550-689198 ANNETTE HESS Deutsches - Ullstein Verlag...ANNETTE HESS Deutsches Haus Von der Autorin...

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ANNETTE HESS Deutsches Haus Von der Autorin von WEISSENSEE und KU’DAMM 56/59 Interview, Leseprobe

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ANNETTE HESS

Deutsches HausVon der

Autorin von WEISSENSEE und

KU’DAMM 56/59

Interview,Leseprobe

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Annette HessDeutsches Haus

368 Seitengebunden mit SchutzumschlagISBN: 978-3-550-05024-4Erscheint am 10. August 2018€ 20,00www.ullstein-buchverlage.de

OD_9783550050244-Hess-Deutsches-Haus_SU_LEX.indd 1 19.04.18 08:52

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R O M A N

ANNETTE HESS

DeutschesHaus

U L L S T E I N

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Satz: Red Cape Production, Berlin

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Druck und Bindearbeiten: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

I N H A LT

Editorial 3

Interview mit Annette Hess 4

Annette Hess 15

Ihre TV-Serien 15

Die Sechzigerjahre 16

Die Situation der Frau in den Sechzigern 17

Der Auschwitzprozess – ein spannendes Stück

Justizgeschichte 18

Fritz Bauer 20

Das Urteil 24

Auszug aus dem Roman

Deutsches Haus von Annette Hess 27

Bildnachweise 80

Literaturtipps 80

Videos und Tonbandaufnahmen 80

L I E B E L E S E R I N N E N U N D L E S E R ,

als Lektorin war es seit vielen Jahren mein Wunsch, mit Annette

Hess zusammenzuarbeiten. Ihre TV-Serie Weissensee hatte mich

begeistert — selten findet sich diese Qualität bei uns im Fernse-

hen. Besonders angetan hatte es mir Annette Hess’ Fähigkeit,

deutsche Zeitgeschichte im Format einer Familiengeschichte zu

erzählen, klug und emotional, ernst, aber auch immer unter-

haltsam.

Nach der Ausstrahlung von Ku’damm 56 — ebenfalls großar-

tiges Fernsehen — war es dann soweit: Annette Hess erfüllte sich

einen lang gehegten Traum und begann ihren ersten Roman zu

schreiben.

Deutsches Haus spielt in Frankfurt und erzählt die Geschichte

von Eva Bruhns, die gerade – als der Roman einsetzt – ihre Hoch-

zeit plant. Da wird sie überraschend als Dolmetscherin zum

Auschwitz-Prozess hinzugezogen. Sie weiß fast nichts über den

Nationalsozialismus, und so erschüttert sie die Arbeit mit den

Zeugen bis ins Mark. Und obwohl wir heute so viel mehr wissen

als Eva, ist es ein absolut mitreißendes Leseerlebnis, auf diesem

Weg an ihrer und der Seite ihrer Familie zu sein. Denn der Pro-

zess läutete eine Zeitenwende ein. Und natürlich wirft diese

neue Erfahrung für Eva auch persönliche Fragen auf. Warum

erzählen ihre Eltern nie von der Zeit während des Krieges?

Eine gute Lektüre!

Herzliche Grüße

Katrin Fieber

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I N T E RV I E W M I T A N N E T T E H E S S

Deutsches Haus erzählt von einem Wendepunkt der jün-

geren deutschen Geschichte, dem Auschwitz-Prozess. Im

Mittelpunkt steht Eva Bruhns, eine junge Dolmetscherin.

Wie ist Ihnen die Idee zum Roman gekommen?

Das Thema des Holocaust spielte bisher in meinen Filmdreh-

büchern nur am Rande eine Rolle. Dann wurden vor 5 Jahren

die Tonbanddokumente des Auschwitz-Prozesses im Inter-

net verö©entlicht. Ich habe mir die Aussagen der Zeugen und

Angeklagten angehört und gedacht, das, was da geschehen

ist, muss immer wieder erzählt werden. Zunächst hatte ich

die Idee, eine Fernsehserie daraus zu entwickeln. Aber ich

habe gemerkt, daß ich mehr Erzählraum brauche, um diesem

großen Thema gerecht zu werden.

In den Miniserien Ku’damm 56 und 59 haben Sie sich

bereits intensiv mit der Zeit zwischen Kriegsende und

Wirtschaftswunder auseinandergesetzt. Was reizt Sie

an der jüngeren deutschen Geschichte?

Ich bin ein extrem neugieriger Mensch in Bezug auf die Frage,

wo wir herkommen, was uns geprägt hat, was unsere Wurzeln

sind, was unsere Traumata. Mich interessiert, wie meine El-

tern und Großeltern aufgewachsen sind. Denn das hat auch

meine Persönlichkeit beeinflusst. Dabei finde ich vor allem

auch die unterbewusste Ebene spannend. Inzwischen weiß

man, daß Traumata Generationen überspringen können. Die

Kriegskinder, die heute 80jährigen, mussten damals ihre

Angst und ihre Fragen verdrängen, denn über die Vergangen-

heit wurde in den 50er Jahren nicht gesprochen. Und diese

unterdrückten Gefühle brechen bei den Kindern und Enkeln

wieder hervor. 30-Jährige heute entwickeln zum Beispiel eine

Panikstörung, deren Wurzel in der nicht ausgelebten Angst

der Großmutter liegt.

Sie sind gegenwärtig eine der erfolgreichsten Dreh-

buchautorinnen Deutschlands. Was begeistert sie

am Filmemachen / Drehbuchschreiben?

Seit ich Kind war, habe ich zwei Leidenschaften: einmal das

Schreiben und zum Zweiten Fernsehen und Film. Das lässt

sich beim Drehbuchschreiben natürlich wunderbar kombi-

nieren. Ich mag es außerdem, daß mit meinem Drehbuch

noch etwas geschieht, das mich auch manchmal überrascht.

Der fertige Film kann ja nie dem Film entsprechen, den ich

beim Schreiben vor mir gesehen habe. Mir gefällt es auch,

wenn ich mit meinem Drehbuch andere Menschen inspiriere:

die Regie, die Schauspieler, die Kostümbildner, die Ausstat-

ter. Sie nehmen meine Vorlage, werden selbst kreativ und

erscha©en diese neue Welt. Das ist ein beglückendes Erlebnis.

Wie kam es, dass ihr erster großer Erfolg eine

TV-Serie war, die in der DDR spielte? Eigentlich

doch ungewöhnlich für jemanden, der aus West-

deutschland kommt?

Schon als Kind war ich von der DDR fasziniert. Ich komme

aus Hannover, wo wir DDR-Fernsehen empfangen konnten.

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krieg und Familienfrieden. Ich erzähle aber auch deshalb

gern von Familien, da ich das Multiperspektivische mag.

Mich interessiert jede Figur. Ich finde, egal welche Familie

man genauer betrachtet, wenn man genau zuhört, kann

man jedes Mitglied mit seinen Wünschen, Nöten und Taten

verstehen.

Wie haben Sie für Ihren Roman recherchiert?

Wie gesagt hat die Fritz-Bauer-Stiftung umfangreiches Mate-

rial zum Prozess zur Verfügung gestellt. Über Auschwitz

selbst gibt es ja glücklicherweise unzählige Schriften, Filme,

Romane. Da musste ich aus der Fülle an Material auswählen.

Besonders haben mich da Berichte der Kinder von Tätern in-

teressiert. Wie leben sie mit der Schuld ihrer Väter?

Gab es etwas, das Sie bei der Recherche besonders

überrascht hat?

Es war für mich interessant zu erleben, was passiert, wenn

man mit so einer ungeheuren schieren Masse an Verbrechen

und Grausamkeiten konfrontiert wird. Es gab immer wieder

Phasen, in denen ich die Fakten gelesen aber emotional nicht

an mich herangelassen habe. Ich habe Verbrechen und Zahlen

registriert aber konnte oder wollte es mir einfach nicht vor-

stellen. Dann wiederum setzt so etwas wie eine Abstumpfung

ein. Man kennt ja die Schulkinder, die schon gelangweilt ab-

winken, wenn der Holocaust behandelt werden soll. Man

muss immer wieder neue Wege für die Aufarbeitung finden,

um die Menschen heute emotional zu erreichen.

Die einerseits bedrohliche, andererseits aber geschützte At-

mosphäre, die Inselsituation dieser anderen Welt hat mich

angesprochen. Das Leben in der DDR ähnelte dem Zustand

der Kindheit. Man ist einerseits vollkommen frei und sorglos

und andererseits total kontrolliert, so wie es eben im Eltern-

haus war. Big Mama ist watching you – und gleichzeitig muss-

te man keine Angst um die Existenz haben. Ich mochte die

Filme, die Polizeirufe mit den Problemen der »kleinen Leu-

te«, die heile Welt der Familienserien. Als Kind und Jugend-

liche war die DDR absurderweise meine Fluchtwelt. Aus heu-

tiger Sicht ist die DDR spannend, weil man die Dinge nicht

mehr überprüfen kann, weil ein Stück Rätsel bleibt. Jeder

erzählt einem etwas anderes über das Leben in der DDR.

Selbst Menschen derselben Generation widersprechen sich.

Und damit meine ich nicht nur die extremen Positionen von

Opfern und Tätern.

Ihre Stoffe sind in der Regel großangelegte Familien-

geschichten. Was fasziniert sie daran?

Für jeden Menschen ist ja die Familie existenziell. Und wenn

man keine hat, ist die nicht existente Familie ein großes Le-

bensthema. Mich faszinieren die Abhängigkeiten voneinan-

der, die Verstrickungen, die Schuldgefühle, die Liebe und der

Hass. Diese Emotionen nehmen meiner Meinung nach nur

in Familienzusammenhängen die größtmöglichen dramati-

schen Dimensionen an. Das ist für Autoren ein gefundenes

Fressen. Ich mag das Explosive, das Familien zu eigen ist und

zwar in die eine und in die andere Richtung: ganz großer

Streit oder wunderbarer, starker Zusammenhalt. Familien-

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Deutsches Haus ist auch die Geschichte eines Er-

wachsenwerdens. Eva Bruhns findet in der Konfron-

tation mit der deutschen Vergangenheit zu sich

selbst. Gab es ein Vorbild, eine Vorlage für die Figur?

Die Hauptfigur Eva ist nur um weniges älter als meine Mutter,

die 1942 geboren wurde. Ich weiß, daß ihre Generation von

Auschwitz nicht viel erfahren hat und auch nicht viel wissen

wollte. Es war die Zeit der Verdrängung, des Wirtschaftswun-

ders. Man schaute nach vorn und nicht zurück. Auch der

Auschwitz-Prozess ist an ihr eher vorbeigegangen, sie war

damit beschäftigt, einen Ehemann zu finden, eine Familie zu

gründen. Sie hat erst später in den 70er-Jahren begonnen,

sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Ich werde es nie

vergessen, wie wir als Familie die Gedenkstätte des Konzent-

rationslagers Bergen-Belsen besuchten, ich war zehn. Meine

Mutter ist nach nur wenigen Metern im Lager weinend ste-

hengeblieben, sie konnte nicht weitergehen und musste dann

umkehren. Da ist auch mir die Dimension dieser Verbrechen

klar geworden. Das habe ich nicht wegen der Informationen

in der Gedenkstätte verstanden sondern wegen der Erschüt-

terung meiner Mutter.

Sind viele Ihrer Figuren historisch? Vielleicht sogar alle?

Manchmal schreibe ich Filme, die in der Gegenwart spielen.

Aber meine Faszination liegt bei historischen Sto©e und den

entsprechenden Figuren. Ich brauche den Abstand, um das

Wesentliche zu sehen. Es regt mich an, mir Gerüche und Ge-

räusche vergangener Zeiten vorzustellen. Es sind Zeitreisen,

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Sie haben Freie Kunst studiert. Ihr Hauptfach

war die Malerei. Inwiefern hat das heute vielleicht

noch einen Einfluss auf Ihre Arbeit?

Die Malerei und die bildende Kunst sind ein wichtiger Be-

standteil in meinem Leben. Mein Mann ist Künstler, meine

Mutter Malerin. Ich sammele außerdem gegenständliche Ge-

mälde aus der Zeit von 1900 bis 1950, ersteigere diese bei eBay.

Die Bilder haben keinen weiteren finanziellen oder künstle-

rischen Wert, sie sind manchmal auch laienhaft gemalt:

Landschaften, Häuser, Straßenszenen. Aber es sind Moment-

aufnahmen ihrer Zeit. Und spannender als Fotografien, da sie

eine individuelle Handschrift besitzen. Mich interessiert

auch der Blick des Künstlers auf das Abgebildete: Warum hat

er es so und nicht so gemalt? Warum war ihm dieses Haus so

wichtig, daß er es gemalt hat? Wer war dieser Mensch, der sich

solche Mühe mit den Blättern einer Kastanie gegeben hat?

Sie sind Drehbuchautorin – inwiefern hat Sie das

beim Schreiben Ihres Romans beeinflusst?

Ich denke, dass ich als Drehbuchautorin zunächst viel Wert

auf eine klassisch funktionierende Geschichte lege. Die

Spannung eines Drehbuchs ergibt sich aus den Szenen, aus

dem, was man sieht und hört und nicht aus inneren Abläufen

der Figuren. So schreibe ich auch Prosa. Außerdem interes-

sieren mich auch hier mehrere Blickwinkel und Charaktere,

die Montage, die Gegenüberstellung. Ich denke bildhaft, er-

zähle auch gern über Dialoge, und das prägt auch meinen

Roman.

auf die ich mich begebe. Und auf Reisen ist man besonders

wach und neugierig. Man sieht einfach mehr.

Wann hatten Sie die Idee zu der Figur David Miller?

Was ist sein Drama?

Auch für die Figur des David gibt es ein reales Vorbild bzw.

eine Inspiration. Es ist allerdings eine Frau, eine Lehrerin

meiner Tochter. Sie ist Jüdin und leidet an di©usen Schuldge-

fühlen, da ihre Familie vom Holocaust verschont blieb. Das

ist die bekannte »Schuld der Überlebenden«, die manchmal

schwerer zu ertragen ist, als wenn man selbst Opfer geworden

ist. Dieses Dilemma treibt die Figur des David um.

Sie haben zwei fast erwachsene Kinder. Können

sie sich für Ihre Stoffe begeistern? Verstehen Sie,

warum sie Ihnen wichtig sind?

Da ich in meinen Sto©en nahezu immer junge Menschen in

einem Reifungsprozess darstelle, können sie sich eigentlich

gut mit den Hauptfiguren identifizieren. Das Thema und die

Zeit kommen ihnen auf diese Weise nah. Darüber hinaus habe

ich versucht, bei meinen Töchtern ein Bewusstsein für die

(deutsche) Geschichte zu wecken. Sie stellen zum Beispiel ih-

ren Großeltern viel mehr Fragen, als ich das damals mit zwan-

zig getan habe. Das bereue ich heute noch, daß ich so wenig

mit meinen Großeltern gesprochen habe. Sie hätten sicher

manche Antwort verweigert oder geschönt. Aber heute wüß-

te ich, wie ich fragen müsste, um unter die Oberfläche zu

kommen.

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Monat unter Menschen zu begeben – ich bin ja oft beruflich in

Berlin. Dann nehme ich die Eindrücke mit nach Hause an den

Schreibtisch. Zum Schreiben selbst brauche ich Ruhe. Da ver-

steckte ich mich manchmal sogar vor dem Postboten. Denn

eine Begegnung mit ihm löst meist wieder Geschichten aus:

Warum humpelt der heute? Ist er gestern abend betrunken

gefallen? Ist er Alkoholiker? Oder hat er den Liebhaber seiner

Frau verprügelt und ist dabei über von dessen altersschwa-

chen Dackel gebissen worden? — Ich brauche nicht viel, um

Ideen zu haben. Schwieriger ist die Umsetzung. Man sagt ja,

für ein künstlerisches Werk braucht man 5 Prozent Inspirati-

on und 95 Prozent Transpiration. Und während der 95 Pro-

zent darf ich keine Ablenkung haben.

Was war für Sie beim Schreiben eines Romans die

größte Herausforderung?

Im Drehbuch beschreibe ich sachlich Orte und Figuren. Sze-

nen und Dialoge werden erst durch die Verfilmung zum Leben

erweckt. Beim Roman müssen Atmosphäre und Figuren al-

lein durch meine Worte entstehen.

Was war für Sie das größte Geschenk?

Als Drehbuchautorin habe ich vor allem eins gelernt: ökono-

misch zu schreiben. Das heißt: nicht zu viele Drehorte, nicht zu

komplizierte Drehorte, nicht zu viele Figuren, vor allem nicht

zu viele Figuren, die sprechen. Das können dann nämlich keine

Komparsen mehr übernehmen sondern es müssen Schauspie-

ler sein – und die kosten Geld. Davon ist man beim Roman voll-

kommen frei. Da können Welten untergehen, und Nachbarn,

die nur einmal auftauchen, dürfen viele Sätze sprechen.

Was ist für Sie der größte Unterschied zwischen

Drehbuch und Roman?

Ein Drehbuch ist eine Vorlage, mit der noch etwas geschieht,

die sich weiterentwickelt. Ein Roman ist endgültig.

Sie leben zurückgezogen auf dem Land in Nieder-

sachsen, woher nehmen Sie die Inspiration?

