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kon traste Presse- und Informationsdienst für Sozialpolitik ARBEITSMARKT AKTUELL SPEKTRUM VERANSTALTUNGEN 9 November 2005

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k o n t r a s t ePresse- und Informationsdienst für Sozialpolitik

ARBEITSMARKT AKTUELL

SPEKTRUM

VERANSTALTUNGEN

SPE KTRUM

9 November 2005

Arbeitsmarkt aktuell

Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Österreich 4

Arbeit und soziale Sicherung 5

Flexibilität und Sicherheit 8

Aktive Teilhabe am Erwerbsleben 9

Frauen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt mehrfach diskriminiert 16

Statistische Unschärfen 18

Die Sozialstiftung - eine Zukunftswerkstatt arbeitsuchender Menschen 21

Vision eines gemeinsamen Arbeitsmarkts in Zentraleuropa 23

Spektrum

Für die sorgen, die für uns sorgen 27

Tauschsysteme 28

Veranstaltungen 35

I N H A L T

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E D I T O R I A L

Liebe Leserin, lieber Leser!

Die gute Nachricht ist die bessere, heißt es. Bezüglichder Arbeitsmarktlage in Österreich vermisst man guteNachrichten allerdings schon seit geraumer Zeit, viel-mehr jagt eine Hiobsbotschaft die andere. Die letztenMeldungen: Ende Oktober waren beim Arbeitsmarkt-service 237.582 Arbeitsuchende gemeldet, um 5,8Prozent mehr als im Oktober des Vorjahres. Zählt mandie in Schulung befindlichen Personen hinzu, waren290.580 Menschen ohne Arbeit. Das ist der höchsteOktober-Wert der Zweiten Republik. Die Arbeitslosig-keit stieg besonders bei Frauen, Jugendlichen, Mi-grantInnen sowie allgemein bei schlecht qualifizier-ten Personen.

Diese Zahlen sind nicht zuletzt Ausdruck bereits län-ger anhaltender Trends. So konstatiert das Wifo seitden 1990er Jahren eine Dynamisierung und Frag-mentierung der Beschäftigung sowie eine Verfesti-gung der Arbeitslosigkeit, vor allem bei jüngeren undälteren Arbeitskräften. Aufgrund der Zunahme derBeschäftigungsfluktuation ist die Betroffenheits-quote stark angestiegen. “In jeder Familie gibt esmittlerweile Arbeitslosigkeit”, so Karl Fakler vom AMSNiederösterreich: “Weniger als acht Prozent der Be-schäftigten sind nach fünf Jahren noch bei der selbenFirma. Jeder Sechste wird einmal im Jahr arbeitslos.”(Die Presse, 3.9.2005)

Parallel zur steigenden Arbeitslosigkeit wird zwarauch ein Beschäftigungswachstum ausgewiesen, die-ses resultiert allerdings in erster Linie aus der Zu-

nahme von Teilzeitjobs sowie atypischer Beschäfti-gungsverhältnisse. Da diese Beschäftigungen in derRegel gering entlohnt sind, sind viele Arbeitnehme-rInnen gezwungen, mehrere Jobs parallel auszuüben,um finanziell über die Runden zu kommen. Dass dasnicht gerade stressfrei abläuft, bedarf wohl keinerbesonderen Erwähnung. Doch auch sonst ist es in derArbeitwelt mittlerweile ziemlich ungemütlich gewor-den ist, wie etwa die Befragungsergebnisse von Re-nate Sepp zeigen: So werden insbesondere Zeitdruckund Personalmangel als Ursachen für psychische Be-lastungen am Arbeitsmarkt genannt.

Während also auf der einen Seite der Druck am Ar-beitsplatz und die Arbeitsintensität ständig zuneh-men, sind auf der anderen Seite immer mehr Men-schen ohne Job. Und manche Personengruppen fin-den überhaupt keinen Zugang zum Arbeitsmarktmehr. An sich eine paradoxe Situation, der Ände-rungsbedarf ist offensichtlich. Für die Integration be-nachteiligter Personengruppen können arbeitsmarkt-politische Maßnahmen wie die Sozialstiftung, dieTrainings und Coachings für Langzeitarbeitslose an-bietet (vgl. Beitrag Ginner), wertvolle Arbeit leisten.Um generell strukturelle Ungleichgewichte am Ar-beitsmarkt abbauen zu können, wird man längerfri-stig um eine Teilung der vermutlich auch in Zukunftknappen Arbeitsplätze und eine damit einhergehendeVerkürzung der Erwerbsarbeitszeit nicht umhin kom-men, meint

Ihre Kontraste-Redaktion

Call for papers

Die Kontraste planen für das erste Halbjahr 2006,folgende Themenkreise schwerpunktmäßig zu be-handeln:*

❚ Atypische und prekäre Beschäftigung (Jänner) ❚ Situation Jugendlicher, Jugendarbeit (Februar)❚ Obdach-, Wohnungslosigkeit (März) ❚ Arbeitsbedingungen, Situation Berufstätiger

(April)❚ Schulden, Verschuldung (Juni)

*Änderungen aus Aktualitätsgründen vorbehalten

Willkommen sind sowohl wissenschaftliche Beiträgewie auch Berichte aus der Praxis, über Projekte,Maßnahmen etc. Der Umfang der Beiträge solltesich zwischen 4.000 und 20.000 Zeichen bewegen(ohne Leerzeichen); Grafiken, Tabellen, Übersichtenetc. sind möglich und erwünscht, gesonderte Mit-sendung im Format des jeweiligen Erstellungspro-gramms (Excel, Photoshop,...) erbeten.

Einreichung jeweils bis zum 20. des Vormonats andie Redaktion ([email protected]) möglich.Für Vorschläge und eventuelle Fragen ersuchen wirSie, gleichfalls die Redaktion (0732/2468-7168) zukontaktieren.

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Entwicklung der Arbeitslosig-keit in ÖsterreichRückblick auf die 1990er-Jahre und Prognosebis 2009

Der Anstieg der Arbeitslosigkeit in den neunziger Jah-ren ist einer Analyse des Wirtschaftsforschungsinsti-tuts (Wifo) zufolge Ausdruck einer Zunahme der Be-schäftigungsfluktuation und einer Verfestigung derArbeitslosigkeit. Zugleich verstärkt sich die Destan-dardisierung von Arbeitsplätzen, die Zahl atypischerBeschäftigungsformen steigt. Dies stellt die sozialenSicherungsmechanismen von Markt, Staat und Ge-sellschaft vor eine neue Herausforderung.

Dynamisierung und Fragmentierung derBeschäftigungDer Strukturwandel löste eine Dynamisierung undFragmentierung der Beschäftigung aus, die sich insteigenden Bewegungen in und aus dem Arbeitsmarktniederschlug. Am Höhepunkt der Entwicklung1996/97 wuchsen die Zugänge in die Beschäftigungum 12,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr, die Abgängeum 12,2 Prozent (2003/04 jeweils rund +4%). DerTeilzeitanteil an der Gesamtbeschäftigung gemäß La-bour-Force-Konzept erreichte im Jahr 2003 18,5 Pro-zent. Zugleich nahmen die Bewegungen in und ausder Arbeitslosigkeit zu. Trotz dieser Tendenz erhöhtesich die Verweildauer in der Arbeitslosigkeit.

Der Anstieg der Arbeitslosigkeit betrifft besondersjüngere und ältere Arbeitskräfte. Die Zunahme der Ju-gendarbeitslosigkeit seit 2000 ist insbesondere dieFolge des Fehlens von “Eintrittspforten” in den Ar-beitsmarkt (Jugendarbeitslosenquote 2000/2004+2,2 Prozentpunkte auf 7,3%). Die Altersarbeitslo-sigkeit war in den neunziger Jahren auf einen ver-stärkten Abbau von älteren Arbeitskräften im sekun-dären Bereich zurückzuführen.

Die Arbeitslosigkeit konzentrierte sich bis 2000 aufPersonen mit geringer und mittlerer Qualifikation.Seither sind alle Qualifikationsebenen von zuneh-mendem Wettbewerbsdruck betroffen, weil die Be-schäftigung im tertiären Sektor schwächer ausgewei-tet wird (kumuliertes Beschäftigungswachstum imTertiärsektor 2000/2004 +3,1% nach +7,0% 1995/2000).

Weil sich die ökonomischen und sozialen Rahmenbe-dingungen ändern und eine soziale Absicherunggegen Arbeitslosigkeit für prekäre und niedrig ent-

lohnte Beschäftigungsformen fehlt, weitet sich derKreis der Bezieherinnen und Bezieher offener Sozial-hilfe laufend aus (2002/03 +4,7% auf 96.100).

Leichte Wirtschaftserholung, jedoch keineArbeitsmarkt-Wende prognostiziertFür die Zukunft sagt das Wifo eine leichte Erholungder heimischen Wirtschaft voraus, sieht mittelfristigaber keine Trendwende am Arbeitsmarkt. In den ver-gangenen fünf Jahren ist Österreichs Wirtschaft dem-nach jährlich real um nur 1,6 Prozent gewachsen. Fürdie kommenden fünf Jahre erwartet das Wifo in sei-ner neuen Mittelfristprognose nun eine leichte Be-schleunigung des Wachstums auf durchschnittlich2,3 Prozent pro Jahr.

Dies werde zwar eine Verringerung des Budgetdefizitsauf minus 0,5 Prozent des BIP bis 2009 ermöglichen.Auf Grund des hohen Zustroms an Arbeitskräften rei-che das Wachstum aber nicht aus, um eine Trend-wende auf dem Arbeitsmarkt herbeizuführen. Die Ar-beitslosigkeit bleibe damit “das Hauptproblem derösterreichischen Wirtschaftsentwicklung”, so dasWifo.

Die Prognose unterstellt, dass der Konsum der priva-ten Haushalte seine lange Schwächephase allmählichüberwindet und sich das Wachstum der Konsumaus-gaben von 1,4 auf 2,1 Prozent beschleunigt. Außer-dem sagt das Wifo ein zunehmendes Wachstum derExporte voraus - bis 2009 real um 6,5 Prozent proJahr. Dies wiederum habe auch eine Verstärkung derInvestitionstätigkeit zur Folge. Für die Baukonjunkturerwarten die Wirtschaftsforscher durch Impulse inder Verkehrsinfrastruktur und im Wohnbau eine Be-schleunigung des Wachstums von ein auf zwei Pro-zent.

Die Prognose basiert allerdings auf der Annahme,dass sich die Überbewertung des Euro gegenüber demDollar mittelfristig verringert und die Erdölpreise aufdem Weltmarkt sinken. Die Inflation bleibt laut Pro-gnose dennoch in jedem Fall bis 2009 schwach beidurchschnittlich 1,75 Prozent.

Arbeitslosigkeit bleibt Hauptproblem Selbst wenn in den kommenden vier Jahren die Rah-menbedingungen in Österreich und weltweit gut sind,wird die Arbeitslosenzahl weiter steigen. Das Wirt-schaftsforschungsinstitut geht davon aus, dass die An-zahl von heuer knapp 247.000 Arbeitslosen auf fast260.000 im Jahr 2009 ansteigen wird. Die Zahl derMenschen ohne Job, aber in Schulung - zuletzt knapp53.000 Personen - ist darin noch nicht eingerechnet.

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Gleichzeitig steigt die Beschäftigung um 0,9 Prozentpro Jahr. “Die Erholung von Exportindustrie und Bau-wirtschaft wird auch eine Ausweitung der Vollzeitar-beitsplätze zulassen, überwiegend dürfte sie aberTeilzeitstellen betreffen”, so das Wifo. Noch rascherwächst allerdings das Angebot an Arbeitskräften. Diesgeht auf hohe Einbürgerungsraten, regen Zustromausländischer Arbeitskräfte und die Anhebung desFrühpensionsalters zurück, erklären die Wirtschafts-forscher.

Die durchschnittliche Arbeitslosenquote bleibt imPrognosezeitraum auf dem Niveau des Jahres 2005(7,1% der unselbständigen Erwerbspersonen bzw. 4,5Prozent der Erwerbspersonen laut Eurostat). Sie liegtdamit deutlich über jener der Periode 1999/2004(6,6% bzw. 4,1%).

Quellen: APA; WIFO-Pressenotiz vom 25.7.2006;www.news.at

Arbeit und soziale SicherungÖkonomische und gesellschaftliche Mythenverhindern eine erfolgreiche Armutsbekämp-fung, so die OrganisatorInnen der 6. Öster-reichischen Armutskonferenz, die am 18. und19. Oktober in Salzburg stattfand. In Forum 2wurde der für unsere Gesellschaft zentraleMythos, dass soziale Sicherheit nur durch(immer mehr) Erwerbsarbeit herstellbar sei,zur Diskussion gestellt.

Soziale Sicherheit wird durch Erwerbsarbeit in Pro-duktionsprozessen von Waren für den Markt und Er-

werbsarbeit wird durch Wirtschaftswachstum sicher-gestellt. Dieser Argumentationskette wird trotz ver-schiedener Einwände seit der „Geburt“ der Wirt-schaftswissenschaft als eigener Disziplin gegen Endedes 18. Jahrhunderts Glauben geschenkt. Zu Unrecht,meint die Bremer Wirtschaftswissenschaftlerin Adel-heid Biesecker, deren Thesen von Michaela Moser beider diesjährigen Armutskonferenz zu Beginn des Fo-rums “Hauptsache Arbeit? Mythos Soziale Sicherheitdurch Erwerbsarbeit” vorgestellt wurden.

Licht und SchattenBiesecker kritisiert vor allem die auf John Lockezurückgehende Definition von Arbeit als das, was derNatur Wert zusetzt, sowie die Reduktion dieser Arbeit

Ø 1999/ Ø 2004/2004 2009

Bruttoinlandsprodukt Real 1,6 2,3 2 2,2 2,3 2,4 2,2 2,4 Nominell 3,3 3,9 3,9 4,5 3,9 3,8 3,5 3,7Verbraucherpreise 2 1,7 2,1 2,5 1,8 1,6 1,5 1,4Lohn- und Gehaltssumme jeBeschäftigten1) 2 2,3 2,2 2,3 2,5 2,2 2,1 2,2Unselbständig aktivBeschäftigte 2) 0,3 0,9 0,7 0,8 0,9 1,1 1 1

Arbeitslosenquote In % der Erwerbspersonen3) 4,1 4,5 4,5 4,5 4,5 4,5 4,5 4,5 In % der unselbständigenErwerbspersonen4) 6,6 7,1 7,1 7,1 7,1 7 7,1 7,1

Außenbeitrag 3,5 5 4,8 4,8 4,7 4,9 5,1 5,5Finanzierungssaldo desSt t Laut Maastricht-Definition –0,8 –1,3 –1,3 –2,0 –1,8 –1,3 –0,9 –0,4

Sparquote der privatenHaushalte 8,4 9,4 9,2 9,6 9,6 9,4 9,3 9,2

In %

In % des BIP

In % des verfügbaren Einkommens

2007 2008 2009

Jährliche Veränderung in %

2004 2005 2006

Hauptergebnisse der Wifo-Prognose

Quelle: Wifo online

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auf Erwerbsarbeit. Denn damit waren a priori zweiwesentliche, gleichfalls produktive Kräfte aus diesem„Fortschrittsmodell“ ausgeschlossen: die Frauen mitder „sozial-weiblichen Produktivität in der Sorge-Ar-beit“ und die Natur mit der ihr eigenen Produktivität.Beide wurden in der ökonomischen Theorie bloß als„reproduktive Voraussetzung“ der Produktivität fürden Markt gesehen. Die Arbeit als Ganzes war inso-fern von Vornherein getrennt in die Erwerbsarbeit ei-nerseits, die seitdem „im Licht“, und die Sorge-Arbeitund die Evolution der Natur andererseits, welchefortan „im Schatten“ standen.

Von diesem generellen Mythos leiten sich für Bies-ecker verschiedene andere Mythen ab, die sie gleich-falls einer kritischen Betrachtung unterzieht. Sie un-terscheidet dabei zwischen „alten Mythen“ (1-5), diefür unser Wirtschaftssystem insgesamt konstitutivsind, und „neuen Mythen“ (6-9), die sich im Zuge derneo-liberalen Globalisierung herausgebildet habenund welche die alten Mythen noch verstärken.

Alte MythenMythos 1 reduziert Arbeit ausschließlich auf Erwerbs-arbeit. Nur diese sei produktiv resp. wertschöpfend.Biesecker verweist dagegen auf die vielfältigen Formender Arbeit: Neben Erwerbsarbeit gebe es Sorge-Arbeit,

bürgerschaftliches Engagement, Eigenarbeit. Alle dieseArbeitsformen tragen zur Wertschöpfung bei.

