5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie - Extra...

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5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 373 5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie Ein polymerer Festkörper ändert seine Gestalt, wenn eine Kraft auf ihn einwirkt. Der Festkörper wird durch eine Scherkraft geschert, durch eine Zugkraft gedehnt und durch eine Druckkraft kom- primiert. Das Maß der Deformierbarkeit hängt von folgenden Faktoren ab: - der inneren Struktur des Festkörpers - der Deformationsgeschwindigkeit (Rate) und - der Temperatur. Elastische Festkörper, wie Metalle und keramische Materialien, gehorchen bei kleinen Dehnungen dem Hookeschen Gesetz. Die Dehnung ist der Zugkraft proportional und unabhängig von der Deformationsgeschwindigkeit. Die mechanischen Eigenschaften von Flüssigkeiten sind dagegen zeitabhängig. Für kleine Dehnungsraten gilt das Newtonsche Gesetz. Die Scherspannung ist proportional zur Dehnungsrate und unabhängig von der Dehnung. Die mechanischen Eigenschaften der meisten Polymere liegen zwischen denen von elasti- schen Festkörpern und Flüssigkeiten. Bei niedrigen Temperaturen und hohen Dehnungsraten ver- halten sich Polymere wie elastische Festkörper. Sie benehmen sich dagegen wie viskose Flüssigkei- ten, wenn die Temperatur hoch und die Dehnungsrate klein ist. Polymere besitzen also sowohl elas- tische wie auch viskose Eigenschaften. Man bezeichnet sie daher als viskoelastisch. 5.3.1 Dehnung und Dehnungsmodul 0,30 Eis (4 °C) 990 Gegeben sei ein Draht mit dem Querschnitt A und der Länge l. Ziehen wir mit der Kraft F an dem Draht, so wird er um die Strecke l verlängert bzw. gedehnt. Diese Dehnung ist bei nicht allzu gro- ßer Belastung proportional zu F und l, aber umgekehrt proportional zu A. Es gilt: (5.71) Die Proportionalitätskonstante E heißt Dehnungs- oder Elastizitätsmodul. Es erfaßt das unterschied- liche Verhalten der Materialien. Je größer E ist, desto weniger elastisch ist das Material. 370 1000 0,33 ( ) ( ) ( ) ( 1 bzw. 1 l E lFA ll E F ∆= = 21800 8400 17200 70 500 0,44 ) A Tabelle 5.17: Elastizitäts-, Schub- und Kompressionsmodule und Poissonsche Zahlen bei T = 20 °C Material Naturkautschuk 10,5 10 E/(daN/mm 2 ) G/(daN/mm 2 ) K/(daN/mm ) 2 3,5 10 2 200 2 µ --- Polyethylen (LD) Aluminium 7200 20 7 330 2700 7500 0,34 α-Eisen 0,49 Nylon 190 0,28 V2A-Stahl (Cr, Ni) Polystyrol 340 120 19500 8000 17000 500 0,38 0,28 Gold 8100 2800 18000 0,42 Cu, weich 12000 4000 14000 0,35 α-Messing 10000 3600 12500 0,38 Quarzglas 7600 3300 3800 0,17 Marmor 6200 Poly(methylmethacrylat) 320 110 510 0,40 Das Verhältnis heißt Dehnung (Englisch: strain). Es gibt die Verlängerung oder Ver- kürzung pro Längeneinheit an. Das Verhältnis ist die Spannung (Englisch: stress). Glei- chung (5.71) läßt sich damit umschreiben zu: 7300 2800 ε =∆l l / σ = F A /

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5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 373

5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie

Ein polymerer Festkörper ändert seine Gestalt, wenn eine Kraft auf ihn einwirkt. Der Festkörper wird durch eine Scherkraft geschert, durch eine Zugkraft gedehnt und durch eine Druckkraft kom-primiert. Das Maß der Deformierbarkeit hängt von folgenden Faktoren ab: - der inneren Struktur des Festkörpers - der Deformationsgeschwindigkeit (Rate) und - der Temperatur. Elastische Festkörper, wie Metalle und keramische Materialien, gehorchen bei kleinen Dehnungen dem Hookeschen Gesetz. Die Dehnung ist der Zugkraft proportional und unabhängig von der Deformationsgeschwindigkeit. Die mechanischen Eigenschaften von Flüssigkeiten sind dagegen zeitabhängig. Für kleine Dehnungsraten gilt das Newtonsche Gesetz. Die Scherspannung ist proportional zur Dehnungsrate und unabhängig von der Dehnung.

Die mechanischen Eigenschaften der meisten Polymere liegen zwischen denen von elasti-schen Festkörpern und Flüssigkeiten. Bei niedrigen Temperaturen und hohen Dehnungsraten ver-halten sich Polymere wie elastische Festkörper. Sie benehmen sich dagegen wie viskose Flüssigkei-ten, wenn die Temperatur hoch und die Dehnungsrate klein ist. Polymere besitzen also sowohl elas-tische wie auch viskose Eigenschaften. Man bezeichnet sie daher als viskoelastisch.

5.3.1 Dehnung und Dehnungsmodul

0,30 Eis (−4 °C) 990

Gegeben sei ein Draht mit dem Querschnitt A und der Länge l. Ziehen wir mit der Kraft F an dem Draht, so wird er um die Strecke ∆l verlängert bzw. gedehnt. Diese Dehnung ist bei nicht allzu gro-ßer Belastung proportional zu F und l, aber umgekehrt proportional zu A. Es gilt:

(5.71) Die Proportionalitätskonstante E heißt Dehnungs- oder Elastizitätsmodul. Es erfaßt das unterschied-liche Verhalten der Materialien. Je größer E ist, desto weniger elastisch ist das Material.

370 1000 0,33

( ) ( ) ( ) (1 bzw. 1l E l F A l l E F∆ = ∆ =

21800 8400 17200

70 500 0,44

)A

Tabelle 5.17: Elastizitäts-, Schub- und Kompressionsmodule und Poissonsche Zahlen bei T = 20 °C

Material

Naturkautschuk 10,5 ⋅ 10

E/(daN/mm2) G/(daN/mm2) K/(daN/mm )

−2 3,5 ⋅ 10−2 200

2 µ

--- Polyethylen (LD)

Aluminium 7200

20 7 330

2700 7500 0,34 α-Eisen

0,49 Nylon 190

0,28 V2A-Stahl (Cr, Ni)

Polystyrol 340 120

19500 8000 17000

500 0,38

0,28 Gold 8100 2800 18000 0,42 Cu, weich 12000 4000 14000 0,35 α-Messing 10000 3600 12500 0,38 Quarzglas 7600 3300 3800 0,17 Marmor 6200

Poly(methylmethacrylat) 320 110 510 0,40

Das Verhältnis heißt Dehnung (Englisch: strain). Es gibt die Verlängerung oder Ver-kürzung pro Längeneinheit an. Das Verhältnis ist die Spannung (Englisch: stress). Glei-chung (5.71) läßt sich damit umschreiben zu:

7300 2800

ε = ∆l l/σ = F A/

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5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie 374

(5.72) Das ist das Hookesche Gesetz. Dehnung und Spannung sind einander proportional.

Festkörper, die dem Hookeschen Gesetz folgen, heißen elastisch. Da ε dimensionslos ist, hat E die Dimension einer Spannung. In der Technik wird E meist in DekaNewton/mm (daN/mm ), Kilopond/mm (kp/mm ) oder dyn/cm angegeben (1 kp = 9,80665 N = 0,980665 daN). Einige Werte für E zeigt Tabelle 5.17.

2 2

2 2 2

5.3.2 Poissonsche Zahl Ein Draht, auf den die Spannung σ wirkt, wird nicht nur in die Richtung des Kraftvektors um die Strecke ∆l verlängert bzw. verkürzt. Er wird gleichzeitig in der dazu senkrechten Richtung um die Strecke ∆d „verdünnt“ bzw. „verdickt“. Man spricht von der Querkontraktion bei elastischer Deh-nung (siehe Abbildung 5.28).

σ ε= E

Abbildung 5.28: Querkontraktion eines elastischen Drahtes

Wir betrachten als Beispiel einen Quader mit dem quadratischen Querschnitt A = d und der Länge l. Das Volumen dieses Quaders wird durch eine Dehnung verändert. Es gilt:

2

(5.73)

Die relative Volumenänderung ist:

( ) ( )2 2 2 2V d d l l d l d l d l ∆ = − ∆ + ∆ − ≈ ∆ − ∆ d

(5.74)

Das Verhältnis

(5.75)

( ) ( ) ( ) ( ) ( ) ( )2 2 1 2V V V d l l l d d l l d d l l∆ = ∆ ≈ ∆ − ∆ = ∆ − ∆ ∆

( ) ( )d d l lµ ≡ ∆ ∆

heißt Poissonsche Zahl. Bei Berücksichtigung des Hookeschen Gesetzes läßt sich Gleichung (5.74) damit umschreiben zu:

(5.76) ∆V ist größer oder mindestens gleich null. µ kann deshalb nicht größer als 0,5 sein. Für µ = 0,5 ist ∆V = 0. Experimentell findet man, daß µ zwischen 0 und 0,5 liegt (siehe Tabelle 5.17).

( ) ( )1 1 2V V E µ σ∆ = −

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5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 375

5.3.3 Kompression und Kompressionsmodul Ein Festkörper, auf den von allen Seiten des Raumes ein gleich großer Druck p wirkt, wird kom-primiert. Die Volumenänderung ist dabei dreimal so groß wie bei der eindimensionalen Druckspan-nung p = −σ. Aufgrund von Gleichung (5.76) gilt: (5.77) Das Minuszeichen vor der Konstanten K weist darauf hin, daß bei einer Druckzunahme das Volu-men abnimmt. Die Konstante K heißt Kompressionsmodul. Sie besitzt genau wie E die Einheit ei-ner Spannung. Es gilt:

∆V V E p p K V V= − − = −3 1 2a f a f a f∆µ bzw.

(5.78)

K, E und µ sind also miteinander verknüpft. Die Größe κ = 1/K heißt Kompressibilität. Sie wird vorzugsweise bei der Beschreibung von Gasen und Flüssigkeiten benutzt.

5.3.4 Scherung und Schubmodul

( )3 1 2K E µ= −

Die Scher- oder Schubkraft wirkt senkrecht zu der Ebene, an der sie angreift. Sie bewirkt eine Sche-rung, d.h. eine Kippung der Kanten der Ebene, die senkrecht zur angreifenden Kraft stehen (siehe Abbildung 5.29). Der Kippwinkel α ist der Schubspannung τ = F/l2 proportional. Es gilt: (5.79) τ α= G

Die Proportionalitätskonstante G heißt Torsions- oder Schubmodul. Sie ist ein Maß für die Gestalt-elastizität. Abbildung 5.29: Scherung eines Quaders

Die vier Parameter E, G, K und µ sind miteinander verknüpft. Sind zwei der Parameter bekannt, so lassen sich die anderen zwei berechnen. Die Berechnungsformeln sind in Tabelle 5.18 zusammen-gestellt.

Tabelle 5.18: Die Elastizitätsparameter und ihre Berechnungsformeln

K = = =

G = = =

E =

=

=

µ =

=

=

E3 1 2− µa f

23

11 2

G+

−µµ

13 3

EE G−

E2 1 +( )µ

32

1 21

K−+

µµ

EE G3 1 3− a f a f

2 1G +( )µ 3 1 2K − µa f3

1 1 3G

G K+ a fa f

1 2 6− E Ka f E G2a f −1 1 2

2 1 1 3−

+a fa fa fa fa f

G KG K1

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5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie 376

5.3.5 Die Konstanten E, G, K und die Schallgeschwindigkeit In Festkörpern können sich longitudinale und transversale Schallwellen ausbreiten. Longitudinale Wellen erzeugen im Festkörper lokale Kompressionen und Expansionen. Die Molekülteile des Festkörpers schwingen dabei in Richtung der Fortpflanzung der Welle. Bei einer transversalen Wel-le erfolgt die Bewegung der Molekülteile dagegen senkrecht zur Fortpflanzungsrichtung der Welle, der Festkörper wird lokal geschert. Transversale Schallwellen werden deshalb Scherwellen genannt.

Flüssige Medien wie Gase, Flüssigkeiten oder Schmelzen besitzen keine innere Steifheit; in ihnen können sich nur longitudinale Wellen ausbreiten. In steifen Medien, die nicht komprimierbar sind, können sich dagegen nur Scherwellen ausbreiten.

Die Schallgeschwindigkeit U einer longitudinalen Welle und die Schallgeschwindigkeit U einer transversalen Welle hängen von den Modulen K und G ab. Findet keine Schallabsorption statt, so gilt:

(5.81)

wobei ρ die Dichte des Materials ist.

l t

(5.80) U K Gl = + 4 3 1 2a f ρ

U Gt = ρ 1 2

Bei dünnen Fasern ist die laterale Ausdehnung kleiner als die Wellenlänge des Schalls. Die longitudinale Welle ist dann rein extensional. Es gilt:

(5.82) In Schmelzen ist G = 0; die longitudinale Welle ist dann rein kompressional: U K . Die molare Schallgeschwindigkeitsfunktion U Rama Rao konnte 1940 zeigen, daß das Ver-hältnis U für organische Flüssigkeiten nicht von der Temperatur abhängt. Die Funktion

U E G G Kext = = +ρa f a f1 2 1 23 1 3 ρ

k = ( / ) /ρ 1 2

R

(5.83) heißt Rao-Funktion oder molare Schallgeschwindigkeitsfunktion. Darin sind M die Molmasse und V das Molvolumen. Für Festkörper muß Gleichung (5.83) modifiziert werden. Dort gilt:

l1/3 / ρ

U M U V UR l1 3

l1 3≡ =ρ

(5.84)

wobei µ die Poissonsche Zahl ist. Für Flüssigkeiten ist µ = 0,5, so daß Gleichung (5.84) in Glei-chung (5.83) übergeht.