Ich glaube, ich kann mir Gesichter, Begegnungen und Beob-

achtungen gut merken. Mir reicht es, mich ein paar Mal im

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A N N E T T E H E S S

Annette Hess stammt aus Hannover und studierte zunächst Ma-

lerei und Innenarchitektur, später Szenisches Schreiben. Sie

arbeitete als freie Journalistin, Regieassistentin sowie Dreh-

buchlektorin. Seit 1998 ist sie ausschließlich als Drehbuchauto-

rin tätig; Ihre Fernsehserie Weissensee war die erste deutsche

Serie, die international für Aufsehen sorgte. Sie setze mit

Ku‘damm 56 und Ku‘damm 59 diesen Erfolg fort. Die Autorin

lebt in Niedersachsen und erhielt zahlreiche Auszeichnungen,

u.a. den Grimme-Preis sowie den Deutschen Fernsehpreis. Deut-

sches Haus ist ihr erster Roman.

I H R E T V- S E R I E N

Weissensee:

Zwei Familien im Ostberlin der 80er-Jahre, die gegensätzlicher

nicht sein könnten: die Kupfers, die als mächtiges Rad im DDR-

System funktionieren, und die Hausmanns, die aus dem eher

kritischen Milieu stammen. Als sich Martin Kupfer in Julia Haus-

mann verliebt, erschüttert diese Liebe die Fundamente, auf de-

nen die beiden Familien ihr Leben aufgebaut haben.

Ku‘damm 56 und Ku‘damm 59:

Die historischen Miniserien Ku’damm 56 und Ku’damm 59 er-

zählen die bewegende Geschichte der Familie Schöllack in der

Nachkriegszeit, von dem Au´egehren junger Frauen gegen das

biedere, festsitzende Frauenbild und von ihrem Kampf um eine

selbstbestimmte, weibliche Identität.

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D I E S E C H Z I G E RJA H R E

In den Sechzigerjahren hat die Gesellschaft in Westdeutschland

einen tief greifenden Wandel durchlaufen, der Einstellungen,

Lebensgefühl und Wertesystem nachhaltig verändert hat.

Zu Beginn des Jahrzehnts blickte der Westen schockiert Rich-

tung Osten: Am 13. August 1961 ließ die DDR-Regierung in Berlin

eine Mauer errichten. Die Musik der Beatles eroberte die heimi-

schen Wohnzimmer. Und mit ihr kam es zu einer modischen und

kulturellen Rebellion der Jugendlichen. Der erste Mensch mach-

te einen Schritt auf dem Mond.

Die Frauen emanzipierten sich, und die ersten Studentenre-

volten legten in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre den Grund-

stein für mehr Freiheit und Gerechtigkeit, aber auch für mehr

Gewalt und die Entstehung der Terroristen-Gruppierung RAF.

D I E S I T UAT I O N D E R F R AU I N D E N

S E C H Z I G E R N

»Männer und Frauen sind gleichberechtigt«, heißt es in Artikel

3 des Grundgesetzes, das der Parlamentarische Rat 1949 als Ver-

fassung der Bundesrepublik Deutschland entwarf. Diese Gleich-

berechtigung sollte grundsätzlich gelten, ohne Ausnahme von

der Regel. In der Realität hatte jene Gleichberechtigung jedoch

ihre Grenzen. Frauen waren weiterhin klar im Nachteil, was den

Zugang zu Bildung und Arbeit, d.h. zu wirklicher Eigenständig-

keit betraf. Die Frau war und blieb, durch das Ehe- und Famili-

enrecht so definiert, in erster Linie Hausfrau.

Erst allmählich brachen Tabus auf, begann sich das Rollen-

verständnis von Frau und Mann zu wandeln. In den späten

60er-Jahren erö©neten die Bildungsdiskussion und die Antibaby-

pille als Mittel der Familienplanung neue Wege für die Frauen-

emanzipation. Ausbildung und Beruf wurden zu einem wichtigen

Bestandteil weiblicher Lebensplanung, auch wenn die Berufswahl

weiterhin geschlechtsspezifisch erfolgte. Die ö©entlichen Leis-

tungen zur besseren Vereinbarung von Familien- und Berufsleben

blieben jedoch stark begrenzt.Bornheim Mitte (Frankfurt am Main), Schauplatz des Romans, in den Sechzigerjahren

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D E R AU S C H W I T Z- PROZ E S S – E I N S PA N N E N D E S

S T Ü C K J U S T I ZG E S C H I C H T E

Am 20. Dezember 1963 – mitten im nachkriegsdeutschen Wirt-

schaftswunderland – begann in Frankfurt am Main das bis da-

hin größte Schwurgerichtsverfahren in der Geschichte der

Bundesrepublik. Als an diesem Morgen kurz nach 9.00 Uhr im

Großen Saal des Frankfurter Römer die Strafsache »gegen Mul-

ka und andere« aufgerufen wurde, bedeutete das den Anfang

einer strafrechtlichen und darüber hinaus historisch-morali-

schen Aufarbeitung, die bis dahin teils gar nicht, teils nur halb-

herzig betrieben wurde: die des schlimmsten Kapitels der NS-

Verbrechen. Auschwitz. Maßgeblich initiiert vom hessischen

Generalstaatsanwalt Fritz Bauer waren während der vierjähri-

gen Prozessvorbereitung 1.300 Zeugenaussagen gesammelt

worden. Auf der Anklagebank saßen 21 ehemalige SS-Mitglieder

und ein sogenannter Funktionshäftling. Die Staatsanwalt-

schaft warf ihnen vor, im Vernichtungslager Auschwitz an der

Selektion der Häftlinge beteiligt gewesen zu sein, die in den

Gaskammern ermordet oder erschossen und zu Tode gequält

wurden.

Zunächst folgte die Vernehmung der Angeklagten zu Person

und Sache – doch diese blieb praktisch ohne Ergebnis. Die An-

geklagten schützten sich gegenseitig, auch aus der Sorge her-

aus, sich selbst zu belasten, und zeigten keinerlei Schuldein-

sicht.

In der 15 Monate dauernden Beweisaufnahme sagten jüdische

und nicht jüdische Überlebende aus. Die Zeugenaussagen ließen

keine Zweifel an der ungeheuren Schuld und Grausamkeit der

Männer zu. Doch die Angeklagten schwiegen oder leugneten.

Bedauern war nicht zu hören, sie hielten den militärischen

Gehorsam hoch. Sie ließen ihre Anwälte reden, die ihre Man-

danten selbst als Opfer der Diktatur darstellten.

Franz Lucas, der als einziger Angeklagter zur Tatortbesichtigung mitgereist war.

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1956 wird Bauer zum hessischen Generalstaatsanwalt in

Frankfurt am Main ernannt. Er setzt sich unermüdlich für die

juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen ein. Das Zustande-

kommen des 1961 in Jerusalem durchgeführten Eichmann-Pro-

zesses ist im Wesentlichen ihm zu verdanken, da er dem israeli-

schen Geheimdienst Mossad den entscheidenden Hinweis zum

Aufenthaltsort von Adolf Eichmann in Argentinien gegeben hat.

Etwa zeitgleich bereitete Bauer den Auschwitz-Prozess vor, der

von Dezember 1963 bis August 1965 in Frankfurt am Main statt-

fand. Mit diesem Prozess gewann die Auseinandersetzung mit

dem Holocaust in der Bundesrepublik Deutschland erstmals

eine ö©entliche Dimension.

Fritz Bauer starb am 1. Juli 1968 in Frankfurt am Main.

F R I T Z BAU E R

Fritz Bauer wurde am 16. Juli 1903 als Kind einer jüdischen Fa-

milie in Stuttgart geboren. Er studierte Rechts- und Wirtschafts-

wissenschaften in Heidelberg, München und Tübingen. 1930 trat

er in seiner Heimatstadt seine Aufgabe als jüngster Amtsrichter

Deutschlands an. 1933 musste Bauer sein Amt als Richter nieder-

legen. 1936 flüchtete er zunächst nach Dänemark, dann nach

Schweden, wo er den Krieg überlebte. 1949 kehrte Bauer mit Un-

terstützung Kurt Schumachers nach Deutschland zurück, um

beim Au´au eines demokratischen Justizwesens mitzuwirken.

Nach Gründung der Bundesrepublik trat Bauer zunächst eine

Stelle als Landgerichts direktor in Braunschweig an. Ein Jahr

später stieg er zum Generalstaatsanwalt am dortigen Oberlan-

desgericht auf.

Der Hessische Generalstabsanwalt Fritz Bauer

»Nur die Spitze des Eisbergs« — Gedenkstein für Fritz Bauer vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main

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Prozessskizze von Erich Dittmann, Blick von der Pressetribüne

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24 25

DAS U R T E I L

Am 6. Mai 1965, nach 154 Prozesstagen, wurde die Beweisaufnah-

me abgeschlossen. Die Plädoyers der Anklagevertreter nahmen

sechs Tage in Anspruch. Nach zwanzigmonatiger Prozessdauer

wurde am 19. August 1965 das Urteil verkündet. 900 trocken for-

mulierte Seiten umfasste die schriftliche Urteilsbegründung.

Doch die mündlichen Ausführungen des Richters Hans Hofmann,

der dabei mit den Tränen kämpfte, gingen in die Geschichte nicht

nur der NS-Strafverfolgung, sondern auch der Bundesrepublik

ein: »Hinter diesem Tor begann eine Hölle, die für das normale

menschliche Gehirn nicht auszudenken ist und die zu schildern

die Worte fehlen.«

Die Urteile lauteten auf sechs lebenslange Zuchthausstrafen,

eine zehnjährige Jugendstrafe (der Angeklagte Hans Stark war

erst 19 Jahre alt, als er nach Auschwitz kam) und zehn Freiheits-

strafen zwischen dreieinhalb und vierzehn Jahren. Drei Ange-

klagte wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Die

Begründung »Befehlsnotstand« wirkte sich mehrfach strafmil-

dernd aus.

Die Urteile wurden von der Ö©entlichkeit überwiegend als zu

milde aufgenommen, folgten aber dem geltenden Rechtsrah-

men. Doch was am schwersten wog: Keiner der Angeklagten hat-

te während des gesamten Prozesses ein »menschliches Wort«

gegenüber den Zeugen hervor gebracht, wie es sich der hessische

Generalstaatsanwalt Fritz Bauer erho©t hatte. Bis auf den jüngs-

ten Angeklagten, Hans Stark, der seine Taten zumindest bedau-

erte, blieben alle anderen Täter unisono in ihrem selbstbewusst

inszenierten apologetischen Selbstbild verhaftet und trugen

insgesamt zur Au·lärung nur sehr wenig bei.

Dennoch bedeutete der Auschwitz-Prozess die erste große

ö©entliche Auseinandersetzung mit der Täterschaft von Tisch-

lern, Ärzten, Fleischern und Hausmeistern in Uniform und war

ein wichtiger Beitrag zur Auseinandersetzung mit der jüngsten

Vergangenheit. Das Böse bekam Namen und Gesicht, Alter und

Adresse. Was Gesellschaft, Politik und Geschichtswissenschaft

nicht konnten oder wollten, übernahm die Justiz: den von Deut-

schen begangenen industriellen Massenmord konkret aufzuklä-

ren. Wie es Hannah Arendt formulierte, hatte der Prozess der

deutschen und internationalen Ö©entlichkeit ein umfassendes

Bild von Auschwitz vermittelt. Der Holocaust drang als ultima-

tives Grauen ins Bewusstsein der Gesellschaft.

Links: Der Angeklagte Wilhelm Boger

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AUSZUG AUS DEM ROM A N DEU TSCHES H AUS

VON A N N ET T E HESS

In der Nacht hatte es wieder gebrannt. Sie roch es sofort, als sie

ohne Mantel aus dem Haus hinaus auf die sonntagsstille, mit ei-

ner dünnen Schneeschicht bedeckte Straße trat. Es musste dies-

mal ganz in der Nähe gewesen sein. Die Schärfe des Geruches

zeichnete sich klar vor dem gewöhnlichen Winterdunst ab: ver-

kohltes Gummi, verbrannter Sto©, geschmolzenes Metall, aber

auch angesengtes Leder und Haar. Denn manche Mütter schütz-

ten ihre neugeborenen Kinder mit einem Scha©ell vor der Kälte.

Eva dachte nicht zum ersten Mal darüber nach, wer so etwas tun

könnte. Wer waren die Unbekannten, die seit einiger Zeit nachts

über die Hinterhöfe in die Mietshäuser eindrangen und in den

Fluren die abgestellten Kinderwagen anzündeten? »Ein Verrück-

ter oder die Halbstarken!« war die allgemeine Meinung. Glück-

licherweise hatte noch keines der Feuer auf ein Haus übergegrif-

fen. Niemand war bisher zu Schaden gekommen. Nur finanziell

natürlich. Ein neuer Kinderwagen kostete bei Hertie in der Tau-

benstraße 120 Mark. Kein Pappenstiel für junge Familien.

»Junge Familien« echote es in Evas Kopf. Sie ging nervös auf

dem Bürgersteig vor der Traditionsgaststätte »Deutsches Haus«

auf und ab. Denn sie erwartete heute hier an der Berger Straße,

die hinauf zum Lohrberg führte, in ihrem neuen hellblau knis-

ternden Seidenkleid, das etwas in der Taille kni©, obwohl es ihre

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den unbekannten Jürgen, der da kommen sollte. Eva hörte, wie

er leise sang, um Alltäglichkeit vorzutäuschen. Wahrscheinlich

eines der Volkslieder, die er mit Genuss verstümmelte. Ludwig

Bruhns war zu seinem eigenen Bedauern vollkommen unmusi-

kalisch: »Wir summen vor dem Tore und sind in bester Laune.

Unterm Liiii-indenbaume.«

Am Fenster erschien neben Evas Mutter eine jüngere Frau mit

wassersto©blondiertem, auftoupiertem Haar, Evas Schwester

Annegret. Sie warf Eva einen anklagenden Blick zu, den Eva an

sich abgleiten ließ. Sie hatte lange genug darauf gewartet, dass

ihre große Schwester vor ihr heiratete. Aber als Annegret 28 Jah-

re und zudem immer dicker wurde, hatte Eva sich entschlossen,

in geheimer Absprache mit ihren Eltern, die Konvention außer

Kraft zu setzen. Bevor es zu spät war. Immerhin war sie selbst

schon 24 und damit beinahe ein spätes Mädchen. Eva hatte zu-

dem nicht viele Anwärter gehabt. Ihre Familie verstand es nicht,

denn Eva war gesund und gutaussehend, mit ihren vollen Lip-

pen, dem langen naturblonden Haar, das sie selbst schnitt, fri-

sierte und zu einem kunstvollen Dutt drehte, und der schlanken

Nase. Doch Eva hatte einen unbestimmt alarmierten Ausdruck

in ihren Augen, als rechne sie jederzeit mit dem Eintreten einer

Katastrophe. Sie war nicht besonders fröhlich. Manchmal hatte

sie den Verdacht, dass das auf Männer abschreckend wirkte.

13 Uhr und 5 Minuten. Kein Jürgen. Stattdessen ö©nete sich

die Haustür links neben der Gaststätte. Eva sah ihren kleinen

Bruder Stefan herauskommen. Stefan hatte sich keine Jacke an-

gezogen, was auch gleich zu besorgtem Klopfen und Gestikulie-

ren der Mutter oben am Fenster führte. Doch Stefan starrte trot-

zig nach vorn. Denn immerhin hatte er seine orangefarbene

Pudelmütze und die passenden Handschuhe angezogen. Er zerr-

Größe hatte, in ihren todschicken dunkelblauen Pumps, nichts

weniger als ihr Lebensglück. Wie ihre Schwester Annegret es

nannte. Eva wartete auf ihren Ehemann in spe, auf Jürgen

Schoormann, der sich heute, an diesem denkwürdigen Sonntag,

diesem 3. Advent des Jahres 1963, zum ersten Mal ihrer Familie

vorstellen wollte. Er war zum Mittagessen gebeten. Eva sah auf

ihre Armbanduhr. 13 Uhr und 3 Minuten. Jürgen kam zu spät.

Vereinzelt fuhren Wagen langsam vorüber. Sonntagsfahrer.

Es war kalt. Minus 11 Grad. Doch obwohl sie nur im Kleid da-

stand, fror Eva nicht. Sie glühte vor Aufregung wie ein kleiner

Ofen. Sie sah zum Himmel. Es schnieselte. Das Wort hatte Evas

Vater eigens für dieses Wetterphänomen erfunden: Kleine Eis-

späne segelten aus den grauen Wolken. Als ob oben einer an ei-

nem riesenhaften Eisblock hobelte. Der Eine, der alles bestimm-

te. Eva betrachtete einige der Eisteilchen auf ihrem Handrücken,

wie sie schnell dahinschmolzen. Da bemerkte sie, dass sie beob-

achtet wurde: Am Fenster in der ersten Etage über dem Schrift-

zug »Deutsches Haus«, genauer über den Buchstaben »au«,

stand ihre Mutter in ihrem hellbraun gemusterten Wollkleid, mit

ihrem hellbraunen, wassergewellten Haar. Eine insgesamt hell-

braune Gestalt. Sie sah unbewegt auf Eva herab. Aber sie hatte

den Eindruck, als nehme ihre Mutter Abschied. ›Zu Recht. Ich

gehe bald in mein eigenes Leben‹, dachte sie. Beinahe bekam Eva

einen Kloß in den Hals. Aber das fehlte noch. Jetzt heulen.

