terma-Literatur des tibeti­schen Buddhismus.

Terma heißt »verborgener Schatz«. Dabei handelt es sich im Regelfall um Belehrungen, Meditationsanweisungen und liturgi­sche Texte, die auf den großen Guru Padmasambhava, den zweiten Buddha unserer Zeit, zurückgehen. Dieser sah in pro­phetischer Weitsicht die Verfolgung des Buddhismus und die daran anschließende Zerstörung aller buddhistischen Texte im neunten und zehnten Jahrhundert voraus und veranlasste deshalb insbesondere seine Gefährtin Yeshe Tsogyal und seine 25 engsten Schüler, all seine Worte aufzuzeichnen und über ganz Tibet, Nepal und Bhutan verteilt an geheimen Plätzen zu verbergen. Vom elften Jahrhundert an, als in Tibet stabile Zustände das Wiederaufblühen des Buddhismus ermöglichten, wurden diese Texte dann wieder entdeckt. Der erste große Tertön oder Schatz­finder war Sangye Lama (1000-1080), aber selbst der Reformer Atisha, der sich gegen die mystischen Praktiken der Nyingma-oder Alten Schule wie die Anerkennung visionär offenbarter Texte als eins mit der ursprünglichen Lehre Buddhas aussprach, und der eigentlich nur originale Sanskrittexte indischen Ur­sprungs gelten lassen wollte, entdeckte wohl zur eigenen Über­raschung einige Schriftrollen. Auch der fünfte Dalai Lama, das Oberhaupt der Gelug- oder Neuen Schule war ein Tertön.

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Gerade die Gelugpa, die einen sehr wissenschaftlich orien­tierten Ansatz hatten und verhältnismäßig wenig Sinn für das Mystische, lehnten Termas als nicht authentisch generell ab, weshalb auch bis jetzt sehr wenige »verborgene Schätze« in westliche Sprachen übersetzt wurden, da die meisten Wissen­schaftler mit gelehrten Geshes des Gelbmützenordens zusam­menarbeiteten.

Dabei ist die Idee des »Termas-« nicht tibetischen Ursprungs, obwohl sie bestimmt in Tibet ihre höchste Ausformung und Blüte erlebten.

Selbst die Prajnaparamita-Sutras, die heute noch in jedem Zen-Kloster und Tempel des Mahayana-Buddhismus täglich re­zitiert werden, sind genau genommen Termas, die Buddha Sakyamuni in Höhlen im Reich der Nagas, mythischer Wesen, halb Schlange, halb Mensch, verbarg und die dann von Arya Nagarjuna im zweiten Jahrhundert wieder entdeckt wurden.

So fängt das berühmte »Herz der höchsten Weisheit-Sutra«, kurz: Herz-Sutra, mit den erläuternden Worten an: »Einst, als Sakyamuni Buddha auf dem Geierberg in tiefer Meditation verweilte, entdeckte Avalokiteshvara, tief in der Natur des Geistes versenkt, folgende Wahrheit ...«, die er dann Shariputra, einem der Hauptschüler offenbarte. Als die Belehrung zu Ende war, öffnete Buddha die Augen, lächelte Avalokiteshvara an und sagte: »So ist es. Genau, wie du es gesagt hast, ist es.«

Dieser Ausspruch erhebt die Erkenntnis von Avalokiteshvara in die Klasse der Lehrworte des historischen Buddha selbst, weswegen diese Literaturgruppe auch den Sutras - den Lehr­reden - zugeordnet wurde. Auchjanet Gyatso weist in ihrer Studie über Thangston Gyalpo, den »Leonardo da Vinci« Tibets, auf die Kontinuität der visio­nären Tradition im Buddhismus schon in der klassischen indi­schen Zeit hin. Einsichten, die zu ganz neuen Lehrgebäuden führten", wurden bereits frühzeitig als offenbarte Worte Buddhas in der Form von Sutras oder Tantras eingeführt. Die notwendigen Impulse zur Erneuerung und Integration vitaler neuer Einsichten mussten mit dem legitimen Anspruch, authentisches Buddha-dharma und Apokryphen unterscheiden zu können, ausgesöhnt werden.

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Daraus entwickelten sich mehrere Methoden, die Legitimität eines Textes zu etablieren. Bereits beim 1. Konzil in Rajagriha versuchten die älteren Schüler um Ananda, die Worte des Buddha autoritativ zu kanonisieren, um sie dann niederzuschreiben. Und so beginnt beinahe jeder Text des Palikanon mit »So habe ich es einst vernommen...«, um zu dokumentieren, dass die folgende Lehrrede eine ursprüngliche Aussage Buddha Shakyamunis sei. Sogar die Jahrhunderte später entstandenen Tantras authentisie-ren sich durch diesen Beginn.

In den bereits erwähnten Prajnaparamita-Sutras wird eine weitere Entwicklung eingeleitet. In einem der frühesten Texte dieser Gattung wird gesagt, dass ein echter Jünger des Buddhas die Ermächtigung habe, Belehrungen zu geben, die als direkt aus der Kraft und Weisheit Buddhas stammend angesehen werden sollten. Dass durch diese Ermächtigung, die im Sanskrit adhistana oder auch anubhava genannt wird, auf mystische Weise neue Lehren inspiriert werden könnten, war einer der Gründe, der die aufkommende Mahayana-Bewegung so vital und erfolgreich sein ließ. Nagarjunas Bericht, wie er die Lehren aus dem Reich der Nagas mitgebracht habe , die sie seit Siddharta Gautamas Zeiten sicher- dort verwahrten, diente ohne Zweifel dem Anspruch auf Glaubwürdigkeit ebenso gut wie Asangas Bericht, in den Tushi-tahimmel geführt worden zu sein und dort die Yogacara-Lehren direkt vom zukünftigen Buddha Maitreya erhalten zu haben.3

Auch die tibetische visionäre Literatur, die bis ins 20. Jh. im ungestörten Fluss erscheint und sich durch direkte Offenbarung selbst authentisiert, ist ein Beispiel dafür, wie offen und dynamisch die spirituelle Entwicklung der Lehre war und ist.

In der Tat führte diese lebendige Fortentwicklung des Lehr­gebäudes zu der Notwendigkeit der Klassifizierung der Übertra-gungslinie, wie Eva Dargyay darlegt.

Die erste Klassifizierung ist die Kama-Tradition, die so ge­nannte lange Übertragung, da sie in ungebrochener Folge münd­licher Belehrungen von Meister an Schüler weitergegeben wurde. Der gesamte tibetische Kanon, sowohl Sutras als auch Shastras und Vinaya gehören hierzu. Im Besonderen jedoch wird dieser Begriff für die Vielzahl buddhistischer Tantras - also esoterischer Texte visionärer Natur - verwendet.

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So enthält die Kamalinie der Übertragung also den ganzen »Kangyur« und »Tangyur«, wie auch die hunderttausend Tantras der Alten Schule, das » Nyingma brgyud 'bum«.

Die zweite Klassifizierung ist die der Termas oder verborge­nen Schätze. Die Erdschätze - Sa ter - enthalten Schriften, Ritualgegenstände oder Arzneien. Gong ter, die Geistschätze, wurden von einem der Buddhas der Vergangenheit oder einem esoterischen Meditationsbuddha in der Natur des Geistes einge­pflanzt und wenn die rechten Umstände entstehen, werden sie spontan im Bewusstsein des Visionärs aktiviert. Weitere Klassen sind die »Erinnerten Schätze«, bei denen sich der Tertön spontan an frühere Leben und darin erhaltene Belehrungen der Buddhas oder Guru Rinpoches erinnert. Manchmal reicht es aus, an dem gleichen Ort zu verweilen, an dem seinerzeit die Belehrungen stattfanden.

Auch »Wieder entdeckte Schätze« -Yang ter - gehören hierher. Es handelt sich bei ihnen um Schätze, die eigentlich für einen anderen Tertön zu finden vorgesehen waren und deshalb auch flugs wieder versteckt werden. Der große Jamgon Kongtrul beschreibt Geistschätze mit Begriffen wie »Diamant­körper, der die Essenz der Erleuchtung ist«, um darauf hinzu­weisen, dass die Lehren sich in dem Zustand direkter Erfahrung absoluter Wahrheit selbst formen und erklären und zwar aus einem »Platz im Raum, im Zentrum der leuchtenden Klarheit«. An anderen Stellen sagt er: »Manju, genauso wie die vier Elemente aus der Vorratskammer des unendlichen Raumes kommen, so entstehen alle Geistschätze aus der Schatzkammer des Bewusst-seins der Buddhas.« Termas vereinigen die Notwendigkeit, das Kontinuum der Lehre zu erhalten, mit dem Bedürfnis, die Anwendung zu aktualisieren. Die dritte Klassifizierung ist als »Reine Vision« - Dagnang -bekannt. In dieser Art der Tantrischen Einsicht erhält der Yogi oder Meister seine Belehrungen und Autorisierung direkt von einem himmlischen Buddha oder Meister einer vergangenen Epoche. Das Treffen mag in der realen Welt oder einem der Buddhafelder oder Reinen Länder stattfinden. Im Gegensatz zu Geistschätzen wird hier jedoch nicht aus dem Schatz des Buddha­geistes geschöpft, sondern wortgenaue Belehrungen empfangen,

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und visuelle und auditive Erfahrungen stehen im Vordergrund. Diese Visionen können entweder im Traum, in der meditativen Klarsicht oder in der Alltagsrealität erscheinen.

Ein interessanter Aspekt ist der, dass diese Visionen nicht nur das Ziel der Praxis waren, sondern häufig auch Begleiter­scheinungen, wenn Yogis enttäuscht über scheinbare Misserfolge ihre Übung aufgeben wollten.

Umgekehrt führte die Eindringlichkeit und Wirkungskraft dieser Visionen dazu, dass aus den Erfahrungsberichten der Visionäre ritualisierte Übungsanleitungen - so genannte Sadha-nas - formuliert wurden, die den visionären Verlauf nachvoll­ziehen und die Aktualisierung eben dieser Erfahrung zum Ziel haben.8

So ist also die Visualisation der Visionen früherer Meister eines der bis heute gebräuchlichsten Mittel tibetischer Meditation und gleichzeitig wird die tatsächliche Erfahrung einer solchen Vision dann als Kulmination und Erfolgsbeweis der Übung angesehen!