Mythos 2 besagt, dass alle gleichermaßen an der Er-werbsarbeit teilhaben können. Bieseckers Gegen-these: In Wirklichkeit entscheidet das Profitinteresseüber die Teilnahme an der Erwerbsarbeit. Über dieAnzahl der Arbeitsplätze entscheidet das Manage-ment der Unternehmen, hinter denen, wenn sie Kapi-talgesellschaften sind, die Aktionäre stehen. DerenZiel ist nicht ein möglichst hoher Beschäftigtenstand,sondern ein möglichst hoher Profit. Dieser lässt sichheute oft über Entlassungen steigern. Außerdem be-ruht die Organisation der Erwerbsarbeit auf einemhierarchischen Geschlechtervertrag, der die sorgen-den und reproduktiven Tätigkeiten immer nochprimär den Frauen zuweist. Dies behindere deren Teil-nahmechancen am Arbeitsmarkt.

Mythos 3: Wachstum steigert das Volumen der Er-werbsarbeit, Wachstum führt zu Vollbeschäftigung.Biesecker hinterfragt jedoch die positive Wirkung destechnischen Fortschritts als Grundlage des Wachs-tums, da dieser in der Vergangenheit immer wieder zugroßen Entlassungswellen führte. Schon der klassi-sche Ökonom David Ricardo hegte aufgrund seinerBeobachtungen diese Zweifel, hoffte aber auf eine

„Sozial ist Arbeit, von der man leben kann“

Solange Mythen wie “Sozial ist nur, was Arbeitschafft” oder “Soziale Sicherung hemmt die Wirt-schaft” nicht vom Tisch sind, wird es zur keiner Ver-besserung der Lebenssituation sozial Benachteiligterkommen. Die 6. Österreichische Armutskonferenzstellte es sich zur Aufgabe, “all die ökonomischenMärchen, die Menschen arm machen, zu entlarven”.

“Sozial ist Arbeit, von der man leben kann”, stellt dieArmutskonferenz dem Mythos “Sozial ist nur, was Ar-beit schafft” entgegen. Die steigende Zahl von Men-schen, die trotz Arbeit arm sind, zeigt sich in der So-zialhilfe ebenso wie in den Daten des Sozialberichtsder Regierung, so die Armutskonferenz. Der Mythos“Arbeit um jeden Preis” verhindert den Blick auf diewachsenden Existenznotstände in Billigjobs, vondenen in erster Linie Frauen betroffen sind. Und vielewirtschaftlich und gesellschaftlich notwendige Ar-beiten werden überhaupt massiv unterbezahlt er-bracht: Abendessen kochen, Socken waschen, ältereFamilienangehörige pflegen, kranke Kinder versorgen.

Schweden, Dänemark, Österreich, Belgien und dieNiederlande liegen im europäischen Vergleich imobersten Drittel mit ihrem Bruttoinlandsprodukt (BIP)pro Kopf. Die gleichen Länder finden sich auch bei denSozialausgaben im obersten Drittel Europas. Däne-mark zum Beispiel ist mit 27.000 Euro BIP pro Kopfunter den besten Dreien und bei den Sozialschutzaus-gaben mit 29,5 Prozent des BIP an vierter Stelle. Fak-ten, welche der Armutskonferenz zufolge den Mythos“Soziales schadet der Wirtschaft” widerlegen.

“Die soziale Herkunft bestimmt nach wie vor die Zu-kunftschancen von Kindern. Aus armen Kindernwerden arme Eltern, aus reichen Kindern reiche El-tern”, korrigiert die Armutskonferenz den Mythos:“Wer will, kann gewinnen”. Diese und andere ökono-mische und gesellschaftliche Mythen blockieren ge-nerell die Bemühungen für eine Verbesserung derLebenssituation Armutsbetroffener, so die Propo-nentInnen der Österreichischen Armutskonferenz.

Quelle: www.armut.at

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Kompensation der Beschäftigungsverluste durch dieExpansion neuer Industrien. Für Biesecker eine trüge-rische Hoffnung, da die neuen Industrien im Reifesta-dium gleichfalls Arbeitskräfte freisetzen würden.

Mythos 4: Für dieses Wachstum steht die Natur un-begrenzt zur Verfügung. Man braucht sich um sienicht zu kümmern. Biesecker warnt jedoch: Durch dieWachstumswirtschaft werde die Natur sukzessivezerstört. Notwendig sei daher zukunftsfähiges undnachhaltiges Wirtschaften und Arbeiten, wodurch dieFähigkeit der Natur zur Produktion und Reproduktionsichergestellt werde und erhalten bleibe.

Biesecker bezweifelt weiters, dass soziale Sicherheitausschließlich durch Erwerbsarbeit – entweder überden Lohn oder subsidiär über die an die Erwerbsarbeitgeknüpften Versicherungssysteme – generiert wird(Mythos 5). Der Lohn wird zwischen Gewerkschaftenund Arbeitgebern ausgehandelt und hängt damitstark vom Machtverhältnis zwischen diesen beidenab. Dass der Lohn auch zu einem „guten Leben“reicht, ist somit nicht in allen Fällen garantiert. Unddie sozialen Sicherungssysteme sind stark auf die Er-werbsarbeit fixiert. Sie bieten somit allenfalls Sicher-heit für diejenigen, die an dieser Erwerbsarbeit –wenn nicht immer, so zumindest über längere Zeithinweg – teilnehmen können und dürfen.

Neue Mythen im Prozess der neoliberalenGlobalisierungDie neoliberale Globalisierung dehnt das Prinzip derErwerbsarbeit global aus. Dabei entsteht als neuerMythos (6): Märkte „schaffen“ Erwerbsarbeit, sofernsie nicht reguliert werden, sondern sich frei entfaltenkönnen. Nur dann komme ihre Wohlfahrtswirkung zurGeltung. Biesecker gibt zu bedenken, dass Märktekeine sich selbst regulierenden Automatismen, son-dern gesellschaftliche Konstrukte sind. Ihre Fähigkeitbesteht vor allem darin, über Preise eine bestmögli-che Allokation der Produktionsfaktoren zu erreichen.Nur dies werde im Wohlfahrtsbeitrag von Märktenausgedrückt. Märkte haben jedoch keine soziale undauch keine ökologische Dimension. Diese müsse ihnendaher durch Staat und Gesellschaft gegeben werden.

Mythos 7 dreht sich um den Fetisch „Wettbewerbs-fähigkeit“. Diese könne nur erhöht werden, wenn dieLöhne sinken oder - was auf das Gleiche heraus-kommt - wenn die Arbeitszeiten bei konstanten Löh-nen steigen. Adelheid Biesecker weist aber darauf hin,dass Wettbewerb nicht Endzweck, sonder bloß Mittelzum Zweck sei. Wenn es den arbeitenden Menschendurch mehr Wettbewerb schlechter geht, sieht sie

dies als Hinweis darauf, dass der Markt nicht alleinfür die Wohlfahrt der Menschen sorgen kann unddass deshalb der Staat regulierend eingreifen muss.

Weiters führen Lohnsenkungen zu sinkender Nach-frage und damit zu Konkursen von Unternehmen, diegerade auf die Binnennachfrage angewiesen sind, wieHandwerksbetriebe oder Klein- und Mittelbetriebe,die Waren und Dienstleistungen für den lebensnahenBedarf bereitstellen. Auch könne der Wettbewerbetwa mit osteuropäischen und asiatischen Ländernnicht auf Basis niedriger Lohnkosten, sondern nurdurch Spezialisierung, Kundenbindung und technolo-gischen Vorsprung gewonnen werden. Mit diesem Ar-gument werde auch Mythos 8 entkräftet, demzufolgedurch Lohnsenkungen der Weg zur Vollbeschäftigungbeschritten werde, da die Unternehmen bei niedrige-rem Lohn mehr Arbeitskräfte nachfragen würden.

Mythos 9 schließlich verleiht der weit verbreitetenAnsicht Ausdruck, dass die globale Ausdehnung derMärkte zur Integration aller weltweit führen würde.Auch diesem globalen Wohlfahrtsversprechen kannBiesecker wenig abgewinnen, da für sie bereits dieKonstruktion der kapitalistischen Marktgesellschaft,die eine Eigentümergesellschaft ist, Ausschlüsse be-inhaltet. Die Globalisierung transportiert bloß diesesAusschlussprinzip, d.h. sie führt zu neuen Ein- undAusschlüssen. Diese betreffen z.B. die Armen undviele MigrantInnen in den Ländern des Nordens sowieganze Länder und Kontinente des Südens, wie z.B.große Teile Afrikas.

Alternative PerspektiveAbschließend fordert die Bremer Ökonomin eine an-dere Sichtweise auf die „Natur der Arbeit“, ausgehendvon den sorgenden Tätigkeiten auf „das ungetrennte,gleichwertige Ganze der Arbeit“. Es geht ihr um eineNeubewertung und Neuverteilung der Arbeit, um eineVerkürzung der Erwerbsarbeitszeit, um Mindestlöhne,ein BürgerInneneinkommen, um eine adäquate Infra-struktur für die Kinderversorgung und vieles mehr. EineAusformulierung dieser Gedanken findet sich in zahl-reichen Publikationen, von denen hier nur der gemein-sam mit Matthes, Schön und Scurrell herausgegebeneBand „Vorsorgendes Wirtschaften. Auf dem Weg zueiner Ökonomie des guten Lebens“ (Bielefeld 2000) her-vorgehoben werden soll. Gegenwärtig bereitet Adel-heid Biesecker ein Lehrbuch mit dem Titel „Mikroöko-nomik aus sozial-ökologischer Perspektive“ vor. [hs]

Quellen: Handouts zur 6. Österreichischen Armuts-konferenz, 19./20. Oktober 2005, Bildungshaus St.Virgil, Salzburg; www.nachhaltigkeit-neu-denken.de

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Flexibilität und SicherheitBei den Alpbacher Reformgesprächen 2005diskutierten WissenschafterInnen und Prakti-kerInnen über die Auswirkungen der Arbeits-marktflexibilisierung auf die Entwicklung dersozialen Versorgungs- und Sicherheitssy-steme. Angela Wegscheider fasste den Vor-trag der Wifo-Arbeitsmarktexpertin GudrunBiffl zusammen.

Alle reden von Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Oftwird damit die Flexibilität der ArbeitnehmerInnen zu-gunsten der ArbeitgeberInnen angesprochen: Flexibi-lität der Lebens– und Tagesarbeitszeit, Flexibilität derProduktionsprozesse, Flexibilität durch Mobilität, Fle-xibilität durch Weiterbildung, Flexibilität der Löhneund vieles mehr. Nur was ist mit Flexibilität genaugemeint?

Gudrun Biffl beleuchtet Flexibilität von der wissen-schaftlichen Seite her. Ihrer Meinung nach wird nur inBezug auf die verschiedenen Formen der Flexibilitätdie Notwendigkeit der Anpassung der einzelnen Si-cherheitsnetze deutlich.

Ebenen der FlexibilisierungDas Konzept der Flexibilität bezieht sich auf die An-passungsfähigkeit des Arbeitsmarktes und der Ak-teure an geänderte wirtschaftliche Rahmenbedingun-gen. Aus der Sicht Biffls ist zu unterscheiden zwi-schen

❚ makroökonomischer Arbeitsmarktflexibilität, diesich auf die Anpassungsfähigkeit nationaler Ar-beitsmärkte bezieht, und

❚ mikroökonomischer Arbeitsmarktflexibilität, diesich auf die Anpassungsfähigkeit der Betriebe undihrer Belegschaften an den Wandel der wirt-schaftlichen, technologischen und gesellschaftli-chen Rahmenbedingungen bezieht.

Überbetriebliche ArbeitsmarktflexibilitätBei der makroökonomischen Arbeitsmarktflexibilitätspielen insbesondere die Sozialpartner als institutio-nalisierte Vermittler und Konfliktmanager bei wirt-schafts- und sozialpolitischen Entscheidungen einezentrale Rolle. Ihre Aufgabe ist es sicherzustellen,dass zum Beispiel wohlerworbene Rechte, etablierteStrukturen, traditionelle Kontakte zwischen Betriebenoder zwischen ArbeitnehmerInnen und Arbeitgebe-rInnen nicht zu Rigiditäten führen. Die Art und Weise,wie diese institutionalisierten Interessen zusammen-

arbeiten, hat Auswirkungen auf die Anpassungsfähig-keit des Arbeitsmarktes an neue Herausforderungenund damit für das Wirtschafts- und Beschäftigungs-wachstum.

Betriebliche ArbeitsflexibilitätDie mirkoökonomische Flexibilität bezieht sich auf dieAnpassungsfähigkeit der einzelnen Betriebe und ihrerBelegschaften an den Wandel der Märkte, der Pro-dukte und Produktionsprozesse. Es ist nicht nur der(globale) Markt, der neue Herausforderungen mit sichbringt, sondern es sind vor allem auch Änderungen inder Struktur des Arbeitskräfteangebotes (mehrFrauen, ältere ArbeitnehmerInnen, MigrantInnen), dieeine betriebliche Arbeitsplatzflexibilisierung notwen-dig machen. Bei der mikroökonomischen Arbeits-marktflexibilisierung ist Biffl zufolge zwischen nume-rischer, zeitlicher, funktionaler und lohnkostenspezifi-scher Flexibilität zu unterscheiden:

1. Numerische Flexibilität bedeutet die Anpassungder Zahl und Struktur der Beschäftigten an geän-derte Bedingungen mit dem Ziel der Kostenmini-mierung.

2. Arbeitszeitflexibilität hat das Ziel der Kosten-senkung, etwa bei der Senkung der Kosten durchArbeitskräftefluktuation (Such- und Anlernko-sten) oder bei der kontinuierlichen Nutzung derBetriebsanlagen (Schichtdienst, Arbeitszeitanpas-sung bei saisonalen Schwankungen).

3. Unter funktionaler Arbeitsflexibilität verstehtman die Anpassung der Qualifikationen der Ar-beitskräfte an den Bedarf (gezielte Qualifizierungder ArbeitnehmerInnen).

4. Lohnkostenspezifische Arbeitsflexibilität ist dieAbhängigkeit der Entlohnungssysteme von derBeschäftigungsform (z.B. neben dem Grundlohnwird eine erfolgsabhängige Prämie ausbezahltoder es werden lohnabhängige ZeitarbeiterInneneingestellt).

Die betriebliche Praxis Theoretisch werden Betriebe auf allen vier Ebeneneine Flexibilisierung mit dem Ziel der Produktivitäts-steigerung anstreben. Dies funktioniert in der Praxisoft nicht, die verschiedenen Flexibilisierungsformenbehindern sich gegenseitig oder sie treten komple-mentär auf (z.B. funktionale Flexibilität und Arbeits-zeitflexibilisierung).

Wie die mikro-ökonomische Arbeitsflexibilisierungzum Einsatz kommt, bestimmen höchst unterschied-liche Faktoren wie beispielsweise die Branchenzu-

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gehörigkeit, die Größe und der Standort des Betrie-bes, die Regelmechanismen am Arbeitsmarkt. Nebenfirmenspezifischen und firmeninternen Faktoren be-einflussen auch firmenexterne Einflüsse den Flexibili-sierungsgrad. So können eine schwache Regelungs-dichte und ein geringer gewerkschaftlicher Organisie-rungsgrad dazu beitragen, dass Betriebe vor allem dienumerische Flexibilisierung anwenden. Eine korpora-tistische Organisation, die auf einem Ausgleich derArbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen beruht,wird dazu beitragen, so die Wifo-Expertin, dass Be-triebe schwerpunktmäßig die funktionale Flexibilisie-rung anwenden. Aber im Endeffekt, so Biffl, strebendie Betriebe eine Parallelität verschiedener Beschäfti-gungsformen an:

❚ Eine Kernbelegschaft für die kontinuierliche Si-cherung der Produktion/Dienstleistung.

❚ Der Rückgriff auf Zeitarbeiter als Reaktion bei sai-sonalen und konjunkturellen Schwankungen.

❚ Spezialisten und Konsulenten (z.T. neue Selbst-ständige) mit zeitlich beschränkten Verträgen.

❚ Unternehmensorientierte Dienstleistungen wieLogistik, Werbung, Personal werden ausgelagert.

Zunehmende Flexibilisierung: Wer trägt dieKosten?Nichtsdestotrotz bringt Flexibilisierung eine Ver-schärfung der Beschäftigungsunsicherheit mit sichund führt zu einer Ausweitung der Einkommensun-terschiede infolge der Schwäche der Sozialpartner, soGudrun Biffl. Lohn- und Arbeitszeitregelungen ver-schieben sich von der Branchenebene auf die Be-

triebsebene. Die verstärkte Internationalisierung ver-ringert die Vorteile eines Lohnverhandlungssystems.Die Sozialpartner verlieren zunehmend ihren Einfluss.