Da trat auch ihr Vater vor die Gaststätte. Groß und vertrauen-

erweckend in seiner Kochschürze. Er blickte zum Himmel, ig-

norierte Eva und ö©nete dann den Schaukasten rechts von der

Tür, um eine vermeintlich neue Speisekarte einzulegen. Aber

Eva wusste, die gab es erst zur Fastnacht. In Wahrheit war ihr

Vater voller Besorgnis. Er hing an ihr und war eifersüchtig auf

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fen. Statt um 11.30 Uhr wurde jetzt um 17.30 Uhr geö©net. Der

Umsatz hatte sich seit dem Oktober halbiert. Und Ludwigs Rü-

cken ging es besser. Aber Eva wusste, der größte Wunsch ihres

Vaters war es, im Frühjahr den Mittagstisch wiedererö©nen zu

können. Eva ho©te inständig, Jürgen würde ihrem Vater gegen-

über respektvoll sein. Obwohl dieser nur ein Gastwirt war. »Wer

nichts Wirt wird Wirt.« Sagte er selbst gern. Aber er liebte seinen

Beruf, liebte es, wenn seine Gäste gesellig beieinander saßen,

wenn es ihnen schmeckte, und sie satt und zufrieden nach Hau-

se gingen. Jürgen benahm sich manchmal herablassend. Eva

ho©te, er würde die Fragen ihrer Eltern nicht nur mit Ja oder

Nein beantworten.

»Polizei!«, stieß Stefan hervor. Ein schwarz-weißer Wagen

mit einem Martinshorn auf dem Dach kam heran. Darin saßen

zwei Männer in dunkelblauer Uniform. Stefan erstarrte ehr-

fürchtig. Eva dachte, sicher waren die Beamten auf dem Weg

zum verbrannten Kinderwagen, um Spuren zu sichern und die

Hausbewohner zu befragen, ob sie in der Nacht etwas Verdäch-

tiges bemerkt hätten. Der Wagen glitt fast lautlos vorüber. Die

beiden Polizisten sahen Eva an. Sie nickten ihr kurz zu. Man

kannte die Tochter vom »Deutschen Haus«. Dann bog der Poli-

zeiwagen in die Königstraße ein. ›Ja. Wahrscheinlich hatte es in

der Siedlung gebrannt. Der rosa Neubau. Da wohnten einige Fa-

milien. Junge Familien.‹

13 Uhr und 12 Minuten. ›Er kommt nicht. Er hat es sich anders

überlegt. Er wird mich morgen anrufen und mir sagen, dass wir

nicht zusammenpassen. »Den Unterschied unserer Herkunft

können wir nicht überbrücken, Eva.«‹ Ba©!!! Stefan hatte ein

wenig Schnee zusammengekratzt und sie mit einem Schneeball

beworfen. Der hatte sie direkt an der Brust getro©en. Eva gri©

te seinen Schlitten hinter sich her. Um ihn herum tänzelte Pur-

zel, der schwarze Dackel der Familie, ein hinterlistiger, aber

innig geliebter Hund.

»Hier stinkt’s!«, sagte Stefan. »Jetzt du auch noch! Diese Fa-

milie ist ein Fluch!«, erwiderte Eva laut, aber zärtlich. Stefan

begann, den Schlitten durch den dünnen Schnee auf dem Bür-

gersteig hin und her zu schleifen. Evas Augen folgten der Pudel-

mütze, deren orangefarbener Puschel vor dem grauen Weiß auf

und abwippte. Hund Purzel schnü©elte an seiner Laterne,

drehte hektische Kreise und kackte dann in den dünnen Schnee.

Der Haufen dampfte. Stefan zog den Schlitten um Eva herum.

Die Kufen kratzten auf dem Asphalt und erzeugten ein hohes,

aufreibendes Geräusch. Dazu kam das Scharren einer Schnee-

schaufel, mit der sich der Vater rechts von der Eingangstür zu

scha©en machte. Er schob den wenigen Schnee auf den Holzboh-

len des verwaisten Biergartens zusammen. Dabei malträtierte

er ein neues Volkslied. »Datt du min Levsten büst, kann ich nicht

ändern. Datt du –« Eva sah, wie er sich kurz an den Rücken fasste

und das Gesicht verzog. Er hatte wieder Schmerzen, was er aber

nicht zugeben würde. Eva erinnerte sich, wie er im Oktober ei-

nes Morgens, nachdem es schon seit längerem in seinem Kreuz

»gezwiebelt« hatte, nicht hatte aufstehen können. Ein Kranken-

wagen war gekommen, im Krankenhaus hatten sie ihn geröntgt

und einen Bandscheibenvorfall festgestellt. Er war operiert wor-

den, und der Arzt hatte ihm nahe gelegt, die Gaststätte aufzuge-

ben. Ludwig Bruhns hatte erklärt, er habe eine Familie zu ernäh-

ren. Wie sollte das von seiner kleinen Rente gehen? Sie hatten

alle auf ihn eingeredet, er sollte doch einen Koch anstellen, nicht

mehr selbst in der Küche stehen. Aber Ludwig hatte sich gewei-

gert. Die Lösung war dann gewesen, den Mittagstisch abzuschaf-

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Eva dachte einen schrecklichen Moment lang, er würde Gas ge-

ben und einfach weiterfahren. Doch da bremste er ab. Stefan

platzte heraus: »Der hat ja schwarze Haare!« Evas Familie war

blond. Höchstens hellbraun. Es gab überhaupt wenige Men-

schen, die sie kannten, mit richtig rabenschwarzen Haaren.

Schwarze Haare waren seit Eva denken konnte gleichbedeutend

mit Fremdheit, Zigeunerhaftigkeit und Gefahr. Dabei war Jür-

gens Familie, waren die Schoormanns alles andere als Zigeuner.

Jürgen steuerte etwas zu nah an den Bürgersteig heran. Das

Reifengummi quietschte gegen die Bordsteinkante. Stefan gri©

nach Evas Hand. Eva spürte, wie der Schnee, der sich in ihrem

Ausschnitt verfangen hatte, schmolz und kalt und nass wurde.

Jürgen stellte den Motor ab und blieb noch einen kurzen Mo-

ment lang im Wagen sitzen. Er würde dieses Bild nicht verges-

sen: Die beiden misstrauischen Frauen, eine dicke und eine klei-

ne, oben am Fenster über dem Wort »Haus«, im irrigen Glauben,

unsichtbar zu sein, der glotzende Junge mit dem Schlitten, der

massige Vater, der zu Allem bereit in der Tür der Gaststätte

stand. Und alle sahen ihn an, wie einen Angeklagten, der zum

ersten Mal das Gericht betritt und auf seiner Bank Platz nimmt.

Bis auf die eine, die war nur voll ängstlicher Liebe: Eva.

Jürgen schluckte und fingerte einen in Seidenpapier einge-

schlagenen Blumenstrauß vom Beifahrersitz. Er stieg aus und

ging auf Eva zu. Er wollte lächeln, doch etwas kni© ihm plötzlich

kurz aber schmerzhaft von hinten in die Wade. Ein Dackel. Eva

wies ihn zurecht. »Purzel! Lass das! Stefan, bring Purzel rein!

Ins Schlafzimmer!« Stefan schloss den Mund, gri© sich den

Hund und trug das strampelnde Tier ins Haus.

Sie sprachen fast gleichzeitig. »Tut mir leid, sie sind so neu-

gierig.«

sich Stefan und zog ihn zu sich heran. »Bist du verrückt!? Ich

habe mein neues Kleid an!« Stefan bleckte die Vorderzähne, sein

schuldbewusstes Gesicht. Eva wollte schimpfen, aber in diesem

Moment tauchte Jürgens gelber Lloyd (»Wer den Tod nicht

scheut, fährt Lloyd« war seine Meinung.) am Ende der Straße auf.

Eva ließ Stefan los, der sich verkrümelte. Sie sah dem Wagen ent-

gegen. Und ihr Herz sprang los wie ein verschrecktes Kalb. Eva

verwünschte ihr Nervenkostüm, womit sie sogar schon beim

Arzt gewesen war. Sollte sie die Tropfen nehmen, die Doktor

Gorf ihr aufgeschrieben hatte? Diese Tropfen, die sie beruhigen

sollten? Aber wenn sie davon träge würde? Dick wie ihre Schwes-

ter? Rammdösig? Doof? – Aber das musste sie nicht jetzt ent-

scheiden! Jetzt kam Jürgen. Ruhig atmen. Was Eva nicht gelang.

Denn sie wusste, ihre Eltern würden durch nichts davon zu über-

zeugen sein, dass Jürgen ihre Tochter glücklich machen könnte.

Nicht mal durch sein Geld. Ihre Eltern würden auch nicht be-

greifen, warum sie Jürgen liebte. Sie würden seine Überlegenheit

nicht sehen, seine klugen Augen, seine Arme, die sie so fest um-

armen konnten, als habe er alle Zeit der Welt und werde sie im-

mer behüten.

Der gelbe Wagen kam langsam heran. Stefan stand mit o©e-

nem Mund neben Eva. Er liebte große Autos und hatte außerdem

große Polypen. Der Vater schippte immer noch an derselben

Stelle, obwohl dort kein Schnee mehr lag. Eva erfasste außerdem

mit einem schnellen Blick, dass ihre Mutter und Annegret weiter

ganz schamlos nebeneinander oben im Fenster standen, erwar-

tungsvoll wie im Theater, wenn jeden Moment der Vorhang auf-

zugehen verspricht.

Eva konnte Jürgens Gesicht hinter der Windschutzscheibe

erkennen. Er sah müde aus. Und so ernst. Er sah sie gar nicht an.

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zwei echtsilbernen Armreifen und ihre reingoldene Kleeblatt-

brosche. Edith Bruhns trug heute ihren ganzen Schmuck, was

Eva noch nie erlebt hatte. Sie sah aus wie ein kleiner, trauriger

auf dem Dachboden gelagerter Christbaum, der im Frühjahr ver-

brannt werden sollte. Und in seinen braunen Zweigen hingen

noch vergessene Reste des Heiligen Abends.

›Immerhin passend zum dritten Advent‹, dachte Eva.

»Herr Schorrmann, was haben Sie denn für ein Wetter mitge-

bracht? Rosen im Dezember!? Wo haben Sie die denn aufgetrie-

ben, Herr Schorrmann?«

»Er heißt Schoormann, Mutti, mit Doppel-o!«

In der Stube, die an Sonntagen auch als Esszimmer genutzt

wurde, trat Ludwig Bruhns Jürgen mit Spießgabel und Geflügel-

schere entgegen. Er reichte Jürgen zur Begrüßung sein rechtes

Handgelenk. Jürgen entschuldigte sich. Der Schnee. »Keine Sor-

ge. Ist alles noch im grünen Bereich. Ist eine große Gans, 16

Pfund. Die braucht ihre Zeit.« Annegret schob sich aus dem Hin-

tergrund an Jürgen heran. Sie trug ihre blonden Haare kurz wie

Jean Seeberg, was die Rundung ihres Gesichtes noch betonte, sie

hatte einen etwas zu schwarzen Lidstrich und etwas zu orangen-

farbenen Lippenstift aufgelegt. Joachim gab ihr lächelnd die

Hand. Annegret blieb ernst: »Mit ihr kriegen Sie was Reelles.

Glückwunsch.« Jürgen schaute irritiert, ganz o©ensichtlich un-

sicher, ob sie die Gans oder Eva meinte. Aber er fragte nicht

nach.

Kurz darauf saßen alle am Esstisch und blickten auf den

dampfenden Kadaver. Daneben standen die von Jürgen mitge-

brachten gelben Rosen in einer Kristallvase wie eine Grabbeiga-

be. Das Radio spielte leise und unkenntlich Sonntagsmusik. Auf

dem Bü©etschrank drehte sich eine Weihnachtspyramide, ange-

»Was für ein Empfangskomitee! Wie komme ich denn zu der

Ehre?«

Eva konnte sehen, dass auch Jürgen nicht recht wusste, wie

sie sich unter den Augen von Evas Familie begrüßen sollten.

Letztlich schüttelten sie sich die Hand. Und in dem Moment, als

Jürgen Evas Hand losließ, verschwanden Eltern und Schwester

von ihren Ausgucken wie Kaninchen in ihren Löchern. Eva und

Jürgen waren allein. Ein Eiswind fegte über die Berger Straße.

»Hast du Hunger auf Gans?«

»Ich denke seit Tagen an nichts anderes.«

»Du musst dich nur mit meinem kleinen Bruder verstehen.

Dann hast du alle auf deiner Seite.«

Sie lachten, ohne zu wissen worüber. Jürgen steuerte auf die

Tür der Gaststätte zu, aber Eva lenkte ihn nach links, zum Haus-

eingang. Sie wollte Jürgen nicht durch die halbdunkle Gaststube

mit deren Mief nach vergossenem Bier, Bratfett, ewigem

Schweiß und feuchter Asche führen. Also stiegen sie durch das

saubere, gebohnerte Treppenhaus mit seinem schwarzen, ge-

schwungenen Geländer in die Wohnung hinauf, die über der

Gasstätte lag. Das zweistöckige Haus war nach dem Krieg neu

aufgebaut worden, nachdem es bei dem verheerendsten Luftan-

gri© auf die Stadt fast völlig zerstört worden war. Nur der lange

Tresen der Traditionsgaststätte »Deutsches Haus« war übrig

geblieben und stand am nächsten Morgen unter freiem Himmel,

dem Wetter schutzlos ausgesetzt.

Oben in der Wohnungstür wartete Evas Mutter, in ihrem hell-

braunen Kostüm, und setzte das Lächeln auf, das normalerweise

für die Stammkunden der Gaststätte reserviert war. Sie hatte

ihre zweireihige Granathalskette angelegt, außerdem ihre ver-

goldeten Ohrstecker mit den baumelnden Zuchtperlen, ihre

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sene Stelle gelegt hatte. Auch für die linke Armlehne hatte sie

eine kleine gelbe Decke gehäkelt. Dort saß ihr Vater nach Mitter-

nacht, wenn er aus der Gaststätte kam und die Füße hochlegte auf

den kleinen, schaukelnden, gepolsterten Hocker, was ihm der

Arzt empfohlen hatte. Auf dem dunklen Sofatisch lag die Wo-

chenzeitung »Der Hausfreund« aufgeschlagen beim Kreuzwort-

rätsel, das zu einem Viertel gelöst war. Das kostbare Fernsehgerät

schützte eine weitere Häkeldecke. Jürgen zog Luft durch die Nase

ein und bedankte sich höflich für den gefüllten Teller, den ihre

Mutter ihm nun hinstellte. Ihre Mutter drehte den Teller so, dass

er besonders appetitlich aussah. Dabei schaukelten ihre Zucht-

perlohrringe. Ihr Vater nahm seine Schürze ab, setzte sich neben

Eva und sah den Gast erwartungsvoll an. Er hatte einen kleinen,

grünen Fetzen an der Wange. Petersilie wahrscheinlich. Eva

strich ihm schnell über das weiche Gesicht. Ihr Vater wiederhol-

te die Geste automatisch. Eva bekam Tränen in die Augen. Sie

wurde wütend auf Jürgen mit seinem abschätzigen Blick. Gut, er

war anderes gewohnt. Doch er musste doch sehen, wie bemüht

ihre Eltern waren, wie rechtscha©en, wie liebenswert.

Alle aßen zunächst schweigend. Annegret, wie immer in Ge-

sellschaft, hielt sich zurück, stocherte scheinbar appetitlos in

ihrem Essen herum. Später würde sie in der Küche die Reste von

den Tellern in sich hineinstopfen. Und nachts würde sie in der

Vorratskammer an die kalte Gans gehen. Sie reichte Jürgen das

Gewürzrondell.

»Nehmen Sie Pfe©er, Herr Schoooormann? Salz? Schicke Kra-

watte.«

Jürgen lehnte alle Gewürze ab, was Evas Vater ohne aufzuse-

hen registrierte.

»Bei mir hat noch nie einer nachwürzen müssen.«

trieben von drei flackernden Kerzen. Eine vierte durfte noch

nicht brennen. Sie stand unberührt da. In der Mitte der Pyrami-

de verharrten ebenso unbewegt vor einem angedeuteten Stall

Maria, Josef und das neugeborene Kind in einer Krippe. Um sie

herum eilten fünf Hirten, acht Schafe, die Heiligen Drei Könige

und deren drei Kamele emsig in einem ewigen Kreis. Nie würden

sie die Heilige Familie in ihrem Stall erreichen, nie dem Christ-

kind ihre Geschenke darbringen. Eva hatte das als Kind traurig

gefunden. Schließlich hatte sie dem Mohrenkönig sein kleines,

rotes Holzpäckchen entrissen und vor die Krippe gelegt. Im

nächsten Weihnachtsjahr war das Päckchen dann verschwun-

den, der Mohrenkönig kreiste mit leeren Händen. Das Geschenk

tauchte nie wieder auf. Die Eltern erzählten diese Geschichte

jedes Jahr in der Vorweihnachtszeit, wenn sie die Pyramide vom

Dachboden holten. Damals war Eva fünf Jahre alt gewesen, doch

sie konnte sich nicht daran erinnern.

Evas Vater schnitt der Gans mit einer Geflügelschere längs

durch die Brust. Anstelle eines Herzens saßen bei dieser nun ge-

backene Maronen, Äpfel und Speck.

»Hat die mal gelebt, die Gans?« Stefan sah seinen Vater fra-

gend an.

Der zwinkerte Jürgen zu. »Nein, das ist eine künstliche Gans.

Nur zum Essen.«

»Dann Brust!« Stefan hielt seinem Vater den Teller hin.

»Schnu©el, zuerst der Gast.« Evas Mutter nahm Jürgens Tel-

ler, das gute Dresdener Geschirr mit den wuchtigen grünen

Phantasie-Ranken, und hielt diesen ihrem Mann hin. Eva beob-

achtete Jürgen, der ihr gegenüber saß, wie er sich in der guten

Stube der Bruhns umsah. Er betrachtete das durchgesessene Sofa

mit der gelbkarierten Decke, die ihre Mutter über eine zerschlis-

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Doch niemand wollte wissen »Welche?«. Und diese nicht ge-

stellte Frage stand plötzlich unangenehm im Raum. Jürgen räus-

perte sich.