Jede Struktureinheit eines Polymers liefert einen bestimmten Beitrag zu UR, und diese Beiträ-ge verhalten sich additiv. Das bedeutet: Wir können U berechnen, wenn wir die Molekularstruktur und die Gruppenbeiträge kennen. Letztere sind in Tabellenwerken nachschlagbar. Einige Beispiele zeigt Tabelle 5.19.

U V UR l1 3= +

−LNM

OQP

13 1

1 6µµa f

R

Anstelle von Gleichung (5.80) können wir auch schreiben: U K (vgl.Tabelle 5.18). Kombinieren wir diese Gleichung mit Gleichung (5.84), so folgt: (5.85)

l2 = −( / ) ( ( ) / ( )+ )ρ µ µ3 1 1

K U V= Rb g6 ρDer Kompressionsmodul kann somit berechnet werden, wenn UR bekannt ist.

Hartman hat 1984 einen analogen Ausdruck für den Schermodul G abgeleitet. Es gilt: (5.86) Darin ist UH die Hartman-Funktion. Die Gruppenbeiträge für UH finden sich in Tabelle 5.19.

G U V= Hb g6 ρ

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5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 377

Tabelle 5.19: Gruppenbeiträge zu U und U

−CH(CH3)(COOCH )−

R H

Gruppe

3 4220 3650

UR3 1(cm mol) (cm / s)/

UH3 1(cm mol) (cm / s)/

−N

/3 /3

−CH −

2 880 675

−CH(CH3)− 1875 1650

−CH(C H )− 6 5 4900 4050

−CH(CH3)(COOCH )− 3 4220 3650

4100 3300

−O− 400

65 50

−OH

Σ 5100 Σ 4325

Somit ist K U und G U .

Für E und µ finden wir: E Diese Werte vergleichen wir mit den experimentell ermittelten Werten:

Experiment Theorie K/(GPa) 6,49 5,76 G/(GPa) 2,33 2,18 E/(GPa) 6,24 5,80 µ 0,34 0,335

l t

l tEinen Vergleich der gemessenen und berechneten Schallgeschwindigkeiten für andere Poly-

mere zeigt Tabelle 5.20. Die Übereinstimmung ist in allen Fällen zufriedenstellend. Wir schließen daraus: Die Gleichungen (5.80) bis (5.86) sind vorzüglich dazu geeignet, um K, G, E, µ, Ul und U zu berechnen. Das gilt allerdings nur, solange keine Schallabsorption stattfindet.

300

Wir erkennen: Die Übereinstimmung zwischen Theorie und Experiment ist hinreichend gut. Wir wollen zusätzlich die Schallgeschwindigkeiten berechnen: Nach Gleichung (5.80) und

Gleichung (5.81) gilt: U = 2700 m/s und U = 1360 m/s. Beide Werte stimmen mit den gemessenen Werten U = 2690 m/s und U = 1340 m/s gut überein.

630 500

Die Gleichungen (5.80) bis (5.86) lassen interessante Anwendungsmöglichkeiten zu. Wir be-trachten als Beispiel Poly(methylmethacrylat). Die Struktureinheit lautet:

t

mit M = 100,1 g/mol, ρ = 1,19 g/cm3 und V = 84,5 cm3/mol. Nach Tabelle 5.19 ergeben sich damit folgende Gruppenbeiträge:

CCH2

CH3

COOCH3

UR U H

−CH2− 880 675

V= = =ρ R GPab g a f6 6119 5100 84 5 5 76, , , V= =ρ H GPab g6 2 18,

G G K G K G K= + = = − + =3 1 3 5 8 1 2 3 1 3 0 335a f a f a f, ,GPa ; µ

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5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie 378

Tabelle 5.20: Berechnete und gemessene Schallgeschwindigkeiten ausgewählter Polymere

Experiment Theorie

PF 2840 1320 3015

Polymer Ul / (m/s)

1270 Schallabsorption Die Schallabsorption ist weniger systematisch untersucht als die Schallge-schwindigkeit in Polymeren. Das vorhandene Datenmaterial läßt folgende Schlüsse zu:

Ut / (m/s)

(1) Die Schallabsorption α ist in Phasenübergangsgebieten und im Gelzustand sehr hoch. (2) Die Schallabsorption ist vernachlässigbar klein, wenn die Poissonzahl µ kleiner als 0,3 ist.

Ul / (m/s) Ut / (m/s)

(3) Kautschuke, die eine niedrige Vernetzungsdichte aufweisen, absorbieren Schallwellen relativ stark.

(4) Die Schallabsorption von Kautschuken hoher Vernetzungsdichte ist gering. (5) Das Verhältnis α t/α ist für alle Polymere nahezu konstant und liegt bei 5. Darin sind α und α

die transversalen und longitudinalen Beiträge zu α.

PE (HD) 2430 950

l t l

(6) Finden in einem gegebenen Temperaturbereich keine Phasenübergänge statt, so gilt in guter Näherung:

2410 960

(5.87)

Wir betrachten als Beispiel PMMA. Dort ist µ = 0,335. Setzen wir diesen Wert in Gleichung (5.87) ein, so folgt: α l = 1,4 dB/cm. Da α ≈ 5α ist, gilt ferner: α = 7,0 dB/cm. Diese Werte stimmen relativ gut mit den gemessenen Werten α = 1,4 dB/cm und α = 4,3 dB/cm überein.

PP 2650 1300

t l t

2586 1280 PS 2400 1150 2270 1080 PVC 2376 1140 2425 1140 PMMA 2690 1340 2700 1360 PEO 2250 406 2400 926

2785 1120 PA-66 2710 1120 2785 1120

l t

5.3.6 Viskoelastizität und Zeitabhängigkeit Polymere sind keine elastischen Festkörper. Die einmal erzeugten Spannungen geben mit der Zeit nach. Man sagt, die elastischen Spannungen relaxieren.

Die Änderungen von Spannung σ und Dehnung ε mit der Zeit t sind in Abbildung (5.30) skiz-ziert. Die durchgezogenen Kurven beschreiben das mechanische Verhalten eines Polymers und die gestrichelten Kurven das Verhalten eines elastischen Festkörpers. Drei Fälle können unterschieden werden: (1) Konstante Spannung Die Spannung σ wird zum Zeitpunkt t = 0 angelegt und danach kon-stant gehalten. Es stellt sich eine Dehnung ε ein. Für Polymere wird ε mit steigendem t zunächst schnell größer. Die Dehnungsrate (dε/dt) wird danach kleiner und konvergiert schließlich gegen null. Man sagt, das Polymer kriecht. Im Unterschied dazu bleibt in einem elastischen Festkörper die Dehnung über den gesamten Beobachtungszeitraum konstant. (2) Spannungs-Relaxation (konstante Dehnung) Die Dehnung ε des Materials wird jetzt kon-stant gehalten und der Verlauf der Spannung als Funktion der Zeit verfolgt. Für elastische Festkör-per ist (dσ/dt) = 0, für Polymere nimmt σ mit wachsendem t kontinuierlich ab. Man sagt, die Span-nung relaxiert.

PA-6 2700 1120

α µl dB / cm≈ −40 0 30,a f

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(3) Konstante Spannungsrate Die zeitliche Änderung der angelegten Spannung ist konstant. Für elastische Festkörper bedeutet dies: Die Dehnungsrate ist konstant und ε wächst linear mit der Zeit. Polymere verhalten sich aber nicht so. ε(t) ist nicht linear. Die ε-Kurve liegt für große t oberhalb der Kurve für elastische Festkörper.

Abbildung 5.30: Spannungs- und Dehnungskurven für einen elastischen Festkörper (---) und ein Polymer(). Oben: konstante Spannung; Mitte: Spannungs-Relaxation; Unten: konstante Spannungsrate

Wir wollen jetzt die oben dargestellten Eigenschaften erklären. Der Einfachheit halber neh-men wir an, daß wir die Deformation eines Polymers in einen elastischen und einen viskosen Anteil zerlegen können. Die Elastizität beschreiben wir durch das Modell einer Feder, die dem Hooke-schen Gesetz gehorcht. Es gilt: (5.88) Als Modell für die Viskosität benutzen wir einen „dashpot“. Das ist ein beweglicher Kolben, der sich in einer Flüssigkeit der Viskosität η befindet. Er soll in seinem Verhalten dem Newtonschen Gesetz folgen:

(5.89) Um die Viskoelastizität zu beschreiben, müssen wir die beiden Grundelemente, Feder und dashpot, geeignet miteinander kombinieren. Es gibt dafür verschiedene Möglichkeiten. Die drei einfachsten Modelle wollen wir kurz vorstellen.

und d d = d dE tσ ε σ ε= E t

(d dtσ η ε= )

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5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie 380

(1) Maxwell-Modell Das Maxwell-Modell für einen polymeren Festkörper besteht aus einer Feder und einem dashpot. Diese sind in Reihe geschaltet (siehe Abbildung 5.31). Abbildung 5.31: Das Maxwell-Modell

Die Spannung σ erzeugt die Gesamtdehnung ε. Wir können sie in zwei Anteile, εd und ε , zerlegen. Es gilt:

d f

(5.91) Gleichung (5.88) und (5.89) können wir umschreiben zu:

(5.92) Die Ableitung von Gleichung (5.90) nach t liefert:

(5.93) Das ist die gesuchte Bewegungsgleichung für das Maxwell-Modell.

Im „Kriechexperiment“ wird das System einer konstanten Spannung ausgesetzt. dσ/dt ist dann gleich null, und Gleichung (5.93) vereinfacht sich zu: (dε ie Lö-sung dieser Differentialgleichung lautet:

(5.94)

f

(5.90)

wobei ε die Dehnung des dashpots und ε die Dehnung der Feder sind. Der dashpot und die Feder sind in Reihe geschaltet. Die beiden Grundelemente stehen deshalb unter der gleichen Spannung. Es gilt:

ε ε ε= +f d

σ σ σ= =d f

d d d d und = d df dσ ε σ η εt E t ta f b g b g=

d d d d d d d df dε ε ε σ σ ηt t t E ta f b g b g a f a f a f= + = +1

) ( )d konstantt σ η= = . D

( ) ( ) ( )0tε ε σ η= + t

Die Dehnung ε wächst also im Maxwell-Modell linear mit der Zeit t (siehe Abbildung 5.32). Leider steht diese Voraussage im klaren Widerspruch zu den Ergebnissen des Experiments. Abbildung 5.32: Dehnungs-Zeit Diagramme für das Maxwell- und das Voigt-Modell (1): Gleichung (5.94) (2): Gleichung (5.100)

Im Fall der konstanten Dehnung ist dε/dt = 0. Gleichung (5.93) geht dann über in

Diese Differentialgleichung kann man mit der Methode „Trennung der Variablen“ lösen. Es folgt:

( ) ( )d dE tσ σ η= −

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5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 381

(5.95)

Darin ist σ (0) die Spannung zum Zeitpunkt t = 0. Das Verhältnis ist eine Konstante. Sie besitzt die Dimension einer Zeit und wird Relaxationszeit genannt. Gleichung (5.95) vereinfacht sich damit zu:

(5.96) wobei σ(τ ) = σ(0)/e ist. Das bedeutet: Die Spannung σ wird mit zunehmender Zeit exponentiell kleiner. Diese Voraussage stimmt qualitativ mit den experimentellen Ergebnissen überein.

( ) (0 exp E tσ σ η= − )(0 )Eτ η=

( ) ( 00 exp tσ σ τ= − )0

(2) Das Voigt-Modell Das Voigt-Modell wird auch Kelvin-Modell genannt. Es besteht aus den gleichen Grundelementen wie das Maxwell-Modell. Die Feder und der dashpot sind jetzt aber parallel geschaltet (siehe Abbil-dung 5.33).

Abbildung 5.33: Das Voigt-Modell

Die Dehnung εf der Feder ist jetzt genauso groß wie die Dehnung εd des dashpots. Es gilt: (5.97)

Die Gesamtspannung σ verhält sich dagegen additiv. Es gilt: (5.98)

Darin sind σf und σd durch und gegeben. Die Bewegungsgleichung lau-tet somit:

(5.99) Im „Kriechfall“ ist σ konstant. Gleichung (5.99) vereinfacht sich dann zu:

. Die Lösung dieser Differentialgleichung lautet:

(5.100)

ε(t) ist in Abbildung (5.32) graphisch dargestellt. Wir erkennen: Der Kriechvorgang wird richtig vorausgesagt. Die Dehnungsrate dε/dt nimmt mit der Zeit kontinuierlich ab. Im Grenzfall t konvergiert ε gegen σ (0)/E. Es findet aber keine Spannungs-Relaxation statt. Ist die Dehnung kon-stant (dε/dt = 0) so gilt: . σ hängt also nicht von der Zeit ab. Das steht im Widerspruch mit den experimentellen Ergebnissen.

(3) Der lineare Standardfestkörper Wir haben gesehen, daß das Maxwell-Modell die Spannungs-Relaxation und das Voigt-Modell den Kriechvorgang eines Polymers qualitativ richtig voraussagen. Es liegt deshalb nahe, beide Modelle

ε ε ε= =f d

σ σ σ= +f d

σ εf f= E σ η εd d d= ta f

( ) ( )d dt Eε σ η ε= − η

d dε ε η/ /t E+ = σ η( ) /0

( ) ( )( ) ( )0 00 1 exp mitt E tε σ τ τ η= − − E=

→ ∞

σ ε= E ( )0

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5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie 382

miteinander zu kombinieren. Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten. Ein Beispiel ist der lineare Standardfestkörper.