Die weltweite Flexibilisierung der Produktions- undDienstleistungsprozesse geht Hand in Hand mit einersozialen Flexibilisierung. Die verstärkte Individualisie-rung der Gesellschaft impliziert eine zunehmende Ei-genverantwortung, die nur sichergestellt ist, wenndas Sozialnetz auf das Individuum und dessen Absi-cherung abgestimmt ist. Die soziale Absicherung, diesich an traditionelle Familienstrukturen, lebenslangerBeschäftigung ohne Unterbrechung und einem Nor-malarbeitszeitverhältnis orientiert, ist schon heutefür bestimmte Personengruppen oder Personen in be-stimmten Lebensphasen nicht mehr gewährleistet.Die zunehmende Heterogenität der Arbeitskräfte ver-langt, dass neue Gruppierungen in den kollektivenVerhandlungsprozess aufzunehmen sind. Zusätzlichgibt es neue Konfliktpotentiale, wie z.B. die Verschär-fung der Insider-Outsider-Problematik der Beschäf-tigten und Arbeitslosen.

Eine Anpassung der gesellschaftlichen Rahmenbedin-gungen, wie die Förderung des Lebenslangen Lernens,die Sicherung einer flexiblen Kinderbetreuung undeine Pensionsversicherung, die eine flexible Lebensar-beitszeit zulässt, würde zum Vorteil aller sein. Flexibi-lisierung kann nicht allein als die Aufgabe der Arbeit-nehmerInnnen gesehen werden. Die Verantwortungzur Flexibilisierung muss aufgeteilt werden zwischenStaat, Wirtschaft und Gesellschaft.

Angela WegscheiderInstitut für Gesellschafts- und Sozialpolitik

Aktive Teilhabe amErwerbsleben Unter welchen Bedingungen sind Arbeitneh-merInnen bereit und motiviert, länger erwerb-stätig zu bleiben, und welche Unterstützungkann dabei das Oberösterreichische Bildungs-konto leisten?

Zur Beantwortung dieser Fragen führte das Institutfür Berufs- und Erwachsenenbildungsforschung ander Universität Linz im Juli 2003 die Studie „Arbeit –Alter – Anerkennung“ durch. Im Auftrag der Arbeiter-kammer und der oberösterreichischen Landesregie-rung wurden 843 unselbstständig Beschäftigteschriftlich zu diesem Thema befragt.

Vor dem Hintergrund des demografischen Wandelsverändert sich auch die Beschäftigtenstruktur amArbeitsmarkt und in den Betrieben. Die Arbeitneh-merInnen über 45 werden zur größten Gruppe an-wachsen, während weniger Junge am Arbeitsmarktverfügbar sind. Das „aktive Altern“ gewann durch diebeschäftigungspolitischen Leitlinien von 2002 (Euro-pean Foundation, 1997, 2000), besondere Bedeu-tung. Das Thema „länger arbeiten wollen und kön-nen“ ist mittlerweile zu einem Spitzenthema des Per-sonalmanagements, der Sozialpartner und der For-schung geworden.

Die Analysen der Studie „Arbeit – Alter – Anerken-nung“ (Blumberger et al, 2004) sind anhand einesModells in diesem Artikel zusammengefasst und er-läutern die einzelnen Beziehungen und Wirkungensowie strategische Faktoren, die einen längeren Ver-

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bleib im Beruf ermöglichen und motivieren können.Dargestellt werden einige Ergebnisse zu den Arbeits-bedingungen, der Gesundheitssituation sowie zurWeiterbildung, dabei richtet sich der Blick verstärktauf die „Älteren“.

DemografieEin „Agequake“ ist auch für Oberösterreich absehbar:Die Zahl der unter 20-Jährigen wird bis 2015 ummehr als 60.000 Personen sinken. Insgesamt wird sichdie Zahl der OberösterreicherInnen im Erwerbsalterab 2010 drastisch verringern (vgl. Abbildung 1). DasDurchschnittsalter der Personen im Erwerbsalter wirdim Zeitraum von 2000 bis 2030 von 39 auf 43 Jahresteigen. Dafür verantwortlich sind die niedrigen Ge-burtenziffern, die steigende Lebenserwartung und diekaum nennenswerte Rolle der Zuwanderung.

Demografische Entwicklungen haben schon in derVergangenheit die altersrelevanten gesellschaftlichenInstitutionen nachhaltig beeinflusst, den Kindergar-ten, die Schulen und die Lehrstellensituation, den Ar-beits- und Wohnungsmarkt etc. Sie werden nunmehrdie Systeme der sozialen Sicherheit ebenso verändernwie die Situation in den Betrieben. Die Gruppe der40- bis unter 60-Jährigen wird schon bis 2021 vor-aussichtlich um elf Prozent gestiegen sein, die jünge-ren Bevölkerungsgruppen werden sich aber deutlichverringern und zwar bei den unter 20-Jährigen um19,7 Prozent und bei den 20 bis unter 40-Jährigenum 16,2 Prozent. Nimmt man eine gleich bleibendeErwerbsquote der Personen im Erwerbsalter an (inOberösterreich rund 71%) und eine gleich bleibendeAnzahl von Arbeitsplätzen (ca. 654.000), dann könntedas zu einer deutlichen Knappheit an Arbeitskräftenführen.

Mit dem Älterwerden der MitarbeiterInnen stellt sicheinerseits für die Unternehmen die Aufgabe, die Ar-beit so zu gestalten, dass die Erhaltung der Lei-stungsfähigkeit älterer MitarbeiterInnen gewährlei-stet werden kann. Vor dem Hintergrund, dass im Alterbestimmte Fähigkeiten abnehmen, andere hingegenzunehmen bzw. sich entwickeln (Menges, 2000),könnte diese Erkenntnis genützt werden, indem Ar-beitsplatzadaptierungen vorgenommen werden, diediesen „Umbauprozess im Alter“ berücksichtigen. An-dererseits sind die ArbeitnehmerInnen aufgefordertetwas beizutragen, beispielsweise durch Weiterbil-dung, Einstellungswandel und Gesundheitsbewusst-sein.

Untersuchungsdesign Die demografischen Veränderungen erfordern, dassArbeitnehmerInnen länger als bisher berufstätig blei-ben. Zentrales Thema ist, unter welchen Bedingungenkönnen (Fähigkeit) und wollen (Motivation) ältere Er-wachsene länger als bisher “prodaktiv” („produktiv“tätig sein und „aktiv“, selbstbestimmt leben) am Er-werbsleben teilnehmen? Die Bearbeitung dieser Fra-gestellung bleibt insofern eingeschränkt, als ein zen-trales Thema, nämlich die Arbeitsmarktentwicklung,ausgeblendet bleibt.

Theoretische Grundlagen der Studie „Arbeit – Alter –Anerkennung“ bilden die Zwei-Faktoren-Theorie(Herzberg, 1959) und das salutogenetische Konzept(Antonovsky, 1997). Arbeitsmotivation erklärt sichnach Herzberg aus zwei voneinander unabhängigenDimensionen, nämlich der „Arbeitszufriedenheit“ (in-trinsische Faktoren) und der „Unzufriedenheit mit derArbeit“ (extrinsische Faktoren).

Abbildung 1: Bevölkerungsentwicklung in Oberösterreich 2000 - 2030

Quelle: Statistik Land OÖ

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Durch die Aufnahme der „Fähigkeit“, erwerbstätigbleiben zu können, – die aus den Dimensionen „Ge-sundheit“ und „Qualifikation“ abgeleitet wird – in dasUntersuchungsmodell wird das Zwei-Faktoren-Kon-zept erweitert. Berücksichtigt wurde des Weiterendas Spannungsverhältnis „Beruf – Privat“ als ein be-einflussender Faktor der Motivation.

Besondere Bedeutung kommt der „Gesundheit“ imUntersuchungsmodell zu, die im Rahmen des saluto-genetischen Konzepts gedacht wird. Das salutogene-tische Modell ist ein biopsychosoziales Modell, indem man nicht entweder „gesund“ oder „krank“ ist,sondern sich auf einem Kontinuum zwischen „ge-sund“ und „krank“ befindet. Gesundheit bzw. Krank-heit sind demnach das Ergebnis eines komplexen Zu-sammenwirkens u.a. von biologischen, psychischen,physischen, sozialen und ökologischen Faktoren. Dassalutogenetische Konzept fokussiert vor allem darauf,was es den Menschen ermöglicht, trotz krankma-chender Einflüsse gesund zu bleiben. Diese Überle-gungen werden insofern mitgedacht, da das subjek-tive Gesundheitserleben einen Einfluss darauf hat, er-werbstätig zu bleiben.

Modell für „60+ wollen und können“ –aktive Teilhabe am ErwerbslebenDie einzelnen Beziehungen und Wirkungen aus derAnalyse der Befragungsergebnisse wurden in einemallgemeinen Modell (Abbildung 2) mit den strategi-

schen Faktoren abgebildet, die einen längeren Ver-bleib im Beruf ermöglichen und motivieren können.

Das „arbeitsbezogene Wohlgefühl“ ist die zentraleVariable für die Möglichkeit und Motivation, einenlängeren Verbleib im Beruf zu akzeptieren oder zu er-wägen. In Abbildung 2 sind jene Faktoren und Varia-blen eingezeichnet, die das „arbeitsbezogene Wohl-gefühl“ beeinflussen. Die Richtung des Einflusses, po-sitiv (+) oder negativ (-), ist oberhalb oder rechts deszugehörigen Richtungspfeils eingetragen. Unbe-nannte Richtungen des Einflusses zeigen eine diffe-renzierte Wirkung an. In den Ellipsen werden die stra-tegischen Faktoren benannt, die auf betrieblicher undindividueller Ebene den längeren Berufsverbleib för-dern und unterstützen.

Ergebnisse zu den ArbeitsbedingungenDie Bedingungen der Arbeit wurden mit 18 Merkma-len erfasst:

1. Sozialleistungen2. Soziale Arbeitsplatzsicherheit 3. Unternehmensimage4. Kollegiale Arbeitsbeziehungen5. Hierarchische Arbeitsbeziehungen6. Arbeitzeitregelung7. Weiterbildungsmöglichkeit8. Leistungsgerechtes Einkommen9. Anerkennung

Abbildung 2: Modell für „60+ wollen und können“ – Teilhabe am Erwerbsleben

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10. Arbeitsplatzgestaltung11. Mitsprache12. Soziale Aktivitäten13. Urlaubseinteilung14. Anreizsystem15. Aufstiegschancen16. Gewerkschaftliche Vertretung17. Technische Ausstattung des Arbeitsplatzes18. Verantwortungsbereich

Den Befragten wurden diese Merkmale vorgelegt undes wurde sowohl nach dem Grad der „Wichtigkeit“gefragt als auch nach dem Ausmaß der „Zufrieden-heit“. Damit kann eine zusätzliche Dimension gewon-nen werden, nämlich die individuelle „Passung“ desMerkmals1.

Was an der Arbeit wichtig ist, bleibt über die Lebens-jahre hinweg relativ konstant, nämlich ein sicherer Ar-beitsplatz, gute Arbeitsbeziehungen zu KollegInnenund Vorgesetzten sowie ein leistungsgerechtes Ein-kommen. Der „sichere Arbeitplatz“ erhält aber mit zu-nehmendem Alter eine größere Bedeutung. Anderer-seits messen über 55-jährige Befragte den „Interes-santen Weiterbildungsmöglichkeiten“ und den „GutenAufstiegsmöglichkeiten“ eine geringere „Wichtigkeit“bei. Die größten Differenzen (mangelhafte Passung)zwischen „Wichtigkeit“ und „Zufriedenheit“ bei über55-Jährigen sind beobachtbar bei der „Belohnung vonLeistung“, der „Beruflichen Perspektive“ und bei der„Gesunden Arbeitsplatzgestaltung“. Diese Gruppe istauch signifikant weniger mit den Arbeitsbedingungenzufrieden als jüngere Beschäftigte.

Die „Arbeitsbedingungen“ haben einen großen Ein-fluss auf das „arbeitsbezogene Wohlgefühl“. Sind dieBefragten damit zufrieden, dann fühlen sie sich ins-gesamt in der Arbeit wohler und neigen dazu, auchlänger berufstätig zu bleiben. Erleben sie hingegenkörperliche und/oder psychische Belastungen, sinktdiese Bereitschaft.

Ergebnisse zur GesundheitssituationGesundheit ist eine der wichtigsten Voraussetzungen,um überhaupt länger im Erwerbsleben bleiben zukönnen. Sie wird unter anderem von der Berufsbio-grafie, den derzeitigen Arbeitsbedingungen und vomLebensstil bestimmt.

Erwerbstätigkeit unterliegt nicht zuletzt durch dieÜbernahme neuer Technologien immer schnellerenVeränderungsprozessen. Mit dem Wandel der Arbeitverändern sich auch die Belastungen und Beanspru-chungen dahingehend, dass sich die körperlichen Be-

lastungen eher verringern, während die psychischenBelastungen zunehmen (Verschiebung der Diagnosenu.a. aufgrund fortschreitender Erkenntnis).

Es liegt in der Natur der Sache, dass manche Krank-heiten jahrzehntelang schlummern oder nur geringeBeeinträchtigungen in Erscheinung treten und erst imAlter die Leistungsfähigkeit dadurch eingeschränktwird oder gar verloren geht. Darüber hinaus wird esgerade mit fortschreitendem Alter immer wahr-scheinlicher, dass es gleichzeitig zu mehreren Erkran-kungen bzw. Beeinträchtigungen kommt.

Die Arbeitsbelastungen wurden in der Befragung mit17 Merkmalen erfasst. Grundsätzlich zeigt sich, dasssich die über 45-jährigen befragten ArbeitnehmerIn-nen gesundheitlich eher belastet fühlen als jüngere,wobei insofern interessante Unterschiede zu beob-achten sind, als ältere Männer signifikant häufigerpsychische Belastungen nennen als Frauen. Die häu-figsten Arbeitsbelastungen sind:

1. Zeitdruck (56,1%)2. Arbeitshaltung (51,5%)3. Personalmangel (48,2%)4. Arbeitsumgebung (46,6%)5. Hohe Verantwortung (45%)

Über 45-Jährige sind besonders belastet durch:

❚ Zeitdruck (60%)

❚ Hohe Verantwortung (51%)

❚ Arbeitsumgebung (48%)

Männer nennen deutlich häufiger als Frauen den„Zeitdruck“, jüngere Befragte häufiger als ältere die„ungünstigen Arbeitszeiten“ als belastend. Signifikanthäufiger belastet durch „Personalmangel“ fühlen sichdie Beschäftigten in den Gesundheitsdiensten im Ver-gleich zu allen anderen Beschäftigten. Jede/r vierteBefragte fühlte sich durch Mobbing oder Konflikte amArbeitsplatz belastet.

Für weitere Untersuchungen wurden die „zufrieden-machenden“ Merkmale der Arbeitsbedingungensowie die „Belastungen am Arbeitsplatz“ einer Fakto-renanalyse unterzogen und mit den jeweiligen Kom-ponenten korreliert (vgl. Tabelle 1).

Die gesundheitlichen Belastungen zeigen einen deut-lichen Zusammenhang mit der Zufriedenheit mit denArbeitsbedingungen. Die Interpretation dieser Korre-lationen folgt, nachdem bei allen Variablen ein ge-genläufiger Zusammenhang nachweisbar ist, dem

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Schema „je größer die Belastung, desto unzufriedenermit der Arbeitsbedingungen“.

Es kann also begründet angenommen werden, dass„Unübersichtlichkeiten“ in der Arbeit damit zusam-men hängen, dass Befragte mit ihren „Laufbahnmög-lichkeiten“, den „Arbeitsbeziehungen und der Aner-kennung“, dem „kollegialen Zusammenhalt“ und mit„Prestige und Sicherheit“ unzufrieden sind. Ebensobesteht ein negativer Zusammenhang zwischen denBelastungen durch „Zeit und Materie“ und „laufbahn-förderlichen Bedingungen“, „Prestige und Sicherheit“eines Unternehmens und der „Zeitautonomie und lei-stungsorientierten Honorierung“.

580 Befragte, das sind 69 Prozent, stellen für sich„gesundheitliche Störungen“ fest, 41 Prozent sindFrauen, 59 Prozent Männer. Jede/r siebte Befragte(n=82) führt seine/ihre gesundheitlichen Störungendirekt auf die Arbeitssituation zurück, knapp 50 Pro-zent (n=286) teilweise und 37 Prozent (n=212) nicht.Frauen tendieren dazu, die Ursachen weniger der Ar-beitswelt zuzuschreiben.