»Mein Vater ist krank. Er wird die Firma nicht mehr lange lei-

ten können.«

»Wie traurig, das zu hören«, sagte die Mutter.

»Was fehlt ihm denn?« Der Vater reichte Jürgen die Sauciere.

Aber Jürgen war nicht bereit, eine weitere Auskunft zu geben. Er

kleckerte Soße auf sein Fleisch.

»Es schmeckt ausgezeichnet.«

»Das freut mich.«

Eva wusste, dass Jürgens Vater an zunehmender Verkalkung

litt, obwohl er erst Ende 50 war. Jürgen hatte ihr nur einmal da-

von erzählt. Es gab wohl gute und schlechte Tage. Aber die Ab-

schnitte der Unberechenbarkeit nahmen zu. »Mein Vater ist

dann wie ein großes, ungezogenes Kind. Man kann nicht mehr

mit ihm reden. Er wirft mit Dingen um sich, wenn er seinen Wil-

len nicht bekommt.«

Eva hatte Jürgens Eltern noch nicht kennengelernt. Zunächst

war der Besuch des Bräutigams bei den Eltern der Braut an der

Reihe. Eva hatte mit Jürgen darüber gestritten, ob er schon beim

ersten Kennenlernen um ihre Hand anhalten sollte. Jürgen war

dagegen gewesen. Evas Eltern würden ihn doch für unseriös hal-

ten, wenn er derart schnell mit der Tür ins Haus fiele. Oder

schlimmer noch glauben, dass etwas unterwegs sei. Diese Aus-

einandersetzung zwischen ihnen war ohne Ergebnis geblieben.

Eva versuchte, in Jürgens Gesicht zu lesen, ob er vorhatte, den

Vater heute zu fragen. Aber Jürgens Blick verriet nichts. Sie be-

trachtete seine starken, festen Hände, die etwas verkrampfter

als sonst das Besteck hielten. Eva hatte noch keinen intimen Ver-

»Ich habe gehört, Sie sind Krankenschwester? Im Stadtkran-

kenhaus?«

Annegret zuckte die Schultern, als sei das nicht der Rede wert.

»In welcher Abteilung?«

»Säuglinge.«

Es entstand eine Pause, in der plötzlich alle den Ansager im

Radio verstanden: »Aus Gera grüßt zum 3. Advent Oma Ella die

Familie in Wiesbaden und besonders ihren achtjährigen Ne©en

Thomas.« Musik setzte ein.

Edith lächelte Jürgen zu.

»Und was machen Sie beruflich, Herr Schoooormann?«

»Ich habe Theologie studiert. Inzwischen arbeite ich in der

Firma meines Vaters. In der Leitung.«

»Versandhandel? Oder? Ihre Familie macht in Versandhan-

del?«, fragte der Vater.

Eva sah ihren Vater an. »Jetzt stellt euch doch nicht dümmer

als ihr seid!«

Alle sahen sich an und lachten dann befreiend, auch Stefan,

obwohl er nichts verstand. Evas Mutter nickte dann: »Wir haben

natürlich auch den Schoormann-Katalog.«

Stefan sang im Falsett den Werbespruch: »Schoormann hat’s,

Schoormann bringt’s. Ding-Dong!«

Jürgen lächelte: »Haben Sie denn auch schon etwas bestellt?

Das ist die entscheidende Frage.«

Edith erwiderte prompt: »Selbstverständlich. Einen Haarfön

und eine Regenjacke. Wir waren sehr zufrieden. Aber Sie sollten

mehr Kurzwaren anbieten. Dafür geht man nicht gerne los.«

Jürgen nickte verständnisvoll und war in diesem Moment

ganz Kaufmann: »Der Versandhandel wird ohnehin einige Ver-

änderungen erfahren.«

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zählige Menschen kennengelernt. Sie konnte sofort einen an-

ständigen von einem unanständigen Menschen unterscheiden.

»Diese schwarzen Augen ...«

»Mutti, seine Augen sind dunkelgrün! Musst du nur mal rich-

tig hingucken.«

»Ich meine, du musst es ja wissen. An der Familie gibt es ja

auch nichts auszusetzen. Im Gegenteil. Aber ich bin ehrlich, ich

kann nicht anders, Kind. Der macht dich nicht glücklich.«

»Jetzt lern ihn doch erstmal kennen.«

Evas Mutter goss sprudelndes Wasser in das gefüllte Ka©ee-

sieb. Es duftete nach der guten Sorte.

»Er hat so was Dunkles an sich. Er ist so in sich gekehrt.«

»Er ist nachdenklich! Jürgen wollte ja eigentlich auch Pfarrer

werden ...«

»Gott bewahre.«

»Er hat sogar schon fünf Semester Theologie studiert. Aber

dann hat er mich kennengelernt. Und ihm wurde klar, dass er

das mit dem Zölibat niemals durchhalten würde.«

Eva lachte, aber ihre Mutter blieb ernst. »Wegen seinem Vater

hat er doch bestimmt sein Studium abgebrochen? Weil er die Fir-

ma übernehmen muss.«

»Ja.« Eva seufzte, ihre Mutter war nicht zu Scherzen aufgelegt.

Beide blickten auf den blubbernd versickernden Ka©ee im Filter.

In der guten Stube saßen der dunkle Jürgen und Evas Vater bei

einem Cognac. Das Radio spielte unermüdlich. Jürgen rauchte

eine Zigarette. Dabei betrachtete er das wuchtige, gut gemeinte

Ölgemälde über dem Bu©et. Eine Windmühle im Abendrot. Etli-

che anatomisch etwas abenteuerliche Kühe grasten auf einer

ausgesprochen saftigen Wiese. Neben der Windmühle hängte

eine Frau in Rot Wäsche auf. Ein wenig entfernt von ihr am rech-

kehr, wie Dr. Gorf es nennen würde, mit Jürgen gehabt. Dabei

wäre sie bereit, sich hinzugeben, zumal sie ihre Unschuld schon

vor 3 Jahren verloren hatte. Aber Jürgen dachte konservativ. Er

hatte klare Vorstellungen und Werte: Kein Beischlaf vor der Ehe.

Die Frau hatte sich dem Mann unterzuordnen. Und Eva hatte

nichts dagegen, geführt zu werden. Beim Tanzen nicht und

nicht im Leben. Sie wusste meist nicht so genau, wo sie hinwoll-

te. Eigentlich war sie immer ein wenig ratlos. Sie war verloren

und Jürgen hatte sie gefunden. Er hatte so eine undurchdringli-

che, spöttische Art, sie von der Seite anzusehen, als lese er in

ihrem Inneren, als erkenne er all ihre Gedanken. Eva würde au-

ßerdem durch diese Hochzeit gesellschaftlich deutlich aufstei-

gen. Von der Bornheimer Kneipentochter zur Ehefrau eines an-

gesehenen Frankfurter Unternehmers. Eva wurde schwindelig

bei dem Gedanken. Aber es war ein freudiger Schwindel.

Nach dem Mittagessen bereiteten Eva und ihre Mutter in der

geräumigen Küche gleich den Ka©ee vor. Annegret hatte sich

verabschiedet. Sie musste zur Spätschicht im Stadtkranken-

haus, ihre Säuglinge päppeln. Und sie machte sich ohnehin

nichts aus Kuchen mit Buttercreme.

Eva schnitt den Frankfurter Kranz in dicke Scheiben, ihre

Mutter malte Ka©eebohnen in einer kleinen elektrischen Mühle.

Edith Bruhns starrte auf das aggressiv röhrende Gerät. Nachdem

das Geräusch verstummt war, sagte sie:

»Er ist so gar nicht dein Typ, Evachen. Ich meine, wenn ich an

Peter Kraus denke, der war doch immer dein Schwarm ...«

»Nur weil Jürgen nicht blond ist?«

Eva war erschrocken, denn es war o©ensichtlich, dass ihre

Mutter Jürgen nicht mochte. Und Eva hielt viel von der Men-

schenkenntnis ihrer Mutter. Als Wirtin hatte Edith Bruhns un-

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»Das ›Deutsche Haus‹ hat einem Cousin von meiner Frau ge-

hört und der wollte es verkaufen. Das passte dann wie Arsch auf

Eimer. Entschuldigung. Nichts für ungut. Wir haben die Gele-

genheit beim Schopf gepackt und ’49 neu erö©net. Das haben wir

nie bereut.«

»Ja, Berger Straße lohnt sich ...«

»Das anständige Drittel, das will ich man aber mal betonen,

Herr Schoormann!« Jürgen lächelte beschwichtigend. »Und wo

haben Sie den Krieg verbracht?

Ludwig schien die Frage nicht gehört zu haben und sprach

weiter. »Na ja, seit ich meinen Bandscheibenvorfall hatte, im

Oktober, da hat mir der Arzt gesagt, ich soll zumachen! Ich habe

ihm mal meine Rente vorklamüsert. Und seitdem machen wir

erst ab fünf auf.«

Aber Jürgen hakte nach: »Waren Sie eingezogen?«

»Ach so. Ja. Feldküche. An der Westfront. Das waren keine

schönen Zeiten.« Evas Vater kippte den Rest des Cognacs herun-

ter.

Pa©-Pa©-Pa©! Stefan hatte seinen Panzer losgelassen. Dieser

kämpfte sich unter heftigem Getöse über den Teppich wie durch

eine östliche Sumpflandschaft. Er überrollte eine kleine Solda-

tenfigur nach der anderen.

»Stefan! Mach das im Flur!«

Aber Stefan sah nur Jürgen an, der unbeholfen lächelte. Er

mochte Kinder, hatte aber gleichzeitig Angst vor ihrer Direktheit.

»Zeigst du mir mal deinen Panzer, Stefan?«

Stefan stand auf und reichte Jürgen das Blechspielzeug.

»Der ist fast doppelt so groß wie der von Thomas Preisgau.«

»Thomas ist sein bester Freund«, erklärte Ludwig und

schenkte noch einmal Cognac in beide Gläser nach.

ten Bildrand stand eine weitere Gestalt. Sie war unscharf gemalt,

wie nachträglich hineinskizziert. Es war nicht ersichtlich, ob es

der Kuhhirte war, der Müller oder ein Fremder.

Stefan kniete auf dem Teppich und stellte eine Plastikarmee

zum Kampf auf. Der Dackel hatte das Schlafzimmer verlassen

dürfen, lag bäuchlings auf dem Teppich und beobachtete nun

träge blinzelnd die Soldaten auf Augenhöhe. Stefan bildete lange

Reihen. Er besaß auch einen Panzer aus Blech, den man aufzie-

hen konnte. Dieser lauerte noch unberührt in seiner Schachtel.

Evas Vater erzählte Jürgen von der Familie Bruhns, wobei er

darauf achtete, einen o©enen und ehrlichen Eindruck zu ma-

chen. »Ja, ich stamme aus Norddeutschland, Duhnen, ist bei

Cuxhaven gelegen, datt hört man wouhl. Meine Eltern hatten

einen Lebensmittelhandel. In der Hauptstraße. Also ein großes

Geschäft. Was Reelles. Meine Mutter ist lange tot, mein Vater, der

kramt noch rum, lebt bei meiner Schwester. Meine Frau, die

habe ich an der Hotelfachschule in Hamburg kennengelernt. Das

war 1937. Meine Frau stammt aus einer Künstlerfamilie, man

glaubt es kaum. Ihre Eltern waren beide Musiker, in der Philhar-

monie. Er erste, sie zweite Geige. In der Ehe war’s genau anders

rum. Die Mutter meiner Frau, die lebt noch, in Hamburg. Meine

Frau, die sollte auch die Geige spielen, nur sie hat zu kurze Fin-

ger. Da wollte sie Schauspielerin werden. Aber das wurde ihr

strengstens verboten. Dann wollte sie wenigstens die Welt sehen

und man schickte sie auf die Hotelfachschule.«

»Und wie hat es Sie hierher verschlagen?« Jürgen fragte höf-

lich interessiert. Der Gänsebraten hatte ihm gut geschmeckt. Er

mochte Ludwig Bruhns, der ihm so eifrig Rechenschaft über sei-

ne Familie ablegte. Eva hatte den sinnlichen Mund von ihrem

Vater geerbt.

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»Aber Sie bleiben! Sie probieren noch den Frankfurter

Kranz!«

»Der ist mit echter Butter. Ein ganzes Pfund!« ergänzte Edith.

»Und du hast auch noch gar nicht mein Zimmer gesehen. Ich

habe auch Sachen, die rauchen!« Und Stefan schob die Unterlip-

pe vor.

Jürgen begleitete Eva in den Flur. Sie hatte sich eilig umgezo-

gen und trug nun ihr unverfängliches dunkelblaues Bürokostüm.

Auch das saß etwas enger als noch vor vier Wochen. Verflixte

Weihnachtszeit! Jürgen half ihr in ihren hellkarierten Wollmantel

und sagte dabei in komischer Verzweiflung: »Das hast du arran-

giert, ein Test, oder? Du willst mich mit deiner Familie alleine

lassen und sehen, wie ich klarkomme?«

»Sie fressen dich nicht.«

»Dein Vater hat doch schon ganz blutunterlaufene Augen.«

»Das kommt von seinen Schmerztabletten. In einer Stunde

bin ich wieder da. Es geht bestimmt um diese Schadensersatz-

klage. Diese Maschinenteile aus Polen, die nicht funktionieren.«

»Soll ich dich hinfahren?«

»Es holt mich gleich jemand ab.«

»Ich komme mit. Nachher wirst du noch kompromittiert.«

Eva zog sich ihre feinen, beigen Hirschlederhandschuhe über,

das Nikolausgeschenk von Jürgen.

»Der einzige Kunde, der mich je kompromittiert hat, warst du.«

Die beiden sahen sich an. Eva zog Jürgen in die Flurecke neben

der Garderobe, wo die Eltern sie nicht sehen konnten. Sie küss-

ten sich, lächelten, küssten sich noch einmal. Eva spürte Jürgens

Erregung, sah in seinen Augen, dass er sie begehrte. Liebte?

Eva machte sich los. »Bitte, frag ihn heute, ja?«

Jürgen antwortete nicht.

»Ich hatte auch mal so einen. Da kam sogar Rauch hier vorne

aus dem Rohr«, sagte Jürgen zu Stefan.

»Na und. Ich kriege vom Weihnachtsmann ein Luftgewehr!«

Stefan wandte sich schnippisch ab. Jürgen ärgerte sich, sein

erster Annäherungsversuch war gescheitert.

»Das weißt du doch noch gar nicht.« Ludwig hielt Stefan fest.

»Ich kriege immer alles, was ich mir wünsche.«

Ludwig warf Jürgen einen entschuldigenden Blick zu. »Das

ist leider wahr. Der Junge ist völlig verwöhnt. Wir haben ja auch

gar nicht mehr damit gerechnet, meine Frau und ich, dass noch

was nachkommt nach den Mädchen.«

In diesem Moment klingelte das Telefon im Flur. Stefan war

der Erste am Apparat und schnurrte seinen Spruch ab: »Hier

spricht Stefan Bruhns bei der Familie Bruhns. Wer spricht dort

bitte?« Stefan lauschte. Dann rief er: »Eva, Herr Kortmann! Für

dich!« Eva kam aus der Küche, sie wischte sich die Hände an ih-

rer Schürze ab und nahm den Telefonhörer entgegen. »Herr

Kortmann? Wann denn? Jetzt sofort? Aber wir sind hier ...«

Eva wurde unterbrochen. Sie hörte zu und sah die beiden Män-

ner durch die geö©nete Tür am Tisch sitzen. Sie lächelten vage

und sahen schon ganz vertraut miteinander aus. Dann sprach Eva

ins Telefon: »Gut, ja, ich komme.« Sie legte den Hörer auf.

»Es tut mir so leid, Jürgen. Aber das war mein Chef. Ich muss

arbeiten!«

Ihre Mutter trat mit dem Ka©eetablett ins Wohnzimmer.

»Am Adventssonntag?«

»Es ist anscheinend dringend. Da ist irgendein Gerichtster-

min in der nächsten Woche.«

»Na, Pflicht ist Pflicht und Schnaps ist Schnaps, sage ich im-

mer.« Ludwig erhob sich. Auch Jürgen stand auf.

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das »lustige Dorf« genannt. Im unteren Teil der Berger Straße gab

es einige einschlägige Lokale. »Bei Susi« und die »Romantikbar«.

Eva dachte an Jürgen, der jetzt wieder an den Tisch zurückgekehrt

war, wie er sich hinsetzte und den von ihr gebackenen Frankfurter

Kranz aß, aber kaum schmeckte. Denn er überlegte sicher nervös,

ob er ihre Familie seiner Familie gesellschaftlich zumuten konnte

und ob er sie genug liebte, um sie zu heiraten und den Rest seines

Lebens mit ihr zu verbringen.

Die Kanzlei lag in einem grauen, vielstöckigen Bürogebäude

an einer der Hauptstraßen der Stadt. David Miller stieg mit Eva

in einen kleinen Fahrstuhl. Die Türen schlossen sich automa-

tisch, zweimal. Doppeltüren. David drückte auf die Acht, sah

dann an die Decke der Kabine, als erwarte er etwas. Eva sah eben-

falls nach oben auf eine verschraubte Klappe mit unzähligen

kleinen Löchern. Eine Lüftungsö©nung. Eva fühlte sich beengt.

Ihr Herz begann schneller zu klopfen. David sah Eva plötzlich an.

Von oben herab, obwohl er nicht viel größer war als sie, er schien

ihr unangenehm nah. »Wie war noch Ihr Name?« – »Eva Bruhns.«

In diesem Moment ö©neten sich die Türen. Sie stiegen aus,

gingen nach links, klingelten an einer schweren Glastür. Ein

Fräulein in Hellgrün trabte von der anderen Seite heran und

schloss ihnen auf. Eva und das Fräulein schätzen sich kurz ab.