Kongtrul Lödro Thaye erklärt die Erfahrung von reinen Visionen so: »Mögen, alle Wesen den Klang der Wahrheitslehre ständig von den Vögeln, Bäumen, den Sonnenstrahlen und dem ganzen Himmel vernehmen. Da Bodhisattvas ständig für die Erleuchtung aller Wesen beten, hören sie ständig den Klang der Wahrheit in den Geräuschen der Elemente, wilden Tiere und allem. Darüber hinaus zeigen die Buddhas ihr Antlitz und lehren sie. Obwohl die Buddhas in anderen Dimensionen weilen, zeigen sie ihr Antlitz den Bodhisattvas, die mit Hingabe erfüllt sind, sich tugendhaft verhalten und nach Wahrheit dürsten.«

Kongtrul Rinpoche zitiert ebenfalls indische Quellen, wie das Samadhisutra, um zu belegen, dass schon dort die Meinung vertreten wurde, dass es einen Überfluss an verborgenen Dhar-ma-Lehren gäbe, die von einem Bodhisattva mit gereiftem Ein­sichtsvermögen und erwachter Weisheit entdeckt werden könn­ten. Der Schlüssel ist hier, ganz wie im Märchen, »zur rechten Stunde am rechten Ort« gewesen zu sein, um die Offenbarung zu empfangen!

Hier zeigen sich auch die Parallelen zum Schamanismus, wo

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ebenfalls die visionäre Offenbarung als Zeichen des Erfolges gewertet wird.

Die schamanische Tradition Tibets kannte eine Vielzahl der von Padmasambhava, Milarepa und anderen buddhistischen Yogis zur Schau gestellten Wunder wie Fliegen, Hagelstürme abwenden oder Dämonen unterwerfen.

Doch wichtiger war die Aufgabe des Schamanen, als Visionär die Verbindung zum Universellen und Göttlichen herzustellen und durch seine Visionen die menschliche Gemeinschaft über den Willen der Götter zu informieren. Insofern tat Guru Padma, was die Kultur erwartete: Er zeigte durch seine schamanischen Darbietungen, dass er aus gleichem Holz wie heimische Scha­manen geschnitzt, zugleich jedoch durch seine Vision einer tieferen Dimension spiritueller Erfahrung, namentlich der Einheit von relativ und absolut, Erleuchtung und AUtagsgeist sowie Mitgefühl und Freiheit, mächtiger war. Wie Helmut Hoffmann -schreibt, gab es auch indigene Bön-Mythen, in denen junge Schamanen bis zu 13 Jahre lang in den Himmelsraum flogen, um neue Lehren zu erhalten, mit denen sie ihrem Volk helfen konnten. So vereinigte Guru Rinpoche zwei Traditionen und vertiefte dabei die einheimische, warend er der alten indischen eine neue Dynamik gab, die bis heute anhält.

Zwei der Hauptkritikpunkte an der Termaliteratur durch die Neue Schule sind zum einen, dass die in ihr beinhalteten & Dzogchen-Lehren deswegen angezweifelt werden, weil sie An­klänge an den chinesischen Taoismus und den Zen~Buddhismus haben, der in Tibet als Häresie abgelehnt wurde, aber auch an den Kashmir Shaivismus und den vorbuddhistischen Schama­nismus, und damit eine Verfälschung der reinen Lehre Buddhas seien.

Wenn Erleuchtung aber überhaupt existiert, ist die Erfahrung des Absoluten immer dieselbe, und deswegen sprechen diese Parallelen für die Universalität der Dzogchen-Lehre und zeigen eher ihre Tiefe als ihre Unverbindlichkeit. Denn wenn es die Erleuchtung tatsächlich gibt, kann es keine buddhistische, hin-duistische oder schamanistische geben - entweder es ist eins oder es ist keins.

Zum anderen ist den Gelehrten die Tatsache unheimlich,

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dass Termas in verschiedenen Kategorien gefunden wurden. Die bekanntesten sind die »Erd-Schätze«. Normalerweise sind dies Manuskripte oder rituelle Gegenstände, die in Höhlen oder Tempeln, hinter Wandverschalungen oder losen Steinen, mitten im Fels oder in der Erde verborgen wurden. Da sie physisch manifest sind, ist ihre Authentisierung relativ einfach. Schwierig wird es mit den anderen Termas. Diese teilt sich auf in verschie­dene Kategorien, wie Feuer-, Luft-, Wasser- und Geistschätze. Viele dieser Schätze sind in der so genannten Dakinischrift niedergelegt. Das heißt, sie sind hoch konzentrierte und mit Symbolen kodifizierte Texte, die nur aus einigen Piktogrammen oder, zum Beispiel aus in eine Baumrinde geritzten, angedeuteten Schriftzeichen bestehen können. Für einen initiierten »Tertön« sind sie jedoch lesbar und aufschlüsselbar, wobei es sich aber nicht um einen erlernbaren Geheimcode, sondern um einen Bewusstseinszustand handelt, der ihnen diese Fähigkeit verleiht. Die Schatzfinder sind auch allesamt Ausstrahlungen von Guru Rinpoche selbst, oder Wiedergeburten seiner 25 Schüler. Aber damit nicht genug - von allen ist auch prophetisch angekündigt, wann sie erscheinen und was sie finden werden.

Diese Schatzfinder sind in der Lage, die so genannten Daki-nischriften im Glitzern der Sonne auf den Wellen, dem Flackern der Flammen im Feuer, dem Flug der Wolken oder in der strahlenden Klarheit ihres eigenen Geistes zu erkennen. Wo unsereins nur Wellen oder Flammen sieht, entsteht dem Tertön das ganze, photographisch genaue Bild einer Schrift. Interessant dabei ist, dass sie zum Teil in ausgestorbenen Sprachen, wie der von Oddiyana, einem West-Afghanischen Königreich um die Zeitwende, oder in Schriften, die dem Schatzfinder unbekannt sind, wie Sanskrit oder Apabhramsa, erscheinen. Der große Jamgon Kongtrul bemerkte über Chogyur Lingpa, einen der produktivsten Schatzfinder des letzten Jahrhunderts, er sei sogar ein Analphabet gewesen. Trotzdem kann ein Tertön die Texte genau erkennen und abmalen oder -schreiben. So sagt der Finder des vorliegenden Textes von sich selbst: »In einem exaltierten Zustand, hochfliegend wie ein Vogel und flink wie ein Fisch, fand ich diesen Schatz. Möge er allen Wesen dienen!«.(Vgl. S. 165)

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Der bedeutungsvollste Aspekt der Termas aber ist, dass sie, obwohl schon um 800 n.Chr. aufgezeichnet, oft ganz konkrete Ereignisse und Probleme einer zukünftigen Zeit und ihre Lö­sungen ansprechen, und zwar entsprechend der spirituellen, politischen und sozialen Situation, so dass sie den größtmögli­chen Nutzen bringen.

Deswegen sind Termas ein dynamischer Prozess, der un­trennbar mit unserer konkreten Situation - hier und jetzt - zu tun hat. Dies ist auch der Grund, weshalb Tertöns, durchaus liberal, aus hoch konzentrierten Hieroglyphen auf Steinen oder aus inneren Bildern und Symbolen, in ihrer geistigen Schau (ähnlich wie aus den Piktogrammen des chinesischen I Ging) Einsichten formulieren, die in ihrer Prägnanz und Aktualität wohl einmalig sind, aber gleichzeitig auf eine lebendige Art und durch ein pulsierendes Band mit dem Quell aller Schätze, Guru Padma selbst, verbunden sind. Dies ermöglicht eine ständige Erneuerung und Belebung der Lehren, die sie den staubigen Fingern der Gelehrten und Kirchenpröbste und Religionsver­walter immer wieder aufs Neue entzieht,

So sagt einer der besten Kenner der Alten Schule des tibe­tischen Buddhismus, Keith Dowman: »Die Doktrin der Offen­barung ist viel mehr als ein geschicktes Mittel, die »Lehre der Wahrheit« den Händen wissenschaftlicher Totengräber dadurch zu entreißen, dass sie beständig den zeitgenössischen Bedürfnis-, sen entsprechend neu belebt wird, sondern ein direkter Zugang zum Buddhageist selbst.« Und er fährt fort:»Jedes Wesen, das existiert, oder gleichzeitig jeder Augenblicks-Punkt der Erfah­rung, ist eine göttliche Chiffre der Totalität des Seins, in der gleichen Weise, in der jeder Lichtpunkt eines Hologramms das gesamte Bild und jede Zelle des Körpers, dessen Code und das Wachstumspotential des gesamten Organismus enthält.«

Auch Chhimed Rigdzin Rinpoche, ein hoher Tulku der Nying-ma~Schule, gibt im Nachwort eine kurze scholastische Darstel­lung der tibetisch-buddhistischen Glaubensvorstellung bezüglich der Termaliteratur. Da der Ursprung dieser Texte zum Teil in vergangenen Äonen und Galaxien oder gar in rein geistigen Welten angesiedelt wird, ist es zwangsläufig, dass der Versuch,

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eine historische Kongruenz und Abfolge zu schaffen, immer in die mystische Zeit hineinreicht. Jeder historische Bezug ist in seiner UnvoUkommenheit also immer auch ein Fingerzeig auf einen Manifestationsaspekt des Absoluten, das per se außerhalb von Zeit und Raum liegt. Der Versuch, geschichtliche Zeitab­folgen zu schaffen, ist nur eine Annäherung des Mystischen an unser konditioniertes Bewusstsein und seine Zeitorganisation im linearen Ablauf.

Dass Chhimed Rigzin. Rinpoche, der selbst als Tertön solche verborgenen Schätze gefunden hat, die Übersetzung und Kom­mentare authentizitiert, obwohl der Wurzeltext weniger wörtlich übersetzt, als vielmehr freizügig nacherzählt oder sogar »aus dem gleichen Lehm neu getöpfert« wurde, ist eine grosse Er­mutigung für die Übertragung des Dharmas in den Westen.

Keine andere Form der heiligen Schriften der buddhistischen Lehre ist für diesen Übersetzungansatz besser geeignet, denn es ist ihr spezieller Zweck, die Wahrheit der Lehren den Gegeben­heiten der Zeit entsprechend zu vermitteln.

Wenn durch diese freie Übersetzung das Interesse an einer wortgenauen, tibetologischen Übersetzung dieses Textes ge­wachsen ist, findet man sie bisher leider nur in englischer Sprache bei der Padmakara Translation Group La Sonnevil, St. Leons/Vezere, F-24290 - Montegnac.

Bis zu einer deutschen Veröffentlichung hoffe ich, dass die vorliegenden Texte sich für den Leser als »verborgene Schätze« herausstellen, und Viele ermutigt, die befreiende Kraft der Termaliteratur durch Praxis zu erschließen.