Mit höherem Alter steigt der Anteil der Befragten, diegesundheitliche Störungen teilweise auf die Arbeitssi-tuation zurückführen. 46-jährige Befragte fühlen sichsignifikant häufiger als jüngere bei ihren Arbeitslei-stungen altersbedingt beeinträchtigt. Die körperlichenBelastungen steigen bei den älteren Befragten deut-lich an und zwar von durchschnittlich 22 Prozent beiden bis 45-Jährigen auf knapp 35 Prozent in der Alter-skategorie 46 bis 50 Jahre.

Das Wohlgefühl am ArbeitsplatzZahlreiche Untersuchungen (Zapf, 1994) weisen dar-auf hin, dass die Zufriedenheit mit den Arbeitsbedin-gungen und die gesundheitliche Situation einen Ein-fluss auf das psychische Wohlbefinden nehmen. In

der gegenständlichen Untersuchung konnten nichtsämtliche das Wohlbefinden konstituierende Faktoren(vor allem biografische und familiäre) berücksichtigtwerden. Der Fokus ist auf „arbeitsbezogenes Wohlbe-finden“ gerichtet.

Etwas weniger als die Hälfte der Befragten (46%;n=837) bejahen uneingeschränkt die Frage, ob siesich bei ihrer Arbeit wohl fühlen. 42 Prozent stimmeneingeschränkt zu (fühlen sich eher wohl) und 12 Pro-zent sagen, dass dies (eher) nicht der Fall sei. NachAltersgruppen kann wie folgt differenziert werden: 52Prozent der 26- bis 35-Jährigen (n=214) fühlen sichuneingeschränkt wohl bei ihrer Arbeit. Bei den bis zu25-Jährigen sinkt der Anteil auf 45 Prozent (n=111).

Frauen fühlen sich - statistisch signifikant - bei ihrerArbeit wohler als Männer (53%; n=370 gegenüber40%; n=462). Allerdings besteht dabei ein Zusam-menhang mit der Teilzeitarbeit: Teilzeitbeschäftigtefühlen sich signifikant wohler als Vollzeitbeschäftigte(59,0%; n=183 versus 42,5%; n=628). Vergleicht manvollzeitbeschäftigte Frauen mit vollzeitbeschäftigtenMännern, so ist kein Unterschied mehr erkennbar.

Befragte mit höherer Schulausbildung (höher alsLehre) verbinden mit der Arbeit offensichtlich häufi-ger und signifikant uneingeschränkt positive Gefühle(51,2%; n=478), verglichen mit Personen, die einenSchulabschluss bis einschließlich einer Lehre haben(41,2%; n=344). Das gilt signifikant häufiger auch für61,5 Prozent (n=59) der befragten Beschäftigten inkleinen Betrieben (5 bis 9 MitarbeiterInnen).

❚ „Arbeitsfreude“ und positive „Herausforderungen“in der Arbeit können durch die Arbeitsbedingun-gen mobilisiert werden. Sie heben das „arbeitsbe-zogene Wohlgefühl“ und mindern „Arbeitsleid“und „Krankheit“.

Laufbahn- Arbeitsbeziehungen Kollegialer Prestige undförderliche und Anerkennung Zusammenhalt SicherheitUnternehmens-bedingungen

Psychische Belastung -0,252 -0,185 -0,246 -0,259 -0,25Unübersichtlichkeit -0,434 -0,401 -0,32 -0,362 -0,227Zeit undMaterieKörperliche Belastung -0,206 -0,118 -0,127 -0,144 -0,124

Belastungskomponenten

Zufriedenheitskomponenten - Arbeitsbedingungen

Zeitautonomie undleistungsorientierteHonorierung

-0,361 -0,214 -0,247 -0,469 -0,329

Tabelle 1: Belastungen am Arbeitsplatz – Zufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen*

*Korrelationen zwischen den jeweils durch Faktorenanalyse ermittelten Belastungs- und Zufriedenheitskomponenten

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❚ „Zufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen“ trägtdazu bei, die Arbeit häufiger „als Sinn“ denn alsbloße „Pflicht“ zu erleben. Kann der Arbeit ein„Sinn“ abgewonnen werden, dann steigt auch das„arbeitsbezogene Wohlgefühl“. Umgekehrt ist eshingegen, wenn die Arbeit vor allem als „Pflicht“erfahren wird.

Ergebnisse zur WeiterbildungEin weiterer wichtiger Faktor, um länger arbeiten zukönnen und zu wollen, ist die (berufliche) Weiterbil-dungsbeteiligung. Die Möglichkeit, an (beruflicher)Weiterbildung teilzunehmen, wirkt sich positiv aufdie „Zufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen“ aus.Meinen die befragten ArbeitnehmerInnen, dass sieaus unterschiedlichen Gründen nicht an Weiterbil-dungen teilnehmen können, und das sind vor allemüber 45-Jährige, dann fühlen sie sich weniger häufigin der Arbeit wohl als weiterbildungsaktive Personen.49 Prozent der Männer (n=449) und 50 Prozent derFrauen (n=360) haben sich im Jahr vor der Befragungweitergebildet. Ab dem 45. Lebensjahr nimmt dieWeiterbildungsbeteiligung deutlich ab, ihr Anteil beiden TeilnehmerInnen beträgt knapp 22 Prozent.2

Altersspezifische Hinderungsgründe für Weiterbil-dung sind beobachtbar. Während jüngere Befragtesignifikant häufiger familiäre/private Zeitgründe alsauch Kostengründe als Hindernis anführen, fühlensich die über 45-Jährigen signifikant häufiger zu altfür Weiterbildung (s. Tabelle 2).

Die höchste Bildungsbarriere bildet sich offensicht-lich ab dem 56. Lebensjahren heraus: 63 Prozent derBefragten dieser Altersgruppe meinen, dass sie fürWeiterbildung zu alt wären (s. Tabelle 3).

Tatsächlich weist das Antwortverhalten darauf hin,dass die persönliche „Weiterbildungsdistanz“3 mitdem Alter zunimmt. Dieser eher bildungsferne Perso-nenkreis ist zudem dadurch gekennzeichnet, dass erdas Berufsleben wenig interessant erlebt und insge-samt Weiterbildung für wenig wichtig hält. Darüberhinaus besteht ein bemerkenswerter Zusammenhangzwischen der Weiterbildungsorientierung und derzeitlichen Perspektive für das Berufsleben: Je stärkerdie Befragten auf ein lebensbegleitendes Lernen4 ori-entiert sind und den Nutzen von Weiterbildung er-fahren haben, eine desto länger dauernde Erwerbs-tätigkeit streben sie für sich an.

Hinderungsgrund Unter 45 Jahre älterNützt mir bei derArbeit nicht viel.(n=410/145) 50,50% 57,20%Meine Arbeit lässtmir nichtgenügend Zeitdafür. 26,20% 18,80%Dann bleibt zuwenig Zeit fürmeine Familie/mein Privatleben.(n=408/144) 31,10% 18,80%Ist zu teuer, kannich mir nichtleisten. 24,80% 14,60%BeruflicheWeiterbildungwird in meinerPosition nichtanerkannt. 28,90% 33,30%MeineVorgesetztenstellen mich dafürnicht frei. 13,70% 11,10%GewünschteWeiterbildungkommt wegenorganisatorischerProbleme nichtzustande.(n=408/144) 13,00% 9,70%Wird mir nichtangeboten.(n=408/144) 33,30% 32,60%Bin bereitsausreichendgebildet. 10,80% 16,60%Bin zu alt.(n=409/145) 15,40% 38,60%Will nicht/interessiert michnicht. 9,60% 14,60%

Tabelle 2: Hinderungsgründe für Weiterbildungnach Altersgruppen

Tabelle 3: Altersschwelle bei Weiterbildung

… zu alt für dieWeiterbildung ja neinBis 50 Jahre (n=227) 17,00% 83,00%51 – 55 Jahre (n=57) 43,90% 56,10%56 und älter (n=35) 62,90% 37,10%

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SchlussfolgerungenIm Modell für „60+ wollen und können“ verdichtetsich ein empirischer Befund, aus dem vier Thesen ab-geleitet werden können.

1. Mitte 40 beginnen die ArbeitnehmerInnen ihreaktive und zukunftsgerichtete Teilhabe am Be-rufsleben zurück zu nehmen und erfahren anihrem Arbeitsplatz die Rollenzuschreibung „äl-tere/r MitarbeiterIn/ KollegIn“.

2. Zufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen, Ar-beitsfreude und positive Herausforderungen imBeruf, Weiterbildungsbeteiligung und Sinngebungder Arbeit erhöhen die Motivation und die Mög-lichkeit, länger erwerbstätig zu bleiben.

3. Körperliche und psychische Belastungen, Arbeits-leid und Krankheit sowie fehlende Weiterbildungführen eher dazu, die Erwerbsphase verkürzen zuwollen.

4. Durch einen kulturellen Wandel bei allen Akteu-rInnen, durch die Verminderung des körperlichenund psychischen Verschleißes und durch frühzei-tig einsetzendes Lebenslanges Lernen könnenVoraussetzungen geschaffen werden, durch diesich der arbeitsbezogene Wohlfühlfaktor erhöht,der wesentlich dazu beitragen kann, länger im Er-werbsleben bleiben zu können und zu wollen.

Mit diesen vier Thesen werden auch die Aktionsfelderbeschrieben, “prodaktive Arbeit” im Alter zu ermögli-chen und zu motivieren: Es sind dies zum einen dieUnternehmen selbst, die auch in dieser Thematikeinen kulturellen Wandel vorzunehmen haben, zumanderen die Arbeitsbedingungen, die dahingehendentwickelt werden müssen, die körperlichen und psy-chischen Beanspruchungen zu reduzieren (Ver-schleißreduktion) und schließlich die (berufliche)Weiterbildung, die auf ein Lebenslanges Lernen zuorientieren ist.

Dieses letztlich doch sehr komplexe Programm lässtsich auf die Formel KV3L = 60+ reduzieren: Kulturel-ler Wandel, Verschleißminderung und Lebensbeglei-tendes Lernen ermöglichen berufliche Aktivität überdas 60. Lebensjahr hinaus.

„Kultureller Wandel“, das soll nochmals besondershervorgehoben werden, bedeutet die Anerkennungder Leistungsfähigkeit älterer ArbeitnehmerInnen, dieNotwendigkeit, auf lebensphasenbezogene Zeitbe-dürfnisse zu reagieren, die betrieblichen Berufs- undKarriereverläufe an einem längeren Verbleib der Mit-arbeiterInnen im Unternehmen zu orientieren und dieTeilhabe der Älteren an der Unternehmensentwick-

lung zu sichern. „Kultureller Wandel“ bedeutet aberauch, dass die ArbeitnehmerInnen selbst aktiv ihreChancen, im Erwerbsleben zu bleiben, wahrnehmen.

Die Anpassung der Arbeitszeiten an die lebenspha-senbezogenen Bedürfnisse ist ein wichtiges Elementzur „Verschleißreduktion“ und darf, so wie die Heran-führung an Lebenslanges Lernen und dessen Ermögli-chung, nicht erst bei älteren ArbeitnehmerInnen ein-setzen.

Renate SeppInstitut für Berufs- und Erwachsenenbildungsforschung

Anmerkungen1 Die „Passung“ ist als Erfüllungsgrad von Erwartungen

zu interpretieren. Die verwendeten Skalenwerte reichenvon 1 (sehr wichtig) bis 4 (völlig unwichtig).

2 Dies war einer der Gründe dafür, weshalb eine erhöhteFörderung von Weiterbildung nach dem oberöster-reichischen Bildungskonto bereits ab dem 40. Lebens-jahr ermöglicht wurde.

3 Mit den Antworten auf die Frage „Was hindert Siedaran, die Weiterbildungsangebote zu nutzen?“ wurdeeine Faktorenanalyse gerechnet und vier Komponentenermittelt. Eine Komponente ist „Weiterbildungsdistanz“,die anderen drei sind: „Fehlender betrieblicher Nutzen“,„Zeitmangel“ und „Kosten“.

4 Die Komponente „Lebensbegleitende (berufliche) Wei-terbildungsorientierung“ wurde durch eine Faktoren-analyse mit den Fragen zur „Einstellung zur Weiterbil-dung“ ermittelt.

LiteraturAntonovsky, Aaron: Zur Entmystifizierung der Gesundheit.

Tübingen 1997.Blumberger, Walter/ Sepp, Renate/ Affenzeller, Sabine: Ar-

beit – Alter – Anerkennung. IBE-Forschungsbericht. 2Bände. Linz 2004.

Blumberger, Walter/ Sepp, Renate: Arbeit – Alter – Aner-kennung. Eine empirische Studie über die Möglichkei-ten, länger arbeiten zu können und zu wollen. In: WISO28. Jg. (2005), Nr. 1, S. 155-180.

Herzberg, Frederick/ Mausner, Bernard/ Bloch-Snyderman,Barbara: The Motivation to Work. New York u.a. 1959.

European Foundation: Combating Age Barriers in Employ-ment – European Research Report. Dublin 1997.

European Foundation: Industrial relations and the ageingworkforce: a review of measures to combat age discri-mination in employment. Dublin 2000.

Menges, Ulrich: Ältere Mitarbeiter als betriebliches Er-folgspotential. In: Winfried, Hamel (Hg.): Unterneh-mensführung und Personalwirtschaft, Köln 2000.

Zapf, Dieter: Arbeit und Wohlbefinden. In: Abele, Andrea/Becker, Peter (Hg.): Wohlbefinden. Theorie, Empirie,Diagnostik. München, 2. Auflage, 1994.

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Frauen mit Behinderungenam Arbeitsmarkt mehrfachdiskriminiertDas Thema Behinderung aus der Genderper-spektive zu betrachten, ist in der Arbeits-marktpolitik bisher stark vernachlässigt wor-den. Menschen mit Behinderungen werdenhäufig als geschlechtshomogene Gruppewahrgenommen. Allerdings erkennt man beidifferenzierter Betrachtung, dass Frauen so-wohl aufgrund ihrer Behinderung als auchwegen ihrer Rolle als Frau in stärkerem Aus-maß von Diskriminierungen betroffen sind.

Einerseits ist es bereits für Menschen mit Behinde-rungen schwierig, sich am Arbeitsmarkt zu behaup-ten, andererseits sind Frauen mit Behinderungennoch in stärkerem Ausmaß mit geschlechterspezifi-schen, gesellschaftlichen und sozialen Diskriminie-rungen konfrontiert. Viele Frauen sehen sich mit Be-nachteiligungen, wie geringere Qualifikationen,schlechtere Berufseinstiegschancen, die Konzentra-tion auf traditionelle Berufe mit geringeren berufli-chen Aufstiegs- und Weiterbildungsmöglichkeiten,niedrige einkommensmäßige Bewertung von typi-schen „Frauenberufen“ sowie die ungleiche Verteilungder familiären Versorgungsaufgaben, konfrontiert(vgl. ESF 2005: 23). Bei Frauen mit Behinderungenverstärken sich diese frauen- und männerspezifischenRollen und Normen auf Grund der Behinderung nochmehr. So werden Mädchen mit Behinderungen häufig„überbehütet“ und auf den familiären Rahmen be-grenzt. Sie werden weniger als wie Burschen mit Be-hinderungen zu Integration und Selbstständigkeit er-zogen. Auf Grund der geringen Förderung und Erzie-hung zur Selbstständigkeit orientieren sich Mädchenmit Behinderungen seltener am Arbeitsmarkt undwenn, dann eher auf traditionell „weibliche“ Berufe,die von vornherein oft Benachteiligungen aufweisen(vgl. Bergmann/Gindl 2004:4).

Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen mitBehinderungenIm Jahr 2004 ist die Arbeitslosigkeit insgesamt um1,58 Prozent angestiegen. Stark betroffen von diesemAnstieg sind vor allem Frauen. So waren im Jahr 2004um 3,24 Prozent mehr Frauen arbeitslos gemeldet alsim Jahr zuvor, hingen nur 0,39 Prozent mehr Männer.Beim AMS vorgemerkte Menschen mit Behinderun-

gen sind insgesamt vom Anstieg der Arbeitslosigkeitweniger betroffen. Im Gegenteil, Die Quote sank imJahr 2004 sogar um 5,51 Prozent. Geschlechtsspezi-fisch betrachtet profitierten aber Frauen mit Behin-derungen mit einem Absinken der Arbeitslosigkeit von4,86 Prozent etwas weniger als Männer mit Behinde-rungen, die eine um 5,87 Prozent niedrigere Arbeits-losenquote als im Jahr zuvor aufwiesen. Der Anteilder Frauen mit Behinderungen zwischen 25 und 45Jahren an der Gesamtarbeitslosigkeit nahm sogar ge-ringfügig zu.