Abbildung 5.34: Modell des linearen Standardfestkörpers

Er besteht aus einem Maxwell-Element und einer Feder, die parallel geschaltet sind. Die Feder stellt sicher, daß der Kriechvorgang richtig erfaßt wird. Das Maxwell-Element sorgt dafür, daß die Span-nungs-Relaxation auftritt. Diese Kombination der Elemente ist also in erster Näherung ideal.

In einem zweiten, dritten und vierten Schritt kann man das System um weitere Grundelemente ergänzen und dadurch das reale Verhalten des Polymeren beliebig gut simulieren. Diese phänome-nologische Beschreibung ist aber wenig befriedigend. Sie liefert keinerlei Einblick in den Zusam-menhang zwischen der Viskoelastizität und der inneren Molekularstruktur eines Polymeren. Es kommt hinzu, daß sich Polymere in der Regel nicht nach Newton verhalten. Die lineare Visko-elastizität bleibt daher eine Näherung, die nur für kleine Dehnungen ganz gut erfüllt ist.

5.3.7 Das Boltzmannsche Superpositionsprinzip Ein polymerer Festkörper besitzt eine Deformations-Geschichte. Diese gibt an, wie sich die Span-nung σ und die Dehnung ε seit der Entstehung des Polymers verändert haben. Ein Beispiel zeigt Abbildung 5.35. Die Spannung σ ist in bestimmten Zeitintervallen konstant und wird zu bestimm-ten Zeitpunkten τ um den Betrag ∆σ erhöht oder erniedrigt. Das hat zur Folge, daß die Dehnung zum Zeitpunkt t > τ einen Wert besitzt, der um das Inkrement ∆ε (t) höher bzw. niedriger liegt, als es der Fall wäre, wenn zum Zeitpunkt τ < t keine Spannungsänderung stattgefunden hätte. ∆ε (t) ist also die Differenz zwischen der Dehnung ε (t) zum Zeitpunkt t und der Dehnung ε (t), die zum Zeitpunkt t vorliegen würde, wenn ∆σ = 0 wäre.

i i

i i

i

)( ~ /σ εd dt

i

i i-1

i

Das Boltzmannsche Superpositionsprinzip besagt nun, daß die Gesamtdehnung ε(t) eines vis-koelastischen Materials gleich der Summe der Dehnungsinkremente zum Zeitpunkt ist, d.h., daß gilt:

τ τj jt− < <1

(5.101) Die Dehnung selbst ist über die Beziehung

( ) ( ) ( ) ( )1 2 1... jt t tε ε ε ε −= ∆ + ∆ + + ∆ t

σ

(5.102) mit der Spannung verknüpft. Die Größe J(t) heißt Kriech-Kompilanz. Sie ist eine Funktion der Zeit und kann in Versuchen mit konstanter Spannung experimentell bestimmt werden. Für das i-te Deh-nungsinkrement gilt z.B.:

( ) ( )t J tε =

( ) ( )i it J tε σ∆ = ∆ −

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5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 383

Gleichung (5.101) läßt sich somit umschreiben zu: . ( ) ( )1

0

j

i ii

t J tε σ−

== ∆ −∑ τ

Abbildung 5.35: Beispiel für die Spannungs-Dehnungs- Geschichte eines viskoelastischen Materials

Wird die Spannung σ stetig geändert, so kann die Summe durch ein Integral ersetzt werden. Es gilt dann:

(5.103)

Mit Hilfe dieser Gleichung können wir die Dehnung zum Zeitpunkt t berechnen. Sie ergibt sich aus der „Zeitgeschichte der Spannung“. Es ist natürlich auch umgekehrt möglich, die Spannung als Funktion der Zeit zu berechnen, wenn die „Zeitgeschichte der Dehnung“ bekannt ist. Es gilt dann:

(5.104)

Die Funktion K(t) heißt Spannungs-Relaxations-Kompilanz. Sie ist mit der Dehnung ε über die Be-ziehung

(5.105) verknüpft. Werte für K(t) erhält man, indem man σ (t) bei konstanter Dehnung ε mißt. Es sei aber ausdrücklich betont, daß in der Regel K gilt.

5.3.8 Mechanisch dynamische Prozesse Wir setzen jetzt unser Polymer einer sich periodisch (sinusartig) ändernden Spannung aus. Es gilt dann: (5.106)

wobei σm der Maximalwert der Spannung und ω die Kreisfrequenz sind. Die Dehnung verändert sich mit der Zeit t ebenfalls sinusartig. Ist das Material elastisch, so gilt: (5.107)

( ) ( ) ( )d d dt

t J tε τ σ−∞

= −∫ τ τ

( ) ( ) ( )d d dt

t K tσ τ ε−∞

= −∫ τ τ

ε( ) ( )t K tσ =

t J t( ) / ( )≠ 1

σ σ ωta f a f= m sin t

ε ε ωta f a f= m sin t

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5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie 384

Spannung und Dehnung sind also zeitlich in Phase. Die Dehnung erreicht zum gleichen Zeitpunkt ihr Maximum oder Minimum wie die Spannung.

Dies ist bei einem viskoelastischen Material anders. Die Dehnung hinkt um eine bestimmte Phase hinter der Spannung her. Sie verhält sich aber weiterhin sinusartig. Es gilt: (5.108)

δ ist der Phasenwinkel. δ /ω gibt an, wie weit die Dehnung ε hinter der Spannung σ hinterherhinkt (siehe Abbildung 5.36).

Abbildung 5.36: σ und ε als Funktion von t für ein viskoe-lastisches Material bei dynamischer Bean- spruchung

Die Spannung σ (t) läßt sich in zwei Komponenten zerlegen. Es gilt:

(5.109) Die Komponente ist mit der Dehnung in Phase, und die Komponente

eilt der Dehnung um den Winkel π / 2 voraus. Nach dem Hookeschen Gesetz ist die Spannung mit der Dehnung über die Beziehung verknüpft. Wir können deshalb zwei Elastizitätsmodule, E und E , einführen. Für diese gilt: R I

(5.110)

Der Phasenwinkel δ berechnet sich damit zu . Es ist üblich, dieses Ergebnis in die Notation der komplexen Zahlen zu übertragen. Es gilt:

(5.111) wobei i ist. Der Elastizitätsmodul ist jetzt eine komplexe Zahl. Es gilt:

(5.112) ER und E sind somit die Real- und Imaginärteile von E*. Der Vorteil dieser Notation liegt darin, daß Rechnungen mit Exponentialfunktionen sehr viel leichter durchzuführen sind als Rechnungen mit Sinus- und Kosinus-Funktionen.

σ σ ω δ ε ε ωt t ta f a f a f a f= + =m undsin sin tm

σ σ ω δ ω δt t ta f a f a f a f a f= +m sin cos cos sin

σ δ ωm cos sina f a ftσ δ ωm sin cosa f a tf

σ ε= E

E ER m m I m mund≡ ≡σ ε δ σ ε δb g b gcos sin

δ = arctan( / )E EI R

σ σ ω δ ε ε ωt i t ta f a f a f a f= + =m undexp exp i tm

≡ −1 E∗ = σ ε/E i∗ = = + iσ ε δ σ ε δ δm m m mb g a f b g a f a fexp cos sin

I

5.3.9 Das Torsionspendel Wir fragen uns jetzt, wie die mechanisch dynamischen Eigenschaften eines Polymers experimentell bestimmt werden. Als Beispiel betrachten wir das Torsionspendel (siehe Abbildung 5.37).

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5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 385

Abbildung 5.37: Schematische Darstellung eines Torsionspendels

Abbildung 5.38: Drillung eines Polymerzylinders ( )

Das Torsionspendel besteht aus einem Polymerzylinder und einer Scheibe, die Scheibe selbst besteht aus einem nicht-polymeren Material. Sie ist drehbar. Der Zylinder ist an seinem oberen En-de fixiert und an seinem unteren Ende mit der Scheibe verbunden. Seine Drehachse stimmt mit der Drehachse der Scheibe überein. Das System kann in Schwingung versetzt werden, indem wir die Scheibe um den Winkel ϕ aus ihrer Ruhelage heraus drehen und sie anschließend loslassen. Die Frequenz ω der Drehschwingung hängt von der Länge des Polymerzylinders, dem Durchmesser der Scheibe und der Art des benutzten Polymers ab. Wenn der Polymerzylinder „perfekt elastisch“ und das System vollkommen reibungslos ist, oszilliert das System unendlich lange. Das ist natürlich in der Praxis nicht der Fall. Ein Polymer ist viskoelastisch. Die Schwingungen sind gedämpft, d.h. die Amplitude wird mit der Zeit kleiner. Der Polymerzylinder wird bei diesem Vorgang periodisch ge-drillt. Seine Volumenelemente sind bestimmten Schubkräften ausgesetzt. Man denke sich dazu den Zylinder durch koaxiale Zylinderschnitte und ebene Radialschnitte in Bündel von prismatischer Form aufgeteilt (siehe Abbildung 5.38). Bei einer Drehung der Scheibe um den Winkel ϕ erfährt jedes der prismatischen Bündel eine Scherung um den Winkel . Für die Schubspannung τ gilt (vergleiche Gleichung (5.79)):

(5.113) G ist der Schermodul des Polymers, r der Radius des Schnittkreises, und l die Länge des Zylinders.

Die Deformation (Drillung) des prismatischen Bündels erfordert eine bestimmte Kraft dF bzw. ein bestimmtes Drehmoment dD. Es gilt:

(5.114) Das Drehmoment D, das wir zur Drillung des gesamten Zylinders vom Radius R benötigen, berech-net sich zu:

(5.115)

R r r= + d

α ϕ≈ r / l

(G r lτ ϕ= )

d Querschnitt d d und d dF r r D= = =τ τ ϕ 2 2π r rτ

( ) ( )2

0

2 d 2R

D r r G R lτ 4 ϕ= π = π∫

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5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie 386

Die Größe D heißt Richtgröße. Wir können zwei Fälle unterscheiden: (1) Das Material verhält sich perfekt elastisch. Die Bewegungsgleichung des Torsionspendels lautet dann: (5.116) wobei θ das Trägheitsmoment der Scheibe ist. Mit Gleichung (5.115) folgt:

(5.117)

Die Lösung dieser Differentialgleichung ist:

(5.118)

Darin ist ϕm der Auslenkungswinkel der Scheibe zum Zeitpunkt t = 0. (2) Das Material des Zylinders verhält sich viskoelastisch. In diesem Fall führen wir in Analogie zu Gleichung (5.112) den komplexen Schermodul G* ein. Es gilt:

(5.119) Die Bewegungsgleichung des Systems ist jetzt:

(5.120) Ihre Lösung lautet: (5.121)

(5.122)

und (5.123)

Somit ist:

(5.124) GR, GI und δ sind also Funktionen der Frequenz ω.

Experimentell zugänglich ist das Verhältnis der Auslenkungswinkel zweier aufeinan-derfolgender Schwingungszyklen (siehe Abbildung 5.39). Die Zeitdifferenz zwischen zwei Zyklen ist gleich 2 π /ω. Es gilt deshalb:

(5.125)

Die Größe Λ ist das logarithmische Dekrement des Torsionspendels. Gleichung (5.122) bis (5.124) lassen sich damit umformen zu:

(5.126)

(5.127)

und (5.128)

Λ ist im allgemeinen sehr viel kleiner als eins. In guter Näherung gilt deshalb:

G RR ≡ ( / ) ( / )π 2 4 l

θ ϕ + =D 0

( )2 2G R lθ ϕ ϕ + π = 0

ϕ ϕ ω ωt t G Ra f a f d i a f= =m mitcos π 4 2 θl

IG G i G∗ ≡ +R

θ ϕ ϕ+ +π R l G i G4 2d i b gR I = 0

ϕ ϕ ν ωt ta f a f a f= −m exp exp i t

ω ist die Kreisfrequenz und ν die Dämpfungskonstante. Wir erhalten GR und GI, indem wir Glei-chung (5.121) in Gleichung (5.120) einsetzen und das Ergebnis in Real- und Imaginärteil zerlegen. Es folgt:

G l RR = 2 4 2θ ωa f d i dπ − 2ν iG l RI = 4 4θa f d i a fπ ω ν

tan δ ω ν ω= = −G GI R 2 2 2d iν

ϕ ϕi i/ +1

( )( ) ( ) ( ) ( )1

1

expexp 2 bzw. ln 2

exp 2i

i ii

i ti t

ω νϕ ν ω ϕ ϕ ν ωϕ ω ν ω +

+

− = = π ≡− + π

Λ = π

G l RR = −2 12 2 2 2θ ωd i d i de jπ Λ 4 iπ

G l RI = 2 2 2θ ωd i d iπ Λ

( ) ( )( )2 2tan 1 4α = π − π

Λ Λ

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5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 387

(5.129)

R R

I

Wir können tanδ sowohl für kristalline wie auch für amorphe Polymere bestimmen. Bei den kristallinen Polymeren erhält man sehr viele tanδ-Peaks, wenn man tanδ gegen T aufträgt. Jeder dieser Peaks stellt einen Konformationsübergang oder eine innermolekulare Molekülbewegung dar. Die exakte Natur dieser Bewegungen läßt sich aber nur in wenigen Fällen anschaulich erklären. Ein Beispiel für eine Auftragung von tanδ gegen T zeigt Abbildung 5.40. Es handelt sich um Polystyrol.

Abbildung 5.40: Die Temperaturabhängigkeit von tanδ für Polystyrol bei ω = 1 Hz. (R.G.C. Arridge, 1975)

Der α-Peak stimmt mit der Glastemperatur Tg überein. Er liegt bei etwa 390 K und beschreibt die über große Bereiche wirkenden kooperativen Kettenbewegungen. Der β-Peak liegt bei 325 K. Er erfaßt die Torsionsschwingungen der Phenylgruppen. Der δ-Peak beschreibt die „Wagging-Schwingungen“ der Phenylgruppen. Diese sind schon bei 38 K angeregt. Der γ-Peak erfaßt die Be-wegungen der CH2-Gruppen.