Dass diese Gattung heiliger Schriften Tibets als authetischer Buddha-Dharma erkannt wird und selbst in der Krise unseres überbevölkerten Planeten am Ende des zweiten Jahrtausends die Hoffnung und das Vertrauen auf die Immanenz des Absoluten erweckt und stärkt, ist meine Motivation.

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NACHWORT

VON S.E. KHORDONG TERCHEN TULKU CHH1MED

RIGDZIN RINPOCHE

Der Vorstellung des tibetischen Buddhismus und den tibetischen Gelehrten zufolge, erteilte Gautama Buddha zahllose Belehrun­gen - wobei sich alle ausschließlich mit der buddhistischen Philosophie und der Auflösung von Geistesgiften, aber keine einzige mit den Naturwissenschaften befasste.

Zusammen ergeben sie mehr als 84.000 verschiedene Beleh­rungen. Davon befassen sich 21.000 mit. dem Zorn, 21.000 mit den Begierden, 21.000 mit der Unwissenheit und 21.000 versu­chen, alle drei Geistesgifte zusammen aufzulösen.

Kurz gesagt bilden diese Lehren die zwei Fahrzeuge oder Yanas. Eines ist das weltliche Fahrzeug , das andere führt zur Erleuchtung. Diese Auffassung vertritt auch Nga Gyur Kun Jed Gyal Po. Eines ist das Sutra-Fahrzeug und das andere das tantrische. Von diesen beiden muss das Tantrayana als höher­stehend angesehen werden, und darin enthalten ist die besonders wirkungsvolle und kraftvolle Methode des Dzogchensystems, die letzte der neun Stufen in der Tradition der Nyingmapas.

Innerhalb dieses Systems sind viele Übungen überflüssig. Alles, was man zu tun hat, ist zu erkennen, dass alle verschie­denen Phänomene - Dharmas -, die in der Natur des einen Geistes entstehen, das wunderbare Schauspiel des eigenen Ge­wahrseins sind.

Mahayoga sagt aus, dass unser Geist vom Urbeginn an erleuchtet war. Anuyoga lehrt, dass, wenn die Erinnerung und das Gewahrsein sehr klar werden, der Geist den großen Raum ~ Dharmadhatu - erkennt und Erleuchtung erfährt. Atiyoga oder Dzogchen auf tibetisch, lehrt, dass, wer sein augenblickliches Bewusstsein versteht, die drei Kayas" ganz spontan und natürlich erkennt und nicht mühselig nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung üben muss. In diesem natürlichen Zustand ist der Geist von Samsara befreit.

Dies ist, ganz allgemein gesprochen, die tantrische Lehre vom reinen Land. Sie wurde nie öffentlich für die Allgemeinheit

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gelehrt, sondern von den großen Bodhisattvas ~ die alle einen erleuchteten Geist haben, den Vidyadharas - den Weisheitsträ­gern und Dakinis ~, den weiblichen Adepten - in ihren jeweiligen Paradiesen bewahrt.

In Jambudvipa - unserer Welt - gibt es zahlreiche heilige Stätten, insbesondere Oddiyana in Nordwest-Afghanistan, Sham-bala, Singala (Ceylon), Malaya usw. Weiterhin gab es acht Vidyadharas, unter ihnen die großen Weisen Nagarjuna, Pad-masambhava, Vimalamitra etc. Sie erhieken diese Tantras auf wunderbare Weise. Deshalb sind sie besonders tiefgründig und nicht mit Hindutantras oder anderen Lehren vermischt.

Ein kurzer geschichtlicher Abriss

Im Dharmadhatuparadies gibt es den Urbuddha Sri Kuntu Zangpo (Samantabhadra, Skrt.). Er spricht nie und verweilt in seinem natürlichen Urzustand, aber durch seine Güte werden die fünf Meditationsbuddhas, Vajradhara und Vajrasattva z.B., zum di­rekten Verständnis inspiriert. Diese wiederum kommunizieren ihr Verständnis in die menschliche Welt. Die höchsten Lehren aller buddhistischen Schulen, die Essenz der geheimsten Dok­trinen und ganz besonders die Dzogchentantras wurden so von den Dhyanibuddhas oder durch von ihnen inspirierte Texte übermittelt. Später belehrte die Sambhogakayamanifestation Dor­je Sempa (Vajrasattva, Skrt.) die Bodhisattvas Garab Dorje (Ananda Vajra), Manjusri, Avalokiteshvara und Vajrapani durch Zeichen und Wunder. Diese wiederum hatten fünf Hauptschüler: Dragda, Chokyong, Karda Dong, Jogpo, Chodrag Thaben sowie Dragpamitha. Sie empfingen auch die Lehren König Ja's, und nach ihnen erhielten die acht Vidyadharas die Lehren übertragen. Dies also ist die Übertragungslinie der Dzogchen-Lehren.

Die Nyingmapalinie des tibetischen Buddhismus geht auf Padmasambhava zurück. Der große Guru erschien auf einem Lotus im Danakosha-See im Land Oddiyana.

Der König des Landes, Indrabodhi, hatte keinen Erben und nahm Padmasambhava an Sohnes statt. Padmasambhava regierte das Land nach spirituellen Grundsätzen, gab später jedoch den Thron auf und verließ das Land. Er meditierte auf vielen ver-

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schiedenen Friedhöfen und traf den großen Lehrer Garab Dorje sowie andere Weise, die ihre Lehren an ihn weitergaben. Pad-masambhava zeigte sich in acht verschiedenen Erscheinungsfor­men (Guru Tshan Gyad). Er gab zahlreiche verschiedene tan-trische Belehrungen in Indien, Nepal etc. und wurde später vom tibetischen König Trisong Detsen eingeladen, wo er viele Men­schen an den verschiedensten Orten belehrte. Insbesondere unterrichtete er seine 25 Hauptschüler in Samye Chimphu, darunter König Trisong Detsen, Khandroma Yeshe Tsogyal, Namkhai Nyingpo, Dorje Dujom, und Tingzin Zangpo. Allesamt waren sie große Weise und erhielten zahlreiche Einweihungen von Padmasambhava. Später schrieben Yeshe Tsogyal, Atsarya Säle und Khenchung Lotsa die Belehrungen nieder. Sie wurden von Padmasambhava gesegnet und dann an den wichtigsten heiligen Orten in Bhutan, Taksang etc. verborgen.

Zu dieser Zeit äußerte sich Padmasambhava prophetisch über die genauen Zeiten und Umstände, wann sie jeweils in der Zukunft gefunden werden würden und die Dame Tsogyal wies die 25 Weisen an, wann sie sich als Tertöns zu reinkarnieren hätten, um die verborgenen Schätze der Belehrungen wieder zu finden.

Eines dieser Termas war der Text: »Könchog Chidu«, der von Rigdzin Jatson Nyingpo (Rig a Dzin a Ja Tshon sNying Po), einer Reinkarnation des Nyang Wen Tingzin Zangpo gefunden wurde. Obwohl über die Zeit viele verschiedene Sadhanas (gei­stige Übungsanleitungen) von Padmasambhava gefunden wur­den, wurde gerade dieser Text in Tibet sehr beliebt und bekannt, weil er sowohl kurz ist als auch eine sehr tief gründige Bedeutung hat und diesen tiefen Gehalt auch zu vermitteln vermag. Der Ort, an dem der vorliegende Text gefunden wurde, heißt Nyang Ban Tingzin Zangpo. Nyang liegt in dem gegenwärtigen Gyaltse Distrikt der Provinz Tsang. Ein sehr bedeutsamer Fluss fließt durch diesen Ort. Bedeutsam auch deswegen, weil in dem Fluss von der Quelle bis zur Mündung Gold gefunden werden kann. Ein Mönch namens Tingzin Zangpo lebte dort für einen Monat und gab dem Ort seinen Namen.

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Wer waren Padmasambhavas Schüler?

In einem anderen Äon lebte einst ein großer König Yul Khor Zong. Er regierte viele Länder, hatte zahlreiche Königinnen und 1000 Söhne. Der Yogi Nudan Dorje war der Lehrer des Königs und seiner Söhne. Eines Tages nun erbat der König Prophezei-hungen über die Zukunft seiner Söhne von Nudan Dorje. Nudan Dorje schrieb die Namen aller Söhne auf Zettel und warf sie in einen Topf. Dann führte er magische Riten durch und meditierte sieben Tage lang.

In dieser Zeit entwickelten alle Söhne spontan den Erleuch­tungsgeist des allumfassenden Erbarmens - Bodhicitta. Daraufhin weissagte Nudan Dorje, dass alle Söhne Buddhas der zukünftigen Zeiten werden würden.

Dann zog er die Namen aus dem Topf. Der erste war Namdag Lodrö (rNam GDag blo Gros). Laut Nudan Dorje's Prophezei-hung wurde er zum ersten Buddha dieses gegenwärtigen Kaipas (Weltzeitalter) namens Cakarvinas. Der zweite Name war Nam­dag Gyal (rNam Dag rGyal). Er wurde der zweite Buddha Kanikavarma. Der dritte Name war Wangpo Zhiwa (dBang Po Zhi Ba), der dritte Buddha Kashapa. Als vierter kam Dondrub (Don Grub) aus dem der vierte Buddha Shakyamuni in unserer historischen Zeit wurde. Der fünfte war Karag Chen (sKa Rags Chan) der kommende Maitreya Buddha und der sechste Name war Chökyi Lodrö (mChog Giblo Gros) der Löwenbuddha Singha.

So kamen alle Namen an die Reihe. Als Letzter kam der des Lodrö Thayae (bLo Gros mTha Yas), der einst der tausendste Buddha Möpa sein wird.

Sowohl Tingzin Zangpo als auch alle anderen Hauptschüler Padmasambhavas waren Verkörperungen der Söhne König Yul Khors und werden alle die Buddhas der Zukunft sein.

Guru und Schüler

Was ist der Unterschied zwischen Guru und Schüler? Beide haben die eingeborene Buddhanatur, und aus diesem Grunde sind sie in ihrem Wesen nicht verschieden. Jedoch muss der

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Guru eine ununterbrochene Übertragungslinie haben , die bis zum Urbuddha Samantabhadra zurückreicht. Zweitens muss er sämtliche geistigen Übungen vollzogen haben und dabei seine eigene Buddhanatur erkannt und verstanden haben. Laut dem Sutrasystem muss er zumindest den vierten Weg und die siebte Stufe erreicht haben. Nach dem tantrischen System der Nying-mapa muss er die erste Stufe, namentlich Namin Rigdzin (rNam sMin Rig aDzin) gemeistert haben: Diese drei - Übertragungslinie, Erkenntnis der Buddhanatur und Verwirklichung - sind die wichtigsten Qualitäten eines Gurus. Der Guru muss sowohl gute Lehrmethoden kennen als auch andere durch seine eigene Er­fahrung, sein großes Mitgefühl und seinen erleuchteten Geist belehren. Vor allem muss er erkennen, welche Belehrungen nötig für den Schüler sind, und welche überflüssig.