Diese Situation kann u.a. erklärt werden durch diegeringere Qualifikation von Frauen mit Behinderun-gen. So haben nach den Daten des AMS von den ar-beitslos gemeldeten Männern mit Behinderungen 51Prozent nur eine Pflichtschulausbildung. Bei den ar-beitslos gemeldeten behinderten Frauen sind dies 61Prozent.

Das Bild von begünstigten Behinderten, die beim AMSals arbeitslos vorgemerkt waren, zeigte für Frauen diegleiche, vergleichsweise schlechte Entwicklung. EineEinstufung als “begünstigt behindert” ist dann mög-lich, wenn eine Grad der Behinderung von mindestens50 Prozent vorliegt. Folgen der Begünstigung sindvor allem ein erhöhter Kündigungs- und Entgelt-schutz sowie verschiedene steuerliche Vergünstigun-gen (vgl. help.gv.at). Die Arbeitslosigkeit von begün-stigt behinderten Frauen sank nur um 3,04 Prozent,hingegen jene der Männer um 3,72 Prozent. Weitersist festzuhalten, dass im Jahr 2004 18.620 Männer,aber nur 10.241 Frauen mit Behinderungen beim AMSals arbeitslos vorgemerkt waren, bei den begünstigtBehinderten waren es 3.342 Männer und 1.816Frauen. Der Frauenanteil beträgt damit nur 35 Pro-zent. Dieser geringere Anteil an arbeitsuchend vorge-merkten Frauen mit Behinderungen ist aber kein Indizfür bessere Arbeitsmöglichkeiten, sondern bedeuteteher, dass sich Frauen mit Behinderungen aufgrundfehlender oder geringer Motivation zur Integrationund Selbstständigkeit seltener einen Arbeitsplatz su-chen, woraufhin sie aus der Statistik herausfallen(vgl. AMS 2004).

Im Mikrozensus 2002 wurde die Erwerbsbeteiligungvon Frauen und Männern mit Behinderungen erho-ben. Bei dieser Erhebung werden große geschlechts-spezifische Unterschiede deutlich. Auffallend ist diehohe Nichterwerbstätigkeit von behinderten Frauenvon fast 60 Prozent. Nur 39 Prozent der 15- bis 64-jährigen Frauen mit Behinderungen sind erwerbstätig,hingegen 52 Prozent der 15- bis 64-jährigen Männermit Behinderungen.

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Maßnahmen und Unterstützungsprogrammeaus der Genderperspektive

Zur besseren Integration von Menschen mit Behinde-rungen in den Arbeitsmarkt bieten vor allem die Bun-dessozialämter und das Arbeitsmarktservice speziellearbeitsmarktpolitische Maßnahmen und Programmean, die von verschiedenen Projektträgern finanziertwerden. Zusätzlich zu diesen spezifischen Maßnah-men wurden so genannte Frauenquoten festgesetzt,um eine gleichberechtigte Beteiligung von Frauen mitBehinderungen zu erreichen. Im Sinne des GenderMainstreaming sollte daher als Förderungsziel zur be-ruflichen Integration von Frauen mit Behinderungeneine Quote von 39 Prozent (2002) erreicht werden.

Diese Quote wurde erfüllt und teilweise sogar über-schritten. So erreichten Maßnahmen der Behinder-tenmilliarde im Jahr 2002 einen Frauenanteil von 43Prozent und Maßnahmen aus Mittel des Sozialfondseinen 45-prozentigen Frauenanteil.

Erfahrungsberichte zeigen allerdings, dass bei der ar-beitsmarktpolitischen Förderung und Integration vonFrauen mit Behinderungen ganz andere Ziele und In-halte verfolgt werden als bei Männern mit Behinde-rungen. So werden Männer mit Behinderungen häu-figer in besser qualifizierte und besser bezahlte Berei-che vermittelt, hingegen beschränkt sich die Vermitt-lung von Frauen mit Behinderungen auf typisch weib-liche Berufsfelder und damit häufig auch auf niedrig-qualifizierte und schlechter bezahlte Bereiche. Nichtselten werden Frauen mit Behinderungen aber garnicht dazu ermutigt, am Arbeitsmarkt teilzunehmen(vgl. Bergmann/Gindl 2004:7).

Folgende Problemstellungen können in Bezug auf dieMaßnahmengestaltung und Teilnahmemöglichkeitenfür Frauen mit Behinderungen genannt werden (vgl.Bergmann/Gindl 2004:7):

❚ Beratungen (z.B. AMS) werden von betroffenenFrauen häufig als demotivierend und unvollstän-dig beschrieben. Beratungsprozesse für Frauenund Mädchen mit Behinderungen enden häufigerdamit, dass sie sich bescheiden und mit „wenig“zufrieden geben sollen.

❚ Geschlechtsspezifische Sozialisationsprozesseund Prägungen werden zu wenig berücksichtigtund es werden kaum Lösungen für deren Über-windung gesucht.

❚ Teilnahmebarrieren von Frauen werden oft nichtentsprechend berücksichtigt: Häufig werdenMaßnahmen wohnortsfern und/oder ganztägigangeboten, was vor allem für Frauen eine Teil-nahme erschwert.

❚ Das Angebotsspektrum im Bereich der beruflichenQualifizierung richtet sich verstärkt an Männer(z.B.: handwerkliche und metallverarbeitende Be-rufe). Für Frauen wird dieser Sektor kaum geöff-net und beworben.

❚ Qualifizierungs- bzw. Beschäftigungsangebote,die sich an Frauen richten, werden oft nur in sehrtraditionellen und niedrig qualifizierten Bereichenangeboten (z.B.: Haushalt oder Wäschereien).

❚ Grundsätzlich wird bei der Ausarbeitung von Pro-grammen und Maßnahmen zu wenig auf spezielleweibliche Problemstellungen eingegangen. Bei-spielsweise würden Frauen mehr persönliche Assi-stenzangebote benötigen, da sie weniger Unter-

Erwerbstätigkeit der 15-64-Jährigenohne Beeinträchtigung

erwerbstätig arbeitslos nicht erwerbstätig erwerbstätig oder arbeitslos

Männer 52% 5% 43% 81%Frauen 39% 4% 57% 65%Quelle: Mikrozensus 2002

Erwerbstätigkeit von Menschen mit und ohne körperlicher BeeinträchtigungErwerbstätigkeit der 15-64-Jährigen mit Beeinträchtigung

Frauenanteil bei arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen für Menschen mit BehinderungenArbeitsmarktpolitische Maßnahmen Frauenanteilder Bundessozialämter 41%aus ESF kofinanzierten Mitteln 45%Rehabilitationsmaßnahmen des AMS 38%Quelle: Hauptverband, BMSG, BASB, AMS

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stützung in Partnerschaften bekommen als behin-derte Männer. Außerdem besteht verstärkt dieNotwendigkeit, Maßnahmen zu setzen, umMädchen mit Behinderungen vom ÜbergangSchule-Beruf zur beruflichen Integration zu moti-vieren.

HandlungsbedarfObwohl es in der österreichischen Behindertenpolitikerste Ansätze für berufliche Maßnahmen zur besse-ren Integration von Frauen mit Behinderungen gibt,steht die Ausarbeitung geschlechtsspezifischer Un-terstützungsprogramme im Sinne des Gender Main-streaming noch vor großen Herausforderungen. Nachwie vor besteht Handlungsbedarf darin, die unter-schiedlichen Ansprüche von Frauen und Männern mitBehinderungen herauszuarbeiten und daran angepas-ste Maßnahmen zu entwickeln, um behinderten

Frauen einen gleichberechtigten Zugang zum Ar-beitsmarkt zu gewährleisten.

Claudia KöttnerInstitut für Gesellschafts- und Sozialpolitik

QuellenEuropäischer Sozialfonds (2005): Ziel-3-Österreich 2000-

2006, Jahresbericht 2004. Wien. Bergmann Nadja/Gindl Karoline (2004): „Geschlechterrol-

len und Behinderung – Wunsch und Realität“. Wien. Klapfer Karin (2003): Körperlich Beeinträchtigte und Er-

werbstätigkeit. Mikrozensus 2002. In: Statistik Austria(Hrsg.): Statistische Nachrichten April 2003.

Götzinger Kornelia/Haider Monika/Kreilinger Barbara/Pau-ser Norbert (2004): Frau sein - barrierefrei. Zur Lebens-und Arbeitssituation von Frauen mit Behinderung.Wien.

www.arbeitundbehinderung.atwww.gem.or.at

Statistische UnschärfenArbeitslosigkeit betrifft viele Menschen – mehr,als in der offiziellen Statistik aufscheinen.

Während die tatsächliche Beschäftigung durch offizi-elle Zahlen überschätzt wird, ist die Situation bei derArbeitslosigkeit umgekehrt. Die offizielle Statistikgrenzt durch ihre Definitionen tausende in Wirklich-keit arbeitslose Menschen aus und verdeckt somitden Blick auf das wahre Ausmaß der Unterbeschäfti-gung und damit auf die Dringlichkeit wirtschaftspoli-tischer Maßnahmen.

Im Auftrag der oberösterreichischen Arbeiterkammerhat das Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) die Un-schärfen und Verzerrungen der amtlichen Beschäfti-gungsstatistik analysiert. Das Ergebnis: Die gesamt-österreichische Arbeitslosenquote betrug im Vorjahrnicht 7,1, sondern 9 Prozent. Noch größer ist die Dis-krepanz zwischen offiziell ausgewiesener undtatsächlicher Arbeitslosigkeit in Oberösterreich: DasWifo kommt zum Ergebnis, dass im Jahr 2003 dietatsächliche Arbeitslosigkeit um zumindest 12.700Personen unterschätzt wurde. Die korrigierte Arbeits-losenquote (nach Wifo-Definition: der Anteil desArbeitskräfteüberschusses in Relation zu den aktivBeschäftigten) erhöht sich dadurch von 4,5 Prozentauf 6,7 Prozent.

Basierend auf den Wifo-Berechnungen hat die Arbei-terkammer die Zahlen für das Jahr 2004 aktualisiert:Laut offizieller Statistik waren im Jahresdurchschnitt26.141 Personen arbeitslos, berücksichtigt man dieerwähnten Verzerrungen so sind es tatsächlich40.169 Arbeitslose. Das sind 53 Prozent mehr als inder offiziellen Statistik.

Geänderte RahmenbedingungenWer sich ein Bild von der Arbeitsmarktsituation undder Beschäftigungsentwicklung machen will, musshinter die Kulissen der Beschäftigungsstatistikschauen. Die Aussagekraft der üblichen, traditionellenDaten der Sozialversicherungsträger ist durch Ände-rungen der Rahmenbedingungen und durch verän-derte Beschäftigungsformen erheblich gesunken. Die-ses österreichweite Phänomen trifft in ganz besonde-rer Weise auf Oberösterreich zu.

Was heißt beispielsweise: Die Beschäftigung steigt?Gibt es mehr Beschäftigungsverhältnisse oder hatsich auch die Zahl der beschäftigten Personen er-höht? Sind diese Personen „produktiv“ beschäftigt?Hat sich auch das Beschäftigungsvolumen erhöhtoder sind nur Vollzeitjobs durch Teilzeitarbeits-plätze ersetzt worden? Deutet der Aufwärtstrend inder Beschäftigungsstatistik tatsächlich auf bessereBeschäftigungs- und Einkommenschancen deroberösterreichischen Arbeitnehmer/-innen hin odernicht?

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Aktive Beschäftigung überzeichnet Im Jahresdurchschnitt 2004 sind in der offiziellen Be-schäftigungsstatistik (Hauptverband der Sozialversi-cherungsträger) in Oberösterreich 562.252 Beschäf-tigte (genauer: Beschäftigungsverhältnisse) erfasst.Das sind immerhin um 5,7 Prozent oder 30.259 Be-schäftigte mehr als im Jahresdurchschnitt 2000.

Im selben Zeitraum hat sich aber die Zahl der Kinder-betreuungsgeldbezieher/-innen von 11.502 auf23.315 mehr als verdoppelt. Das heißt, mehr als einDrittel des offiziellen Beschäftigungszuwachses istlediglich „statistischer“ Art, denn diese Kindergeldbe-zieher/-innen sind als Beschäftigte ausgewiesen,ohne aktiv beschäftigt zu sein. Dieser Trend hält wei-ter an: Zwischen Mai 2004 und Mai 2005 hat sich dieZahl der Beschäftigten um 10.651 erhöht – ein Drit-tel (3.535) davon entfällt auf den Anstieg der Kinder-betreuungsgeldbezieherInnen. Gleiches gilt für Prä-senzdiener, die in der offiziellen Beschäftigungsstati-stik mitgezählt werden, aber nicht aktiv beschäftigtsind. Allerdings ist dieser Effekt quantitativ wesent-lich schwächer.

Auch die Erfassung von Arbeitslosen, die an einerAMS-Schulungsmaßnahme teilnehmen, wirkte sichlange Zeit auf die Beschäftigungsstatistik aus. BisEnde 2003 wurden AMS-Schulungsteilnehmer, dieeine Beihilfe zur Deckung des Lebensunterhaltes er-hielten, als beschäftigt gezählt. Seit Anfang 2004 sinddiese Personen nicht mehr voll sozialversicherungs-pflichtig und fallen damit auch aus der Beschäfti-gungsstatistik heraus. Im Jahr 2000 wurde dadurchdie Zahl der aktiv Beschäftigten allein in OÖ um 1.688Personen überschätzt, zuletzt (2003) um 2.144.

Ein Effekt, der besonders in Oberösterreich wirksamist, ist die Blockvariante bei der Altersteilzeit. DiesePersonen werden über die gesamte Spanne der Alters-teilzeit als beschäftigt erfasst, obwohl sie lediglich inder ersten Hälfte dieser Zeitspanne (Vollzeit) aktiv be-schäftigt sind, und dann in den Freizeitblock wech-seln. Allein in Oberösterreich befanden sich 20048.924 Personen in Altersteilzeit. Davon sind etwa1.500 Personen nicht mehr aktiv beschäftigt. Den glei-chen Effekt haben diverse „Vorruhestandsregelungen“in einigen Großbetrieben („Golden Handshake“), woältere Mitarbeiter einen Großteil ihres Gehalts weiter-beziehen, aber nicht mehr aktiv erwerbstätig sind.

Ein weiterer Grund für das Auseinanderklaffen vonoffizieller Beschäftigung und effektiver Beschäfti-gung sind Dauerkrankenstände: Die Betroffenen sindals beschäftigt erfasst, erbringen im Krankenstand

aber logischerweise keine Arbeitsleistung. Bei länge-ren Krankenständen wird die Einstellung einer Ersatz-arbeitskraft notwendig, sodass in diesen Fällen sozu-sagen eine Doppelzählung vorliegt.

Resümee: Im Zeitraum 2000 bis 2004 ist in Ober-österreich die aktive Beschäftigung deutlich hinterder offiziellen Beschäftigung zurückgeblieben. Dastatsächliche Beschäftigungsplus verringert sich ummehr als ein Drittel auf knapp 20.000. Dieses Ausein-anderdriften von offizieller und effektiver Beschäfti-gung hält weiter an. Vor allem die Entwicklung beiden Kinderbetreuungsgeldbezieher/-innen und beider Altersteilzeit wird bis etwa 2007 noch an Bedeu-tung gewinnen. Bis zum Jahr 2010 werden diese Ef-fekte allerdings teilweise wegfallen oder sich sogarumkehren (Wegfall der Altersteilzeitbeschäftigten).

Arbeitsvolumen stagniert Hinzu kommt, dass die Zahl der Beschäftigten bzw.Beschäftigungsverhältnisse im Grunde noch nichtsüber die Entwicklung des Arbeitsvolumens aussagt,weil es einen anhaltenden Trend hin zur Teilzeitbe-schäftigung gibt. In Oberösterreich gingen laut Mi-krozensus zwischen 2000 und 2003 9.500 Vollzeitbe-schäftigungsverhältnisse verloren, andererseits hatsich die Zahl der Teilzeitjobs um 22.300 erhöht. Dasheißt, das Wachstum des Arbeitsvolumens bleibt weithinter dem offiziellen Beschäftigungswachstumzurück. Das Wifo schätzt, dass das Arbeitsvolumen inOberösterreich zwischen 2000 und 2003 bestenfallsstagnierte (oder sogar leicht sank).

Bei Männern ist das Arbeitsvolumen eindeutig gesun-ken: In den beobachteten Jahren gingen 5.500 Voll-zeitjobs verloren, es kamen aber lediglich 1.600 Teil-zeitarbeitsplätze hinzu. Bei den Frauen reduzierte sichdie Zahl der Vollzeitarbeitsplätze um 3.900, währendsich die Zahl der teilzeitbeschäftigten Frauen um20.700 erhöht hat, sodass in Summe das Arbeitsvolu-men der Frauen gestiegen ist. Der Zuwachs bei denFrauenarbeitsplätzen entfällt zu einem erheblichenTeil auf geringfügige Beschäftigungen, mit all den be-kannten negativen Begleiterscheinungen.