Gleiches Alter, ähnliche Figur. Das Fräulein war dunkelhaarig,

hatte eine schlechte Haut, aber schöne graue Augen.

Eva und David folgten dem Fräulein über einen langen Flur.

Eva sah dabei auf das eng anliegende Kostüm, die Falten, die es

bei jedem Schritt am Gesäß warf. Die schwarzen Pumps waren

neu und modisch. Wahrscheinlich von Poppek in der Wiesbade-

ner. Ein Geräusch drang aus einem Zimmer am Ende des Flurs,

wie ein Schluchzen. Aber je näher sie dem Zimmer kamen, umso

Eva verließ die Wohnung, Jürgen wandte sich wieder dem

Wohnzimmer zu. Dort warteten die Eltern Bruhns am Ka©ee-

tisch wie Schauspieler auf einer Bühne auf ihr Stichwort.

»Wir sind ganz ungefährlich, Herr Schoormann.«

»Völlig harmlos, Herr Schooormann.«

»Nur Purzel beißt manchmal«, rief Stefan vom Teppich her.

»Na, dann probiere ich mal den Kuchen.«

Jürgen trat zurück in die behaglich miefige Wärme der

bruhnsschen Stube.

Eva trat vor das Haus. Draußen dämmerte es schon. Die

Schneedecke leuchtete sanftblau. Unter den Laternen lagen

gelborange, weiche Kreise. Mitten auf der Straße stand ein gro-

ßer Wagen mit laufendem Motor und qualmendem Auspu©. Der

Fahrer war ein junger Mann, der Eva knapp und ungeduldig mit

der Hand winkte einzusteigen. Eva setzte sich auf den Beifahrer-

sitz. Im Wagen roch es nach Zigarettenrauch und Pfe©erminz.

Der junge Mann kaute Kaugummi. Er reichte Eva nicht die Hand.

Er nickte nur kurz: »David Miller.« Dann gab er Gas. Er fuhr

schlecht Auto, zu schnell, er schaltete zu spät oder zu früh. Der

Motor jaulte und röchelte abwechselnd. Der Wagen geriet mehr-

mals auf der glatten Straße ins Rutschen. Eva hatte keinen Füh-

rerschein, aber sie konnte einen guten von einem schlechten

Fahrer unterscheiden. Sie musterte ihn aus dem Augenwinkel.

Dieser Fahrer hier hatte dichte rötliche Haare, ein wenig zu lang

im Nacken, Sommersprossen, feine helle Wimpern und schlanke

Hände, die seltsam unschuldig aussahen.

Sie schwiegen. Herr Miller hatte augenscheinlich kein Interes-

se an einem Gespräch. Sie fuhren in Richtung Innenstadt, die Re-

klamelichter leuchteten bald heller und bunter. Und vor allem

zunehmend in Rot. Bornheim wurde von den Einheimischen auch

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men. Aber er hatte Schwierigkeiten bei der Ausreise. Er wurde

am Flughafen festgehalten. Bitte.«

Da keiner der Herren Anstalten machte, Eva behilflich zu

sein, zog sie sich allein ihren Mantel aus und hängte ihn an einen

Garderobenständer hinter der Tür. Der Hellblonde wies auf ei-

nen Tisch und einen Stuhl an der Wand. Darauf standen benutz-

te Ka©eetassen und ein Teller mit ein paar übriggebliebenen

Spekulatius-Keksen. Eva liebte Spekulatius. Die Dinger waren

wahrscheinlich schuld daran, dass sie zugenommen hatte. Eva

setzte sich so, dass sie Herrn Gabis ins Gesicht sehen konnte,

und nahm die beiden Wörterbücher aus ihrer Handtasche. Ein

allgemeines und das wirtschaftliche Fachwörterbuch. Sie schob

den Keksteller zur Seite und legte die Bücher auf den Tisch.

Dann zog sie ihren Notizblock und einen Bleistift hervor. Das

hellgrüne Fräulein setzte sich auf die andere Seite des Tisches,

wo eine Stenografier-Maschine stand. Sie drehte knatternd ei-

nen Papierstreifen ein. Dabei ließ sie den Hellblonden nicht aus

den Augen. Sie hatte Interesse an ihm, er aber nicht an ihr, was

Eva schnell bemerkte. David Miller zog ebenfalls seinen Mantel

aus und setzte sich wie unbeteiligt auf einen Stuhl an der Wand

gegenüber, den Mantel über den Knien.

Alle warteten nun wie auf einen Startschuss. Eva blickte auf

die Kekse. Der knorrige Mann am Fenster drehte sich um. Er

wandte sich an den Mann auf dem Stuhl.

»Herr Gabis, bitte erzählen sie uns ganz genau, was am

23. September 1941 geschehen ist?«

Eva übersetzte die Frage, wobei sie sich über die Jahreszahl

wunderte. Es handelte sich also eher um einen Stra©all (aber der

müsste doch verjährt sein?) und nicht um eine Vertragssache.

Der Mann auf dem Stuhl sah Eva direkt ins Gesicht, o©ensicht-

leiser wurde es. Als sie schließlich vor der Tür stehen blieben,

war es ganz still. Vielleicht hatte sich Eva das Weinen auch nur

eingebildet.

Das Fräulein klopfte an, ö©nete dann die Tür zu einem über-

raschend engen Büro. Hier warteten drei Männer zwischen Zi-

garettenrauch und zahlreichen Aktenordnern, die auf Tischen,

in Regalen und auf dem Fußboden übereinanderlagen.

Einer der Männer, ein älterer, kleiner Herr, saß kerzengerade

in der Mitte des Raumes auf einem Stuhl, als sei das ganze Zim-

mer, das ganze Haus nur um ihn herum gebaut worden. Viel-

leicht sogar die ganze Stadt. Ein zweiter, jüngerer hellblonder,

Mann mit filigraner Goldrandbrille klemmte hinter einem

Schreibtisch, der voller Akten gepackt war. Er hatte sich einen

kleinen Platz frei geschoben, auf dem er jetzt schrieb. Er rauch-

te eine Zigarette und hatte vergessen, die Asche abzustreifen.

Gerade als Eva zu ihm hinsah, fiel ein langer Streifen auf seine

Notizen. Er wischte die Asche mechanisch auf den Boden. Kei-

ner der beiden Männer erhob sich, was Eva einigermaßen unhöf-

lich fand.

Der dritte Mann, eine knorrige Gestalt, drehte ihr sogar den

Rücken zu. Er stand am Fenster und sah hinaus in die Dunkel-

heit. Eva musste an einen Film über Napoleon denken, den sie

mit Jürgen gesehen hatte, in dem Napoleon, gespielt von Marlon

Brando, in dieser Art an einem Schlossfenster gestanden hatte.

Im Zweifel über seine soeben gemachte Eroberung. Und man

hatte sehen können, dass das eroberte Land vor dem Fenster mit

Ölfarben auf Pappe gemalt war.

Der hellblonde Mann hinter dem Schreibtisch nickte Eva zu.

Er wies auf den Mann auf dem Stuhl. »Das ist Herr Gabis aus War-

schau. Es sollte heute auch der polnische Dolmetscher mitkom-

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Eva nahm ihr allgemeines Wörterbuch vor, das schwer wog

wie ein Ziegelstein. Sie fand, dass es nicht Gäste, sondern Häft-

linge waren. Keine Herberge, sondern ein Block. Und kein Licht.

Kein Erleuchten. Eva sah den Mann auf dem Stuhl an. Der blick-

te zurück, als sei er gerade innerlich bewusstlos geworden.

Eva sagte, »es tut mir leid, ich habe das falsch übersetzt. Es

heißt: Wir fanden die meisten der Häftlinge erstickt durch das

Gas.«

Im Raum herrschte Stille. David Miller wollte sich eine Ziga-

rette anzünden. Sein Feuerzeug funktionierte lange nicht.

Rscht-Rscht-Rscht. Dann hustete der Hellblonde und sah den

knorrigen Mann an: »Wir können ja froh sein, dass wir über-

haupt einen Ersatz gefunden haben. So kurzfristig. Besser als

nichts.«

Der erwiderte: »Versuchen wir es weiter. Was bleibt uns ande-

res übrig?«

Der Hellblonde wandte sich an Eva. »Aber wenn Sie unsicher

sind, sehen Sie gleich nach.«

Eva nickte. Sie übersetzte langsam. Das Fräulein tippte eben-

so tröpfelnd auf ihrer Maschine. »Als wir die Türen ö©neten,

lebte noch ein Teil der Häftlinge. Ungefähr ein Drittel. Es war zu

wenig Gas gewesen. Die Prozedur wurde mit der doppelten Men-

ge wiederholt. Diesmal warteten wir zwei Tage, bis wir die Türen

wieder aufmachten. Die Aktion war ein Erfolg.«

Der Hellblonde stand jetzt hinter seinem Schreibtisch auf:

»Wer hat den Befehl gegeben?« Er schob die Ka©eetassen zur Sei-

te und legte nacheinander 23 Fotos auf Evas Tisch. Eva betrach-

tete die Gesichter von der Seite. Männer, vor weiß gekalkten

Wänden mit Nummern unter dem Kinn. Manche aber auch in

sonnigen Gärten, mit großen Hunden spielend. Gabis stand auf

lich erleichtert, in diesem Land endlich jemanden zu tre©en, der

ihn verstand. Er begann zu sprechen. Seine Stimme stand im

Widerspruch zu einer geraden Erscheinung. Es war, als lese er

aus einem verblassten Brief vor, von einem brüchigen Papier, als

könne er nicht alle Worte auf Anhieb entzi©ern. Er sprach außer-

dem einen ländlichen Dialekt, der Eva einige Schwierigkeiten

bereitete. Sie übersetzte stockend.

»An diesem Tag, es war warm, fast sogar schwül, da sollten

wir alle Fenster schmücken. Alle Fenster der Herberge mit der

Nummer elf. Wir schmückten sie mit Sandsäcken und versahen

alle Ritzen mit Stroh und Erde. Wir gaben uns viel Mühe, denn

wir durften keinen Fehler machen. Wir waren gegen Abend mit

unserer Arbeit fertig. Dann führten sie die 850 sowjetischen Gäs-

te in den Keller der Herberge hinab. Sie warteten die Dunkelheit

ab, damit man das Licht besser sehen konnte, nehme ich an.

Dann warfen sie das Licht in den Keller, durch die Lüftungs-

schächte, und schlossen die Türen. Am nächsten Morgen ö©ne-

te man die Türen wieder. Wir mussten als erste hineingehen. Die

meisten der Gäste waren erleuchtet.«

Die Männer im Zimmer sahen Eva an. Eva wurde leicht übel.

Etwas stimmte nicht. Das hellgrüne Fräulein tickerte zwar un-

beeindruckt auf ihre Maschine ein. Doch der Hellblonde fragte

Eva: »Sind Sie sicher, dass Sie das richtig verstehen?« Eva blätter-

te in ihrem Fachwörterbuch. »Entschuldigung. Ich übersetze

normalerweise bei Verträgen, also in Wirtschaftsfragen und bei

Verhandlungen wegen Schadenersatz ...«

Die Männer wechselten Blicke. Der Hellblonde schüttelte un-

geduldig den Kopf, doch der knorrige Mann am Fenster nickte

ihm besänftigend zu. David Miller sah Eva durch den Raum hin

abschätzig an.

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Josef Gabis erschien neben ihr. Er machte eine kleine Verbeu-

gung und bedankte sich höflich. Eva nickte ihm zu. Durcheinan-

der. Sie sah durch die geö©nete Bürotür, dass der knorrige Mann

sie von seinem Patz am Fenster aus beobachtete. David Miller

kam auf den Flur, wobei er sich seinen Mantel überzog. »Ich fah-

re Sie.« Es gefiel ihm sichtlich nicht.

In Davids Wagen schwiegen sie wieder. Die Wischer bewegten

sich unruhig, verscheuchten die unzähligen Flocken von der

Scheibe. David war aufgebracht. Eva konnte seine Wut spüren.

»Es tut mir leid, aber ich bin nur eingesprungen. Normaler-

weise habe ich nur mit Verträgen zu tun ... Das war ja furchtbar,

was der Mann da ...«

Der Wagen schlitterte knapp an einer Laterne vorbei. David

fluchte leise.

»Wovon hat er gesprochen? Eine Begebenheit aus dem Krieg?«

David sah Eva nicht an. »Ihr seid alle so ignorant.«

»Wie bitte?«

»Für euch kamen `33 die kleinen, braunen Männchen in ei-

nem Raumschi© und landeten in Deutschland, was? `45 haben

sie sich dann wieder verzogen, nachdem sie euch armen Deut-

schen diesen Faschismus aufgezwungen hatten.«

Erst als er länger sprach, hörte Eva, dass er kein Deutscher

war. Er hatte einen leichten Akzent, amerikanisch vielleicht.

Und er setzte die Worte sehr präzise. Als habe er alles, was er

sprach, vorher einstudiert.

»Ich möchte bitte aussteigen.«

»Sie sind eins von diesen Millionen dummen, ahnungslosen

Fräuleins! Das habe ich doch schon gesehen, als Sie eingestiegen

sind. Wissen Sie, was Ihr Deutschen getan habt!? Ihr habt nicht

nur das Tor zur Hölle geö©net. Ihr habt die Hölle neu erfunden!«

und trat an den Tisch. Er blickte lange auf die Fotos und zeigte

dann so plötzlich auf eines, dass Eva zusammenzuckte. Auf dem

Bild hatte ein jüngerer Mann ein dickes Kaninchen im Nacken

gepackt und präsentierte dieses stolz lächelnd der Kamera. Die

Männer im Zimmer wechselten zufriedene Blicke und nickten.

Ihr Vater hatte auch Kaninchen gezüchtet, dachte Eva, in ihrem

Schrebergarten außerhalb der Stadt, wo er auch das Gemüse für

die Küche zog. In kleinen Verschlägen saßen etliche, ewig kau-

ende Tiere. Als Stefan eines Tages verstand, dass er die seidigen

Gefährten nicht nur streichelte und mit Löwenzahn fütterte

sondern auch aß, hatte er einen schlimmen Schreianfall bekom-

men. Ihr Vater hatte die Kaninchen abgescha©t.

Später musste Eva die Übersetzung der Aussage unterschrei-

ben. Ihr Name sah anders aus als sonst. Wie von einem Kind ge-

schrieben, unbeholfen und rundlich. Der Hellblonde nickte ihr

abwesend zu. »Danke. Abrechnung machen wir über Ihre Agen-

tur?« David Miller erhob sich von seinem Stuhl an der Wand.

»Warten Sie auf dem Flur. Zwei Minuten.«

Eva zog ihren Mantel an und ging auf den Flur hinaus, wäh-

rend David auf den Hellblonden einredete. Sie verstand »Unge-

eignet. Ganz ungeeignet!«. Der Hellblonde nickte, gri© zu einem

Telefon und wählte eine Nummer.

Eva trat an eines der hohen Flurfenster und blickte hinaus in

den dunklen Hinterhof. Es hatte zu schneien begonnen. Dicke,

schwere Flocken. Aus dem Hochhaus gegenüber erwiderten un-

zählige schwarze Fensterhöhlen menschenleer und stumm Evas

Blick. Eva dachte: Dort wohnt keine Menschenseele. Nur Büros.

Auf der Heizung unter dem Fenster lagen drei dunkle Wollhand-

schuhe zum Trocknen. Sie fragte sich: Wem die wohl gehörten?

Wem gehörte der einzelne Handschuh?

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trug nun ihre Arbeitskleidung: schwarzer Rock und weiße Bluse,

darüber eine weiße Schürze, ihre bequemen beigen Schuhe. Sie

flüsterte besorgt: »Was ist mit dir passiert? Bist du gestürzt?«

Eva schüttelte unwillig den Kopf. »Hat er gefragt?« »Rede mit

deinem Vater!« Edith wandte sich ab und bediente weiter.

Eva ging in die Küche. Ihr Vater schuftete hier zusammen mit

zwei Hilfskräften. Ihr Vater in seiner weißen Jacke, der dunklen

Hose, seine Kochmütze auf dem Kopf, den Bauch immer ein we-

nig nach vorn geschoben, was ihm einen komischen Ausdruck

verlieh. Eva flüsterte: »Hat er gefragt?« Ihr Vater ö©nete einen

Ofen, aus dem ihm eine ungeheure Dampfwolke entgegen-

schlug. Er schien es gar nicht zu bemerken. Er wuchtete eine

große Form mit zwei ganzen braunen Gänsen aus dem Ofen. Da-

bei sah er seine Tochter nicht an. »Netter junger Mann. Ordent-

lich.«

Eva seufzte enttäuscht. Sie musste sich beherrschen, um

nicht zu weinen. Da trat der Vater an sie heran: »Er wird schon

fragen, Evilein. Aber wenn der dich nicht glücklich macht, dann

Gnade ihm Gott!«

In der Nacht lag Eva in ihrem Bett und starrte an die Decke.

Die Laterne vor dem Haus warf hier einen Schatten, der wie ein

Mann auf einem Pferd aussah. Ein langer Mann mit einer Lanze.

Ein Don Quijote. Eva betrachtete ihn jeden Abend, wie er über

ihr schwebte und fragte sich: ›Wogegen kämpfe ich vergeblich?‹

Eva dachte an Jürgen und verfluchte ihre Angst, er könnte sie auf

den letzten Metern noch sitzen lassen. Vielleicht machte er sich

gar nichts aus Frauen? Wer will denn freiwillig Pfarrer werden?