G l R GR und≈ =2 2 2θ ω δd i d iπ tan Λ≈ π

θ, l und R sind bekannt. ω und Λ werden gemessen. GR, GI und tanδ lassen sich somit berechnen. Abbildung 5.39: Der Auslenkwinkel ϕ als Funktion der Zeit t

Elastische Materialien speichern bei einer Deformation (Scherung) Energie und geben diese wieder ab, wenn sie sich entspannen. Nach Gleichung (5.129) ist G ≈ G. Der Realteil G des kom-plexen Moduls G* wird deshalb Speichermodul genannt. G ist der Verlustmodul. Er ist ein Maß für die Energie, die der polymere Festkörper pro Schwingungszyklus aufgrund seiner viskosen Eigen-schaften an die Umgebung abgibt (Stichwort: Dämpfung). In der Praxis werden die Experimente mit dem Torsionspendel bei verschiedenen Temperaturen durchgeführt. Das Trägheitsmoment θ der Drehscheibe wählt man dabei so, daß die Eigenfrequenz ω des Systems für alle Temperaturen genau 1 Hz beträgt.

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5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie 388

5.3.10 Die Frequenzabhängigkeit der Elastizitätskonstanten ER, EI und tanδ Es ist auch möglich, einer Polymerprobe Schwingungen (periodische Schwingungen) aufzuzwin-gen. Das verbreitetste Instrument für diese Art der dynamischen Beanspruchung ist das Rheovibron. Man gibt dabei eine periodische Zugspannung vor und mißt den Elastizitätsmodul des Polymers als Funktion von ω und T (siehe z.B. A.E. Zachariades, R.S. Porter, 1987).

Bei konstanter Temperatur verhalten sich der Speichermodul ER, der Verlustmodul EI und wie folgt: E und tanδ sind für sehr kleine und sehr große Frequenzen klein, bei ei-

ner bestimmten mittleren Frequenz durchlaufen sie ein Maximum. Es gilt außerdem: E ist klein bei kleinen Frequenzen und groß bei großen Frequenzen.

I

R

Diese experimentell beobachteten Frequenzabhängigkeiten von E , E und tanδ lassen sich theoretisch bestätigen. Ein geeignetes Modell ist das Maxwell-Modell. Nach Kapitel 5.3.7gilt:

Die angelegte Spannung σ möge sich sinusartig mit der Frequenz ω ändern. Nach Kapitel 5.3.9 gilt dann: (5.131)

Gleichung (5.131) setzen wir in Gleichung (5.130) ein. Das ergibt:

(5.132)

bzw. (5.133) E* ist der komplexe Elastizitätsmodul. Wir können ihn in Real- und Imaginärteil aufspalten. Es folgt:

(5.134)

In Abbildung 5.41 sind die Parameter E , E und tanδ graphisch dargestellt. E wurde gleich 1 kp/mm2 und τ = 1 s gesetzt. Der Verlauf von E und E stimmt qualitativ mit der experimentell beobachteten Frequenzabhängigkeit überein. Das Maximum von E liegt an der Stelle

R I

0 R I

I . Für tanδ gilt das leider nicht. tanδ wird mit wachsendem ω kleiner und besitzt kein Maximum. Um zu einer besseren Übereinstimmung zwischen Theorie und Experiment zu gelangen, muß man das Modell des „linearen Standardfestkörpers“ benutzen.

tan /δ = E EI R

R I

(5.130) E t t Eτ ε τ σ σ τ η0 0 0d d d d mit= + =

( ) ( ) ( ) ( )0 exp bzw. expt i t t iσ σ ω δ ε ε ω= + = 0 t

( )( ) (0

00

exp1

expi t

i E ii t

σ ω δω τ ω τ

ε ω+ = )0 +

σ ε ω τ ω τt t E E i E i E ia f a f b g≡ = + = +∗R I 0 0 1

EE

EE

R I und=+

=+

=ω τ

ω τω τ

ω τδ ω τ

202

202

02

02 01 1

1; ta b gn

ω τ= 1 0/

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5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 389

Abbildung 5.41: Die Module ER und EI und tanδ als Funktion der Frequenz ω

Exkurs: Die Messung der Frequenzabhängigkeit der mechanischen Eigenschaften eines Polymers ist aufschlußreich, weil es möglich ist, den Maxima (Peaks) von EI und tanδ bestimmte Typen von Molekularbewegungen im Polymer zuzuordnen. Die Peaks treten genau dort auf, wo die Erreger-frequenz mit der Eigenfrequenz der molekularen Bewegung übereinstimmt. Die Maxima des Fre-quenzspektrums heißen deshalb „Resonanz-Peaks“. Den Peak mit der größten Amplitude findet man für den Glas-Übergang. Die Erregerfrequenz stimmt dort mit der Eigenfrequenz ωR der Rota-tionsbewegung der Polymerketten überein. Ist ω größer als ωR, so besitzen die Polymerketten nicht genügend Zeit, um der äußeren Spannung zu folgen. Das Material erscheint steif. Ist ω kleiner als ω , so haben die Polymerketten reichlich Zeit für Eigenbewegungen. Das Material erscheint weich und kautschukartig. Peaks mit deutlich kleinerer Amplitude findet man für die Rotationsbewegun-gen der Seitengruppen der Polymerketten. Man spricht von „sekundären Übergängen“.

R

Die Frequenz, bei der der Glas- oder ein anderer Übergang stattfinden, hängt von der Tempe-ratur ab. Die Resonanzfrequenz wird in der Regel größer, wenn die Temperatur ansteigt. Es ist des-halb möglich, einen Übergang zu induzieren, indem man die Frequenz konstant hält und die Tempe-ratur variiert. Diese Vorgehensweise ist experimentell oft leichter durchzuführen als der umgekehrte Weg.

5.3.11 Die Temperaturabhängigkeit von E für ω =0 Der Elastizitätsmodul E kann natürlich auch für ω = 0 als Funktion der Temperatur T bestimmt wer-den. Da Polymere viskoelastisch sind, hängt E jedoch von der Zeit und der Meßmethode ab. Die Meßzeit kann man festlegen. Sie beträgt im allgemeinen 10 Sekunden. Bei der Meßmethode handelt es sich entweder um Kriech- oder Relaxationsexperimente. Zur Unterscheidung wird der Elastizi-tätsmodul im ersten Fall mit einem K und im zweiten Fall mit einem R als Index versehen. ER(10) gibt z.B. an, daß die Meßdauer 10 Sekunden betrug und E ein Relaxationsmodul ist. ER(10) und E (10) weichen jedoch in der Regel nur geringfügig voneinander ab. Sie lassen sich zudem inein-ander umrechnen.

K

Der Kurvenverlauf von ER(10) als Funktion von T ist für alle Polymere ähnlich. Ein typisches Beispiel zeigt Abbildung 5.42. Es handelt sich um ataktisches Polystyrol. Probe A besitzt die Mol-massen M = 2,1 ⋅ 105 g/mol und M = 1,4 ⋅ 105 g/mol. Für Probe B gilt: M = 3,25 ⋅ 10w n w

5 g/mol und M = 2,17 ⋅ 10n w n

5 g/mol. Die Uneinheitlichkeit U = M /M − 1 ist also für beide Proben gleich groß (U = 0,5).

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5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie 390

Abbildung 5.42: Der Relaxationsmodul E (10) als Funktion der Temperatur T für Polystyrol Probe A: M = 1,40 ⋅ 105 g/mol M = 2,10 ⋅ 10 g/mol Probe B: M

R

n

w

n

5

5

5 = 2,17 ⋅ 10 g/mol

M w

Wir betrachten zuerst die Polystyrolprobe B. Die Kurve des Relaxations-Elastizitätsmoduls E (10) zeigt fünf verschiedene Regionen viskoelastischen Verhaltens. Das Polymer ist in Region I glasartig, hart und spröde. E (10) hängt dort in erster Näherung nicht von der Temperatur ab. Re-gion II ist die Übergangsregion. E (10) fällt stark von 1010 auf 10 dyn/cm ab. Der Abfall von E (10) setzt in der Nähe der Glastemperatur ein. Diese liegt für ataktisches Polystyrol bei ca. 100 °C. Das Polymer verhält sich dort lederartig. Region III stellt ein Plateau dar. Es heißt Kau-tschuk-Plateau und reicht von 10 bis 10 dyn/cm . Das Polymer verhält sich in diesem Bereich kautschukartig. Es ist reversibel elastisch, wenn es für kurze Zeit (10 s) deformiert wird. Die Breite dieses Temperaturintervalls hängt von der Molmasse des Polymers ab. Für Probe B liegt T zwischen 120 und 150 °C. In Region IV sinkt E (10) weiter ab. Das Polymer verhält sich jetzt wie eine zähe, gummiartige Flüssigkeit. Es ist aber noch elastisch. In Region V werden schließlich E -Module erreicht, die kleiner als 10 dyn/cm sind. Die Relaxationszeit ist jetzt kleiner als die Meßzeit von t = 10 s. Das Polymer erscheint als viskose Flüssigkeit ohne Elastizität.

= 3,25 ⋅ 10 g/mol (A.V. Tobolsky, 1980)

Die Diffusionsbewegung setzt erst oberhalb der Glastemperatur Tg, d.h. in Region II ein. Die Zeit, die ein Segment im Mittel benötigt, um von einer Gitterzelle in eine benachbarte zu diffundie-ren, liegt dort in der Größenordnung von 10 Sekunden. Diese Zeitspanne ist aber so klein, daß die Schwerpunkte der Polymerketten in Ruhe verbleiben. ER(10) hängt deshalb auch in Region II nicht von der Molmasse ab.

In der Kautschuk-Region sind die Diffusionsbewegungen der Polymersegmente sehr schnell. Die Bewegung der Polymerketten im Polymer ist aber behindert, weil die Ketten miteinander „ver-hakt“ bzw. physikalisch „vernetzt“ sind. Ein Maß für die Maschenweite der Vernetzung ist die Netzbogenmasse M . Das ist die mittlere Molmasse einer Polymerkette, die zwei „Verhakungspunk-te“ miteinander verbindet. Der Index e steht dabei für „entanglement“ (englisch: Verhakung). M läßt sich berechnen. Es gilt:

e

e

(5.135)

R

R

R

2

6,7 2

6,7

R

R

R

6,4 2

5

Der Elastizitätsmodul ER(10) hängt in den Regionen I und II nicht von der Molmasse des Po-lymers ab. Das läßt sich wie folgt erklären: Im Glaszustand (Region I) sind die Segmente der Poly-merketten in bestimmten Positionen des Polymergitters „eingefroren“. Die Segmente führen Schwingungen um diese Positionen aus. Sie können aber nicht innerhalb von 10 Sekunden von ei-ner Gitterzelle in eine andere diffundieren. ER(10) hängt deshalb nicht von M ab.

M R T Ee R Kautschuk-Plateau= 3 10ρa f a f

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5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 391

wobei ρ die Dichte des Polymers ist. Verhakungen bilden sich allerdings nur dann, wenn die Molmasse größer als die kritische

Masse Mk = 2 M ist. Das Kautschuk-Plateau ist deshalb umso breiter, je größer M ist. Für M < M geht Region II direkt in Region V über. Das ist für Probe A der Fall.

e k

In Region IV sind die Verhakungen zeitlich instabil. Sie werden durch starke Wärmebewe-gungen der Polymerketten ständig gelöst und wieder neu gebildet. Die mittlere Lebensdauer einer Verhakung beträgt dort etwa 10 Sekunden.

Die fünf diskutierten Regionen werden bei allen linearen amorphen Polymeren gefunden. Bei den chemisch vernetzten Polymeren ist das anders. Die Regionen IV und V fehlen, weil die Verha-kungen (Vernetzungen) jetzt echte chemische Bindungen darstellen. Sie können durch eine Wärmebewegung nicht gelöst werden.

Der Elastizitätsmodul ER(10) eines teilkristallinen Polymers ist im Temperaturintervall zwi-schen Tg und T deutlich größer als der Elastizitätsmodul des entsprechenden amorphen Polymers. Hier folgt nach dem Glasübergang ein hornartiger Zustand. Die kristallinen Zonen (Kristallite) sind noch nicht vollständig „aufgetaut“. Die Beweglichkeit der Segmente ist dadurch behindert. Erst bei der Schmelztemperatur T sind die Segmente frei beweglich. Die Art der Verstärkung von E (10) zwischen T und T hängt vom Grad der Kristallinität und der Größe der Kristallite ab. Ist der Grad der Kristallinität klein, so wirken die Kristallite wie Füll-Partikel oder starke Vernetzungen. Die Modul-Verstärkung, die sich aus einer Auffüllung der Kautschuk-Matrix mit harten Kugeln ergibt, läßt sich berechnen. Es gilt:

m

m R

g m

(5.136)

E (10) ist der Modul des gefüllten Polymers, E (10) der Modul des ungefüllten Polymers, und φ der Volumenbruch des Füll-Materials. Bei Polymeren mit einem hohen Grad an Kristallinität (w > 0,5) ist diese Beschreibung aber nicht mehr angebracht. Es ist dann besser, die kristalline Phase als Kontinuum aufzufassen, das von amorphen Defekten durchsetzt ist.

R R,0

k

K

GDie Kurven in Abbildung 5.43 gehen ineinander über, wenn man sie parallel zur log(t)-Achse

verschiebt. Man legt dazu eine Bezugstemperatur TB fest und rechnet die ER-Module der zu ver-schiebenden Kurven in den reduzierten Modul um. Dabei ist ρ die Dichte. Es werden dann die (E (t) )-Kurven gezeichnet. Diese sind um den Shiftfaktor R red

(5.137) verschoben, wobei tB ein willkürlich ausgewählter Zeitpunkt auf der Bezugskurve (T = T ) und t der Zeitpunkt ist, für den log ist. Das Ergebnis all dieser Verschie-

bungen ist die „Master-Kurve“. Sie ist für Polyisobutylen in Abbildung 5.44 dargestellt.