Atypische Beschäftigung wächstüberproportional In den letzten vier Jahren hat sich die Zahl der ge-ringfügig Beschäftigten um knapp elf Prozent auf35.000 erhöht – Tendenz weiter steigend. Ähnlichesgilt für Freie Dienstverträge und Werkverträge. Be-reits 6,4 Prozent aller Beschäftigten erzielen keinausreichendes Einkommen, um den Lebensunterhaltdamit zu sichern. Die Folge ist, dass die Betroffenen –

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nach Möglichkeit – mehrere Beschäftigungen anneh-men. Selbst in dem relativ kurzen Zeitraum 2000 bis2003 weisen die Mehrfachbeschäftigungen deutlichhöhere Zuwachsraten auf als die „Einfachbeschäftig-ten“. In der Beschäftigungsstatistik wird also nichtnur das Arbeitsvolumen, sondern auch die Zahl derbeschäftigten Personen überschätzt. Durch die Mehr-fachbeschäftigungen steigt die Zahl der Beschäfti-gungsverhältnisse stärker als jene der beschäftigtenPersonen.

Beschäftigungsveränderung 2000 bis 2004in OÖ

Quelle: AK OÖ

Reale Arbeitslosigkeit unterschätzt Dass Schulungsteilnehmer (fälschlicherweise) nicht inder offiziellen Arbeitslosenzahl aufscheinen, ist mitt-lerweile bekannt. Gleiches gilt aber auch für Lehrstel-

lensuchende, Arbeitslose im Krankenstand sowie Ar-beitslose, deren Bezug vorübergehend gesperrt wor-den ist. Eine zahlenmäßig große Gruppe sind schließ-lich noch die Pensionsvorschussbezieher/-innen. Biszu drei Viertel der Pensionsanträge werden abgelehnt,so dass die Antragsteller wieder Arbeit suchen (müs-sen). Der Großteil ist also der Zahl der Arbeitsuchen-den zuzurechnen.

Konkret scheinen in Oberösterreich im Jahr 2004 ausden genannten Gründen knapp 14.000 Arbeitslosenicht in der offiziellen Arbeitslosenstatistik auf, statt26.181 Betroffene sind 40.169 Menschen arbeitslos,53 Prozent mehr als in der offiziellen Statistik. Diesentspricht einer Arbeitslosenquote von 6,7 statt 4,4Prozent.

Arbeitslosigkeit 2004 in OÖ

Quelle: AK OÖ

Wird der Arbeitslosengeldbezug für mindestens 28Tage unterbrochen, so gilt der neuerlich wieder erfas-ste Arbeitslose im Anschluss nicht als langzeitarbeits-los. So waren 2004 z.B. 8.000 arbeitslose Menschenfür mehr als 28 Tage krank. Nach ihrer Genesung be-kamen sie eine neue „AL-Zahl“ und ihre „statistische“Arbeitslosigkeit begann neu zu laufen. Gleiches giltz.B. beim Besuch einer Schulungsmaßnahme. Daherwurden 2004 lediglich 102 Menschen in OÖ als lang-zeitarbeitslos (= über ein Jahr arbeitslos) gezählt.

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 1) Die in der Wifo-Studie dokumentierte Entwick-

lung für den Zeitraum von 2000 bis 2003 bzw.2004 hält an.

2) Das Arbeitsvolumen in Oberösterreich stagniert,die reale, aktive Beschäftigung wächst um einDrittel langsamer, als die offizielle Beschäfti-gungsstatistik ausweist.

3) Zuwächse gibt es vor allem bei atypischer Be-schäftigung und bei Mehrfachbeschäftigungen;Die meisten dieser prekären Jobs reichen zur Exi-stenzsicherung nicht aus, mit der Folge, dass

Offizieller Beschäftigtenzuwachs 30259Karenzgeldbezieher/- innen, Präsenzdiener -12.029AMS- Schulungsteilnehmer/- innen 1.688Altersteilzeit- Blockmodell -1.500Dauerkrankenstand 1.400Tatsächlicher Beschäftigtenzuwachs 19.818

Beschäftigungsentwicklung stagniert

Laut offizieller Statistik hat sich die Zahl der Be-schäftigten im Zeitraum 2000 bis 2004 in Oberö-sterreich um 30.259 Personen erhöht (+ 5,7 Pro-zent). Dabei werden aber Personen als beschäftigtgezählt, die faktisch nicht erwerbstätig sind (Ka-renzgeldbezieher/- innen, Präsenzdiener...). Eineentsprechend korrigierte Statistik ergibt einenwirklichen Zuwachs um nur knapp 20.000 Be-schäftigte, das heißt mindestens ein Drittel des of-fiziellen Beschäftigungsanstiegs ist laut AK OÖnicht real.

Außerdem ist auch der massive Anstieg der Teil-zeitbeschäftigung (+ 22.300) auf Kosten der Voll-zeitjobs (- 9.500) zu berücksichtigen. Berechnun-gen des Wirtschaftsforschungsinstitutes (Wifo) zu-folge stagnierte das Beschäftigungsvolumen imZeitraum 2000 bis 2003; das heißt vom offiziellenBeschäftigungswachstum bleibt, so die AK-Auto-ren, „effektiv nichts übrig“.

Arbeitslose laut Statistik 26.181Schulungsteilnehmer/- innen 7.182Pensionsvorschussbezieher/- innen 2.367Übergangsgeldbezieher/- innen 170Arbeitslose in Krankenstand 2.870Lehrstellensuchende 744Arbeitslose mit Bezugssperre 655Tatsächliche Arbeitslose 2004 40.169

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immer mehr Menschen auf Sozialhilfe angewie-sen sind.

4) Auch in Oberösterreich gibt es eine massive ver-steckte Arbeitslosigkeit. Durch die offizielle Stati-stik werden insbesondere die Beschäftigungspro-bleme der jugendlichen Berufseinsteiger und dieder älteren Arbeitnehmer unterschätzt. Durch die„statistischen Unterbrechungen“ (Schulung,Krankheit, Pensionsvorschuss) wird vor allem auchdas tatsächliche Ausmaß der Langzeitarbeitslo-sigkeit unterschätzt.

5) Statistisches Datenmaterial ist eine wesentlicheGrundlage für politische Entscheidungen. Die der-zeitige Datenlage bildet jedoch das wirtschaftli-che Problem in unserem Land nicht realistisch ab.Durch diese mangelnde bzw. verzögerte Proble-meinsicht vergeht wertvolle Zeit, bis die Politikaktiv wird. Die AK OÖ fordert insofern eine reali-stische Darstellung der Arbeitsmarktentwicklung(Arbeitslosigkeit und Beschäftigung) als Grund-lage für eine seriöse Problemanalyse und –bekämpfung.

ForderungenUm die Situation der Arbeitslosen zu verbessern undum das Ausmaß der Arbeitslosigkeit zu verringern,

fordert die Arbeiterkammer vom Arbeitsmarktserviceeinen fairen, wertschätzenden Umgang mit Erwerbs-arbeitslosen, ausreichend Zeit für Information undBeratung der Arbeitslosen sowie maßgeschneiderte,individuelle Qualifizierungsmaßnahmen zur nachhal-tigen Verbesserung der Arbeitsmarktchancen der Be-troffenen.

Damit das AMS diesen Anliegen gerecht werden kann,soll die österreichische Regierung nach Ansicht derAK mehr Personal für das Arbeitsmarktservice sowiemehr finanzielle Mittel für aktive Arbeitsmarktpolitik(Coaching, Qualifizierung) bereitstellen. Zur Schaf-fung von Arbeitsplätzen fordert die AK von der Bun-desregierung weiters zusätzliche Investitionen in dieöffentliche Bau- und Verkehrsinfrastruktur.

Quellen: Pressegespräch von Mag. Peter Huber, Wirt-schaftsforschungsinstitut (Studienautor), Dr. JohannKalliauer, Präsident der Arbeiterkammer Oberöster-reich und Dr. Josef Moser, Leiter der Abteilung Wirt-schaftspolitik der AK, Dienstag, 16. August 2005,Presseclub Linz; Daten und Fakten, Stand April 2005:„Tatsächliche Arbeitslosigkeit bewusst machen!“ EineInformation der Arbeiterkammer OÖ, Abteilung Wirt-schaftspolitik

Die Sozialstiftung - eineZukunftswerkstatt arbeit-suchender MenschenMit dem positiven Bescheid des Wirtschafts-ministeriums (BMWA) zur Durchführung desEqual-Projekts „Sozialstiftung“ fiel der Start-schuss für eine zweijährige Experimentier-werkstatt, die neue Handlungsspielräume fürsozialökonomische Betriebe (SÖB), ge-meinnützige Beschäftigungsprojekte (GBP)und deren Begünstigte (Transitarbeitskräfte)ausloten wird. Nach fast zweijähriger Vorar-beit und einer Konkretisierungsphase von Jän-ner bis Juni dieses Jahres war der Projektstartam 1. Juli.

Die Sozialstiftung ist ein hoffnungsvolles Angebot,die Wiederholungskarrieren von Langzeitbeschäfti-gungslosen, die zum x-ten Mal ein Beschäftigungs-projekt durchlaufen haben, zu unterbrechen undeinen Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt zu ermögli-

chen. Eine zentrale Aufgabe wird es sein, für Perso-nen, für die es bis dato kaum geeignete arbeitsmarkt-politische Angebote gibt, neue Ansätze der berufli-chen Integration zu entwickeln.

Seit September 2005 gibt es die Sozialstiftung nichtmehr nur auf dem Papier. In den Regionen Linz, Welsund Mühlviertel sind bis dato 21 Personen in diesesneue Instrument der aktiven Arbeitsmarktpolitik ein-getreten. 100 sollen es bis Ende nächsten Jahres wer-den. Alle oberösterreichischen Beschäftigungsbe-triebe haben die Möglichkeit, Absolvent/innen ihrerMaßnahmen, die keinen Arbeitsplatz gefunden habenund auch jene, die frühzeitig abbrechen (mussten),sofern sie in Oberösterreich wohnhaft sind, in die So-zialstiftung eintreten zu lassen.

Was ist in der Sozialstiftung anders als inBeschäftigungsbetrieben?Die maximale Verweildauer ist hier bedeutend längerals in den Beschäftigungsbetrieben. Das ermöglichtden TeilnehmerInnen, sich besser mit ihren zum Teilsehr schwierigen und oft verfahrenen Lebenssituatio-nen auseinanderzusetzen. Das relativ große Zeitfen-ster von zwei Jahren bietet ihnen auch die Gelegen-

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heit, ihre persönlichen, teilweise verschütteten Fähig-keiten kennen- und auf sie vertrauen zu lernen. Dabeiwerden sie durch die begleitenden Angebote der Mit-arbeiterInnen der Sozialstiftung ermuntert und un-terstützt. Methoden des Coachings und der Trainings,die im mittleren und höheren Management Gang undGäbe sind, ermöglichen den TeilnehmerInnen eineneue Form des Umgehens mit sich selber. Die maxi-male aktive Gestaltung der eigenen Lebenswirklich-keit ist das Ziel. Natürlich kann die Sozialstiftungkeine Arbeitsplätze schaffen, aber sie kann die per-sönlichen, gesundheitlichen und sozialen Funda-mente der TeilnehmerInnen für die Arbeitsuche ver-bessern helfen. Würde und Selbstbewusstsein sindzwei lebensnotwendige Vorraussetzungen, um sich indieser komplexen und schnelllebigen Welt zurechtzu-finden und behaupten zu können.

Was ist die Herausforderung für dieSozialstiftung?Im Regelfall sind Arbeitsstiftungen Maßnahmen, diebereits nach kurzer, d.h. ein paar Wochen dauernderArbeitslosigkeit greifen. Den Beginn machte dieVoest-Alpine-Stahlstiftung in den achtziger Jahren,im Laufe der Zeit folgten eine große Zahl weiterer Ar-beitsstiftungen mit durchwegs hohen Vermittlungs-quoten. Langzeit-Arbeitslosigkeit oder besser Lang-zeit-Erwerbsarbeitslosigkeit ist bei den TeilnehmerIn-nen dieser klassischen Arbeitsstiftungen meist keinThema. Die Gefährlichkeit dieses Phänomens aberspiegelt sich nicht zuletzt im primären Ziel des Ar-beitsmarkservice (AMS) wider, die Langzeitbeschäfti-gungslosigkeit (LZBL) möglichst zu verhindern. ZuRecht, da diese Lebenserfahrung sich massiv negativauf die persönliche Entwicklung und die Zukunftsaus-sichten der Betroffenen auswirken kann und dies imRegelfall auch tut.

Die Sozialstiftung hat sich nun Menschen verschrie-ben, denen Erwerbs-Arbeitslosigkeit nichts Fremdesist. Viele der TeilnehmerInnen kennen wiederholtlange Phasen der Erwerbs-Arbeitslosigkeit und auchihre Folgen. Zusätzlich verringern oft schwerwie-gende Qualifizierungsdefizite ihre Chancen am Ar-beitsmarkt. Die große Herausforderung wird es nunsein, den TeilnehmerInnen die notwendige Unterstüt-zung zu bieten, damit sie selbst ihre persönlichen undqualifikatorischen Lücken schließen können. Hilfe zurSelbsthilfe und die Erhöhung der Selbststeuerungspo-tentiale sind die ausgesuchten Zielvorgaben der Sozi-alstiftung.

Was will die Sozialstiftung noch?Für ältere, höherqualifizierte Arbeitsuchende (45+)werden in der Sozialstiftung ebenfalls individuelle,maßgeschneiderte Angebote erarbeitet. Gemeinsammit ihnen werden Zukunftsentwürfe gemacht und dieWege zu den dafür notwendigen Ressourcen ausgelo-tet. In dieser Personengruppe ist besonders das Mit-sich-selber-Arbeiten von Bedeutung. Eine motivie-rende Auseinandersetzung mit den geschlechtsspezi-fischen Konstruktionen in Hinblick auf Arbeit, Be-schäftigung und persönliche Ziele sind ein weitererintegrierter Teil der Sozialstiftung.

Eine begleitende Evaluation durch das Soziologie-In-stitut der Uni Linz ermöglicht sowohl den Teilneh-mer/innen als auch den Einrichtungen im Sinne einerlernenden Organisation eine laufende Reflexion, damitein optimaler Wirkungsgrad entfaltet werden kann.

Mit transnationalen Partnerorganisationen ausDeutschland, Spanien, Italien und Polen, die sich inverwandten Feldern der Arbeitsmarktpolitik bewegen,wird ein Blick über den (inhaltlichen und nationalen)Tellerrand gewagt. Mittels gemeinsam veranstalteterKonferenzen und Workshops werden Know-how-Transfers organisiert, best practice-Modelle geprüftund zukunftsträchtige Strategien erarbeitet.

Wer macht die Sozialstiftung?Die Sozialstiftung ist ein vom Europäischen Sozial-fonds (esf) gefördertes Projekt aus der Gemein-schaftsinitiative EQUAL. Dieses wird unter finanziellerKontrolle des Landes OÖ und über die Gesamt-Koor-dination durch den Verein zur Förderung von Arbeitund Bildung (FAB) auf Basis eines Gesellschaftsver-trags von zehn Organsationen getragen. Die tatsäch-liche, teilnehmerInnennahe Abwicklung liegt bei denBeschäftigungsträgerInnen Verein B7 (Linz), VFQGmbH (Linz/Traun), Verein ALOM Mühlviertel und FABReno (Wels). Die Sozialplattform OÖ ist zuständig fürÖffentlichkeitsarbeit und Mainstreaming in Zusam-menarbeit mit dem ORF OÖ. Über den Stiftungsbe-scheid ist das AMS als ein weiterer wesentlicher Part-ner in das EQUAl-Projekt eingebunden.

Pold Ginner

Projekt SozialstiftungKontakt / Projektkoordination:Marcus HillingerHamerlingstraße 4/1, 4020 LinzTel. 0732/6922-5675Mobil: 0664/8242445

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Vision eines gemeinsamenArbeitsmarkts in Zentral-europaRainer Klien vom Wirtschafts- und Arbeitsmi-nisterium (BMWA) präsentierte bei der “Er-sten Ungarisch-Kroatischen Beschäftigungs-konferenz JOB 2004“ seine Vorstellungen zurZukunft der zentraleuropäischen Regionen imBereich der Arbeitsmarktpolitik.