Warum hatte er sie noch nicht angerührt? Eva setzte sich auf,

knipste die Lampe auf dem Nachttisch an, ö©nete die Schublade

und zog einen Brief heraus. Der einzige Brief von Jürgen, in dem

David bremste an einer Kreuzung ab. Eva nutzte die Gelegen-

heit. Sie ö©nete die Tür und stieg aus. »Ja, genau, laufen Sie nur

weg. Ich ho©e, dass Sie an Ihrer deutschen Gemütlichkeit er-«

Eva warf die Tür zu. Sie ging durch die fallenden Flocken. Al-

les war plötzlich ganz leise, der Furor vorbei. Auch Davids Wagen

glitt lautlos davon. Eva musste an den Rentierschlitten des Weih-

nachtsmannes denken, der auch so still über den Nachthimmel

flog. Aber den gab es ja nicht in der Wirklichkeit.

Vor dem »Deutschen Haus« war Jürgens Wagen verschwun-

den. Die Stelle, an der er gestanden hatte, war schon weiß ge-

schneit, als wäre Jürgen nie da gewesen. Die Gaststätte leuchte-

te einladend. Das freundliche Stimmengewirr war hörbar bis auf

die Straße. Betriebsweihnachtsfeiern. Das bedeutete in jedem

Jahr ein gutes Geschäft. Eva blickte einen Moment lang in die

hellen Fenster, auf die sich bewegenden Schemen. Sie erkannte

ihre Mutter mit Tellern beladen, sie trat an einen Tisch, servier-

te schnell und geschickt. Kotelett. Schnitzel. Gans mit Rotkohl

und den unzähligen Klößen, die ihr Vater blitzschnell mit seinen

geschickten, weichen Händen formte und in siedendes Salzwas-

ser gleiten ließ.

Eva blieb stehen und dachte daran, wie sie hier vor ein paar

Stunden noch ohne Mantel gewartet hatte. Aber innerlich so

warm. Jetzt fror sie. Trotzdem wollte sie nicht hineingehen. Der

Ort schien ihr wie ein Schlund, der sie fressen wollte. Dann riss

sie sich zusammen. Herr Gabis hatte Schlimmes erlebt, aber die

Frage der Stunde war: Hatte Jürgen um ihre Hand angehalten

oder nicht?

Als Eva die Gaststube betrat, in die Menschenwärme, in den

Gänsefettdunst, voller Körper, alle beschwipst und froh, kam

ihre Mutter heran, gefüllte Teller balancierend. Edith Bruhns

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dann hatte sie seine Kinderbrust mit Eukalyptussalbe eingerie-

ben, wonach jetzt zart die ganze Küche roch. Sie hatte ihm einen

Schal umgelegt und schmierte ihm nun sein drittes Honigbrot,

da Honig gut gegen Halsschmerzen war. Dabei redete sie trös-

tend auf Eva ein, die unglücklich in der Tageszeitung blätterte.

»Es sind zu verschiedene Welten. Ich verstehe ja den Reiz, Kind.

Aber du gehst da ein. Wenn ich allein an dieses Anwesen denke.

Ich kenne das da oben auf dem Lohrberg, das ist die Gegend, da

sind die Grundstücke groß wie zehn Fußballfelder ...«

»Kann ich dann da Fußball spielen!?«, fragte Stefan mit vol-

lem Mund.

»Wenn die erste Verliebtheit weg ist,« sprach Edith weiter,

»dann musst du repräsentieren. Dann musst du immer lächeln

und stark sein. Und denk man nicht, dass du viel von deinem

Gatten hast. Der hat einen so wichtigen Posten, den kriegst du

gar nicht mehr zu sehen. Du bist alleine. Und das ist kein Leben

für dich, Eva. Da wirst du krank. Dein Nervenkostüm war immer

zart ...«

Wieder dieses Wort. Nervenkostüm. Es irritierte Eva jedes

Mal. Das war also etwas, womit man sich verkleidete? Somit hat-

te sie dann mit einem schwachen Nervenkostüm die falsche Ver-

kleidung gewählt. Eva dachte an den Kostümverleih Brommer

im Westend, einen gleichermaßen miefigen wie magischen La-

den, dunkel, gefährlich und undurchdringlich wie ein Urwald,

in den sie seit sie ein junges Mädchen war jedes Jahr zu Karneval

genüsslich eintauchte. Sie stellte sich vor, wie an einer der etli-

chen Stangen zwischen berüschten Prinzessinnenkleidern ein

starkes Nervenkostüm hing. Ein Mantel aus dicken, fleischfar-

benen Strängen geflochten und geknotet. Undurchdringlich,

unzerreißbar, ein Schutz vor allem Schmerz. »Mutti, das kann

er Ich liebe dich. geschrieben hatte. Davor stand allerdings: Wenn

ich mich auf ein Gefühl festlegen müsste, könnte ich durchaus sa-

gen. Doch. In Jürgens umständlicher Art, wenn es um Gefühle

ging, war das ein makelloses Liebesgeständnis! Eva seufzte, leg-

te den Brief zurück in den Nachttisch und löschte das Licht. Sie

schloss die Augen. Sie sah Flocken wirbeln, eine dunkle Fassade

mit schwarzen Fensterhöhlen. Sie begann, die Fenster zu zäh-

len. Irgendwann schlief sie ein. Sie träumte nicht von Jürgen. Sie

träumte von einer Herberge weit im Osten. Einer mit Blumen

und Gräsern schmuckvoll abgedichteten Herberge, gegen den

Wind und die Kälte, in die sie zusammen mit ihren Eltern viele

Gäste einlud. Während Eva mit den Eltern die Gäste bediente,

feierten diese ausgelassen bis in den frühen Morgen. Bis nie-

mand von ihnen mehr atmete.

Montag. Die ganze Stadt lag unter einer Schneedecke. Fast

fünfzehn Zentimeter. Der Verkehr brach wie üblich zusammen.

Alles hupte, schlidderte, rodelte und fluchte. Aber die Flüche

klangen halbherzig, es war kurz vor dem heiligen Fest. Man freu-

te sich über die weiße Weihnacht.

Montag bedeutete in der Gaststätte »Deutsches Haus« Ruhe-

tag. Ludwig Bruhns schlief bis 9 Uhr »seinen wöchentlichen

Schönheitsschlaf«. Auch Annegret, die erst früh am Morgen von

ihrer Schicht nachhause gekommen war, hatte sich noch nicht

blicken lassen. Die übrigen Familienmitglieder frühstückten in

der großen, hellen Küche, die zum Hinterhof hinaus lag. Die dort

hoch aufragende Tanne war weiß geschneit, ein paar Krähen sa-

ßen reglos auf den Zweigen, als könnten sie den Schnee nicht

fassen. Stefan hatte zu Hause bleiben dürfen, weil er »bestiali-

sche« Halsschmerzen hatte. Edith Bruhns hatte scheinbar mit-

leidlos gesagt: »Na, wer ohne Jacke in den Schnee geht ...« Aber

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Stadt sein?« Edith Bruhns faltete die Zeitung zusammen. Eva sah

ihre Mutter überrascht an. Ihre Mutter klang, als ginge sie das

etwas an. »Warum denn nicht?« Ihre Mutter antwortete nicht.

Sie stand stattdessen auf und begann, das schmutzige Geschirr

abzuräumen. Dabei machte sie ihr verschlossenes Gesicht, das

Zitronengesicht, wie Stefan es nannte. Sie schaltete den Boiler

über der Spüle ein, um heißes Wasser zu bereiten.

»Kannst du heute unten helfen, Eva, oder hast du einen Auf-

trag?«

»Ja, kann ich. Vor Weihnachten ist es mau. Und der Chef fragt

immer zuerst Karin Melzer. Weil die immer so spitze Büstenhal-

ter trägt.«

»Psst«, machte Edith mit Blick auf Stefan, aber der feixte nur:

»Als wie wenn ich nicht weiß, was ein Büstenhalter ist.«

»Als wenn ich nicht weiß«, verbesserte Edith. Das Wasser im

Boiler begann zu simmern. Edith stapelte das Geschirr im Be-

cken.

Eva faltete die Zeitung wieder auf und las den Artikel zu Ende:

23 Männer waren angeklagt, sie hatten alle in einem Lager in Po-

len gedient. Der Prozessbeginn war schon mehrfach verschoben

worden. Der Hauptangeklagte, der letzte Kommandant des La-

gers, war ihnen dabei schon weggestorben. Jetzt war statt seiner

der Adjutant angeklagt, ein Hamburger Kaufmann mit tadello-

sem Leumund. Im Prozess sollten 274 Zeugen gehört werden. In

dem Lager sollten angeblich hunderttausende Menschen –

»Buuh!« Plötzlich schlug Stefan von unten gegen die Zeitung,

einer seiner Lieblingsscherze. Und wie jedes Mal erschrak Eva

heftig, sie warf die Zeitung beiseite und sprang auf. »Na warte!«

Stefan lief aus der Küche, Eva sprang hinterher. Sie jagte ihren

kleinen Bruder durch die Wohnung, fing ihn schließlich in der

man doch lernen! Guck dir Grace Kelly an. Erst Schauspielerin.

Jetzt ist sie Prinzessin ...«

»Dafür muss man gemacht sein.«

»Und wofür bin ich dann bitte gemacht?«

»Du bist eine normale, junge Frau, die einen normalen

Mann braucht. Vielleicht einen Handwerker. Dachdecker ver-

dienen sehr gut.« Eva schnaubte empört, sie wollte sich abfäl-

lig über jegliche Handwerker äußern, doch da blieb ihr Blick an

einem kleinen Schwarz-Weiß-Foto in der Zeitung hängen. Es

zeigte zwei der Männer, mit denen sie gestern eine Stunde lang

in einem verrauchten Zimmer zusammen gewesen war: den

hellblonden jüngeren Mann und den älteren Mann mit der ko-

mischen Sturmfrisur. Sie unterhielten sich ernst. Die Bildun-

terschrift lautete: Der leitende Staatsanwalt und der General-

staatsanwalt im vorbereitenden Gespräch. Eva begann, den

einspaltigen Artikel zu lesen. O©ensichtlich sollte in Frankfurt

noch in dieser Woche ein Prozess gegen ehemalige SS-Angehö-

rige erö©net werden.

»Eva? Hörst du mir nicht zu? Ich rede mit dir? Was ist mit dem

Peter Rangkötter? Der hat dir doch so lange den Hof gemacht.

Fliesenlegern geht nie die Arbeit aus.«

»Mutti, glaubst du im Ernst, ich will jemals Frau Rangkötter

genannt werden?« Stefan kicherte und wiederholte fröhlich, das

kleine Kinn voller Honig: »Frau Rangkötter! Frau Rangkötter!«

Eva beachtete ihren Bruder nicht, sie zeigte auf den Artikel und

sah ihre Mutter an. »Hast du das mitbekommen, mit diesem Pro-

zess? Das war der Auftrag gestern.« Edith nahm die Zeitung in

die Hand, betrachtete das Foto, überflog den Artikel. »Das ist

alles schlimm, was da war. Im Krieg. Aber man möchte das doch

gar nicht mehr wissen. Und warum muss das gerade in unserer

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ragen. Der Hellblonde nickte David knapp zu und sah wie jedes

Mal so aus, als müsse er sich mühsam ins Gedächtnis rufen, wer

David eigentlich war. David trat ein.

»Vom Vorsitzenden Richter hängt die Länge des Prozesses

ab«, sprach er ins Telefon. »Und der ist nicht einschätzbar. Wenn

er nach der allgemeinen Meinung geht, dann wird vertuscht und

relativiert, dann sind wir in vier Wochen durch. Aber die Staats-

anwaltschaft wird auf eine gründliche Beweisaufnahme drän-

gen. Ich persönlich gehe also eher von vier Monaten aus.« – »Ja,

das schenke ich Ihnen. Können Sie schreiben.« Der Hellblonde

legte den Hörer auf und zündete sich an seiner alten Zigarette

eine neue an. Seine Hände blieben dabei ganz ruhig. David hielt

sich nicht mit einer Begrüßung auf:

»Hat er sich gemeldet, die Bestie?«

»Nein. Und ich würde es bevorzugen, Herr Miller, wenn Sie

mit solch wertenden Bezeichnungen zurückhaltender wären.

Das überlassen wir dann dem Publikum.«

Aber David wischte die Zurechtweisung mit einer Handbewe-

gung weg. Er konnte nicht verstehen, dass der Staatsanwalt so

gelassen blieb. Einer der Hauptangeklagten war vor vier Mona-

ten aus gesundheitlichen Gründen von der Untersuchungshaft

freigestellt worden. Nun konnten sie ihn seit fünf Tagen unter

seiner angegebenen Adresse nicht erreichen. Und am Freitag um

10.30 Uhr war Verhandlungsbeginn.

»Aber dann muss jetzt die Polizei eingeschaltet werden! Die

müssen die Fahndung einleiten!«

»Haben wir leider keine rechtliche Grundlage. Noch hat der

Prozess nicht begonnen.«

»Mensch, der setzt sich ab! Wie die ganzen anderen, nach Ar-

gentinien und –«

guten Stube ein, hielt ihn fest und drohte damit, ihn gnadenlos

zu zerquetschen wie eine lästige Laus! Und Stefan schrie schrill

und genüsslich auf, sodass die Kristallgläser im Bu©etschrank

zitterten.

In der Küche stand Edith weiter am Spülbecken und blickte

auf den Wasserboiler. Das Wasser darin kochte jetzt laut und be-

unruhigend. Das schmutzige Geschirr wartete im Becken. Aber

Edith rührte sich nicht. Sie blickte reglos auf die großen, heißen

Blasen, die das Wasser schlug.

Zur selben Zeit herrschte in den Büros der Staatsanwaltschaft

eine Stimmung wie in einem Theater kurz vor einer Urau©üh-

rung. David Miller versuchte gelassen und professionell zu wir-

ken, als er den Flur betrat. Aber er wurde sofort von der fiebrigen

Welle erfasst: Alle Bürotüren standen o©en, Telefone schellten,

pastellfarbige Fräuleins balancierten Aktentürme oder schoben

Dokumente auf quietschenden Rollwagen über das Linoleum.

Über die ganze Länge des Flurs waren Ordner ausgelegt, dunkel-

rote und schwarze, sie sahen aus wie umgefallene Dominostei-

ne. Rauchschwaden quollen aus den Zimmern. Diese sahen für

David aus wie Windhunde, die in Zeitlupe über dem nervösen

Chaos schwebten und sich auflösten, bevor sie den falschen Ha-

sen erwischen konnten. David lachte beinahe. Es war ihm unan-

genehm, er fand es zynisch: Aber er freute sich. Er war dabei. Aus

49 Bewerbern für das Referendariat waren nur acht ausgewählt

worden. Darunter er, obwohl er in Boston erst im letzten Jahr

sein Staatsexamen gemacht hatte. David klopfte an die geö©nete

Tür des Büros des leitenden Staatsanwalts. Der stand mit dem

Hörer in der Hand, eine glühende Zigarette zwischen den Fin-

gern, telefonierend am Schreibtisch. Durch die beschlagenen

Fenster sah man im Hof die Umrisse eines Baustellenkrans auf-

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In der halbdunklen, hohen Gaststube des »Deutschen Hau-

ses« wischte Eva den Fußboden. Ihr Vater, der sich inzwischen

von seinem Schönheitsschlaf erhoben hatte, wienerte in seiner

Küche. Dort lief das Radio. Ein Schlager schepperte herüber, zu

dem Eva schon mit Jürgen getanzt hatte. Peter Alexander sang:

»Komm mit mir nach Italien!« Jürgen tanzte gut. Und er roch so

gut, nach einem sonnendurchwärmten Kiefernwald an der Ost-

see, wo sie als Zehnjährige mit den Eltern gewesen war. Nach

Salz und Harz. Er hielt sie so fest beim Tanzen. Er wusste immer,

was richtig und was falsch war. Eva schluckte. Sie stieß ihn in

Gedanken von sich, wütend und enttäuscht. Jürgen, der sie seit

einem halben Jahr jeden Morgen um 11 Uhr von seinem Schreib-

tisch aus anrief, hatte sich heute zum ersten Mal nicht gemeldet.

Eva klatschte den nassen Scheuerlappen auf die Dielen. Sie be-

schloss, wenn er sich bis zwei nicht gemeldet hatte, Jürgen nicht

wiederzusehen. Sie würde ihm außerdem seine Briefe, das sil-

berne Armband, den Seidenschal, die Angoraunterwäsche (sie

hatte im November eine halbseitige Lungenentzündung gehabt,

und Jürgen war sehr besorgt gewesen), den Hesse-Gedichtband

und die Maiglöckchenseife ... Wumm-wumm-wumm! Jemand

klopfte gegen die verschlossene Eingangstür. Eva dreht sich um:

Ein Mann, ein junger Mann. Jürgen, der ganz außer Plan, weil

ihn die Gefühle für sie übermannt hatten, seinen Schreibtisch

verlassen hatte, um hier und heute um ihre Hand anzuhalten.

Auf Knien. Eva stellte den Scheuerbesen zur Seite, zog schnell

den Kittel aus und ging zur Tür. Alles war gut. Aber da erkannte

Eva durch die Scheibe den unfreundlichen Mann von gestern.

David Miller. Eva ö©nete irritiert. »Wir haben heute Ruhetag!«

David zuckte die Schultern und sah sie unbeeindruckt an. ».Ich

komme im Auftrag ...« Eva erkannte verwundert, dass David kei-

»Wir brauchen dieses Fräulein. Die von gestern. Wie hieß

die?«, unterbrach ihn der Hellblonde. David zuckte unwillig die

Schultern, obwohl er wusste, wen er meinte. Der andere wartete

die Antwort nicht ab.