B

( ) ( ) 2R R,010 10 1 2,5 14,1 ...E E φ φ = + +

5.3.12 Das Zeit-Temperatur Superpositionsprinzip Der Scher- und der Elastizitätsmodul hängen sowohl von der Meßzeit als auch von der Temperatur ab. Es ist deshalb denkbar, daß eine Änderung in der Meßdauer den gleichen Effekt hat wie eine Änderung in der Meßtemperatur. Wir betrachten dazu als Beispiel die Spannungs-Relaxation von Polyisobutylen. Abbildung 5.43 zeigt, daß sich Polyisobutylen kautschukartig verhält, wenn entwe-der die Temperatur hoch oder die Meßdauer groß sind. ER(t) ist dann gleich E , wobei der Index K für Kautschuk steht. Wenn T oder t dagegen klein sind, ist . Polyisobutylen verhält sich dann glasartig, wobei E der Glasmodul ist.

E t ER a f ≈ G

E t T T T T E tR red B Ba f b g b g a f a f= ρ ρ R

log log log loga t t tTb g b g a f b g= − =B tB

logE t E tT T red T TR red R B

B Ba fc h b gd i≠ =

=

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5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie 392

2

Abbildung 5.44: Idealisierte Master-Kurven für Polyisobutylen (1) Mw = 1,36 ⋅ 106 g/mol (2) M = 2,80 ⋅ 10w

w

Für die Bezugstemperatur T

6 g/mol (3) M = 6,60 ⋅ 106 g/mol (A.V. Tobolsky, 1980)

B wird häufig die Glastemperatur Tg gewählt. k1 und k2 sind dann zwei Universalkonstanten, die für alle linearen amorphen Polymere die gleichen Werte besitzen. Es gilt:

Abbildung 5.43: Spannungs-Relaxationskurven für Polyisobutylen bei verschiedenen Tem- peraturen

Williams, Landel und Ferry haben als erste die beschriebene „Zeit-Temperatur Superposition“ der G- und E-Module genauer untersucht. Sie fanden 1955, daß für den Shiftfaktor gilt:

(5.138) Darin sind k1 und k zwei Konstanten. Gleichung (5.138) heißt nach ihren Entdeckern „WLF-Gleichung“. Sie wurde empirisch hergeleitet, sie läßt sich aber auch theoretisch begründen.

log a k T T k T TTb g b g b g= − − + −1 2B B

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5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 393

(5.139)

Sind die Polymere kristallin, so gilt an Stelle von Gleichung (5.138):

(5.140)

(5.141) wobei fg der freie Volumenanteil bei Tg und α der thermische Expansionskoeffizient des freien Vo-lumens sind. Das Polymer sei amorph und verhalte sich viskoelastisch. Es besitzt deshalb eine Re-laxationszeit τ . Gemäß dem Maxwell-Modell ist

f

0 , wobei η die Viskosität des dashpots und E der Elastizitätsmodul der Feder sind. Die Feder sei so gewählt, daß ∂ ∂ ist. η hängt von der Temperatur ab. Es gilt somit:

Doolittle konnte zeigen, daß für Flüssigkeiten gilt:

(5.142) wobei A und B zwei Konstanten sind. Wir nehmen an, daß Gleichung (5.142) auch für Polymere gilt. Es folgt dann:

(5.143)

Gleichung (5.143) stimmt mit Gleichung (5.138) überein, wenn k gleich B/f , und k gleich f /α ist. Da k und k für T = T Universalkonstanten sind, sollte dies auch für f und α gelten. Das ist in der Tat der Fall. f liegt für die meisten amorphen Polymere in der Größenordnung von 0,025, und α ist ungefähr 4,8 ⋅ 10−4 K−1.

1 g 2

2 B g g

Für lineares, monodisperses Polystyrol der Molmasse M gilt z.B. bei der Temperatur T = 115 °C:

Der Exponent ν ist ein Maß für die Breite der Molmassenverteilung der Polymerprobe. ν wird kleiner, wenn w(M) breiter wird.

log , ,a T T TTb g d i d= − − + −17 44 51 6g K T ig

log ,a E R T TTb g a f b g= A 2 3 1 1− B

Darin ist EA die Aktivierungsenergie. Wir wollen Gleichung (5.139) herleiten. Dazu gehen wir wie folgt vor: Ein polymerer Fest-

körper besitzt ein bestimmtes freies Volumen, in dem sich kein Polymersegment befindet. Der An-teil f des freien Volumens am Gesamtvolumen des Polymers ändert sich mit der Temperatur. Es gilt:

f f T T= + −g f gα d i

τ η0 = / EE T/ ≈ 0

a T T TT = =τ τ η η0 0a f d i a f d ig gT

log lnη = + −A B f1a f 1

log logη ηα α

T T Bf T T f

aB f T T

f TTa f d i d id i dd ig

g f g g

g

g f g

bzw.=+ −

−TigF

HGGIKJJ

=− −

+ −1 1

g f

1 f

g

fWir weisen abschließend auf drei Dinge hin:

(1) Der Nutzen der WLF-Gleichung besteht darin, daß wir mit ihrer Hilfe ER(t,T )-Werte berechnen können, die außerhalb der experimentell zugänglichen Temperatur- und Zeitintervalle liegen.

(2) Wir können die Temperaturkurven in Abbildung 5.43 auch beschreiben, ohne die WLF-Gleichung zu benutzen. In guter Näherung gilt (siehe Abbildung 5.43):

(5.144)

(3) Befindet sich das Polymer in der Kautschuk-Fluß Region (Bereich IV in Abbildung 5.43), so gilt die halbempirische Formel:

(5.145)

E t E t E nn

R G K mita f b g{ }= + + =1 0τ tanθ

E t E tR Ka f b g= −exp τ ν0

ν τ= = ⋅ = ⋅−0 74 2 5 10 4 4 10014 3 4 6, ; , ,,M Eund dyn / cmK

2

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5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie 394

5.3.13 Molekulare Interpretation des Elastizitätsmoduls Der Elastizitätsmodul E ist eine wichtige Polymer-Kenngröße. Es ist im Prinzip möglich, E aus der Molekularstruktur oder umgekehrt die Molekularstruktur aus E zu bestimmen.

Die theoretischen Berechnungen von E sind aber sehr kompliziert und nur bedingt erfolg-reich. E hängt nicht nur von der Art des Polymers, sondern auch von der Meßzeit t und der Tempe-ratur T ab. Für genügend kleine Meßzeiten ist E zeitunabhängig. Dieser Fall läßt sich relativ einfach behandeln.

(1) Elastische Dehnungen der Ein-Phasen-Polymere Es ist zweckmäßig, zwischen Ein- und Multi-Phasen-Polymeren zu unterscheiden. Ungefüllte Kaut-schuke, Polymergläser und Einkristall-Polymere sind Ein-Phasen-Materialien. Wir können sie in Untereinheiten zerlegen, die alle die gleiche Molekularstruktur (Phase) besitzen. Die Multi-Phasen-Systeme bestehen dagegen aus Mischungen verschiedener Phasen, d.h. aus amorphen und kristalli-nen Bereichen. Zu ihnen gehören die teilkristallinen Polymere.

Die E-Module der Kautschuke sind sehr klein. Sie liegen in der Größenordnung von 10 N/m . Das hat seinen Grund: Die Kettenmoleküle eines Kautschuk-Netzwerks werden bei der Deh-nung im wesentlichen nur entknäuelt. Die dazu benötigte Energie ist relativ gering.

6

2

Die E-Module der Glaspolymere liegen in der Größenordnung von 109 N/m2. Die Kettenmo-leküle eines Glaspolymers sind zufällig über den Festkörper verteilt. Bei der Dehnung werden die kovalenten Bindungen der Ketten „gebogen und gestretched“. Die Kettenmoleküle werden zusätz-lich gegeneinander verschoben. Es müssen van der Waals-Bindungen zwischen benachbarten Ket-ten aufgebrochen und wieder neu geknüpft werden. All dies zusammen erfordert viel Energie.

Polymer-Kristalle sind anisotrop. Die E-Module, die die Dehnung parallel (längs) zur Ketten-richtung beschreiben, sind sehr groß. Sie liegen in der Größenordnung von 1011 N/m . Sie stimmen mit den Werten überein, die man für Metalle findet (α-Eisen E = 2,2 ⋅ 10 N/m ). Die E-Module der Polymer-Kristalle, die die Dehnung senkrecht zur Kettenachse beschreiben, sind dagegen deutlich kleiner (E ≈10 N/m ). Bei der Dehnung parallel zur Kettenachse werden die Bindungslängen der starken kovalenten Bindungen gestretched und die Bindungswinkel vergrößert. Wenn die Ketten die Konformation einer Helix besitzen, wird diese zerstört. Das alles kostet viel Energie. Bei der Deh-nung senkrecht zur Kettenachse müssen lediglich Wasserstoff-Brückenbindungen oder schwache van der Waals-Bindungen aufgebrochen werden. Die dazu benötigten Energien sind viel kleiner.

2

11 2

⊥9 2

Auf die exakte Berechnung der E-Module eines Polymer-Kristalls wollen wir nicht eingehen. Sie erfordert ein detailliertes Wissen der inter- und intramolekularen Wechselwirkungen im Kristall. Einfacher ist es, die E-Module abzuschätzen. Eine geeignete Methode stammt von Treloar (1960). Er benutzt für seine Berechnungen das Modell der ebenen Zick-Zack-Kette (siehe Abbildung 5.45).

Abbildung 5.45: Modell einer ebenen Polymer-Zick-Zack-Kette, die unter dem Einfluß der Kraft F gedehnt wird

Die Kette besteht aus N Stäbchen (Segmenten) der Länge l. Der Bindungswinkel zwischen zwei benachbarten Segmenten ist θ. Längs der Achse der Zick-Zack-Kette wirkt die Kraft F. Diese bildet mit dem ersten und letzten Segment der Kette den Winkel α. Die Gesamtlänge L der Kette ist

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5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 395

L N l= cosα , wenn F = 0 ist. Durch die Dehnung (F > 0) werden die Segmentlänge l um den Be-trag δl und der Bindungswinkel θ um den Betrag δθ vergrößert. Für L bedeutet dies: (5.146) Die Kraft F können wir in zwei Komponenten zerlegen. Die eine Komponente wirkt parallel zu einem Segment und die andere senkrecht dazu. Für die Parallel-Komponente gilt: . Sie ist für die Dehnung des Segments verantwortlich. Das Segment ersetzen wir durch eine Feder mit der Federkonstanten k. Wir nehmen an, daß die Feder dem Hookeschen Gesetz gehorcht. Es gilt dann:

δ δ δ δL N l N l l= = −cos cos sinα α α αa f a f

F F| | cos= α

(5.147) Die Konstante k läßt sich mittels der Infrarot- oder Raman-Spektroskopie experimentell bestimmen. δl kann somit aus Gleichung (5.147) berechnet werden.

Die Kraft , die senkrecht zu einem Segment wirkt, ist für die Winkel-Deformation δθ verantwortlich. Zwei direkt benachbarte Segmente werden dabei jeweils um den Winkel δθ /2 aus ihrer Ursprungslage (F = 0) nach rechts oder links gedreht. Das dafür benötigte Drehmoment D ist: (5.148)

D ist proportional zu δθ . Es gilt: . Daraus folgt:

(5.149) Hier ist k die Kraftkonstante für die Winkeldeformation. Die Winkel α und θ sind miteinander ver-knüpft. Es gilt:

θ

. Es folgt somit (5.150) womit Gleichung (5.149) in

(5.151) übergeht. Die Gleichungen (5.147) und (5.151) setzen wir in Gleichung (5.146) ein. Das ergibt:

(5.152)

Der Elastizitätsmodul E ist definiert als:

(5.153) wobei die Querschnittsfläche der Kette und d der Durchmesser eines Segments sind. Unser Endresultat lautet somit

(5.154)

θ

F F k l| | cos= =α δ

F F⊥ = sinα

D l F= 1 2a f sinαD k= θ θδ

( ) ( )sin 2F l kθθ αδ =

α θ= −90 2/δ δα θ= − 2

( ) ( )sin 4F l kθα αδ = −

( ) ( ) ( )2 2 2cos sin 4L N F k l kθα αδ = +

( ) ( )E F A Lσ ε≡ = δ L

)( ) (sinA d lα=

( ) ( )2 22

| |cos sincos

sin 4llE

d l k kθ

α ααα

= +

oder, wenn wir α durch 90 ersetzen:

(5.155)

Die Parameter θ, d, l, k und k sind experimentell (spektroskopisch) bestimmbar. läßt sich des-halb berechnen.

2−θ /

( ) ( )( ) ( )( )2 22

| |sin 2 cos 2tan 2

4l

Ed k kθ

θ θθ = +

E| |

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5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie 396

Tabelle 5.21: Berechnete und gemessene Werte des Längs-Moduls für einige Polymer-Kristalle

Polymer-Kristall Berechneter Wert / (10 N/m ) 9 2

Röntgen- und Raman-Spektroskopie

Polyoxymethylen 150 154 Röntgenspektroskopie Polytetrafluorethylen 160 156 − 222 Röntgen- und

Neutronenspektroskopie Polydiacetylen a) Phenylurethan-Derivat b) Ethylurethan-Derivat

49 65

45 61

Mechanisch Mechanisch

Tabelle 5.21 zeigt einige Werte für . Wir erkennen dreierlei: (1) Die Übereinstimmung zwischen Theorie und Experiment ist recht gut, besonders bei den Poly-

diacetylenen. Sie sind als Einkristalle erhältlich. Die anderen Polymere sind teilkristallin. (2) ist für eine ebene Zick-Zack-Kette größer als für eine Helix. Der -Wert von Polyethylen

ist z.B. größer als der von Polyoxymethylen oder Polytetrafluorethylen. Diese beiden Polymere besitzen die Konformation einer Helix. Polyethylen ist dagegen eine Zick-Zack-Kette.