Außerdem muss er bereit sein, sein Leben für seine Schüler oder alle fühlenden Wesen zu opfern, wenn es je notwendig würde.

Der Schüler wiederum, der sich von weltlichen Verstri­ckungen abwendet, muss Zuflucht nehmen. Er sollte seinen Lehrer wertschätzen und muss die Fähigkeit haben, den Geist seines Lehrers als Buddha zu begreifen - seine Sprache als den Dharma (in diesem Fall die Lehre der Wahrheit) und seinen Körper als die Sangha (Gemeinschaft). Auch, dass der Guru nicht verschieden von Deva - der Meditationsgottheit - und* Dakini - der weiblichen Erleuchtungsenergie - ist, muss er glauben. Er muss wirklich tiefes Vertrauen haben, dass der Lehrer nichts anderes ist als die drei Kayas.

Der Schüler sollte bereit sein, wenn nötig, alles, was er hat und eigentlich für sich selbst braucht, seinem Lehrer zu opfern. Auch das ist notwendig.

Der Schüler darf nicht faul sein. Er muss, dem jeweiligen System des Lehrers gemäß, immerzu üben. Wo immer er sich auch aufhält - in allen vier Himmelsrichtungen, zu allen Jahres­und Tageszeiten - muss er lernen und üben. Sein Ziel und Zweck sollte nicht die eigene Erleuchtung, sondern die Erlösung aller fühlenden Wesen sein. Dies ist die Minimalvoraussetzung.

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Über die Natur der Terma (gTer)

Die wörtliche Bedeutung von gTer wird mit Aufbewahrungsort wiedergegeben. Termas sind die Lehren Padmasambhavas, die niedergeschrieben und an heiligen Plätzen, in Klöstern, Höhlen oder den fünf Elementen verborgen wurden. Es scheint so, als ob allgemein angenommen würde, dass Termas nur in der Nyingmatradition vorkommen, in früheren Zeiten gab es aber auch Termas von den klassischen Sutras. Sie befanden sich im Geist des Buddhas und seiner Schüler, der Bodhisattvas, und so konnten sie alle Fragen beantworten und flüssig die ganzen Belehrungen geben.

Einer der Gründe für das Erscheinen der Termas ist die Reinhaltung der ursprünglichen Lehre. Manchmal konnten große tibetische Gelehrte ihre eigenen Ideen nicht von Buddhas kano­nisierten Werken unterscheiden und verfälschten die Lehre. So ging die Ursprünglichkeit der Lehren verloren. Die Termas aber erscheinen von Zeit zu Zeit neu und unverfälscht, deswegen ist es unmöglich, sie mit falschen Vorstellungen zu vermischen oder zu verderben. Aus diesem Grunde kommt ihnen eine sehr wichtige Funktion bei der Erhaltung der reinen Lehre zu.

Es werden vier verschiedene Terma unterschieden:

1. Sa gTer werden in der Erde, den Bergen, den Felsen oder dem Wasser, generell in jedem der fünf Elemente gefunden.

2. rDzas gTer sind verschiedene Ritualgegenstände, wie Dorje oder Phurba, Statuen und jeder andere Gegenstand, der jeweils notwendig ist.

3. dGongTer sind Geistschätze. Padmasambhava gab Beleh­rungen an verschiedenen Orten. Der Tertön kann, wenn er an diesen Orten meditiert, sich dieser Belehrungen erinnern und schreibt sie nieder, so wie auch der als allwissend verehrte Longchenpa seine Bücher verfasste.

4. Auch medizinische Fachbücher, Medikamente, selbst Saat­gut, können als Terma verborgen und wieder gefunden werden.

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Dzogchen

Dzog heißt wörtlich so viel wie »vereinigt«, »voll«, »endgültig«. Chen bedeutet »groß«. Dzogchen bedeutet also die große oder endgültige Vereinigung oder Vollendung. »Vereinigt« deshalb, weil es alle Lehren Buddhas, Samsara und Nirvana vereinigt und »endgültig«, weil es die letzten und endgültigen Lehren Buddhas sind.

In der Mahamudraschule werden alle Objekte unserer Wahr­nehmung gereinigt: Häuser, Bäume, Pferde, Feinde etc.

Mahamudra betont die Idee der Vergänglichkeit und Un~ Wirklichkeit der Erscheinungswelt.

Im Dzogchen muss das wahrnehmende Subjekt selbst gerei­nigt werden. Wer ist es, der die Welt der Dinge und der Sinnesobjekte, die Menschen und die anderen fühlenden Wesen, Nirvana und Samsara wahrnimmt? Wer begreift diese Objekte, benennt sie und wer schließlich denkt? Es ist der Geist des erkennenden Subjekts. Aus diesem Grund muss der eigene Geist gereinigt werden. Das ist es, was das Dzogchen. lehrt und bewirkt.

Dieses Buch von Karl Scherer steht in vollem Einklang mit den Nyingma Lehrmethoden. Für den spirituellen Sucher gibt es vier Schwerpunkte der Übung;

1. Es ist sehr schwierig, einen edlen menschlichen Körper zu erhalten.

1. Alles, was erscheint ist vergänglich. 3. Das Resultat jeder Handlung, ob gut oder schlecht, geht

nie verloren. 4. Egal, in welchem der sechs Bereiche des Samsara (vom

Himmel bis zur Hölle) wir uns befinden, erleben wir immer nur Leiden. Aus diesem Grund müssen wir die Verstrickungen mit der bedingten Welt hinter uns lassen.

Dazu:

1. Nimm Zuflucht zu deinem Lehrer, zu Budhha, Dharma, Sangha, Guru, Deva, Dakini, Dharmakaya, Sambhogakaya, Nir-manakaya.

2. Entwickle Erleuchtungsgeist voller Mitgefühl.

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3. Übe die Mandalaopferung. 4. Reinige dich von den Sünden. 5. Übe Guru Yoga.

All diese Punkte werden im vorliegenden Text gelehrt. Ich wünsche mir, dass dieses Buch veröffentlicht wird, und dass es viele Menschen lesen und danach handeln werden. Sie sollten über seine Bedeutung nachdenken und aufkommende Fragen mit hoch entwickelten Lehrern klären. So hoffe ich, dass sie ihre eigene wahre Natur erkennen und die Erleuchtung erlangen. Wenn alle Menschen erleuchtet sind, wird diese Welt leer vom Ego. Dann wird es nirgendwo mehr Leid geben.

Segenswunsch

Mögen alle Schwierigkeiten und widrigen Umstände ohne Aus­nahme mit harmonischen Umständen, wie der Schatz des Him­mels, befriedet werden und zur Ruhe kommen. Mögen die Lehren des Herrn der Weisheit der jina, Padmasambhava, lange währen und strahlend leuchten.

Unzerstörbarer Guru Padmasambhava, der die drei Kayas vereinigt hat, gewähre die wahre Errungenschaft erleuchteter Einsicht. Wenn der bloße Gedanke, anderen zu helfen, ver­dienstvoller ist als die Verehrung aller Buddhas, ist es unnötig zu erwähnen, wie großartig das Streben nach dem Wohle aller Wesen ohne Ausnahme ist.

Chhimed Rigdzin Lama

Geschäftsführender Präsident und Mahavajracharya der Sangha der »International Nyingmapa Buddhist Cultural Preservation Society«. Dekan der Fakultät für Indo-tibetische Studien, Vishva Bharati University, Santiniketan, Westbengalen. Abt der Khordong und Khang Klöster, Kham, Tibet.

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ANMERKUNGEN

Einführung des Herausgebers

1 E. Dargyay: »A Nyingmapa Text« in: B. Aziz und M.Kapstein, eds. »Soundings in Tibetan Civilization«, Dehli 1985 S. 291-293, Überset­zung d. Autors.

2 Vgl. J. Reynolds: »The Golden Letters«, Ithaca 1996, S.273. 3 Zit. nach: Yeshe Tsogyal: »The Lotus-Born« London 1993, S.12,

Übersetzung d-Autors. 4 Ebd. 5 Vgl. Tenzin Wangyal: »Der kurze Weg zur Erleuchtung«, Frankfurt/M

1997. 6 Vgl. Ebd., S.40-41; sowie: Yeshe Tsogyal: »The Lotus-Born« London

1993, S.243. 7 Vgl. Yeshe Tsogyal: The Lotus-Born, S.223, London 1993. 8 S. unten, S.171. \ 9 Tsele Natsok Rangdrol: »Die wahre Bedeutung klären«, zit. nach: Yeshe

Tsogyal: »The Lotus-Born«, S.23, Übersetzung d.'Autors. 10 Jamgon Kongtrul L: »The Precious Garland of Lapislazuli«, Vol. I,

Rinchen Terdzö, zit. nach: Yeshe Tsogyal: »Dakini Teachings« London 1990, S.XXV1II, Übersetzung d. Autors.

11 S. unten, S. 173-174. 12 Vgl Keith Dowman: »Sky Dancer«, London 1984, S. 297. 13 Vgl. Manjusrimitra: »Primordial Experience«, übersetzt v. Namkhai

Norbu und Kennard Lipman, London 1987, S.6. 14 Zit. nach: Yeshe Tsogyal: »The Lotus-Born«, S.16-19, Zusammenfas­

sung d. Autors. 15 Vgl. Daisaku Ikeda, »Buddhismus. Das erste Jahrtausend«, S. 57-76. 16 Vgl. Jamgon Kongtrul L:»The Precious Garland of Lapislazuli«, Vol.

L, Rinchen Terdzö in: Yeshe Tsogyal: »Dakini Teachings«, S.XXI. 17 So ist einer der frühesten Dzogchen-Texte, das »dGongs'dus-Tantra«,

Ende des 8Jh. wahrscheinlich noch unter der Schirmherrschaft des Lotusgeborenen Guru aus dem Drusha-Dialekt von einem der acht großen Wissenshalter - Vidyadhara Chetsan-Kye von Gilgit - für seinen Schüler Nub Sangye Yeshe ins Tibetische übersetzt worden (vgl. John Reynolds: »The Golden Letters«, Ithaca 1996 S.220). Nub Sangye Yeshe finden wir dann unter den 25 engsten Schülern von Guru Rinpoche wieder, denen er die geheimen Unterweisungen gab.