Vor 20 Jahren hätte sich wahrscheinlich niemandvorstellen können, dass heute die Europäische Unionein gemeinsames Haus ist, in dem seit Mai 2004 auchzehn Länder gleichberechtigte Mitglieder sind, derenBevölkerung vor noch nicht allzu langer Zeit noch einVisum gebraucht hat, um nach Österreich zu fahren,und umgekehrt auch die Österreicher ohne Visumnicht in die nunmehrigen Mitgliedstaaten einreisenkonnten.

Das gemeinsame Haus “Europäische Union” ist abernoch nicht fertig. Im Gegenteil: Es ist eine große Bau-stelle. Die Architekten sitzen im obersten Stockwerk,ein bisschen entfernt von der Realität. An der Basiswird gearbeitet und um die Zimmereinteilung wirdnoch heftig diskutiert. Es sind nicht alle Zimmergleich gut ausgestattet.

Der Erweiterungsprozess ist schneller vor sich gegan-gen, als viele Optimisten es sich vorgestellt haben.Der Prozess ist allerdings auch anders verlaufen, alseinige Europäer gedacht haben. Ich denke dabei andie siebenjährigen Übergangsfristen bezüglich derFreizügigkeit auf dem Arbeitsmarkt, an die unter-schiedlichen Förderbeträge in der Landwirtschaft undan einiges mehr.

In Zeiten der Globalisierung wird die Welt ein großesDorf. Aber das Dorf ist zweigeteilt. Es gibt in jeder Re-gion Gewinner und Verlierer. Es ist zu befürchten,dass das Soziale, die soziale Gerechtigkeit, der sozialeWohlfahrtsstaat als Ganzes, wie wir ihn in der Ver-gangenheit kennen gelernt haben, unter die Räderkommen wird. (...)

Die Unterschiede werden größerWie dem auch sei, eines ist sicher: Die Unterschiedezwischen Reich und Arm nehmen zu, die Disparitätenzwischen reichen und armen Regionen werden größeranstatt kleiner. Die Regionen treten zu einem Konkur-renzkampf gegeneinander an im sogenannten

„Standortwettbewerb“. Dabei gewinnt der Stärkereauf Kosten des Schwächeren. Als Arbeitsmarktexper-ten sehen wir das Ergebnis in ständig steigenden Ar-beitslosenzahlen, in der Zunahme von Armut, in derAusgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen (z.B.Roma) etc. Was betriebswirtschaftlich in bestimmtenSituationen sinnvoll sein mag, kann vollwirtschaftlicheine totale Katastrophe sein.

Es kommen also gewaltige Herausforderungen aufuns zu, vor allem die Bekämpfung von Arbeitslosigkeitund Armut. In Zeiten der Globalisierung wirkt Ar-beitslosigkeit als sehr ansteckende und sehr hart-näckige Krankheit. Ernsthaft bekämpfen kann man sienur mit grenzüberschreitenden Strategien sowie vorallem mit solidarischen Konzepten. Solidarität ist fürviele zwar ein altmodischer Ausdruck, sie ist aber ak-tueller denn je. Damit meine ich nicht das weit ver-breitete Phänomen, dass die Reichen unter sich soli-darisch sind gegen die Armen, sondern dass die Rei-chen Macht, Geld, Einfluss abgeben an die Benach-teiligten. Ziel ist es ja - zumindest auf dem Papier -,dass alle Regionen und alle Bevölkerungsschichten inder gesamten EU in annähernd gleich attraktiven Le-bens- und Einkommensverhältnissen leben.

Wie schwierig dies unter den derzeitigen Bedingun-gen ist, zeigt das Beispiel Deutschland. Einem derreichsten Länder der Welt ist es bis jetzt nicht gelun-gen, die ehemalige DDR an die Standards West-deutschlands heranzuführen.

Aber es gibt auch Hoffnung. So kommen z.B. prak-tisch alle Analysen und Prognosen zu dem Ergebnis,dass an der Schnittstelle zwischen den neuen Mit-gliedstaaten und den alten EU-Mitgliedern ein sehrdynamischer Wirtschaftsraum entstehen wird. EinRaum, der quer durch Zentraleuropa geht, nämlichvon Berlin über Prag, Brünn, Bratislava, Györ, Buda-pest und weiter nach Südwesten von Graz nach Triest.

Die Studien behaupten, dies werde der dynamischsteWirtschaftsraum der EU. Wie dem auch sei: Wahr-scheinlich gibt es noch andere Studien, die dasselbevon anderen Regionen behaupten. Standortpolitik hatauch viel mit Psychologie und Zweckoptimismus zutun. (...)

Große Herausforderungen an dieArbeitsmarktpolitikAuch wenn es nur annähernd stimmt, dass die zen-traleuropäischen Regionen zu den am stärkstenwachsenden Märkten zählen werden, bedeutet diesfür Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitiker vorallem eines: Dieser Prozess muss unterstützt werden.

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Vor allem mit grenzüberschreitender Zusammenar-beit, mit bedarfsorientiertem Einsatz der arbeits-marktpolitischen Instrumente, mit Ausbildungspro-grammen, mit Beschäftigungspakten und sehr vielKooperation. Kooperation ist langfristig einfach bes-ser als Konkurrenz. Es geht um die Stärkung der ge-meinsamen Regionen.

Von einem gemeinsamen Arbeitsmarkt sind wirnatürlich noch meilenweit entfernt. Es wurden zwi-schen den alten und neuen EU-Mitgliedern sieben-jährige Übergangsfristen bezüglich der Freiheit aufdem Arbeitsmarkt vereinbart. Für mich persönlich istdiese Zeitspanne sehr restriktiv. Ich hätte mir mehrMöglichkeiten und eine großzügigere Regelung vor-gestellt, z.B. im Rahmen weitgehender Grenzgänger-abkommen und klarer zeitlicher Fahrpläne zur Öff-nung der Grenzen für Arbeitskräfte. Denn wenn schonEuropäische Union, dann nicht nur Freiheit für dasKapital und die Konzerne, sondern auch für die Ar-beitnehmer. Ein freier Arbeitsmarkt verlangt nachsehr praktischen Lösungen.

Bei dieser Gelegenheit auch ein Wort über die Ängsteeiniger Österreicher vor großen Migrationswellen. DieRealität zeigt, dass die Zahlen, die früher genanntwurden, übertrieben waren. Die Leute sind bei weitemnicht so mobil, wie ursprünglich unterstellt, bzw. istdie Situation in Österreich bei weitem nicht so at-traktiv, wie ursprünglich angenommen (bzgl. Lohnni-veau, Lebenserhaltungskosten, Immobilienmärkteetc.). Im Übrigen wären große Wanderbewegungenauch für das Nachbarland nicht ideal, wenn bestqua-lifiziertes Personal abwandert, obwohl es zu Hausedringend benötigt wird (brain drain, Krankenhausper-sonal etc). Der Mythos der massenhaften Wanderbe-wegung stimmt mit der Realität jedenfalls nicht übe-rein. Wahrscheinlich werden jedoch bald Überlegun-gen angestellt werden, wie etwa die Beschäftigungvon sogenannten “Schlüsselkräften” aus den neuenMitgliedstaaten in den “alten” Mitgliedstaaten er-leichtert werden kann. Denn so absurd es klingenmag: Es gibt trotz Massenarbeitslosigkeit qualifikati-onsbedingte Engpässe. Das heißt: Bei der Verbesse-rung der Qualifikationen ansetzen ist kein Fehler.

Hochgesteckte Ziele Außer Zweifel ist für mich jedoch die Notwendigkeiteiner verstärkten grenzüberschreitenden Zusammen-arbeit. Dies allein schon deshalb, um die Lissabon-Ziele der EU aus dem Jahr 2000 erfüllen zu können,wonach die EU bis zum Jahr 2010 Folgendes erreichensoll:

❚ Die Gesamtbeschäftigungsquote auf 70 Prozenterhöhen, diejenige von Frauen auf über 60 Pro-zent.

❚ Dauerhaftes Wirtschaftswachstum auf einer wis-sensbasierten Wirtschaft soll Arbeitsplätze schaf-fen.

❚ Das europäische Gesellschaftsmodell ist zu mo-dernisieren, damit ein großer sozialer Zusammen-halt ermöglicht wird.

❚ Für ältere Arbeitnehmer (55-64 Jahre) soll eineBeschäftigungsquote von 50 Prozent erreichtwerden.

❚ Der Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit musserfolgreicher geführt werden.

❚ Gleichberechtigung, nachhaltige Entwicklung undZusammenführen von Umweltschutz und Wirt-schaftswachstum.

Wenn wir diese Zielvorgaben ernst nehmen, wird diesalles andere als ein Sonntagsspaziergang. Wir müssenuns klare Ziele setzen und eine Vision der Zusammen-arbeit entwickeln, in der jeweils alle Nachbarn, diezusammenarbeiten, von dieser Kooperation einenNutzen ziehen.

Es ist eine klassische Win-Win-Situation: Das bedeu-tet, dass schon allein aus egoistischen Gründen beideSeiten die grenzüberschreitende Zusammenarbeitausbauen sollten. Kooperation ist langfristig ebenbesser als Konkurrenz, zumindest gesamtgesell-schaftlich gesehen. Und genau das wollen wir. Näm-lich auch eine Angleichung des Lebensstandards, derEinkommenssituation und eine Reduktion der Un-gleichheiten auf dem Arbeitsmarkt und in der Be-schäftigung insgesamt. Damit können wir leichter insGleichgewicht kommen und die Lebensqualität füralle erhöhen.

Zusammenarbeit lohnt sich ❚ Erstens kann man dadurch seine Neugierde stil-

len: Ein Blick über die Grenze erweitert den Hori-zont. Wie machen es die Nachbarn? Welche Zu-gänge zur Arbeitsmarktpolitik existieren auf deranderen Seite der Grenze? Wie sollen wir in Zu-kunft das gemeinsame Europa gestalten? Wassind die erfolgreichsten Projekte und Programmebei den Nachbarn oder anderswo in Europa?

❚ Zweitens: Nachbarn sollten zusammenarbeiten,einfach weil es sich unter Nachbarn so gehört.

❚ Drittens: Die Ausbreitung der Arbeitslosigkeit inZeiten der Globalisierung kennt keine Grenzen,

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daher muss die Arbeitslosigkeit auch grenzüber-schreitend bekämpft werden.

❚ Viertens: Weil alle Studien zeigen, dass die Erwei-terung der EU vor allem den Grenzregionen zu-gute kommt. In den Grenzregionen war der Zu-wachs an Arbeitsplätzen in den letzten Jahrentatsächlich am stärksten.

Flexibilität muss Grenzen habenWenn wir über den gemeinsamen Arbeitsmarkt ineiner erweiterten EU sprechen, darf eine große Gefahrnicht außer Acht gelassen werden. Es ist dies die“Dreifaltigkeit” von Deregulieren, Flexibilisieren undPrivatisieren. Vor allem die als Wundermedizin ge-priesene totale Flexibilisierung kann sehr gefährlichfür die Betroffenen sein. Es ist nicht unbedingt meineIdeal-Vorstellung, dass in Zukunft auf dereguliertenArbeitsmärkten die Menschen gezwungen werden,jeden noch so unbefriedigenden Job zu jeder Bedin-gung an jedem Ort anzunehmen. Flexibilität mussauch Grenzen haben. Sonst leben die Menschen inabsolut zerrissenen sozialen Verhältnissen im Dauer-stress und in einer permanenten Krise. (zerstückelteLaufbahn, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, stän-dig am Rande des Absturzes).

Das bedeutet: Wir werden gemeinsam die arbeits-marktpolitischen Instrumente schärfen und den Ar-beitsmarkt effizienter regulieren müssen. Es liegtnoch viel Arbeit vor uns. Denn ein ungeregelter Ar-beitsmarkt schafft bekanntlich mehr Probleme, als erlösen kann. Ziel ist die Schaffung von attraktiven Ar-beitsplätzen, die auch entsprechend gut bezahlt wer-den. Die negative Erscheinung des “working poor”,also trotz voller Lohnarbeit arm zu sein, mussbekämpft werden. Deshalb ist meiner Meinung nachdie derzeit in vielen Ländern der EU praktizierte Stra-tegie, die Zumutbarkeitsbestimmungen zu verschär-fen, grundsätzlich ein verkehrter Weg.

Zusammenarbeit braucht RessourcenZusammenarbeit fällt genauso wenig vom Himmel,wie sie zum Nulltarif zu haben ist. Grenzüberschrei-tende Zusammenarbeit ist aufwändig. Zusammenar-beit muss gewollt sein und sie braucht vor allem Res-sourcen. Für eine Zusammenarbeit müssen daher per-sonelle und finanzielle Ressourcen zur Verfügung ste-hen. Das heißt, es müssen auf Dauer Kapazitäten auf-gebaut werden, organisatorische Strukturen geschaf-fen und vor allem Verantwortlichkeiten geklärt wer-den. Die Akteure müssen über ein beträchtliches Zeit-

Ziele der Zusammenarbeit für einengemeinsamen Arbeitsmarkt

❚ Die gemeinsame Region stärker machen und Ar-beitslosigkeit effizient bekämpfen

❚ Erfahrungen austauschen/best practice-Me-thode anwenden, Dialog starten

❚ Sich inspirieren lassen von den Ideen der Nach-barn

❚ Entwicklung einer gemeinsamen Weiterbil-dungsstrategie zur Beseitigung qualifikationsbe-dingter Engpässe

❚ Schrittweise die Arbeitsmärkte öffnen (Grenz-gänger, Kontingente, Praktikanten etc.)

❚ Gegenseitige Unterstützung und Nutzung vonSynergien innerhalb der Grenzregion

❚ Durchführung von gemeinsamen Projekten (Aus-bildung, innovative Arbeitszeitmodelle, Dorfer-neuerung, Cluster, Territoriale Beschäftigungs-pakte, Ausbildungsverbünde schaffen, Arbeits-stiftungen, Nutzung des Dritten Sektors für dieSchaffung von zusätzlichen Arbeitsplätzen

❚ Erfahrungsaustausch über Funktionsweise derEU-Fördertöpfe

❚ Vernetzung aller relevanten Akteure mit demZiel, grenzüberschreitende Beschäftigungspaktezu gründen: Nationale Aktionspläne für Beschäf-tigung austauschen

❚ Verknüpfung von Regional- und Arbeitsmarktpo-litik

❚ Durchführung von Regionalanalysen, wenn siepraxisbezogen sind

❚ Stärkung des Systems der öffentlichen Arbeits-marktverwaltung

Wesentliche Punkte für die zukünftigeZusammenarbeit

❚ Die Auswahl der zukünftigen Arbeitsschwer-punkte muss gemeinsam getroffen werden.

❚ Beide Seiten müssen ein Interesse an der Bear-beitung der ausgewählten Thematik haben.

❚ Eine gemeinsame kreative Kommunikation mitgeeigneten kulturellen und geselligen Aktivitä-ten erleichtert das Vorhaben.

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budget verfügen. Die Verantwortlichen müssen in derLage sein, Unterstützung in der eigenen Organisationund bei den Nachbarn zu mobilisieren. Dazu wirdheutzutage auch der Ausdruck capacity building ver-wendet. Erfolgreiche Gemeinschaftsprojekte sind ge-eignet, diesen gegenseitigen Unterstützungsprozesszu fördern.

Selbst diese organisatorischen Voraussetzungen undFörderbudgets allein wären zu wenig für eine erfolg-reiche Kooperation. Es braucht zudem noch den sub-jektiven Faktor, nämlich das persönliche Engagement,das großzügige Herangehen an das gemeinsame Pro-jekt und eine ordentliche Portion Optimismus gepaartmit einer realisierungsfähigen Utopie. Auch Beharr-lichkeit ist wichtig. Ohne diese blieben Pläne undKonzepte nur Papier. All diese Komponenten zusam-men schaffen jenes produktive Klima, in dem Zusam-menarbeit gute Ergebnisse bringt.

Das klingt jetzt alles sehr einfach und vielleicht sogarbanal. Doch genau das ist der Schlüssel zum Erfolg:Einfache und pragmatische Schritte setzen, bei denenalle Partner einen Nutzen davon ziehen. Das ist eingänzlich anderer Ansatz als etwa jener, den die Neo-liberalen und Marktfundamentalisten Anfang der

90er Jahre versucht haben durchzusetzen. Sie habendie „reine Lehre“ verkündet: Der Markt ist gut, Sozia-lismus ist böse und der Staat muss auf das Notwen-digste reduziert werden. Sie haben übersehen, dass inder Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik derMarkt nicht die Lösung ist, sondern das Problem.