»Sie lassen den Dombreitzki nicht ausreisen.«

»Dommitzki.«

»Genau den. Es wird zwar schon verhandelt, aber er sitzt. In

einem polnischen Gefängnis. Eine Einigung kann Monate dauern.«

»Ich glaube nicht, dass ausgerechnet ein deutsches Fräulein

für so eine verantwortungsvolle Position geeignet ist. Herr

Staatsanwalt«, wurde David eindringlich, »wir sind doch voll-

ständig abhängig von den Übersetzern. Die können uns ja sonst

was erzählen ...«

»Sie wird einen Eid leisten. Und man kann es auch so sehen:

Eine Frau könnte auf die Zeugen beruhigend wirken. Und das

brauchen wir: Zeugen, die sich sicher fühlen! Von denen wollen

wir alles wissen, die müssen alles erzählen, die müssen nervlich

durchhalten! – Also, fahren Sie gleich hin. Sie wissen noch die

Adresse?« David nickte zögernd und ging hinaus.

Der Hellblonde setzte sich wieder. Miller war zu eifrig, zu ver-

bissen. Er hatte das Gerücht gehört, dass Millers Vater oder On-

kel im Lager umgekommen war. Wenn da etwas dran war, war es

nicht gut. Denn dann müssten sie ihn wegen Befangenheit aus-

tauschen. Andererseits brauchten sie engagierte junge Leute wie

David Miller, die Tag und Nacht die Tausenden von Dokumenten

durcharbeiteten, Daten, Namen und Ereignisse verglichen, die

halfen, Ordnung zu halten, in dieser Übermenge an Stimmen.

Der Hellblonde sog den Rauch seiner Zigarette tief ein, hielt ei-

nen Moment lang die Luft an und wandte sich zum Fenster. Im

Hof drehte der schemenhafte Baukran abenteuerliche Kreise.

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gende Wand, die war eng behängt mit signierten Schwarz-

Weiß-Porträts. Es waren Männer und Frauen, meist lokale Be-

rühmtheiten, nahm er an, Schauspieler, Fußballer, Politiker,

die das »Deutsche Haus« besucht hatten. Sie lächelten David zu

und zeigten ihm ihre beste Seite. David kannte keinen Einzigen

von ihnen. Er richtete sich auf und stellte das halb leere Glas auf

den Tresen.

»Melden Sie sich hier.« David reichte Eva eine gelbliche Visi-

tenkarte mit dem Namen des Generalstaatsanwaltes und einer

Adresse und Telefonnummer. »Und falls Sie zusagen, lernen Sie

schon mal das notwendige Vokabular.«

»Was meinen Sie? Militärische Bezeichnungen?«

»Alle denkbaren Worte dafür, wie man einen Menschen töten

kann.«

David drehte sich abrupt um und verließ die Gaststätte. Eva

schloss langsam die Tür hinter ihm.

Ihr Vater war inzwischen aus der Küche gekommen, in seiner

weißen Jacke, der karierten Hose, seiner Kochmütze auf dem

Kopf. Er hatte sich ein blau kariertes Geschirrhandtuch über die

Schulter geworfen. ›Er sieht aus wie ein Clown, dem gleich aus

einer Kanone eine Ladung Spaghetti mit Tomatensoße ins Ge-

sicht geschossen wird‹, dachte Eva.

»Wer war das? Was wollte der? Noch ein Anwärter etwa, meine

liebe Tochter?« Ludwig zwinkerte, dann ging er vor dem Tresen

auf die Knie und begann mit dem Geschirrhandtuch an der

Blechblende zu polieren, die das Holz des Tresens vor Fußtritten

schützen sollte. Eva schüttelte ungeduldig den Kopf: »Vati, ihr

habt wirklich nur eins im Kopf! Es geht um eine Arbeit. Als Dol-

metscherin im Gericht.«

»Das hört sich ja wichtig an.«

ne Spur im frischen Schnee hinterlassen hatte, als sei er zur Tür

geflogen. Seltsam.

»Der leitende Staatsanwalt schickt mich.«

Eva machte zögernd eine einladende Geste. David trat ein. Sie

blieben vor dem Tresen stehen, in der Küche gab jetzt ein italie-

nischer Tenor seinen ganzen Schmelz. Eva hätte mitsingen kön-

nen. »Sieben Tage in der Woche will ich bei dir sein.«

»Der Dolmetscher kann nicht einreisen, jedenfalls noch

nicht. Er wurde als politisch nicht zuverlässig eingestuft und ...

egal! Er muss seine Angelegenheiten klären. Und wir brauchen

eine Vertretung. Am Freitag ist Verhandlungsbeginn.« Eva war

überrumpelt: »Sie meinen, ich soll übersetzen?«

»Ich nicht. Ich bin nur im Auftrag hier.«

»Ja ... Und wie lange wird das dauern? Eine Woche?«

David sah Eva fast mitleidig an. Er hatte hellblaue Augen und

seine linke Pupille war größer als die rechte. Vielleicht lag es am

Lichteinfall, vielleicht ein angeborener Fehler. Es gab ihm einen

unsteten, suchenden Ausdruck. ›Nie würde er sich selbst glei-

chen können‹, dachte Eva unwillkürlich, ohne dass sie einen

Sinn in diesem Gedanken sah.

»Haben Sie schon mit meiner Agentur gesprochen? Mit mei-

nem Chef, mit Herrn Kortmann?«

David wollte etwas erwidern, doch da wurde er plötzlich

blass. Er trat einen kleinen Schritt zurück und lehnte sich gegen

den Tresen, als suche er Halt.

»Ist Ihnen nicht gut?«

»Ich habe vergessen zu frühstücken. Geht gleich wieder.«

David atmete durch. Eva trat hinter den Tresen und füllte

aus dem Hahn ein Glas Wasser ab. Sie reichte ihm das Glas, er

trank einen Schluck. Sein Blick fiel dabei auf die gegenüberlie-

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geschlossen worden. Ein Foto zeigte einen undefinierbaren

Haufen Sand.

»Rüstersiel«, sagte Ludwig mit leichtem Heimweh in der

Stimme. »Da sind wir, wie ich Kind war, immer im Mai rausge-

fahren, Scholle essen mit Tante Hildegard.«

Edith sah nicht auf und machte »Mmh.«

»Bei einem Brand in einer Gemäldegalerie in Detroit fallen 35

Gemälde des spanischen Malers Pablo Picasso den Flammen zum

Opfer. Der Schaden beträgt umgerechnet etwa zwei Millionen

DM«, verlas der Sprecher. Hinter ihm erschien ein kubistisches

Gemälde, das auf dem kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher keine

Wirkung hatte.

»Das macht fast 60.000 Mark pro Bild! Warum diese Bilder so

teuer sein sollen, das weiß auch nur der liebe Gott.«

Edith erwiderte: »Davon verstehst du nichts, Ludwig.«

»Nee, und das ist auch gut so.«

»Auf Anordnung von Bundesinnenminister Hermann Hö-

cherl wird der ehemalige SS-Hauptsturmführer Erich Wenger

aus dem Bundesamt für Verfassungsschutz in das Verwaltungs-

amt nach Köln versetzt.« Die Wand hinter dem Sprecher blieb

grau. Man erfuhr nicht, wie Erich Wenger aussah. Die Eltern

schwiegen. Sie atmeten im gleichen Rhythmus. Es folgte der

Wetterbericht mit einer Deutschlandkarte voller weißer Kristal-

le. Es würde weiter schneien.

»Se soll mann snell düssen Schoormann hoiraaten«, sagte

Ludwig in breitestem Auricher Platt. Edith zögerte. Aber dann

antwortet sie: »Ja. Ist wohl das Beste.«

In der Schoormann’schen Villa auf dem Lerchesberg saß Jür-

gen mit seinem Vater und dessen zweiter Frau beim Abendbrot.

Sie aßen wie jeden Abend erst um halb neun, das brachte der Ver-

»Es ist ein Prozess gegen SS-O½ziere, die in diesem Lager ge-

arbeitet haben.«

»Was für ein Lager?«

»Auschwitz.«

Der Vater polierte weiter an der Blende, als habe er sie nicht

gehört. Eva blickte einen Moment lang auf seinen Hinterkopf, an

dem die Haare spärlicher wurden. Alle acht Wochen schnitt sie

ihrem Vater in der Küche das Haar. Er konnte nicht lange still-

halten und zappelte wie ein kleiner Junge. Es war jedes Mal eine

mühsame Prozedur, aber zum Friseur wollte Ludwig nicht ge-

hen. Auch Eva ging nie zu einem. Sie hatte eine regelrechte Ab-

neigung gegen Friseurgeschäfte. Das Geräusch von Haarsträh-

nen, die abgeschnitten auf den Boden fallen, schnürte ihr den

Hals zu. »Nervöse Beklopptheit« nannte Annegret diese An-

wandlungen. Jetzt gri© Eva wieder nach dem Scheuerbesen,

nach dem Lappen, tauchte ihn in den Eimer, wrang ihn mit den

Händen aus. Das Wasser war nur noch lauwarm.

Später am Abend saßen die Eltern in der Stube. Ludwig links

in seiner abgeschabten Sofaecke, Edith in ihrem kleinen, gelben

Sessel, dessen Samt ursprünglich einmal golden geleuchtet hat-

te. Purzel lag eingerollt in seinem Körbchen. Manchmal bellte

er leise im Traum. Im Fernseher lief die »Tagesschau«, ein Spre-

cher im Anzug verlas die Meldungen, wozu kleine Bilder einge-

blendet wurden. Ludwig kommentierte wie üblich jeden Bei-

trag. Edith hatte eine Handarbeit vorgenommen. Sie stopfte

Stefans braune Handschuhe, angeblich hatte Purzel sich wieder

einmal darin verbissen. Der Sprecher berichtete über das größ-

te Deichbauvorhaben der Bundesrepublik. Nach einer Bauzeit

von nur vier Monaten war die letzte Lücke des drei Kilometer

langen Schutzdeiches am Rüstersieler Watt bei Wilhelmshaven

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geweint, dass selbst der Sohn des Bauern am Ende Mitleid mit

ihm hatte. Walter Schoormann sprach nie über die Zeit im Ge-

fängnis. Aber seit er erkrankt war, saß er oft Stunden in dem klei-

nen Gartenschuppen auf einem Hocker und blickte auf das ver-

gitterte Fenster, als sei er ein ho©nungslos Gefangener. Wenn

Brigitte oder Jürgen ihn dann am Arm nehmen und hinausfüh-

ren wollten, wehrte er sich. Jürgen war das ein Rätsel, aber Bri-

gitte hatte erklärt, vielleicht wolle der Vater so mit etwas fertig

werden, das er erlebt hatte. Walter Schoormann schluckte, er

nahm nachdenklich einen weiteren Bissen. Das Käsebrot

schmeckte ihm. Als ehemaliger Kommunist und späterer Groß-

unternehmer war er ein bestauntes Unikum. Er hatte allerdings

immer betont, gerade wegen seiner sozialen Einstellung habe er

nach dem Krieg Erfolg gehabt. Er wollte den Menschen, die alles

verloren hatten, mit günstigen Waren helfen. Günstig deshalb,

weil er die Händler umging, den Vertrieb einsparte, die Miete,

die Mitarbeiter, und direkt in die Haushalte lieferte. Der

»Schoormann Versand« wuchs innerhalb von zehn Jahren zu

einem Unternehmen mit sechshundertfünfzig Mitarbeitern an,

deren gute Behandlung und soziale Sicherheit Walter Schoor-

mann immer im Blick hatte. Mitte der Fünfzigerjahre baute er

dann auf dem Lerchesberg eine Villa, die etwas zu groß geriet.

Die vielen Räume waren zu nichts zu gebrauchen, das Schwimm-

bad wurde nur im ersten Jahr mit Wasser gefüllt. Dann lag das

blau gekachelte Becken leer und brach da. Nachdem Walter

Schoormann vor fünf Jahren zum zweiten Mal geheiratet hatte,

eines der Mannequins, die im Schoormann-Katalog die Unter-

wäsche präsentieren, zwanzig Jahre jünger, gesund und immer

zuversichtlich, gab es wenigstens eine Person im Haus, die den

Luxus genoss. Das Becken wurde neu mit Wasser gefüllt, Brigit-

sandhandel mit sich. Jürgen hatte bis in den Abend hinein mit

seinen Mitarbeitern am Frühjahrskatalog gearbeitet. Jetzt beob-

achtete er seinen Vater, der ihm gegenübersaß und misstrauisch

sein Käsebrot sezierte. Sein Vater wurde zusehends weniger, er

war immer ein großer, massiger, Kerl gewesen, jetzt schrumpfte

er zu einem zarten Männlein zusammen. »Wie eine Weintraube

in der Sonne zur Rosine wird«, sagte Brigitte immer. Sie saß

dicht neben ihm, strich ihm über die Wange und legte die Käse-

scheibe zurück auf das Brot: »Es ist Gouda, Walli, den magst du.«

Walter Schoormann biss vorsichtig von seinem Brot ab und

kaute lange darauf herum. Manchmal vergaß er zu schlucken.

Brigitte nickte ihm dann aufmunternd zu. ›Sie ist ein Segen‹,

dachte Jürgen.

Jürgens Mutter, deren di©us zartes Gesicht eine Fotografie

auf dem Sideboard zeigte, war im März ’44 bei dem verheerends-

ten Luftangri© auf Frankfurt überhaupt ums Leben gekommen.

Jürgen, zehn Jahre alt, war zu der Zeit aufs Land verschickt ge-

wesen zu Bauern auf einem Hof im Allgäu, wo er alles gehasst

hatte. Selbst den lieben Gott. Der Sohn des Bauern hatte ihm

gesagt, dass seine Mutter verbrannt sei, dass sie wie eine Fackel

durch die Straßen gelaufen sei. Schreiend. Jürgen wusste, dass

der Junge ihn quälen wollte. Aber das Bild hatte er nie wieder

vergessen. Damals wie heute war er der festen, kindlichen, aber

nicht weniger richtigen Meinung, dass Mütter nicht verbrennen

durften. Sein Vater hatte zur selben Zeit im Gefängnis gesessen,

als Mitglied der Kommunistischen Partei hatte die Gestapo ihn

im Sommer ’41 abgeholt. Im April ’45 stand er eines frühen Mor-

gens mitten auf dem Allgäuer Hof und wollte seinen Sohn abho-

len. Jürgen war aus dem Haus geschossen, hatte seinen Vater

umarmt, ihn nicht mehr losgelassen und so lange und heftig

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polnischen Zulieferern übersetzt. Zuerst war ihm ihr Haar auf-

gefallen, das sie entgegen der herrschenden Mode lang und zu

einem Dutt gebunden trug. Sie schien ihm unbeholfen und naiv.

Sie würde sich führen lassen, sie würde gehorchen. Er wollte

Kinder mit ihr haben. Nur wusste er nicht, was geschehen wür-

de, wenn er seinem Vater gestand, dass Evas Familie eine Gast-

stätte ausgerechnet in der Berger Straße betrieb. Vielleicht wür-

de es ihn nicht mehr erreichen. Aber wenn doch, dann wäre für

den Vater eine Heirat mit Eva eine Unmöglichkeit. Dass die

Bruhns’ evangelisch waren, wäre ein Pluspunkt gewesen. Aber

eine Gaststätte im »lustigen Dorf«? Da konnte Eva noch so un-

schuldig sein, da könnte Jürgen noch so sehr betonen, dass die

Wirtschaft im anständigen Teil der Straße läge. Ob oben oder

unten – das konnte nur ein Bumslokal sein! Walter Schoormann

war nicht nur ein sozialistischer Unternehmer, er war auch noch

eins der seltenen Exemplare eines prüden Kommunisten.

»Jürgen, was ist so komisch? Darf ich mitlachen?« Der Vater

sah ihn an, klar und direkt, so als wäre plötzlich eine Leitung in

seinem Gehirn wieder freigeschaltet worden. Jürgen legte sein

Besteck zur Seite.

»Weißt du, was Schurick mit in den Frühjahrskatalog aufneh-

men wollte? Einen elektrischen Eilochstecher. Angeblich der

letzte Schrei in Amerika.« Der Vater lächelte, Brigitte zuckte die

Schultern. »Ich würde den kaufen.«

»Weil du alles kaufst.«

Walter nahm Brigittes Hand und küsste sie schnell, aber lie-

bevoll. Dann hielt er diese weiter fest. Jürgen sah über die beiden

hinweg in den verschneiten, parkähnlich angelegten Garten. Die

Außenlampen trugen Schneehauben. Die Büsche rührten sich

nicht. Er musste Eva anrufen.

te schwamm jeden Morgen ihre dreißig Runden. Und im ganzen

Haus roch es wieder sanft nach Chlor. Auch Eva würde hier dann

wohnen und vielleicht schwimmen, dachte Jürgen. Eva. Er wuss-

te, dass sie auf seinen Anruf wartete. Aber er war sich auch be-

wusst, wie groß und schwerwiegend die Verantwortung war, die

man mit einer Ehe für einen anderen Menschen übernahm.

Schon von klein auf hatte Jürgen Pfarrer werden wollen. Die ein-

gängigen Rituale, der betäubende Duft des Weihrauchs, die

prächtigen Gewänder und die unendlich hoch scheinenden Kir-

chenschi©e hatten ihn fasziniert. Und Gott gab es zweifellos.

Seine gläubige Mutter hatte seine Neigung unterstützt und

schon mit dem fün¾ährigen Jürgen Gottesdienst gespielt. Sie

hatte ihm einen lilafarbenen Talar genäht und wenn er an sei-

nem kleinen Kinderzimmertisch stand und deklamierte »O du

Lamm Gottes ...«, hatte sie die ganze Gemeinde vertreten und

demütig »Hosiana« geantwortet. Nur mit brennenden Kerzen

und Räucherstäbchen durfte er nicht hantieren. Der Vater, ein

überzeugter Atheist, hatte das immer amüsiert beobachtet.