(3) wird kleiner, wenn die Größe der Seitengruppe einer Kette zunimmt. Das ist verständlich, weil die Querschnittsfläche A der Kette durch eine große Seitengruppe vergrößert wird und umgekehrt proportional zu A ist.

(2) Elastische Dehnungen der Multi-Phasen-Polymere Die meisten Polymere sind teilkristallin, d.h. Zweiphasen-Materialien. Ihr Elastizitätsmodul hängt von dem Kristallisationsgrad wk ab. E ist um so größer, je größer wk ist. Eine einfache Erklärung ist, daß sich die kristallinen Zonen wie Vernetzungspunkte verhalten. Vom Kautschuk wissen wir, daß Vernetzungspunkte ein Polymer versteifen. Der E-Modul ist deshalb um so größer, je größer die Vernetzungsdichte, d.h. desto größer w ist.

k

a k

k

Wir betrachten als Beispiel Polydiacetylen. Hier ist es möglich, Einkristall-Fasern herzustel-len, die sowohl Polymer- als auch Monomer-Moleküle enthalten. Das Monomer (Diacetylen) hat einen Modul von = 9 ⋅ 109 N/m2 entlang der Faserachse. Der Modul des Polymers ist = 61 ⋅ 10 N/m . Der Polymergehalt der Fasern kann zwischen 0 und 100% variiert werden. Die zugehöri-gen -Module liegen folglich zwischen 9 ⋅ 10 und 61 ⋅ 10 N/m (siehe Abbildung 5.46).

9 2

9 9 2

E| |

E| | E| |

Gemessener Wert / (10 N/m ) 9 2

Meßmethode

Polyethylen 182 240 − 360

E| |

E| | E| |

E| |

E| |

kFür kleine Werte des Kristallisationsgrades ist diese Beschreibung hilfreich, für große aber

nicht. Der E-Modul ist eine Funktion der Module Ea und E , der amorphen und kristallinen Zonen. Die exakte mathematische Kombination von E und E ist ein schwieriges Problem. E hängt neben dem Kristallisationsgrad w auch noch von der Größe, der Gestalt und der Verteilung der Kristallite innerhalb der Polymerprobe ab. Verläßliche Berechnungen von E sind deshalb nur dann möglich, wenn die Morphologie des Polymers genau bekannt ist.

E| | E| |

E| |

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5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 397

Abbildung 5.46: Der -Modul von Polydiacetylen- Einkristall-Fasern als Funktion des Polymergehalts

Für die theoretische Beschreibung des -Moduls existieren zwei Modelle. Das erste Modell geht auf Reuss zurück. Er nimmt an, daß die Monomere und Polymer-Moleküle der Faser in Reihe „ge-schaltet“ sind. Sie erfahren dann die gleiche Spannung σ, so daß gilt:

(5.156) Darin ist ϕP der Volumenbruch des Polymers in der Faser. EP und E sind die -Module von Po-lymer und Monomer.

M

Abbildung 5.47: Schematische Darstellung einer Spannungs-Dehnungskurve

Abbildung 5.48: Die Spannungs-Dehnungskurven der vier Grund-Materialtypen

E| |

E| |

1 1E E| | = + −ϕ ϕP P P Mb g b g E

M

E| |

Das zweite Modell stammt von Voigt. Er nimmt an, daß die Monomer- und Polymer-Moleküle parallel „geschaltet“ sind. Sie erfahren dann die gleiche Dehnung, und es gilt:

(5.157) E E E| | = + −P P Pϕ ϕ1b gDie -Module, die wir auf diese Weise erhalten, sind in Abbildung 5.46 dargestellt. Wir erkennen, daß die Meßpunkte in der Nähe der Voigt-Kurve liegen. Die Monomer- und die Polymermoleküle der Polydiacetylen-Faser sind also mit großer Wahrscheinlichkeit parallel geschaltet.

5.3.14 Anelastisches Verhalten Wir haben bis jetzt nur den Fall betrachtet, daß die Polymere kleinen Spannungen ausgesetzt sind. Die Dehnung ist dann klein, und die Polymere verhalten sich näherungsweise elastisch. Nicht weni-ger interessant ist der Bereich mittlerer und großer Dehnungen. Die Spannungs-Dehnungs-Kurven besitzen dort einen Verlauf, der bei gegebener Temperatur T für alle Polymere ähnlich ist. Er ist in Abbildung 5.47 skizziert. Wir können verschiedene Punkte und Bereiche unterscheiden.

E| |

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5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie 398

Im Bereich zwischen dem Ursprung und dem Punkt E gilt das Hookesche Gesetz. Die Zug-spannung ist der Dehnung proportional. Die Polymere nehmen bei einer langsam vorgenommenen Entlastung wieder ihre ursprüngliche Form an. Die Dehnung durchläuft mit abnehmender Spannung die gleichen Werte wie bei zunehmender Spannung.

Oberhalb der Elastizitätsgrenze E führen innere Umlagerungen nach der Entspannung zu ei-ner bleibenden Formveränderung. Der Proportionalitätspunkt P gibt an, daß die Polymerprobe eine bleibende Dehnung von 0,01 % aufweist. Eine bleibende Dehnung von 0,2 % heißt technische Streckgrenze. Sie wird im Punkt S erreicht.

Wird die Spannung über die Streckgrenze hinaus erhöht, so wächst die Dehnung deutlich stärker als die Spannung. σ erreicht im Punkt Y ein relatives Maximum und wird dann sogar kleiner. Der Punkt Y heißt „Yield-Punkt“, die zugehörige Spannung „Yield-Spannung“ und die zugehörige Dehnung „Yield-Dehnung“. Spröde Polymere reißen an dieser Stelle. Bei den „zähen“ Polymeren brechen an dieser Stelle die van der Waals-Bindungen auf. Die Kettensegmente rutschen voneinan-der ab. Das Polymer beginnt zu fließen. Der Yield-Punkt wird deshalb auch Fließpunkt genannt.

Oberhalb des Yield-Punktes nimmt die Verformung des Polymers zu. Die Spannung sinkt ab oder bleibt konstant. Wird σ kleiner, so spricht man von einer Spannungsweichmachung. Diese ist jedoch nur nominell, wie wir später sehen werden.

Die Zugdehnung ist die höchste Dehnung, die das Material gerade noch aushält, bevor es reißt. Das passiert im Punkt „R“. σ heißt deshalb Reißfestigkeit. ε ist die Reißdehnung. Einige Werte für σ und ε zeigt Tabelle 5.22.

εZ

R R

R R

Tabelle 5.22: Reißfestigkeiten und Reißdehnungen unmodifizierter Polymere

Polymer σR /(107 N/m2) εR /% Polyethylen (LD) 1,0 800 Polyethylen (HD) 3,0 600 Polypropylen 3,3 400 Polystyrol 5,0 2,5 Poly(vinylchlorid) 5,0 30 Nylon 66 8,0 200 Epoxid-Harz 5,5 5

Es existieren verschiedene Bruch-Grundtypen. Beim spröden Bruch, der z.B. bei Gläsern auf-

tritt, findet kein Fließen statt. Der Bruch erfolgt unmittelbar nach Überschreiten der Proportionali-tätsgrenze P. Bei einem zähen Bruch fließt das Material eine Zeitlang, bevor es bricht. Man spricht dann von plastischen Materialien.

Je nach der Größe des E-Moduls wird zudem zwischen harten und weichen Materialien unter-schieden. Ein Polymer heißt hart, wenn E groß ist und weich, wenn E klein ist. Insgesamt gibt es vier Grund-Materialtypen. Ihre Spannungs-Dehnungs-Kurven sind in Abbildung 5.48 skizziert.

Die Spannungs-Dehnungs-Kurven werden durch Zugversuche erstellt. Die genormte Poly-merprobe wird dazu in eine Zugmaschine eingespannt und mit konstanter Geschwindigkeit so lange gedehnt, bis sie reißt. Diese Zugexperimente sind Kurzzeit-Tests. Der E-Modul, d.h. das Verhältnis σ/ε, hängt trotzdem teilweise von der Zeit und der Dehnungsgeschwindigkeit dε/dt ab. Vom Null-punkt bis zur Proportionalitätsgrenze P ist dE/dt ≈ 0. Im Intervall [P, Y] ist σ/ε leicht und im Inter-vall [Y, R] stark zeitabhängig. Die Dehnungsgeschwindigkeit ist aus diesem Grund genormt. Die Yield-Spannung und die Yield-Dehnung werden bei einer Dehnungsgeschwindigkeit von 50 mm/min ermittelt. Besitzt die Polymerprobe keinen Yield-Punkt, so wird die Reißfestigkeit σ bei einer Dehnungsgeschwindigkeit von 5 mm/min gemessen.

R

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5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 399

5.3.15 Der Teleskop-Effekt

Abbildung 5.49: Halsbildung einer Polymerprobe (Tele-skop-Effekt)

Die Einschnürung oder Halsbildung heißt Teleskop-Effekt. Für ε > εY wird der Querschnitt des Halses kontinuierlich kleiner, und zwar so lange, bis der Punkt M, d.h. das relative Minimum der Spannungs-Dehnungs-Kurve erreicht ist (siehe Abbildung 5.47). Oberhalb von εM bleibt der Quer-schnitt konstant. Jetzt wächst die Länge des Halses.

Ein Polymerstab schnürt sich am Yield-Punkt ein. Man sagt, der Stab bekommt einen „Hals“ (siehe Abbildung 5.49).

Abbildung 5.50: Spannungs-Dehnungs-Kurven von Polyvinylchlorid bei verschie- denen Temperaturen.(Daten nach R. Nitsche und E. Salewski)

Der Teleskop-Effekt ist nur oberhalb einer bestimmten Temperatur zu beobachten. Bei genügend tiefen Temperaturen verhält sich jedes Polymer spröde. Es gibt keine Spannungsweichmachung. Das Polymer bricht vorher. Wir betrachten als Beispiel die Spannungs-Dehnungs-Kurven von Poly-(vinylchlorid) (PVC). Sie sind in Abbildung 5.50 für verschiedene Temperaturen dargestellt. Bei T = − 40 °C ist PVC spröde. Es bricht schon bei kleinen Dehnungen. Mit steigender Temperatur wird PVC immer weicher und zäher. Der Yield-Punkt ist im Intervall von − 20 bis 60 °C stark aus-geprägt. Die Zugspannung wird für ε > εY mit steigender Dehnung deutlich kleiner. Das Polymer

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5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie 400

fließt. Da T relativ klein ist, wird dieser Fluß „kalter Fluß“ genannt. Oberhalb von T = 80 °C gibt es keinen Yield-Punkt mehr. PVC ist dann weich und verhält sich gummiartig.

5.3.16 Die nominelle Spannung Gegeben sei ein Polymerstab vom Querschnit A0 und der Länge l . Wir dehnen ihn mit der Kraft F. Der Querschnitt des Stabes wird dadurch verkleinert und seine Länge vergrößert. Das Volumen be-trachten wir als konstant. Es gilt deshalb:

0

(5.158) Darin sind A der aktuelle Querschnitt und l die aktuelle Länge des Stabes, die wahre Spannung σ ist definiert als: (5.159) Davon zu unterscheiden ist die nominelle Spannung σn. Für diese gilt: (5.160) Gleichung (5.159) können wir in Gleichung (5.160) einsetzen. Mit Gleichung (5.158) folgt dann:

(5.161) Da die Dehnung als definiert ist, folgt schließlich: (5.162) Die nominelle Spannung ist also, abgesehen vom Fall ε = 0, stets kleiner als die wahre Spannung.

Wir interessieren uns für die Polymer-Halsbildung, d.h. für den Yield-Punkt. Die Spannungs-Dehnungs-Kurve besitzt dort ein relatives Maximum (siehe Abbildung 5.47). Es gilt: d . Wenden wir diese Bedingung auf Gleichung (5.162) an, so folgt:

n

n

A l A l= 0 0

σ ≡ F A

σ n ≡ F A0

σ σn = l l0b gε = −( ) /l l l0 0

σ σ εn = +1a f

dnσ ε/ = 0

(5.163) In Abbildung 5.51 ist die wahre Spannung σ gegen die Dehnung ε aufgetragen. Alle Tangen-

ten, die durch den Punkt (σ = 0, ε = −1) gehen und die σ (ε)-Kurve berühren, besitzen die Steigung σ/(1 + ε). Gleichung (5.163) ist also in den Punkten erfüllt, wo diese Tangenten die σ (ε)-Kurve berühren. In Abbildung 5.51 a) gibt es nur eine solche Tangente. Die Halsbildung ist instabil. Für ε > εY wird der Querschnitt des Halses kontinuierlich kleiner, und zwar solange, bis die Polymer-probe reißt. Ein „stabiler Hals“ bildet sich nur dann, wenn es zwei Tangenten gibt, für die Glei-chung (5.163) erfüllt ist. Diese Situation zeigt Abbildung 5.51 b). Der Berührungspunkt der zweiten Tangente stimmt mit dem Minimum der σ (ε)-Kurve überein. Die Existenz eines Minimums auf der σ (ε)-Kurve ist also die hinreichende und notwendige Bedingung dafür, daß die „Verdünnung“ des Halses mit steigendem ε zum Stillstand kommt.

( )d d 1σ ε σ ε= +

Abbildung 5.51: a) Der Hals ist instabil b) Der Hals ist stabil

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5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 401

5.3.17 Bruchvorgänge Polymere brechen oder reißen sehr verschiedenartig. Die Bruchdehnung und die Bruchfestigkeit hängen von der Molekularstruktur, der Umgebung und der Art der Beanspruchung des Polymers ab. Manche Polymere brechen bei einer Beanspruchung sofort, andere sind selbst nach Monaten noch funktionstüchtig.