18 Vgl. Keith Dowman: »Sky Dancer«, S. 340. 19 Vgl. Per Kvaerne: »AspecLs of the Origin of Buddhist Tradition in

Tibet« in: Numen Nr. 19 (1979) und Namkhai Norbu: »The Necklace of gZhi: A Cultural History of Tibet« (Dharamsala: - LTWA, 1981 S.17-19).

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20 Vgl. John Reynolds, »The Golden Letters«, S.225-227. 21 Vgl. Swami. Muktananda, »Chitsliakti Vilas«, Ganeshpuri, 1972 und

Bettina Bäumer, »Abhinavagupta, Wege ins Licht«, Zürich 1992. 22 Der bedeutendste Heilige des Kashmir-Shaivismus, Abhinavagupta,

soll einen tibetischen Meister unter seinen Lehrern gehabt haben (vgl. Kanti Chandra Pandey: »Abhinavagupta: An Historical and Philoso-phical Study«, Varanasi, 1963).

23 Es wäre jedoch vorschnell zu urteilen, dass die Bönkultur Tibets mit ihrer eigenen Dzogchenübertragung einfach ein Produkt der Ausein­andersetzung mit dem frühen Buddhismus in dieser Gegend ist. Neuere Forschungen belegen, dass die Bön auch bei anderen Beispielen Recht behielten, in denen sie behaupteten, eine eigene, präbuddhistische Tradition zu sein. So bauten sie bereits vor der Zeitenwende, und damit vor dem Kontakt mit dem Buddhismus, im Karakorum, in Ladakh und entlang der Seidenstraße ihre ganz typischen Stupas (vgl.KarlJettmar: »Zwischen Gandhara und den Seidenstraßen«, Mainz 1987 und Giacomella Orofino in East and West 1991). In der Frage nach der wechselseitigen Beeinflussung von Bön und tibetischem Buddhismus kommt Agehananda Bharati (»The Tantric Tradition«, New Dehli 1965, S.65, Übersetzung d. Autors) zu dem folgenden Schluss: »Ähnliche Bemühungen führen zu unabhängig gefundenen parallelen Lösungen in religiösen und mystischen Fragen, sogar in Gegenden, die keinen wechselseitigen Austausch pflegten.«

24 Die historische Genauigkeit aller folgenden Daten ist schwer zu veri­fizieren. Verschiedene tibetische Quellen differieren in ihren Jahres­zahlen bis zu 50 Jahren (z.B. datiert Dowman, nach den Tun Huang-Chroniken, die Ankunft Padmasambhavas in Tibet 765 n. Chr., Erik Hein Schmidt hingegen folgt Jamgon Kongtrul L und nennt das Jahr 810). Erschwerend kommt hinzu, dass tibetische Autoren nach ver­schiedenen asiatischen Kalendern kalkulieren, außerdem werden in einigen Chroniken, altindischer Tradition folgend, Halbjahre gerechnet. Keith Dowman, John Reynolds und andere westliche Autoren folgen im Wesentlichen den Tun Huang-Chroniken bzw. den Tun Huang-Annalen, sowie den so genannten roten Annalen, die auf die chinesi­schen T'ang-Annalen aufbauen (vgl. »The History of the T'ang Dynasty«, Journal Asiatique, Paris 1894, part II und Sino-Indian Studies I, 1971) und beziehen auch die Berechnungen von G. Tucci ein: »Tibetan Painted Scrolls«, Rome 1949, und »Die Religionen Tibets und der Mongolei«, Stuttgart 1970). Wir folgen der Konsistenz wegen Dowmans Schlussfolgerungen, da sie die meisten Quellen textkritisch, verarbeitet haben, auch wenn einige Widersprüche unerklärt bleiben. Weitere Daten finden sich in »Tibet, a Political History« von W. Shakabpa und »Cultural History of Tibet« von dem eminenten Tibetologen David Snellgrove (mit Richardson), New York 1965. Das für die Nyingma-schule maßgebende Werk ist S.H. Dudjom Rinpoches: »The Nyingma School, its History and Fundamentals«, übersetzt von Gyurme Dorje und Matthew Kapstein, London 1991. Dudjom Rinpoche allerdings datiert Padmasambhavas Ankunft in Tibet ebenfalls auf das Jahr 810

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und den Bauabschluss Samyes auf 814, räumt aber ein, dass mögli­cherweise alle Daten um einen 60 Jahre-Zyklus falsch berechnet sind, also 60 Jahre jeweils abgezogen werden müssten. Bei Sichtung des vorliegenden Materials scheint der Versuch, histori­sche Fakten aus Legenden zu destillieren, im besten Fall eine Annä­herung an mögliche Zusammenhänge zu liefern. Was in Tibet geschah, ergibt sich oft eher aus den allgemeinen Entwicklungen der Kultur-, bzw. Zeitgeschichte in Zentralasien als aus tibetischen Quellen (vgl. Christopher I. Beckwith »The Tibetan Empire in Central Asia«, Princeton 1972). Aus der Betrachtung der heute wirkenden Faktoren, können wir die Keime dieser Entwicklung zu ihrem Ursprung zu­rückverfolgen, um uns daraus ein plausibles Bild zu machen. Besonders die Verfolgung des Buddhismus durch Langdarma (836-842) bedeutete eine Unterbrechung in der schriftlichen Überlieferung und die Zer­störung vieler historischer Dokumente. Spätere tibetische Autoren behandelten in Ermangelung schriftlicher Quellen die historische Entwicklung mehr als Entfaltung eines metaphorischen Mysterien­spiels. Auch unser Exkurs in die sozialen und politischen Umstände dieser Zeit versucht deshalb eher, die zugrunde liegenden Muster einer geistigen Entwicklung, die oft genug in der Vielfalt einzelner Daten verschüttet werden, herauszuarbeiten, als durch die Aufzählung wi­dersprüchlicher Angaben jeden Schluss zur Bedeutungslosigkeit zu relativieren.

25 Zit. nach: Snellgrove and Richardson: » A Cultural History of Tibet«, S.31, Übersetzung d. Autors.

26 Chagdud Tulku, der ais Wiedergeburt von Tonmi Sambhota gilt, wies Lama Yönten Goupo darauf hin, dass diese Schrift aus schon vorhan­denen tibetischen Schrifteh^synthetisiert und nicht gänzlich neu er­funden wurde (pers. Mitteilung, Kathmandu 1996).

27 Interview mit Chogyal Namkhai Norbu: Chö Yang VI., Dharamsala 1994, S. 81.

28 Vgl. Michael A. Nikolazzi: »Mönche, Geister u n d Schamanen«, Düs­seldorf 1995, S.23.

29 Max Henning (Übers.): »Der Koran« Stuttgart 1960, S.15. 30 Zit. nach: Taiko Yamasaki: »Shingon«, München 1990, S.U. 31 Vgl. Michael A. Nikolazzi: »Mönche, Geister und Schamanen«, Düs­

seldorf 1995, S.29 und Taiko Yamasaki: »Shingon«, München 1990, S. 12 und 14.

32 Dies war die erste Auseinandersetzung einer indigenen Kultur mit der Invasion einer doktrinären und totalitären Ideologie, die den Anspruch erhebt, die einzige Lösung für alle zu haben und jede andere Lehre zerstören zu dürfen. Dies ist in einer gewissen Weise der erste Einbruch der Moderne, die ab dem 15 Jh . überall auf der Welt zur Zerstörung uralter Kulturen führte. Zu einem bestimmenden Kennzeichen der Neuzeit wurde die Selbstgewissheit ihrer Vertreter, sich zum Vollstrecker des Schicksals »rückständiger« Kulturen machen zu dürfen. Vgl. dazu Mohawk Nation: »A Basic Call to Consciousness«, erschienen bei Akwesasne Notes, Via Roosevelt Town, New York 1978.

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33 Der Koran, Sure 22,65 und Sure 14,32 (alle Koran-Zitate nach Bürgel, J.Ch. »Allmacht und Mächtigkeit«, München 1991).

34 Solchen »Toren«, die sich der Unterwerfung durch den Islam wider­setzten, sagt der Koran: »Glaubt wie die Menschen glauben!« (Ebd., Sure 2,12) und schließt den, der nicht glaubt, aus dem Kreis der Menschen aus: »Die schlimmsten der Tiere vor Gott sind jene Tauben und Stummen, die nicht begreifen.« (Ebd., Sure 8,22). Der gläubige Mohammedaner begeht also keine Sünde, denn er tötet ja keine Menschen, und außerdem versichert ihm der Koran in diesem Fall: »Nicht ihr habt sie getötet, sondern Gott. Und nicht du hast geschossen, als du schössest, sondern Gott.« (Ebd., Sure 8,17).

35 Ebd., Sure 4,89. 36 Ebd., Sure 47,4. 37 Vgl. J. Ch. Bürge! »Allmacht und Mächtigkeit«, München, S. 73-81. 38 Der Koran, Sure 7,180. 39 Keith Dowman: »Sky Dancer«, London 1984, S. 310-311 und Michael

A. Nikolazzi: »Mönche, Geister und Schamanen« Düsseldorf, 1995 S.20.

40 Agehananda Bharati: »The Tantric Tradition«, S.63. 41 Michael A. Nikolazzi: »Mönche, Geister und Schamanen«, S.23. 42 Ebd., S.23. 43 Keith Dowman, »Sky Dancer«, S. 309-311. 44 Ebd., S. 311. 45 Zit. nach Yeshe Tsogyal: »The Lotus-Born« London 1993, S.24, Übers,

d. Autors. 46 Keine Religion entsteht aus einem Vakuum, sondern zeigt in der Form,

die sie entfaltet, die sozialen und historischen Bedingungen, die in ihrer prägenden Phase herrschten. So wirken bei der Begegnung des tibetischen Buddhismus mit dem Westen immer noch Kräfte, die ihre Ursache in seiner Gründungsphase haben. Bei der Rezeption des Vajrayana im Westen wird es hier unbedingt nötig sein, die historischen und sozialen Bedingungen dieser Zeit von der Essenz der Lehre zu trennen. Die ausgesprochene Absicht, das Buddhadharma im Land des Schnees für das Wohl der Menschen in der Zukunft intakt zu erhalten, bedurfte einer großen Orthodoxie und gesicherten Hier­archie, die in einer tiefen Widersprüchlichkeit zur befreienden Kraft der tantrischen Revolution stand, einer Revolution, die in Indien durch den Einbruch des Islam nie ihre Wirkung entfalten konnte. Im Westen wird aber gerade diese grenzauflösende Befrei­ung in den Lehren des tibetischen Buddhismus gesucht. Insofern streben tausend Jahre lang dormante Entwicklungen auf ihre Ent­faltung in der Auseinandersetzung mit den westlichen Werten der Aufklärung und des Humanismus zu.