Doch als Jürgen kurz vor dem Abitur den Wunsch äußerte, Theo-

logie zu studieren, war es zu etlichen Auseinandersetzungen

zwischen Vater und Sohn gekommen. Letztlich aber war Walter

Schoormann ein toleranter, liebender Vater. Und es wäre der

Wunsch seiner verstorbenen Frau gewesen. Er hatte sich in Jür-

gens Berufswunsch gefügt. Seit zwei Jahren war nun alles an-

ders. Man konnte den Vater nicht mehr alleine lassen, die Firma

hatte unter einigen ihrer Geschäftsführern empfindlich gelitten

und Jürgen hatte seinen Lebensplan für das Lebenswerk des Va-

ters geopfert. Doch wenn er ehrlich war, hatte ihn auch die Vor-

stellung eines Lebens im Zölibat zunehmend verunsichert. Eva.

Sie hatte in seiner Firma ein paar Mal die Korrespondenz mit den

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»Hat er sich immer noch nicht gemeldet?«

Eva sagte nichts. Anngret zögerte. Sie zog ein Kartenspiel aus

der Tasche ihres Morgenmantels und wedelte au©ordernd da-

mit. Eva setzte sich ihrer Schwester gegenüber auf das Bett. An-

negret mischte die Karten mit ihren dicken, aber geschmeidigen

Fingern schnell und geübt. Sie schnaufte leicht. Dann legte sie

das Kartenspiel auf die Bettdecke zwischen sich und ihre

Schwester: »Eine Frage stellen. Und abheben.«

»Wird Jürgen mich heiraten?«

Eva hob konzentriert ab. Annegret nahm den Kartenstapel

und legte die Karten nach einem bestimmten Muster aus. Man

sah, sie wusste, was sie tat. Eva bemerkte, dass sie leicht nach

Schweiß roch. Annegret war außerordentlich reinlich. Ihre El-

tern hielten es für Wasserverschwendung, aber Annegret badete

sich täglich. Dennoch bekam sie diesen leisen Hauch von Erb-

seneintopf in der Sonne nicht weg. Eva betrachtet ihre dicke

Schwester voller Zärtlichkeit, wie sie so ernsthaft die Karten für

sie legte. »Ich hab dich lieb«, wollte Eva sagen. Aber das teilten

sie sich nicht mit. Und es hätte wie Mitleid geklungen, wie eine

Herablassung. Deshalb ließ sie es. Annegret zog einen weiteren

Stoß Salzstangen aus der Tüte und biss krachend hinein. Sie be-

trachtete kauend das gelegte Kartenbild:

»Herzdame oben links. Du wirst eine Königin, eine Millio-

närsgattin. Wenn du es nicht versaust. Hier liegt die Piksieben.

Das heißt, du kannst es noch verbocken.«

»Das hilft mir jetzt ungemein, Gretchen. Wo ist Jürgen, was

denkt er? Liebt er mich?«

Annegret nahm die Karten wieder zusammen.

»Jetzt mischt du. Dann auslegen. Die zwölfte Karte ist Jür-

gen.«

Eva saß an ihrem Schreibtisch, der ein ernsthaft brauchba-

res Möbelstück war, und versuchte sich an einem Brief an Jür-

gen. Sie formulierte Wut, Enttäuschung und Erpressung und

versuchte gleichzeitig, Liebe und Lust auf sie und ihren Körper

und ihre Unschuld (von der er ja nicht wusste, dass die nicht

mehr existent war) zu entfachen. Es war vergeblich. Sie knüll-

te wieder ein Blatt zusammen, saß einen Moment ratlos da und

zog dann die Visitenkarte, die ihr David gegeben hatte, aus ih-

rer Rocktasche. Sie drehte diese unschlüssig in der Hand. Da

klopfte es, Annegret trat herein. Sie trug ihren hellgelben Mor-

genmantel, war ungeschminkt und unfrisiert. Eva war dank-

bar für die Unterbrechung. Sie legte die Visitenkarte auf den

Tisch.

»Musst du nicht zur Schicht?«

»Ich habe frei. Habe gestern eine Doppelschicht gemacht.«

Annegret setzte sich schwer auf Evas Bett, lehnte sich mit dem

Rücken gegen einen der Pfosten. Sie hatte eine Packung Salz-

stangen dabei, die sie in der Speisekammer gefunden hatte und

von denen sie jetzt immer ein ganzes Dutzend gleichzeitig nahm

und abbiss.

»Wir haben einen Neugeborenen, ein Junge, zwei Wochen alt,

der wäre beinahe gestorben, der war ganz dehydriert.«

»Schon wieder?«

»Ja, das ist langsam nicht mehr lustig. Da muss irgendwer

Keime einschleppen. Die Ärzte, die scheren sich zu wenig um

Hygiene. Aber die lassen sich ja nichts sagen. Ich habe acht Stun-

den bei dem Würmchen gesessen und ihm immer wieder Zucker-

wasser eingeflößt. Tropfenweise. Am Ende war er wieder ganz

gut beieinander.«

Annegrets Blick fiel auf die zerknüllten Blätter.

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»Weißt du noch, als wir den Film im Kino gesehen haben?«,

fragte Eva. »Wie dieser alte Mann da auf die Mühle losging mit

seiner Lanze. Und er hat sich verfangen in dem Flügel. Und er

wurde mitgerissen und drehte sich mit der Mühle und schrie. Ich

fand das so schrecklich, mir wurde ganz schlecht.«

»Kinder finden es immer unheimlich, wenn Erwachsene die

Kontrolle verlieren.«

»Annegret, soll ich das machen, diesen Auftrag. Ich meine,

bei diesem Prozess übersetzen? Das ist –«

»Ich weiß schon. Ich würde das nicht machen. Oder willst du

dabei mithelfen, Gräuelmärchen zu verbreiten?«

»Was für Gräuelmärchen?«

Da stand Annegret auf, sie wurde plötzlich kalt und stumm

wie ein Fisch, und ging grußlos hinaus. Eva kannte das schon.

Jetzt würde ihre Schwester in die Küche gehen und sich richtig

vollstopfen. Das Telefon im Flur klingelte. Eva sah auf die Uhr.

Halb elf. Ihr Herz klopfte. Sie sprang aus dem Zimmer und er-

reichte vor ihrer Mutter den Apparat. Und es war tatsächlich

Jürgen.

»Guten Abend, Eva.«

Eva bemühte sich, kühl zu klingen, beiläufig.

»Guten Abend. Etwas spät für einen Anruf.« Aber es kam hei-

ser heraus.

»Geht es dir gut, Eva?«

Eva schwieg.

»Ich entschuldige mich. Es tut mir leid. Aber es ist ja für den

Rest unseres Lebens.«

»Das weiß ich auch.«

Sie schwiegen, bis Jürgen fragte: »Gehst du mit mir morgen

Abend ins Kino?«

Eva mischte um ihr Leben, ein paar Karten flogen ihr weg. Sie

musste lachen. Annegret blieb ernst. Dann legte Eva die Karten

aus und zählte dabei leise bis zwölf.

»Wieso zählst du auf Polnisch?«

»Gilt das nicht?«

»Doch, aber ich finde es seltsam.«

Eva zögerte, die zwölfte Karte umzudrehen. Sie sah Annegret

an.

»Weißt du, was komisch ist?«

»Das ganze Leben in seinem totalen Ausmaß?«

»Ich konnte die Zahlen auf Polnisch schon immer. Also,

schon bevor ich in die Übersetzerschule gegangen bin. Vielleicht

war ich in einem früheren Leben mal Polin?«

»Wen interessiert dein früheres Leben, Evikleinchen? Zeig

mir deinen Jürgen. Komm, trau dich!«

Eva dreht die Karte um. Es war die Herzacht. Eva blickte ratlos

darauf. Annegret grinste.

»Also, meine schöne Schwester, du kannst dich noch so be-

scheuert benehmen, der Mann kommt nie mehr los von dir!«

»Und warum bitte ...?!«

»Die Farbe ist Herz, die Acht das Symbol der Unendlichkeit.«

»Könnten auch Handschellen sein«, sagte Eva. Annegret

nickte: »So oder so, deine Tage hier sind gezählt.«

Annegrets Blick wurde plötzlich fahrig, sie fiel sichtlich in

sich zusammen. Sie sah aus wie ein trauriger Kloß. Eva strich ihr

über die Wange: »Darf ich auch eine Salzstange?« Annegret

blickte auf und lächelte schief.

Später lagen die Schwestern im Halbdunkel nebeneinander,

kauten die letzten Salzstangen und betrachteten den zart zit-

ternden Don Quijote an der Decke.

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mal geriet David ins Schleudern, als er plötzlich abbremsen muss-

te Er zwang sich, sein Tempo zu drosseln. »Wenn ich jetzt auf ei-

ner Hitlerautobahn ums Leben komme, das hätte schon eine

gewisse Ironie ...«, sagte er laut auf Englisch.

David wollte Heidelberg umfahren. Doch er geriet mitten in

die Stadt hinein und verfing sich im Labyrinth der Straßen. Er

querte dreimal dieselbe Brücke und sah wie in einem Albtraum

immer wieder das mächtige Heidelberger Schloss vor sich auf-

tauchen, wenn er glaubte, auf dem richtigen Weg zu sein. David

fluchte, fand keinen Stadtplan in seinem Autoatlas und wollte

sich dieser deutschen Stadt schon ergeben. Da entdeckte er an

einer Ampel einen Wagen vor sich, der ein französisches Kenn-

zeichen trug. David folgte dem fremden Wagen in der Ho©nung,

dass dieser ihn aus der Stadt geleiten würde. Der Plan ging tat-

sächlich auf und nach zwei sinnlos durchirrten Stunden wurde

Davids Wagen wieder von Wäldern und Feldern umfangen.

Nach Hemmingen, einer verschlafenen Kleinstadt, fand er

mit seinem Autoatlas. Dort fragte er aus dem Autofenster heraus

einen sich bedächtig über den Schnee dahintastenden Menschen

nach dem Weg. Kurz darauf hielt David im Tannenweg vor der

Nummer 12. Das Haus war gepflegt, ein typisches Einfamilien-

haus in einer Arbeitersiedlung, gebaut noch vor dem Krieg, wie

David annahm. Es war wie alle anderen in der Nachbarschaft

weiß verputzt, schlicht und hatte einen umlaufenden, dunklen

Balkon mit kahlen Blumenkästen. Vor der Garage stand kein Wa-

gen. David stieg aus, ging durch den verschneiten Vorgarten und

klingelte an der Haustür, ein Namensschild konnte er nicht ent-

decken. Er wartete, hinter der kleinen vergitterten Scheibe in

der Tür blieb es still. Er klingelte wieder, zweimal, sah sich um.

Im kleinen Vorgarten standen einige kahle Sträucher. Einige mit

»Ich habe keine Zeit. Ich muss mich noch auf meine neue Ar-

beit vorbereiten.«

»Was für eine Arbeit? Ein Auftrag?«

»Eine längeres Engagement. Ich muss mich ja versorgen. Ich

kann nicht ewig meinen Eltern auf der Tasche liegen. Ich muss

Geld verdienen.«

»Eva, ich hole dich morgen um sieben Uhr ab!«

Es klang streng. Eva legte auf. Annegret kam kauend aus der

Küche, mit einem frischen, dunklen Fleck auf dem hellen Mor-

genmantel, und sah Eva fragend an. Eva zuckte in komischer

Verzweiflung die Schultern, aber sie lächelte. Annegret sagte:

»Siehst du, die Karten lügen nicht.«

Am nächsten Morgen machte sich David Miller ohne Anwei-

sung der Staatsanwaltschaft, ohne jegliche o½zielle Erlaubnis,

mit seinem gemieteten Ford Taunus auf den Weg nach Süden. Sein

Ziel: Hemmingen bei Stuttgart. Dort war einer der Hauptange-

klagten laut Ordnungsamt gemeldet, der Leiter der politischen

Abteilung im Lager, die Bestie. David hatte alle Gesprächsproto-

kolle und Anschuldigungen zu diesem Angeklagten Nummer 4

gelesen und für die Anklage ausgewertet. Wenn nur ein Bruchteil

der Vorwürfe stimmte, dann war dieser kaufmännische Angestell-

te zu keiner menschlichen Regung fähig. Seit Tagen versuchte die

Staatsanwaltschaft den Mann telefonisch zu erreichen. Vergeb-

lich. Und das so kurz vor Prozessbeginn. Während er durch ein

verschneites Süddeutschland rauschte, fühlte sich David im

Recht, seinem Verdacht nachzugehen, dass der Angeklagte sich

abgesetzt hatte. Er fuhr auf der Überholspur und viel zu schnell.

Die Landschaft, die Hänge, Wälder und vereinzelten Gehöfte links

und rechts der Autobahn huschten vorbei und sahen aus wie eine

Spielzeuglandschaft im Vergleich zum erwachsenen Kanada. Ein-

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»Wenn Sie es mir nicht sagen, wo er sich aufhält, dann muss

ich die Polizei verständigen. Sie wollen doch nicht, dass er von

der Polizei abgeholt wird? Wie ein Verbrecher – der er ja nicht ist,

wie Sie sagen.«

»Er hat sich nichts zuschulden kommen lassen!«

»Wo ist er?« Die Frau sah ihn mit ihren trüben Augen an. »Zur

Jagd.«

Wenn Sie weiterlesen möchten, senden wir Ihnen den Roman

gerne zu, er erscheint am 10. August 2018. Bitte schicken Sie

uns dafür eine Mail, unter [email protected]

alten Säcken abgedeckte Rosen sahen aus wie vermummte, kno-

chige Gestalten, die darauf zu warten schienen, sich auf ihn zu

stürzen, wenn er nur einen Moment lang unaufmerksam wäre.

David hörte im Haus eine Tür klappen. Er klingelte wieder, dies-

mal ließ er den Finger auf dem Klingelknopf. Da ö©nete sich die

Tür langsam einen Spalt, sie war von innen mit einer Sicher-

heitskette verhängt. »Mein Mann ist nicht da.« David erkannte

das breite Gesicht einer kleinen, dunkelhaarigen Frau um die

sechzig mit einem vollen Mund und mandelförmigen, leicht trü-

ben Augen. ‚›Eine verwelkte Schönheit‹, dachte David. »Wo ist er

denn?« — »Wer sind Sie?« Die Frau sah David misstrauisch an.

»Es geht um den Prozess. Wir können Ihren Mann nicht errei-

chen ...« — »Sind Sie Ausländer?« David war einen Moment lang

aus dem Konzept gebracht. »Mein Name ist David Miller. Ich ar-

beite als Referendar für die Staatsanwaltschaft.« — »Dann weiß

ich ja, wes Geistes Kind Sie sind. Hören Sie mir mal zu, Herr Da-

vid!«, empörte sich die Frau durch den Spalt: »Was Sie da ma-

chen, das ist einfach ungehörig! Diese ungeheuerlichen Lügen,

die Sie da au´ringen über meinen Mann. Wenn Sie wüssten, wie

mein Mann sich immer eingesetzt hat, was mein Mann für ein

Mensch ist. Er ist der beste Vater und beste Ehemann, den man

sich wünschen kann. Wenn Sie meinen Mann kennen würden ...«

Während die Ehefrau weiter Gutes über ihren Mann verlauten

ließ, dachte David an die Schilderung einer Zeugin, die sie für die

Anklage zu Protokoll genommen hatten. Sie hatte im Lager als

Sekretärin für den Angeklagten arbeiten müssen. Sie beschrieb

einen jungen polnischen Häftling, den der Angeklagte 4 über

Stunden in seinem Büro in der politischen Abteilung verhört

hatte. ›Das war am Ende, als er mit ihm fertig war, kein Mensch

mehr. Das war nur noch ein Sack. Ein blutiger Sack.‹

© 2018 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-550-05024-4

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B I L D N AC H W E I S E :

Seite 8: © www.ro-klinger.de, Seite 14: © Gerald von Foris,

Seite 16: © Förderkreis historisches Bornheim, Seite 17: © 2018

Derek Metson / fotoLibra, Seite 19: © www.absolutmedien.de,

Seite 20: © www.absolutmedien.de, Seite 21: © Gedenkstein Fritz

Bauer, Fotografie: Frank C. Müller, Frankfurt am Main, https://

commons.wikimedia.org/wiki/File:Frankfurt,_Gedenkstein_

Fritz_Bauer_06_(fcm).jpg?uselang=de, Seite 22: © Erich Dittmann,

Seite 24: © www.absolutmedien.de

L I T E R AT U R T I PP S :

Karl Jaspers: Die Schuldfrage. Für Völkermord gibt es keine

Verjährung. München: Piper Verlag 1979.

Devin O. Pendas: Der Auschwitz-Prozess. Völkermord vor Gericht.

München: Siedler Verlag 2013.

Irmtrud Wojak: Fritz Bauer 1903–1968. Eine Biographie. München:

Verlag C. H. Beck 2009.

V I D E O S U N D TO N BA N DAU F N A H M E N :

Fritz Bauer Institut & Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau

(Hrsg.): Der Auschwitz-Prozess. Tonbandmitschnitte, Protokolle,

Dokumente. DVD/ROM. Berlin: Directmedia Publishing 2004.

Der Staat gegen Fritz Bauer. Regie: Lars Kraume. Drehbuch: Lars

Kraume, Olivier Guez. Deutschland 2015, 105 min.

W E B S E I T E N :

http://www.fritz-bauer-institut.de/

http://www.auschwitz-prozess-frankfurt.de/