Es wird zwischen zwei Arten von Brüchen unterschieden. Beim spröden Bruch reißt das Po-lymer senkrecht zur Richtung der angelegten Spannung. εR ist kleiner als ε . Der zähe Bruch erfolgt dagegen in Spannungsrichtung. ε ist dann größer als ε (vergleiche Kapitel 5.3.15).

Y

R YDer spröde Bruch besteht in der abrupten Zerstörung von Haupt- und Nebenvalenzbindungen

unter der Bildung zweier neuer Oberflächen. Die dazu nötige Kraft läßt sich im Prinzip aus der Energie der zu trennenden Bindungen berechnen. Für eine kovalente Bindung ist theoretisch eine Kraft von 330 ⋅ 10−6 dyn, für eine Wasserstoffbrücken-Bindung eine Kraft von 10 ⋅ 10−6 dyn und für eine van der Waals-Bindung eine Kraft von 3 ⋅ 10−6 dyn pro Bindung nötig. Die gemessenen „Bruchkräfte“ sind aber deutlich kleiner als die theoretisch zu erwartenden Bruchkräfte. Daraus hat sich die Vorstellung entwickelt, daß beim spröden Bruch zunächst Bindungen zwischen benachbar-ten Ketten (sogenannte Nebenvalenzen) zerstört werden. Die Zugkraft wirkt dadurch auf Ketten-verbände mit kleiner Querschnittsfläche, so daß die Spannung lokal stark ansteigt. Beim Bruch ist die Spannung dann so groß, daß auch Hauptvalenzen zerrissen werden.

Zähe Polymere zerfließen dagegen beim Bruch. Hier gleiten ganze Ketten voneinander ab, bei teilkristallinen Polymeren ganze Kristallbereiche. Es ist sogar möglich, daß sich bei kleinen Span-nungen und langen Beanspruchungszeiten Kettenverhakungen entschlaufen.

Der spröde Bruch und die Theorie von Griffith Die Bruch- oder Reißfestigkeit σR eines sprö-den Polymers läßt sich berechnen. Die wohl interessanteste Theorie dazu stammt von Griffith. Er nimmt an, daß ein Polymer im unbelasteten Zustand stets eine bestimmte Anzahl an Mikrorissen enthält. Diese Risse können Kratzer oder Kerben sein. Eine Spannung, die wir auf das Polymer le-gen, verteilt sich ungleichmäßig. σ ist an den Spitzen der Kerben und Risse sehr groß. An den ande-ren Punkten stimmt σ mit der nominellen Spannung des Gesamtkörpers überein.

Eine Kerbe besitzt in der Regel eine elliptische Gestalt. Die große Halbachse dieser Ellipse sei a und die kleine b (siehe Abbildung 5.52). Die wahre Spannung σ an den Kerbenspitzen ist be-kannt. Nach Gleichung (5.162) gilt: (5.164)

σ σ= +n 1 2 a ba f

Abbildung 5.52: Modell einer elliptischen Kerbe der Länge 2a und der Dicke 2b in einer dünnen Platte, auf der die nominelle Spannung σn lastet.

Das Verhältnis σ/σn für eine kreisförmige Kerbe (a = b) ist drei. Es ist größer als drei, für a > b.

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5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie 402

Griffith hatte nun folgende Idee: Gegeben sei eine dünne Platte der Einheitsdicke d, die frei von Kerben ist. Auf ihr laste die Spannung σn. Wir schlitzen dann eine Kerbe in die Platte, die so groß ist, daß die Spannung auf null zurückgeht. Das führt zu einer Umverteilung der Energie. Die Dehnungsenergie der Platte wird frei und in die Oberflächenenergie der Kerbe überführt. Unsere Kerbe sei kreisförmig, ihr Radius sei a, und das Volumen π a2 d. Das Material der Platte sei perfekt elastisch. Die Dehnungsenergie pro Einheitsvolumen ist so /σ n

2 E , wobei E der Elastizitätsmodul ist. Das bedeutet: Insgesamt wird die E / Eσ n

2 freigesetzt. Die Energie, die wir zur Bildung einer Einheitsoberfläche benötigen, sei γ. Die Oberfläche ei-

ner Kreiskerbe ist 2 . Die benötigte Energie ist also 2 . Griffith stellt jetzt folgendes Postulat auf: Die Kerbe wächst, wenn die freigesetzte Dehnungs-

energie größer als die Energie ist, die zur Bildung der Oberfläche der Kerbe nötig ist. Mathematisch ausgedrückt bedeutet dies:

Wir interessieren uns für den Fall ∂ ∂ , daß die Platte zerbricht. Dort gilt:

(5.165) wobei σR die Reißfestigkeit ist. Diese Gleichung stimmt formal mit der von Griffith hergeleiteten Gleichung überein. Unsere Gleichung ist aber eine Näherungslösung. Sie gilt nur für kreisförmige Kerben. Die exakte Berechnung von σ erfordert eine Integration über das gesamte Spannungsfeld der Kerbe. Griffith hat diese Rechnung für elliptische Kerben durchgeführt, für die a >> b ist. Sein Resultat lautet:

R

(5.166) Gleichung (5.165) gilt nur, wenn die Folien dünn sind und keine Querkontraktion auftritt. Mit Querkontraktion gilt:

(5.167)

wobei µ die Poissonsche Zahl ist.

Abbildung 5.53: Die Abhängigkeit der Reißfestigkeit σ von der Länge L der künstlich hergestellten Risse. Bei der Probe handelt es sich um Polystyrol- stäbchen mit Querschnitten zwischen 0,15 und 1,4 cm2. Die durchgezogene Linie wurde nach Gleichung (5.166) berechnet. (J.P. Berry, Chapter 2 in Fracture VII, Ed. H. Liebowitz, Academic Press, 1972)

R

mit ( / )1 2nergie ( / )1 2 2π a d

π a d π a d γ

∂∂

ππ

aa d

Ea d− +

FHG

IKJUV||

W||

> ⇒= ⇒

< ⇒

2

22

00

0

σ γn2

KerbePlatte beginnt zu brechen;Kerbe bildet sichKerbenbildung nicht möglich

wächst

/ a = 0

σ σ γR n= = 2 1 2E aa f

σ γR = 2 1 2E aa f a fπ

σ γ µR = −2 1 2 1 2Ea f d ie jπ a

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5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 403

Die Hauptaussage von Gleichung (5.166) ist: σ ist umgekehrt proportional zur Wurzel aus der Länge L = 2 a der Kerbe (des Risses). Diese Aussage läßt sich experimentell prüfen. Wir führen der zu untersuchenden Polymerprobe dazu künstlich Risse zu, und messen σ als Funktion von L. Ein Beispiel zeigt Abbildung 5.53. Es handelt sich um Messungen an sprödem Polystyrol. Die durchgezogene Linie beschreibt die Griffith-Theorie. Wir erkennen: σ ist umgekehrt proportional zu

R

R

R

. Die detaillierte Untersuchung zeigt jedoch signifikante Abweichungen zwischen Theorie und Experiment. Setzen wir in Gleichung (5.166) den gemessenen Wert von E ein, so erhalten wir mit Hilfe der Methode der kleinsten Fehlerquadrate für γ den Wert 1700 J m−2. Der experimentell bestimmte Wert von γ liegt aber bei 0,03 J m (siehe Tabelle 5.23). Diese Diskrepanz zwischen Theorie und Experiment entsteht, weil Griffith annimmt, das Material sei perfekt elastisch. Das ist aber fast nie der Fall. Polymere werden beim Bruch plastisch deformiert. Die zur plastischen De-formation benötigte Energie ist sehr viel größer als die Oberflächenenergie. Der nach der Griffith-Theorie an das Experiment angepaßte Wert von γ berücksichtigt dies. Er beinhaltet beide Energiear-ten und ist deshalb deutlich größer als der gemessene Wert der Oberflächenenergie.

−2

Tabelle 5.23: Berechnete und gemessene Werte der Oberflächenenergie

Material Griffith-Theorie γ / (J m ) −2

Experiment γ / (J m−2)

Polymethylmethacrylat 200 − 400 0,04 Polystyrol 1000 − 2000 0,03 Zinn(II)oxid 8 − 10 0,11 Aluminium ≈8000 0,05 Stahl ≈25000 0,05

Nach Griffith ist es möglich, die Reißfestigkeit eines Materials zu kontrollieren, indem man die Größe der Kratzer (Risse) in der Struktur verändert. Dies läßt sich leicht an Gläsern demonstrieren. Wird Glas künstlich mit kleinen Kratzern versehen, so bricht es normalerweise schon bei kleinen Spannungen. Es ist aber auch möglich, die Reiß-(Bruch)-festigkeit eines Glases zu erhöhen. Man muß es nur mit Flußsäure behandeln. Sie entfernt die meisten Kratzer.

5.3.18 Schlag- und Kerbschlagzähigkeit Wir haben gesehen, daß die Griffith-Theorie den Bruchvorgang qualitativ gut beschreibt. Der Wert von γ ist aber deutlich größer als die wahre Oberflächenenergie. Es ist deshalb zweckmäßig, in

L

Theoretisch sollte σR unendlich groß werden, wenn die Rißlänge L = 2 a gegen null konver-giert. Das ist aber nicht der Fall. Es existiert eine kritische Rißlänge, bei der die gemessenen Werte erstmals von der theoretischen Kurve abweichen. Sie liegt für Polystyrol bei Lk ≈ 1 mm. Für alle Werte von L kleiner als 1mm ist ∂ ∂ . Das Material verhält sich so, als ob es natürliche Risse der Länge Lk enthält. Diese gibt es in der Tat. Sie lassen sich mit einem Mikroskop vermes-sen. Die Untersuchungen zeigen jedoch, daß es sich um keine „echten Risse“ handelt. Die Risse sind mit Fibrillen (Materie) von ca. 0,6 − 30 nm Durchmesser gefüllt. Sie werden deshalb Pseudo-risse (englisch: crazes) genannt. Die Fibrillen sind amorph. Sie sind in der sie umgebenden Pro-benmatrix mit ihren Längsachsen parallel zur Spannungsrichtung angeordnet. Die Pseudorisse ent-stehen, wenn die Probe gespannt wird. Unbelastete, spannungsfreie Proben besitzen keine Pseudo-risse. Aus den Pseudorissen bilden sich bei steigender Spannung „echte Risse“. Sie sind im Gegen-satz zu den Pseudorissen nicht mit Materie gefüllt. Eine befriedigende mathematische Beschreibung für den Pseudobruch-Bruch-Übergang muß aber noch gefunden werden.

σ R / L ≈ 0

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5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie 404

Gleichung (5.166) a durch L/2 und 4 γ durch W zu ersetzen. W ist dabei ein Maß für die Arbeit, die insgesamt notwendig ist, damit es zum „echten Bruch“ kommt. Es folgt:

(5.168) Ein echter Bruch liegt vor, sobald L = Lk ist. Es gilt dann: (5.169)

σk ist die kritische Spannung; Wk ist die kritische Arbeit pro Oberflächeneinheit; der Koeffizient Kk heißt „kritischer Spannungsintensitäts-Faktor“.

Der Zusatz „kritisch“ bedarf einer Erläuterung. Im kritischen Zustand, d.h., wenn einmal der kritische Wert von Kk erreicht ist, bedarf es nur einer kleinen Störung von außen, und der Bruch (die Kerbe) wächst lawinenartig, bis das Material völlig zerstört ist. Die Störung kann dabei eine Span-nungs- oder Temperaturfluktuation sein. Risse können sich aber auch bei plötzlichem Kontakt mit einem Gas oder einem Detergenz bilden.

Für die experimentelle Bestimmung von K und W existieren verschiedene Möglichkeiten. Bei den meisten Methoden wird die zum Brechen erforderliche Arbeit pro Flächeneinheit W ge-messen. Wird das Material dabei durch einen Schlag zerbrochen, so wird W Schlagzähigkeit ge-nannt.

k k

k

k

Abbildung 5.54: DVM-Kerbprobe (Maße in mm)

Der Kerbschlagversuch wird mit einem Pendelschlagwerk durchgeführt (siehe Abbildung 5.55). Ein mit einer Schneide versehenes Pendel wird aus der Höhe H fallengelassen. Die Schneide schlägt gegen die der Kerbe gegenüberliegende Kante der Vierkantprobe, zerschlägt diese und steigt dann bis zur Höhe h < H auf. Diese wird durch einen Schleppzeiger markiert. Die Höhendifferenz

ist ein Maß für die verbrauchte Schlagarbeit. Es gilt: W , wobei m die Masse des Pendels und g die Erdbeschleunigung sind.