47 Vgl. Keith Dowman:»Die Meister der Mahamudra«, München, 1991 und »Die Meister des Tantra. Leben und Legenden der Mahasiddhas«, Basel 1988.

48 Vgl. Yeshe Tsogyal, »The Lotus-Born«, S. 215.

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49 Vgl. Tenzin Wangyal »Der kurze Weg zur Erleuchtung. Dzogchen-Meditation nach den Bön-Lehren Tibets«, S. 40.

50 Chogyal Norbu Namkhai: Chö Yang VI, S. 82. 51 Dies erklärt auch warum die Dzogchenlehren bei den Bön bis heute

leicht zugänglich sind und ganz unverkrampft vermittelt werden. Denn die in Westtibet heimischen Bön waren nie in dem Spannungsfeld zwischen brahmanischer Orthodoxie und radikalem Erleuchtungsweg, dem die indische Übertragungslinie ausgesetzt war.

52 Insbesondere bei der Rezeption des Vajrayana im Westen mit seinen demokratischen und egalitären Grundwerten brechen hier alte Dicho­tomien wieder auf und verlangen nach, der Lösung für eine Entwick­lung, die in Indien durch den Einfall des Islam nie zu Ende gebracht wurde.

53 Vgl. Dujom Rinpoche: »rNying-ma'i chos-'byung« übersetzt von Gyur-me Dorje and Matthew Kapstein, in: The Nyingma School of Tibetan Buddhism. Its Fundamentals and History, Boston 1991.

54 Vgl. Taiko Yamasaki »Shingon. Der esoterische Buddhismus in Japan«, München 1988, S. 14.

55 B. Bhattacharyya weist darauf hin, dass Kalachakra oder das Rad der Zeit von einer bestimmten Gruppe (von Buddhisten) propagiert wurde, die die Hindus mit den Buddhisten unter der ökumenischen Flagge des gemeinsamen Gottes der Zeit, Mahakala, zu vereinigen suchte, um eine geschlossene Front gegen die kulturelle Vergewaltigung durch arabische Völker zu bilden, die bereits Zentralasien und den Iran überrannt hatten.(zit. n. Agehananda Bharati: »The Tantric Tradition«, S. 21). Tatsächlich fällt auf, wie agressiv im Verhältnis zu den pazifistischen Idealen der buddhistischen Frühzeit dieses Tantra for­muliert ist, in dem gezielt dafür geworben wird, die islamischen Horden zurückzuwerfen, um das Armageddon am Ende der Zeit zu verhindern. Als das Kalachakra-Tantra 1027 n. Chr. schließlich Tibet erreichte, & wurde es als so wichtig erachtet, dass eine neue Zeitrechnung darauf begründet wurde. Da zuMieser Zeit bereits zwölf »Verkünder« in der indischen Übertragungslinie dieses Tantras gezählt wurden, liegt es nahe, das erste Auftauchen des Kalachakratantra im frühen 8. Jh. zu vermuten.

56 Eine Entscheidung, die die Chinesen in den letzten tausend Jahren bestimmt schon oft bereuten, wie Keith Dowman ausführt(»Sky Dan-cer«, S. 314).

57 Siehe auch: Karl Scherer, »Atem als Tor«, Freiburg 1991, S. 53-83. 58 Vgl. Michael von Brück, Whalen Lai: »Buddhismus und Christentum«,

München 1997, S. 314. 59 Vgl. Dowman, Sky Dancer, S.301. 60 Vgl. Daisaku Ikeda:»Buddhismus, das erste Jahrtausend«, S.99-112. 61 »Shakti and Shakta«, Madras 1975, S. 123-130. 62 Die Ritualtexte dieser Praxis berichten, wie der große Hinduseher

Vasistha von dem Gott Vishnu in der Gestalt Buddhas die Anweisung erhielt, den Kult der Göttin Kah entsprechend diesem Text zu ändern. Von nun an sollte die Göttin als Tara - die Mutter aller Buddhas -

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angebetet werden und die tantrischen Riten einen sehr »linkshändi­gen«, unorthodoxen Verlauf nehmen, der fast alle Regeln von Kaste und ritueller Reinheit für Brahmanen durchbricht und überwindet. Die Einzelheiten dieser Praxis erinnern dabei an die von tibetischen Yogis zelebrierten Opferfeste oder Ganachakrapujas, wie sie im tibe­tisch-buddhistischen Anuttaratantra und Mahayoga gefunden werden (vgl. J. Reynolds, »The Golden Letters«, Ithaca 1996, S. 244 ff.). Wir wundern uns natürlich über die plötzliche Gleichsetzung von Buddha mit Vishnu, können sie aber als den Versuch sehen, doktrinäre Widersprüche zum Hinduismus und seinem Kastensystem, die von dieser Praxis aufgerissen werden, zu beseitigen oder zumindest vor der brahmanischen Orthodoxie und damit Gerichtsbarkeit zu authen-tizieren, um die Anhänger der Praxis vor Verfolgung zu schützen.

63 Darunter befinden sich das Kubjika Tantra (12. Jh.) , die Rudrayamala, die Brahmanamala (8. Jh.) , sowie das Sammoha Tantra (13 Jh . ) und das Tara Tantra (10. Jh.), die alle sowohl von Hindus als auch von Buddhisten geübt werden. Vgl. »The Tantric Tradition«, S. 66-84.

64 Vgl. B. Bhattacharyya »Indian Buddhist Iconography III S. 80« (Sad-hanamala No 141).

65 Der zeitgenössische Dzogchenmeister Namkhai Norbu hat im Zug seiner Forschungen in den Ruinen des vorbuddhistischen Zhang Zhung-Königreiches Tontafeln in einer prototibetischen Schrift mit Dzogchentexten (persönl. Mitteilung in Freiburg 1989) gefunden, die er als erheblich älter als die buddhistische Mission in Tibet, einschätzt. Daraus folgert er, dass Dzogchen die Essenz hinter jeder Religion ist und somit auch jenseits einer bestimmten Tradition steht, und erkennt eine indigene Dzogchentradition, die bereits vor Ankunft des Bud­dhismus in Tibet bestand, an. Diese Ansicht vertritt auch der vom Dalai Lama sehr geschätzte Bönmeister Lopön Tenzin Namdak, der die Biographien und Lehren aller Dzogchenmeister der Urreligion Tibets erforscht hat und dabei eine Kontinuität von mindestens dreieinhalb Tausend Jahren ununterbrochener Übertragung entdeckte.

66 Vgl. Kanti Pandey Chandra, »Abhinavagupta. An Historical and Phi-losophical Study«, Varanasi 1963; und J. Reynolds, a.a.O.

67 Vgl. Garma C.C. Chang »Mahamudra-Fibel, Einführung in den tibe­tischen Zen-Buddhismus«, Wien 1979, S. 13-23.

68 Auch Buton, der den tibetischen Kanon, Kangyur u n d Tangyur, editierte, verwarf die meisten Texte, die in der ersten Übersetzungs­phase aus Kashmir, Oddiyana und Kothan gekommen waren mit der Begründung, dass sie dort von »chinesischem Einfluss beschmutzt« worden seien. (Vgl. Dowman, »Sky Dancer«, S. 285-288).

69 Vgl. Dowman »SkyDancer« S. 300. 70 Vgl. Keith Dowman: »Sky Dancer«, S. 283. 71 Zit. nach: Yeshe Tsogyal, »The Lotus-Born«, S. 23-25, Übers, d. Autors.

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Nachwort des Herausgebers

1 Vgl. Janet Gyatso, »The Literary Transmission of the Traditions of Thang-Stong rGyal-po. A Study of Visionary Buddhism in Tibet«, Berkeley 1981, S. 61.

2 Vgl. Gyatso, S.66. 3 Vgl. Gyatso, S.66. 4 Ebd., S.61. 5 Ebd. 6 In: EvaDargyay, »The Rise of Esoteric Buddhism in Tibet«, New Delhi

1965. 7 Zit. nach: Gyatso, S.91, Übersetzung d. Autors. 8 Vgl. Dowman, »Meister des Tantra«, Basel 1988, S.35. 9 Jamgon Kongtrul, gTer rnam rgya rtsa, S. 683, zit. nach: Gyatso, S.67,

Übersetzung d. Autors. 10 Vgl. Gyatso, S.70. 11 in: »The Religion of Tibet«, London 1971, S. 24. 1.2 Dowman, »Sky Dancer«, London 1984, S.291, Übersetzung d. Autors.

Nachwort von Chhimed Rigdzin

1 D.h. der Weg, wie das Leben ethisch zu gestalten ist. 2 D.h. Dharmakaya, den absoluten- oder Bewusstseinskörper; Sambogha-

kaya, den mentalen oder visionären Lichtkörper; sowie Nirmanakaya, den Erscheinungs- oder Mitgefühlskörper.

3 Ein Vorwurf, den sich mancher Sutratext gefallen lassen muss, da der Buddhismus in Indien lange das Steckenpferd der Brahmänensöhne war, die deswegen keine Notwendigkeit sahen, dem Hinduismus zu entsagen - was der Hinduismus als einzige Religion auch nicht verlangte - aber zu »Angleichungen« der buddhistischen Lehren an hinduistische Vorstellungen führte.

4 Tibetische Geschichte kennt keine Differenzierung zwischen den har­ten Fakten der objektiven historischen Ereignisse und den visionären Zyklen der spirituellen Dimension, die anderswo als Mythologie bezeichnet wird. So werden mythische Welten wie Shambala als genauso reale Orte angesehen wie geographische Lokalitäten, und die

\ Äonen der Weltzeitalter koexistieren mit der exakten Zeitmessung i durch Chronometer.

5! »Erleuchtungs-Wesen«, die ihre eigene Erleuchtung aufschieben, um /' allen leidenden Wesen helfen zu können. 6 Eine essentielle Praxis tantrischer Yogis. 7 D.h. auch den Segen und Auftrag des eigenen Meisters zu haben, der

erst erteilt wird, wenn die Buddhanatur zweifelsfrei erkannt wird und sich liebende Güte und Allerbarmen als Hauptmotivation entwickelt haben.

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chen 1988

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Glossar

Akanishta-Himmel (skrt. = »Nichts geht höher«): Das höchste Paradies. Amitabha (skrt.): Buddha des unermesslichen Lichtes, der gelobt hat, alle,

die ihn in der Stunde ihres Todes anrufen, zu erlösen. Amitayus: Buddha des ewigen Lebens, Sambhogakayaform von Amitabha,

wird in den Lang-Lebens-Ritualen angerufen. Ananda: Der Lieblingsschüler und Cousin von Buddha Shakyamuni. Da er

sich an jede Lehrrede Buddhas wortgenau erinnern konnte, beginnt jedes Sutra im Pali-Kanon mit seinen Worten: »Einst habe ich gehört...«.

Arhat: Mönch oder Asket, der die höchste Stufe im Hinayana, jenseits von Leidenschaften und Befleckungen erreicht hat - kann nach dem Tod völlig im Nirvana erlöschen, obwohl er noch kein Buddha ist.

Ashoka: Indischer König (272-236 v.Chr. + 231), der nach seiner Konver­tierung zum Buddhismus den Dharma bis nach Ceylon brachte.

Atiyoga (skrt. »Außergewöhnliches Yoga): Synonym für Dzogchen. Avalokiteshvara (skrt.): Der Bodhisattva des Mitgefühls. Entspricht Chen-

rezig (tibet.) Kannon (jap.) und Kuan-Yi (chin.). Bardo (übet.): Zustand zwischen zwei Seinsweisen. Es gibt sechs Bardos:

1. - der Geburt, 2. - des Traums, 3.- der Meditation, 4. - des Sterbens, 5. - der höchsten Wirklichkeit und 6. - des Werdens. Die letzten drei beschreiben den 49 Tage dauernden Prozess zwischen Tod und Wie­dergeburt.

Bardo Thödol: Ein Termatext von Padmasambhava, der als Teil der Dzogchenlehre beschreibt, wie man durch Meditationsübung im Leben im Augenblick des Todes zur Befreiung gelangt - kann auch Sterbenden vorgelesen werden, um sie an die wahre Natur des Geistes zu erinnern.

Bodhicitta (skrt.): »Der erleuchtete Geist«, im Relativen der mitfühlende Wunsch die Erleuchtung zu suchen, um alle Wesen retten zu können. Im Absoluten ist es die eingeborene Gewahrheit der Natur des Geistes.

Bodhisattva (skrt.): »Erleuchtungswesen«, das aus Allerbarmen Mahakaruna auf das Erlöschen im Nirvana verzichtet, bis alle Wesen erlöst sind.

Bon (tibet.): wörtl. »Lehre« Vorbuddhistische Urreligion Tibets, die auf einen früheren erleuchteten, Tönpa Sherab, in Shambala zurückgeht.

Bodhgaya: Ort der Erleuchtung Shakyamuni Buddhas in Nordindien. Buddhanatur: Die wahre, unveränderliche und ewige Natur aller Wesen,

die, in der Erleuchtungserfahrung erkannt, Buddhaschaft möglich macht.

Ch'an (chin.): Synonym für jap. Zen. Ch.mre.zig (tibet. wörtl. »Liebevolle Augen«): Avalokiteshvara. Chhimed Rigzin Rinpoche: Zeitgenössischer Meister der Nyingmaschule, hält

die Übertragungslinie der berühmten Khordong Terchen-Termas. Chimpu: Meditationsklause in den Bergen oberhalb von Samye Ling. Chogyur Dechen Lingpa (1829-1879): Bedeutender Tertön. Zusammen mit

Jamgon Kongtrul Begründer der ökumenischen Rime-Bewegung.

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Chogyur Tersar: Sammlung der von Chogyur Lingpa gefundenen Termas. Dakini: Weibliche tantrische Gottheit, die den Dharma schützt u n d Yogis

zur Erleuchtung führt - Verkörperung der weiblichen Erleuchtungse­nergie.

Deva (skrt.): »Götter« im klassischen Sinn die höchste der sechs Seinsweisen in Samsara. Im Vajrayana Gottheit, die der tantrische Yogi visualisiert.

Dharma (skrt.): Die Lehre oder auch die Ordnung der Welt. Hier meist die buddhistische Lehre, kann aber auch die Wahrheit an sich meinen. »Dharmas« kann auch die Summe aller Phänomene bedeuten.

Dharmakaya (skrt.): »Körper der absoluten Wahrheit«. Die Gestalt des erleuchteten Geistes, frei von jeder Begriffhchkeit. In Dzogchen der selbsterleuchtende, unkonditionierte Aspekt des eigenen Geistes.

Dharmapala ( skr t ) : Übermenschliche Schützer der Lehre, z.T. zum Bud­dhismus konvertierte Götter der Dämonen des Hinduismus, des Bön, etc., z.T. zornvolle Erscheinungsformen der Buddhas und Bodhisattvas.

Dorje Chang (tibet.): Vajradhara. Dorje Sanpa ( übe t ) : Vajrasattva. Dorje Thötrengtsal: Einer der Namen für Padmasambhava. Drenpa Namkha: Großer Bönmeister und einer der 25 Mahasiddhas. Dzo (übet.): Kreuzung von Yak und Rind. Dzogchen (tibet.): Kurzform für Dzogpachenpo »Die große Vollendung«,

die uranfänglich rein ist und sich spontan entfaltet. Das neunte und höchste Yana der Nyingmaschule, das alle Kausahtät und Dualität übersteigt.

Erleuchtung: In der Erleuchtungserfahrung offenbart sich die Urvollkom-menheit (Dharmakaya) alles Seienden als Gleichheit von Samsara und Nirvana. Hier wird der eigene Geist als die Buddhanatur erkannt, die nie unwissend war und nicht entwickelt werden muss. Vollkommene Erleuchtung ist ohne Unterbrechung in diesen Zustand und wirkt ohne Hindernisse.

Garah Dorje (tibet.): Auch Prahevajra oder Anandavajra ( skr t ) - »Der * glückliche Diamant« wurde von einer jungfräulichen Nonne als Enkel des Königs von Oddiyana geboren und wurde der erste Mensch, der die Dzogchenlehre erhielt und zwar direkt von den Buddhas Vajrasattva und Vajrapani. Sein Nachfolger war Manjushrimitra, der Lehrer von Sri Singha.

Guru Padma: Einer der Namen für Padmasambhava. Gum Rinpoche: Einer der Namen für Padmasambhava. Hayagriva: Eine zornvolle Form von Avalokiteshvara. Heruka: Wörtl. »Bluttrinker« - eine Klasse zomvoller männlicher Gottheiten. Hinayana (skrt. »Kleines Fahrzeug«): s. Einführung S. 36ff. Jambudvipa ( skr t ) : Die uns bekannte Welt nach der indischen Kosmologie. Jamgon Kongtrul I. (1813-1899): Auch als Lodrö Thaye u n d Yungdrung

Lingpa bekannter Meister der Rime-Bewegung, dessen bekanntestes Werk das 36-bändige Rinchen Terdzö, die Sammlung der Nyingma-Termas ist.

Jatshon Nyingpo: Dzogchen-Yogi und Tertön, dessen Könchog Chidu-Zyklus auch von der Karma-Kagyü-Schule praktiziert wird (s.S. 165).

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Kaliyuga: Das »Eiserne Zeitalter«, in dem Außen- und Innenwelt von Hass, Gier und Unwissenheit zerstört werden und die Menschen nur noch

• geringe Fähigkeit zur Meditation haben. Könchog Chidu (tibet. »Essenz der 3 Juwelen«): Ein Termazyklus von

Jatshon Nyingpo, der neben Belehrungen und Meditatiortsanweisungen auch äußere, innere u n d geheime Ritualtexte enthält.

Kriyga Yoga (skrt.): Das vierte der Neun Yanas, welches Reinheit und tugendhaftes Verhalten In den Vordergrund stellt.

Kuntuzango (tibet.): für Samanthabhadra. Lama (tibet.): »Nichts ist höher« Spiritueller Lehrer. Manchmal auch

buddhistischer Mönch oder Yogi, der ein dreijähriges Retreat absolviert hat.

Lopön (übet.): 1. Lehrer 2. Spiritueller Meister oder Lama. Lopön Rinpoche (tibet. »Kostbarer Lehrer«): Name für Padmasambhava. Maha-Ati (skrt. »Große Transzendenz«): Synonym für Dzogchen. Mahakaruna (skrt. »Großes Erbarmen«): Beiname Avalokiteshvaras. Mahamudra (skrt. »Großes Siegel«): Die höchste Lehre der Kagyüschule,

in der alle Phänomene als Einheit von Leerheit und Klarheit besiegelt sind.

Mahayana (skrt. »Großes Fahrzeug«): s. Einführung S. 36ff. Mandala (skrt. »Kreis«): Symbolische Repräsentation der Welt einer tan-

trischen Gottheit. Kreisförmige Ordnung des Kosmos um ein Zentrum. Mandalaopferung: Die Vorstellung, das ganze Universum und das eigene

Leben als Opfer an die Buddhas dem Erleuchtungprinzip unterzuord­nen.

Manjushri (skrt.): Der Bodhisattva der Weisheit. Mantra (skrt.): Die klangliche Manifestation erleuchteter Qualitäten, deren

Rezitation den Geist klärt und schützt. Mantrayana (skrt. »Fahrzeug des Mantras«): Synonym für Vajrayana. Meru: Mythischer Berg, um den als Achse die Welt zum Mandala wird. Nagas (skrt. »Schlangen«): Mächtige magische Wesen, die in tiefen Ge­

wässern oder unterirdisch leben und oft große Reichtümer hüten. Nirmanakaya (skrt.): 1. Magischer »Erscheinungskörper«, den ein Buddha

aus Mitgefühl annimmt, um den leidenden Wesen helfen zu können. 2. Die freiwillige Inkarnation eines hohen Meisters; tibet. Tulku.

Nirvana (skrt.): Zustand der Befreiung oder Erleuchtung durch das Erlö­schen von Hass, Gier und Ignoranz, den drei Ursachen von Samsara.

Nyong Wen Tingzin Zangpo: Hofpriester und Lehrer von König Trisong Detsen. Dharmaerbe von Vimalamitras Dzogchenlinie.

Nyingmaschule: Die älteste Schule des tibet. Buddhismus, die in der ersten Übersetzungsphase in Samye von Padraasarabhava u.a. gegründet wur­de..

Oddiyana (skrt.) oder Orgyen (tibet.): Westafghanisches Königreich - ein Zentrum der buddhistischen Gelehrsamkeit und die Wiege von Dzogchen.