Einige Werte für Wk und K zeigt Tabelle 5.24. K wurde dabei mit Hilfe von Gleichung (5.169) berechnet. Die höchste Kerbschlagzähigkeit besitzen Stahl und Naturkautschuk, die nied-rigste Glas. (Glück und Glas, wie leicht bricht das!)

k k

σ R = E W La f a fπ 1 2

K Lk k k≡ = E Wkσ π

k

Eine sehr häufig benutzte Methode ist der Kerbschlagversuch. Hierbei wird eine genormte, mit einer Kerbe versehene Probe, deren Enden auf Widerlagern aufliegen, mit einem Schlag zerbro-chen. Die Meßgröße ist die zum Zerschlagen benötigte Schlagarbeit WS. Das Verhältnis von WS und dem Schlagquerschnitt A heißt Kerbschlagzähigkeit. Es gilt: W . Der Wert von W hängt stark von der Probenform ab. Die Kerbschlagzähigkeit ist um so kleiner, je spitzer die Kerbe ist, und es sind nur solche Werte vergleichbar, die an Proben gleicher Form ermittelt wurden. Die Pro-benform wird in Deutschland vom Deutschen Verband für Materialforschung festgelegt. Die den Normen dieses Verbands genügenden Proben heißen DVM-Proben. Eine Kerbprobe besitzt danach die folgenden Maße (siehe Abbildung 5.54):

W Ak S= /

∆h H h= − m g hS = ∆

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5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 405

Abbildung 5.55.: Skizze eines Pendelschlagwerks

Tabelle 5.24: Einige Werte für E, W und K (T = 20 °C) k k

Material E/ GPa Wk /(kJ m−2) Kk /(MN m−3/2) 0,7

Epoxid-Harz, gehärtet 2,8 0,1 0,5 Kautschuk-Epoxid-Harz 2,4 2,0 2,2 Naturkautschuk 0,001 13,0 0,1

150,0 Die Schlagzähigkeiten hängen von verschiedenen Parametern ab. Bei tiefen Temperaturen sind alle Materialien (auch Stahl) spröde. Sie brechen leicht, Wk ist klein. Mit steigender Temperatur wird die Beweglichkeit der Material-(Polymer)-Segmente größer. Spannungen können durch Bildung von Scherbrüchen und Pseudobrüchen ausgeglichen werden. Wk wird deshalb mit steigender Temperatur deutlich größer. Besonders groß ist ∂ in der Nähe von Umwandlungspunkten wie der Glas-temperatur.

Ein anderer Parameter ist die Molmasse. Für kleine und mittlere Molmassen gilt: (5.170) Hier sind ka und k zwei Konstanten. M ist die Molmasse, die ein Polymermolekül mindestens be-sitzen muß, damit es sich mit anderen Molekülen der Probe verhakt. Ist M kleiner als M , so ist W klein. Es gibt dann keine Pseudobrüche. Ist M sehr groß, so ist

b h

n h k

n . W ist dann unabhän-gig von M . h

Polymere kann man mit Zusatzstoffen wie Fasern versetzen. Diese wirken wie zusätzliche Verhakungspunkte. Wk wird dadurch größer.

5.3.19 Spannungskorrosion Viele Polymere bilden Risse, wenn sie bei kleinen Spannungen mit chemischen Agenzien in Berüh-rung kommen. Dieser Vorgang heißt Spannungskorrosion. Die Palette für diese Art der Umweltzer-störung ist groß:

Glas 70,0 0,007

Stahl 210,0 107,0

∂W Tk /

W k k M Mk a b h n= − b g

M Mh n/ ≈ 0 k

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5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie 406

a) Kautschuk-Polymere werden durch Ozon geschädigt. Ozon greift die ungesättigten Kohlenwas-serstoffe des Kautschuks an. Es bilden sich Mikrorisse. Diese wachsen katastrophenartig, wenn W den Wert von ≈ 0,1 J m erreicht. S

−2

b) Polycarbonat bricht unter einer Zugspannung von 10 MPa auch nach Stunden noch nicht. Wird aber die gleiche Polycarbonat-Probe in eine Toluol/i-Octan Mischung getaucht, so zerfällt die Probe innerhalb von Minuten.

c) Neu hergestellte Flaschen aus Poly(methylmethacrylat) können ohne Schädigung mit Alkohol gefüllt oder in Geschirrspülmaschinen gewaschen werden. Gießt man jedoch Alkohol in frisch gespülte PMMA-Flaschen, so treten augenblicklich Risse auf.

Zwei Mechanismen wurden vorgeschlagen, um diese Beobachtungen zu erklären. Ein Vor-schlag ist, daß Flüssigkeiten die Oberflächenenergie von Polymeren erniedrigen. Die Rißbildung, d.h. die Bildung neuer Oberflächen, wird dadurch erleichtert. Die andere Möglichkeit besteht darin, daß das Polymer die Flüssigkeit aufsaugt und quillt. Die Glastemperatur Tg wird dadurch erniedrigt und die Rißbildung erleichtert.

Es kommt nur dann zur Riß- oder Pseudorißbildung, wenn die Dehnung ε des Polymers einen bestimmten kritischen Wert überschreitet. Dieser hängt von dem Löslichkeitsparameter δ der Flüs-sigkeit ab (siehe Abbildung 5.56). Brüche treten nur oberhalb der gestrichelten Linie auf. Die kleinste kritische Dehnung, bei der gerade noch kein Bruch stattfindet, wird für die Lösemittel beo-bachtet, die den gleichen Löslichkeitsparameter wie das Polymer besitzen. Der Quellungsgrad des Polymers ist dort maximal. Die Bruchbildung wird demzufolge durch eine Erniedrigung der Glas-temperatur verursacht. Das ist aber nur ein Grund. Das Polymer ist in allen Flüssigkeiten mit klei-nen und großen δ -Werten ungequollen. Die kritische Dehnung εk sollte deshalb dort mit dem Wert für Luft übereinstimmen. Das ist aber nicht der Fall; εk ist kleiner als εLuft. Das bedeutet: Flüssigkei-ten mit kleinen und großen δ -Werten erniedrigen die Oberflächenenergie des Polymers.

Werkstoffe brechen bei Beanspruchung in der Regel nicht sofort, sondern erst nach einer gewissen Zeit. Die Bruchfestigkeit σR wird in diesem Fall Zeitfestigkeit genannt. Wird die Bruchspannung durch Zug erzeugt, so heißt sie Zeitstandzugfestigkeit.

Die Beanspruchung des Werkstoffes kann dabei statisch oder periodisch erfolgen. Bei den sta-tischen Zeitstandsprüfungen werden mehrere Proben des gleichen Materials von gleicher Gestalt mit jeweils dem gleichen Gewicht belastet und die mittlere Zeit bis zum Bruch bestimmt. Diese Prozedur wird für verschiedene andere Gewichte wiederholt. Anschließend wird σ gegen t aufge-tragen. Ein Beispiel für eine solche Auftragung zeigt Abbildung 5.57. Wir erkennen: Die Zeitstand-zugfestigkeit wird mit steigender Belastungszeit t kleiner. Die Zeitfestigkeitsgerade von Polyethylen weist zudem einen Knick auf. Das ist für teilkristalline Polymere typisch. Bei kleinen Belastungs-zeiten tritt hier ein zäher Bruch und bei großen ein spröder Bruch auf.

R

Abbildung 5.56: Die kritische Dehnung ε k als Funktion des Löslichkeitsparameters δ. (---) Bruchdehnung bei Abwesenheit von Lösemitteln

5.3.20 Zeitstandzugfestigkeiten und Ermüdungsbrüche

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5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 407

Abbildung 5.57: Die Zeitabhängigkeit der Zeitstandzugfestigkeit (Reißfestigkeit für verschiedene Polymere). (UP) glasfaserverstärkter, ungesättigter Polyester (SAN) schlagfestes Polystyrol (PS) Polystyrol (PE) Polyethylen (BASF)

Bei der periodischen Beanspruchung unterliegt der Werkstoff einer Spannung, die periodisch zwischen 0 und σ mit einer bestimmten Frequenz wechselt. Es wird die Anzahl N der Zyklen ermit-telt, die notwendig sind, damit der Werkstoff bricht. Diese Prozedur wird für verschiedene σ wie-derholt. Anschließend trägt man σ gegen log N auf. Das Ergebnis ist die σ (N)-Kurve. Diese besitzt einen sigmoiden Verlauf (siehe Abbildung 5.58). Für kleine N-Werte ist σ sehr groß, und für große N-Werte wird σ konstant. In der Regel ist σ für alle Werte von N kleiner als der Wert von σR, den wir bei der statischen Beanspruchung erhalten. Die beobachteten Brüche heißen deshalb Ermü-dungsbrüche.

Abbildung 5.58: Die Abhängigkeit der Spannung σ von der Anzahl N der Zyklen bei T = 20 °C. (PMMA) Polymethylmethacrylat (PVC) Polyvinylchlorid (ABS) Acrylnitril-Butadien-Styrol Copolymer (Bucknall et al., Chapter 10 in Polymer Science, Ed. Jenkins, North-Holland, 1972)

5.3.21 Reibung Wir betrachten Abbildung 5.59. Dort liegt ein Probenkörper auf einer ebenen Platte. Er ist über eine Rolle mit einem Seil verbunden, an dem ein Gewicht hängt. Um den Körper zu bewegen, muß die an ihm angreifende Gewichtskraft F einen bestimmten Schwellenwert FH überschreiten. F ist der sogenannte Haftreibungswiderstand. Er hängt nicht von der Größe der Berührungsfläche der Probe mit der Platte ab. F ist proportional zur Normalkraft F , mit der die Probe auf die Ebene gedrückt wird. Es gilt:

H

H N

(5.171)

F FH H= Nµ

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5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie 408

Die Proportionalitätskonstante µH heißt Haftreibungskoeffizient. Er hängt von der Art der Probe und der Oberflächenbeschaffenheit (Rauhigkeit) der aufeinanderliegenden Körper ab.

Abbildung 5.59: Messung des Haftreibungs- koeffizienten µH

Ist F größer als FH, so gleitet der Probenkörper über die Ebene. Seine Geschwindigkeit ist konstant, wenn F genauso groß ist wie die ihr entgegenwirkende Gleitreibungskraft. Es gilt dann das Coulombsche Reibungsgesetz: (5.172)

µG ist der Koeffizient der gleitenden Reibung. Er hängt vom Material, der Beschaffenheit der Ober-flächen und von der Gleitgeschwindigkeit der Probe ab. µG ist immer kleiner als µ . HDer Probenkörper kann auch über die Ebene rollen. In diesem Fall gilt: (5.173) wobei f der Hebelarm der Rollreibung und R der Radius des rollenden Körpers sind. Es existieren keine theoretisch abgeleiteten Ausdrücke für µH, µG und f / R. Im Fall der Gleitreibung ist jedoch folgende Vorstellung hilfreich: Wenn wir zwei Körper aufeinanderlegen, berühren sich nur die Spit-zen ihrer mikroskopischen Oberflächen. Die wahre Kontaktfläche ist also viel kleiner als die geo-metrische. Zwischen den chemischen Gruppierungen der Mikrooberfläche der beiden Körper exis-tieren bestimmte Bindungskräfte, die Adhäsionskräfte. Diese müssen überwunden werden, damit die Probe gleitet. Die Adhäsionsreibungskraft FA = A σ wirkt der angreifenden Kraft F entgegen, wobei A die wahre Oberfläche und σ die wahre Scherspannung sind. Weiche Materialien lassen sich leicht scheren. Die Kontaktflächen werden dabei eingeebnet. A ist deshalb groß und σ klein. Bei harten Materialien ist das umgekehrt. Sie lassen sich nur schwer scheren. σ ist groß, und A ist klein. Da verwundert es nicht, daß so verschiedene Stoffe wie Kunststoffe, Metalle und keramische Materialien ähnliche Reibungskoeffizienten besitzen (sieheTabelle 5.25).

w w

w

w

Tabelle 5.25: Reibungskoeffizienten verschiedener Polymere bei gleitender Bewegung

Polymer µG Polymer

auf Polymer Polymer auf Stahl

Stahl 1) auf Polymer

Polymethylmethacrylat 0,8 0,5 0,15 0,20

Polytetrafluorethylen 0,004 0,04 0,10 1) Stahl auf Stahl: µG = 0,005

F F= µ G N

F f R F= a f N

w

w w

w

0,45 Polyethylen (hohe Dichte) 0,1

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5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze 409

5.3.22 Abrieb Wenn sich zwei Körper über einen längeren Zeitraum miteinander reiben, kommt es zu einem Ver-lust von Material. Dieser Verlust heißt Abrieb. Die Wissenschaft, die sich mit dem Abrieb beschäf-tigt, ist die Tribologie.

Das Abrieb-Verlustvolumen ∆V läßt sich ermitteln. Es ist proportional zu der angelegten Kraft F, zu der Relativgeschwindigkeit υ und zu der Reibungszeit t . Es gilt:

A

R

(5.174)

k ⋅ 1010/MPa A−1

Ruhendes Material Bewegtes Material für das ruhende Material

für das bewegte Material

Polycarbonat Polyamid 66 200000 11000 Polyethylenterephthalat Polyethylenterephthalat 500

250 9800 Polyamid 66 Polyamid 66 220 510 Polyamid 66 Polyacetol 10 12 Polyacetol Polyamid 66 11

--- 13

Ein Rechenbeispiel ist aufschlußreich: Der Abriebkoeffizient von ruhendem Polycarbonat gegen bewegtes Polyamid 66 beträgt 2 ⋅ 10−5 MPa . Bei einer Kraft von 9,8 N, einer Relativgeschwindig-keit von 1 m/s und einer Reibungszeit von 24 Stunden ergibt sich damit ein Abriebvolumen von ∆V = 16,93 cm . Für Polyamid 66 ist ∆V = 0,93 cm . Beide Werte sind für viele Anwendungen viel zu hoch. Die Materialien sind nach kurzer Zeit zerstört (abgerieben).

−1

A3 3

A

Wir versetzen deshalb Polyamid 66 mit Glasfasern . Bei einem Glasfasergehalt von 30% ist k = 1,3 ⋅ 10−9 MPa und ∆V = 0,001 cm . Wir müssen jetzt also 930 Tage (2,6 Jahre) reiben, um für ∆V den gleichen Wert zu erhalten wie für das glasfaserfreie Polyamid 66. Ein Abrieb-Verlust-Volumen von 0,001 cm ist somit akzeptabel.

−1 3

3

∆V k t FA A R= υ

Der Koeffizient kA heißt Abriebkoeffizient. Er ist für verschiedene Polymere unterschiedlich groß und hängt davon ab, ob das Probepolymer der ruhende oder der gleitende Körper ist (siehe Tabelle 5.26).

Tabelle 5.26: Abriebkoeffizienten einiger Polymere

A

A

A

600 Polyamid 66 Polycarbonat

15 Stahl Polyamid 66 mit

30 % Glasfaser