Padmakara (skrt.): einer der Namen für Padmasambhava. Padmasambhava (skrt.): »Der Lotusgeborene«, gilt den Tibetern als zweiter

Buddha unserer Zeit, dessen Aufgabe es war, das Vajrayana zu lehren.

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Palikanon: Erste Sammlung der Lehrreden von Buddha Shakyamuni. Parinirvana (skrt.): Im Hinayana das vollständige Erlöschen nach dem Tod

eines Erleuchteten. Im Mahayana auch der Tod eines großen Meisters. Phurba (übet.): Magischer Dolch, zerstört Hindernisse für die Erleuchtung. Prajnaparamita (skrt. »Transzendente Weisheit«): Sutras, die die Erkenntnis

der Leerheit aller Phänomene vermitteln, was zu Weisheit führt. Rdkshasa: Sagenhafte, kannibalische Wilde, auch ein Art von Dämonen. Sadhana: Tantrischer Ritualtext zur Visualisations- und Mantrapraxis. Samanthabhadra (skrt.): »Der Allumfassend Gute«, ist der Urbuddha, der

das ungeschaffene Absolute (Dharmakaya) verkörpert. Samboghakaya (skrt. »Körper der höchsten Wonne«): Der Lichtkörper, den

Buddhas annehmen, um hochentwickelten Yogis und Bodhisattvas zu erscheinen. Er kann nur übersinnlich wahrgenommen werden.

Samsara (skrt. »Wanderung«): Der endlose Kreislauf von Geburt, Tod und Wiedergeburt, aus dem nur der Eintritt ins Nirvana befreit.

Samye Ling: Als Mandala gebaute Klosteranlage bei Lhasa im Yarlungtal. Sangha (skrt. »Gruppe«): Im engeren Sinn die Gemeinschaft der Mönche

und Nonnen, im weiteren die Laienanhänger. Mit Buddha und Dharma eines der drei Fundamente des Buddhismus und der Zufluchtnahme.

Siddha (skrt. »Vollkommener«): Ein erleuchteter Heiliger, der wundertätig ist und durch sein Verhalten die konventionelle Realität als Illusion zeigt.

Siddhi (skrt. »Vollkommene Fähigkeit«): Acht wunderbare Kräfte, die als Beiprodukt spiritueller Praxis entstehen. Nur die Achte, die Erleuch­tung, wird als außergewöhnlich und anstrebenswert betrachtet.

Siddhi Sankalpa: Die Kraft, Wünsche zu erfüllen. Shang-Shung: Mythisches Reich erleuchteter Krieger und Hüter der Erde -

wird in der Wüste Gobi oder in einer feinstofflichen Dimension vermutet.

Shantarakshita: Von Tibetern Khenpo Bodhisattva genannt. Abt von Vikra-mashila in Indien und der erste Abt von Samye Ling.

Shakyamuni (skrt. »Der Weise Shakya«): Der historische Buddha, Siddharta Gautama, ca. 563 v.Chr. als Prinz des Shakya-Geschlechts geboren. Er erlangte mit 35 Jahren in Bodhgaya die vollkommene Erleuchtung. Bis er mit 80 Jahren verstarb, verkündete er die Lehre von der Erleuchtung, den Dharma und gründete den buddhistischen Orden, den Sangha.

Sri Singha: Im chinesischen Westturkestan geborener Meister von Pad-masambhava, Vimalamitra etc. und drittes Glied in der Dzogchenüber-tragung.

Stupa: Ein sakrales Bauwerk, das buddhistische Reliquien enthält und als dreidimensionales Mandala den Buddhageist symbolisiert.

Sugata (skrt.): »Der die Glückseligkeit erreicht hat«. Synonym für Buddha. Sutra (skrt. »Leitfaden«): Die Lehrreden Shakyamuni Buddhas. Tantra (skrt. »Gewebe, Kontinuum«): Bezeichnet die Lehre von der Ein­

heitlichkeit der Welt als Spiel des Geistes. Im Vajrayana sind Tantras die Texte, die den verschiedenen Meditationssystemen zugrunde liegen.

Tantrayana (skrt. »Fahrzeug der Tantras«): Synonym für Vajrayana. Tathagatagarbha (skrt.): Wörtl.: Keim des Vollendeten Buddhanatur.

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Tapihritsa: 24. Meister der Bön-Dzogchenlinie, der in der Bönschule als Vereinigung aller Meister der archetypische Ur-Guru ist.

Terma: Spirituelle Schätze, meist von Yesche Tsogyal verborgen. Tertön: Finder von Termas (s. S. 207-215 und 221). Tirthika (skrt.): Philosophische oder religiöse Gegner des Buddhismus in

Indien Theravada (skrt.): Die »Schule der Älteren«. Synonym, für Hinayana. Tripitaka (skrt. »Drei Körbe«): Beinhaltet Buddha Shakyamunis Lehren,

bestehend aus Vinaya, Sutra und Abidharma (Philosophie). Trisong Detsen: König von Tibet (755-797), ließ das Kloster Samye Ling

erbauen und die buddhistischen Schriften ins Tibetische übersetzen. Tsele Natsok Rangdrol: Meister der Kagyü- und Nyingma im 17. Jh. Tsepame (übet.): Amitayus. Tulku (tibet.): Magische Erscheinung Nirmanakaya. Tun Huang: Höhlenkloster in Nordwestchina, in dem um 1900 eine große

Anzahl von Texten und Kunstwerken aus dem 6. Jh. ausgegraben wurde.

Turiya (skrt.): Wörtl. »Der Vierte« (Zustand der Erleuchtung) jenseits von Wachen, Träumen und Tiefschlaf. Unbeschreibbare Einheit mit dem Absoluten, ohne Begrifflichkeit, Identifikationen oder Kausalität.

Vajra (skrt. wörtl. »Donnerkeil«): Ritualobjekt, das die männliche Seite, die geschickten Mittel des Erleuchtungswegs verkörpert. Wird im Vajrayana als Diamant verstanden, dessen Unzerstörbarkeit die Essenz der Wirklichkeit und dessen Klarheit die Leerheit der Phänomene symbolisiert.

Vajradhara (skrt.): »Der Vajrahalter« ist der Dharmakayabuddha der neuen Schulen. Auch der eigene Lehrer oder die Buddhanatur kann gemeint sein.

Vajradhatu (skrt.): Unzerstörbarer, ungeborener Raum. .Vajrasana ( skr t ) : Wörtl. »Der Lotusthron«. Synonym für Bodhgaya. Vajrayana (skrt. »Diamantfahrzeug«): Der äußerst schnelle Weg zur

Buddhaschaft, der, den Neigungen der verschiedenen Menschen ent­sprechend, eine Fülle von Methoden kennt und das Resultat zum Weg macht.

Vairocana: Der größte tibetische Übersetzer seiner Zeit, war ein direkter Schüler von Sri Singha und war auch Dzogchenmeister der Böntradition.

Vairochana: »Der Sonnengleiche«. Einer der fünf Dhyanibuddhas. Vidyadhara (skrt. »Weisheitsträger«): Ein Meister des Mahayoga-Tantra.

Padmasambhava, Vimalamitra, Shantigarbha, Prabhahasti und Dhana-samskrita u.a. gehören zu den berühmten „Acht indischen Vidyad-haras«.

Vimalamitra: Als einer der, größten Gelehrtern seiner Zeit war er ein Dzogchen-Gegner, bis er von Sri Singha in einer Debatte besiegt wurde, worauf er ihn als Meister annahm und schließlich zusammen mit Padmasambhava und Vairocana die Dzogchenlinie der Nyingmas grün­dete.

Vinaya (skrt.): Die Ordensregeln der buddhistischen Mönche. Wu t'ai shan: Heiliger Berg in China (Shansi), an dem Manjushri lehrte.

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Yana (skrt.): »Fahrzeug« (zur Erleuchtung) - Im Buddhismus werden Hina-, Maha-und Vajrayana unterschieden. Das Vajryana kennt 9 Yanas.

Ycshe Tsogal: Prinzessin von Kharchen. Spirituelle Gefährtin und Haupt-Schülerin Padmasambhavas. Mit absolutem Gedächtnis begabt, schrieb sie alle seine Lehren nieder. Wird ab Dakini und weiblicher Buddha verehrt.

Yi&am (übet.): Ein visualisierter Aspekt des GötÜichen Deva. Yogachara: Mahayanaschule, deren Lehre sagt, alles Wahrnehmbare sei nur

Geist (Cittamatra). Wahrnehmungen seien immer Projektionen. Yogi: Im Buddhismus ein Laienanhänger ohne Zölibat, der intensiv übt. Zen (jap.): Schule des Mahayana, die in China im 6. Jh. entstand und die

Vorrangigkeit der Erleuchtung gegenüber religiösen Studien oder ri­tuellen Praktiken betont, was zum Streit mit der Schule des Stufenwegs der Erleuchtung führte, die ethische Vervollkommnung anstrebte, während Zen lehrt, alle menschliche Güte aktualisiere sich in der Erleuchtung. Direkter Weg zu dieser Erfahrung ist das Zazen (skrt. Dhyana = Kontemplation, Versenkung) und., Koans genannte, paradoxe Probleme, die nur jenseits der Dualität von Subjekt und Objekt gelöst werden können.

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R. und M. von Brück

DIE WELT DES

TIBETESCHEN BUDDHISMUS

Eine Begegnung

Mit einem Vorwort

des 14. Doloi Lama

160S. Zahlr. Fotos. Kart.

ISBN 3-466-20402-X

fer die vom politischen Schicksal bedrängte Welt des tibetischen Buddhismus verstehen

wil l , muß zunächst die Grundelemente tibetischer Spiritualität bzw. Religion kennenlernen. Dieses Buch erschließt die Grundphänomene des tibeti­schen Buddhismus für westliche Menschen und macht sie vor dem kulturellen und religiösen Hintergrund Tibets verständlich.

Kösel-Verlag München

online: wwW.koesel.de

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BHAGAVAD GITA

Mit einem spirituellen Kommentar v. B. Griffiths Übersetzt, eingeleitet und erläutert v. M. von Brück 424 S. Geb. ISBN 3466-20373-2

Durch die neue Übersetzung von Michael von Brück wird diese heilige Schrift des Hinduis­

mus, die von frommen Gläubigen täglich rezitiert wird, dem deutschen Leser nahe gebracht. Der Kommentar von Bede Griffiths erschließt die Texte für den christlich geprägten Menschen zur Medi­tation oder als spirituelle Lektüre.

Kösel-Verlag München online: www.koesel.de