Unter reinen Marktverhältnissen können z.B. benach-teiligte Personengruppen schlecht einen Job kriegen,weniger leistungsfähige werden vom Erwerbslebenausgeschlossen etc. Nur die Olympiareifen würdeneinen Job erhalten. Als Beschäftigungspolitiker müs-sen wir daher mehr regulieren und den Markt beein-flussen. Wir müssen dem Raubtier die Reißzähne zie-hen, die entfesselte Marktwirtschaft zivilisieren. (...)

Grenzen überwindenWir starten einem Prozess, bei dem es viele Grenzengibt. Sprachgrenzen, Ländergrenzen, Systemgrenzen...Diese Grenzen sind meist leicht zu überwinden. Dieam schwersten überwindbaren Grenzen befinden sichim Kopf. Z.B. gibt es viele Menschen in Österreich, dienoch gar nicht realisiert haben, dass alle unsereNachbarn (Ausnahme: Schweiz und Liechtenstein) beider EU als gleichwertige Mitglieder mit dabei sind.Vor allem diese Grenzen müssen wir niederreißen.

Ich bin ein unverbesserlicher Optimist. Auch wenndie EU noch eine grobe Baustelle ist, so bin ich zu-versichtlich, dass wir ein Haus schaffen können, indem sich alle wohlfühlen. Wir brauchen uns gegen-seitig, um unsere Interessen in Brüssel durchsetzenzu können.

Daher erscheint es mir extrem wichtig, Kooperations-strukturen aufzubauen und gemeinsam Visionen undUmsetzungsstrategien zu entwickeln, wie die Regio-nen gestärkt und der soziale Zusammenhalt erhöhtwerden kann. Vor allem aber, wie kann Arbeitslosig-keit erfolgreich und nachhaltig bekämpft werden? Einerfolgreiches Beispiel für Kooperation ist die sog. Ex-pertenakademie (siehe Kasten). Die Zeit ist reif, dieZusammenarbeit auf eine breitere und längerfristigeBasis zu stellen. Die zukünftigen Herausforderungenverlangen nach einem kontinuierlichen Seminar- undKonferenzbetrieb, um maßgeschneiderte Problemlö-sungen für die jeweils betroffene Region zu ent-wickeln.

Rainer Klien

Redigierte Fassung des Vortrags „Die Zukunft der zentral-europäischen Regionen und die Vision von gemeinsamenArbeitsmärkten“, gehalten am 24.9.2004.

Was ist die Expertenakademie (Expak)?

Die Expak ist eine Informations- und Vernetzungs-plattform. Die Expak ist kein fixes Gebäude, son-dern ein Prozess, bei dem grenzüberschreitend imRahmen der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpo-litik zusammengearbeitet wird. Die Expak ist einForum, in dem in erster Linie “best-practice” Pro-gramme und Erfolge der EU im Kampf gegen Ar-beitslosigkeit präsentiert und auf ihre Übertrag-barkeit in das tschechische oder österreichischeSystem der Beschäftigungspolitik überprüft wer-den sollen.

Die Expak dient weiters für die Erleichterung beider Durchsetzung von arbeitsmarktpolitischen In-novationen durch praxisorientierte Informations-weitergabe, für die Durchführung von Regional-analysen, Bedarfserhebungen etc. sowie die Veran-staltung von Seminaren, Exkursionen und Konfe-renzen. Allgemein wird erwartet, dass es durch dieErrichtung der Expertenakademie zu einer höherenDynamik bei der Gestaltung der Arbeitsmarkt- undBeschäftigungspolitik kommt.

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Für die sorgen, die für unssorgen Neue Perspektiven für den Gesundheits- undSozialbereich

DienstnehmerInnen, die im Pflege- und Betreuungs-bereich arbeiten, sind beruflich großen Belastungenausgesetzt. Die demografische Entwicklung, derdamit verbundene steigende Bedarf an Pflege undBetreuung bei gleichzeitiger Personalknappheit undKostendruck in den Institutionen verschärfen die Ar-beitsbedingungen zusätzlich.

Im Rahmen der EU-Initiative EQUAL arbeiten in derEntwicklungspartnerschaft „Blickwechsel – Neue Per-spektiven für den Gesundheits– und Sozialbereich“Einrichtungen zusammen, die jahre- bis jahrzehnte-lange Erfahrungen in diesen Bereichen haben. Zieleder Partnerschaft sind die Verbesserung der Arbeits-bedingungen, die Erhaltung der Arbeitsfähigkeitsowie die Erweiterung des Arbeitskräftepools für denGesundheits- und Sozialbereich. Zur Erreichung die-ser Ziele wird beim Empowerment von Einzelpersonensowie Organisationen angesetzt.

Drei ModuleDie Ziele der Entwicklungspartnerschaft werden seitJuli dieses Jahres in drei Modulen verfolgt. Insgesamtsind 15 Personen bei „Blickwechsel” mit der Arbeit inden Modulen und mit Koordinationsaufgaben be-schäftigt.

„PS – Potential Sozialkapital“ (Forschungsinstitut desRoten Kreuzes) richtet seinen Blick auf die Ressour-cen der MitarbeiterInnen in der mobilen Pflege undBetreuung, um Arbeitsbedingungen zu verbessern,Belastungen zu reduzieren, Ressourcen zu stärkenund die Verweildauer im Beruf zu verlängern. Im Rah-men des Moduls wird das Handbuch „Betriebliche Ge-sundheitsförderung in der mobilen Pflege und Be-treuung“ erstellt und den Trägerorganisationen sozia-ler Dienste zur Verfügung gestellt.

Kontakt: Mag.a Ingrid Spicker / Forschungsinstitutdes Wiener Roten Kreuzes, Tel. 01 / 79548-2426,Mail: [email protected]

„Zeichen gehören gesetzt“ (equalizent – Schulungs-und Beratungs GmbH ) entwickelt Maßnahmen, diegehörlosen und schwerhörigen Personen den Zugangzu einer qualifizierten Tätigkeit im Gesundheits- undSozialbereich ermöglichen. Durchgeführt wird auchein Lehrgang zur Vorqualifizierung für eine Ausbil-dung im Pflege- und Betreuungsbereich.

Die Anerkennung der österreichischen Gebärdenspra-che und ihre Verankerung in der Verfassung sindwichtige Schritte zu einer adäquaten Positionierungvon gehörbeeinträchtigten Personen am Arbeits-markt. Bis jetzt waren gehörlose Personen vom Zu-gang zu qualifizierten Tätigkeiten im Gesundheits-und Sozialbereich ausgeschlossen, obwohl sie mitihrer ausgeprägten visuellen Wahrnehmungsgabeund einer besonderen Sensibilität in der Einschätzungihres Gegenübers wesentliche Voraussetzungen erfül-len würden.

EQUAL-EP „Blickwechsel – Neue Perspekti-ven für den Gesundheits-und Sozialbereich“

Strategische PartnerInnen:

Wirtschaftskammern Österreichs, ÖsterreichischerGewerkschaftsbund, Wiener Gebietskrankenkasse,Oberösterreichische Gebietskrankenkasse, Allge-meine Unfallversicherungsanstalt, Pensionsversi-cherungsanstalt, Fonds Soziales Wien, Österreichi-scher Gehörlosenbund, Dachverband der WienerPflege- und Sozialdienste

PartnerInnen für transnationale Aktivitäten – einKommunikationstraining für Hörende und Gehör-lose, die Entwicklung einer Multimedia DVD sowieeiner Website für internationale Jobvermittlung –

sind Free Art Records in Ostrava (CZ) und die RW-TÜV Akademie in Gelsenkirchen (D).

Das Projekt wird vom Europäischen Sozialfonds,dem Bundessozialamt im Auftrag der österreichi-schen Bundesregierung und dem Fonds gesundesÖsterreich gefördert.

Inhaltliche Koordination:

Erentraud Lehner, Forschungsinstitut des WienerRoten Kreuzes, Tel. [email protected]

EP-Website: www.equal-blickwechsel.at

TauschsystemeÜber Tauschkreise, alternative Geldsysteme,Selbsthilfe und Grenzen der Selbstverant-wortung

Die Idee des Tauschens erlebt in regelmäßigen Ab-ständen eine Renaissance, genau dann und dort, woArbeitsplätze knapper werden, Löhne sinken und sichMenschen, Nischen bzw. Regionen, die von diesenAuswirkungen am stärksten betroffen sind, - Finanz-beratungen jeglicher Sparten zum Trotz - Gedankenüber Alternativen machen.

Unter dem Suchbegriff „Tauschen“ findet sich derzeitim Internet eine gehörige Anzahl an Links zu den ver-schiedensten Tauschsystemen. Zu unterscheiden sindeinerseits vorwiegend privat organisierte Tausch-kreise, sogenannte Talentebörsen, und andererseitsRegionalgeldinitiativen. Während Tauschkreise daraufabzielen, zur ökonomischen Selbsthilfe im privatenBereich anzuregen und vor allem Einkommensschwa-chen eine Alternative anzubieten, wollen Regional-geldinitiativen - es handelt sich dabei um Zusam-menschlüsse von Gewerbetreibenden - durch die Ein-führung von komplementären Geldsystemen dem Ge-werbesterben und der steigenden Arbeitslosigkeit ineiner Region entgegenwirken.

TauschkreiseMitglieder eines Tauschringes können in gedrucktenoder online publizierten Marktzeitungen inserieren.Angeboten und gesucht wird dabei so ziemlich alles:von der Wohnzimmereinrichtung über Bioprodukte,Leistungen in der Kinder- und Altenbetreuung bis zu(dann doch wieder teilweise in Euro bezahlten) Aus-hilfstätigkeiten in Betrieben. Abgerechnet wird zu-meist in Talenten, wobei ein Talent einem Euro ent-spricht, für Dienstleistungen wird ein genereller Stun-denlohn von zehn Talenten empfohlen. Die Talentebe-

träge werden auf Konten des Tauschrings gebucht, alsHaben für die VerkäuferInnen und als Soll für dieKäuferInnen. Für jedes Mitglied gibt es ein eigenesKonto, das selbst verwaltet wird. Für die Organisationder Tauschbörse ist jedoch in ein Gemeinschaftskontoein jährlicher Mitgliedsbeitrag einzubezahlen (in Eurooder in Form von Talenten, die automatisch abgezo-gen werden).

Weiters zu finden sind kleinere Tauschbörsen, die sichauf ganz bestimmte Produkte beschränken: Beispiels-weise gibt es eine eigene Restbaustoffbörse, die unterdem Motto „Wiederverwenden statt verschwenden“für „Häuslbauer“ einerseits Restbaustoffe, anderer-seits Fahr- und Transportgemeinschaften vermittelt.Auch hier ist ein Mitgliedsbeitrag zu bezahlen.

Eine Ausnahme stellt „Time - die Zeittauschbörse“dar, die ausschließlich in Zeiteinheiten abrechnet und- im Auftrag der Stadt Linz – dezidiert die Vermitt-lung von gegenseitiger Nachbarschaftshilfe in denVordergrund stellt. Neu ist eine Kooperation zwischen„Time“ und der Talentetauschbörse: Mittels einer zwi-schengeschalteten „Bank“ kann nun auch zwischenTalenten und Zeiteinheiten getauscht werden.

Tauschringe gab und gibt es in beinahe allen Bundes-ländern: Einige Beispiele sind der Tauschkreis Tirol(seit 1995), der Tauschkreis Mühlviertel Regional, derTauschkreis Innviertel oder der Tauschkreis Vorarl-berg. Eine Übersicht befindet sich auf dem Internet-portal www.tauschkreis.net.

Komplementäre GeldsystemeNach dem Vorbild der bayrischen Region Chiemgau,welche bereits seit 2002 mit dem „Chiemgauer“ han-delt, haben sich im April 2005 die gesamte Wirtschaftin und um Heidenreichstein sowie einige Betriebe dernäheren Umgebung zusammengeschlossen und den„Waldviertler“ als zusätzliche Regionalwährung ein-geführt. Sowohl der „Waldviertler“ als auch der

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Kontakt: Mag.a Elke Mutschenlechner / equalizentSchulungs- und Beratungs GmbH, Tel. 01 / 409 83 18–31; Mail: [email protected]

„Horizonte 40 +“ (BBRZ Österreich – Berufliches Bil-dungs- und Rehabilitationszentrum) berät und be-treut ArbeitnehmerInnen, wenn bereits gesundheitli-che Beeinträchtigungen vorhanden sind, bietet aberauch interessierten Unternehmen Information undBeratung an. Ein rechtzeitiges Angebot an sinnvollenberuflichen Alternativen soll der Verschlechterung

und Chronifizierung von gesundheitlichen Beein-trächtigungen vorbeugen und den Verbleib im Berufs-leben sichern. Neben der Betreuung von Einzelperso-nen und der Beratung von ArbeitgeberInnen werdenberufsbegleitende Seminare zu den Themen Berufs-orientierung, Bewerbungstraining und Gesundheits-förderung angeboten.

Kontakt: DSA Romana Endrich / BBRZ Österreich, Tel.01 / 74022–484; Mail: [email protected]

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„Chiemgauer“ entsprechen derzeit dem Wert voneinem Euro. Ausgegeben werden kann und soll er nurinnerhalb des Systems. Und dies möglichst rasch, umeinen kontinuierlichen Geldfluss aufrecht zu erhalten.Wird das Geld nicht innerhalb eines Quartals in Um-lauf gebracht, erleidet es einen Wertverlust von zweiProzent, der durch das Aufkleben von (Steuer-)Mar-ken ausgeglichen werden kann. Bei einem Rücktauschder Regionalwährungen in Euro verliert das Geldsogar fünf Prozent an Wert. Das Chiemgauer Regio-nalgeldexperiment ist mittlerweile soweit gediehen,dass in Zusammenarbeit mit der GLS (Gemeinschafts-bank für Leihen und Schenken) die Einführung von ei-genen Girokonten für den „Chiemgauer“ ab 2006möglich sein wird. Das Waldviertler Experiment stecktzur Zeit noch in den Kinderschuhen und bemüht sich,die Betriebe der umliegenden Gemeinden zu animie-ren, sich anzuschließen und die Umsätze zu erhöhen,u.a. mittels „im Rad“ organisierter Quartalsfeste, dieeinerseits dazu dienen, Kontakte zu schließen, ande-rerseits die Möglichkeit bieten, an diversen Markt-ständen, die sich noch hauptsächlich auf den Lebens-mittelbereich beschränken, den „Waldviertler“ recht-zeitig auszugeben.

Skepsis versus EuphorieSowohl Regionalgeldinitiativen als auch die meistenprivat organisierten Tauschkreise berufen sich auf dieFreigeld-Theorien des deutsch-argentinischen Kauf-manns Silvio Gesell (1862-1930) sowie auf das „Wör-gler Freigeldexperiment“. Gesell führte ökonomischeKrisen auf die Überlegenheitsstellung des Geldes imWirtschaftssystem zurück (These von der „Streik-fähigkeit des Geldes“). Geld kann im Gegensatz zuWare und Arbeitskraft jederzeit ohne Konsequenzenzurückgehalten werden. Als Konsequenz von Geld-knappheit ergeben sich gefährliche Konjunktur-schwankungen sowie die Entstehung sozialer Unge-rechtigkeit. Während Geldbesitzer leistungsloses Ein-kommen über das Zinssystem erwerben können,kommt es für die zinszahlende arbeitende Bevölke-rung zu einer beständigen Abwertung des vorhande-nen Kapitals und ihrer Arbeitskraft. Laut Gesells Theo-rie kann eine Wirtschaft stabil bleiben, wenn dieMarktüberlegenheit der Geldbesitzer bereinigt wirdund dafür gesorgt wird, dass Geld kontinuierlich imUmlauf bleibt. Erreichen wollte er dies durch die Ein-führung von Freigeld, einem nicht durch Gold ge-deckten Papiergeld, welches jährlich, solange eszurückgehalten wurde, zu einem bestimmtenSchwundsatz an Nennwert verlor und auf diese Weisemit einem Umlaufantrieb ausgestattet war.

Kurzfristig erfolgreiche Freigeldexperimente hat es inDeutschland (Wära-Tauschgesellschaft, 1929 bis1931), in Österreich (Wörgl, 1932 bis 1933) sowie inFrankreich, Spanien und der Schweiz gegeben, wo sieallesamt verboten wurden. Berühmtestes historischesBeispiel ist das „Wunder von Wörgl“: Der extrem hochverschuldeten Tiroler Gemeinde Wörgl gelang es 1931binnen eines Jahres, durch die Einführung von Frei-geld als Nothilfeprogramm die Arbeitslosigkeit in derGemeinde um ca. 25 Prozent zu senken und gleich-zeitig die Wirtschaft in der Gemeinde derart anzukur-beln, dass nicht wenige (für jene Zeit unvorstellbare)Bauvorhaben getätigt wurden. Das Experiment wurde1933 aufgrund des Drucks der Nationalbank, die vonBeginn an dagegen agiert hatte, verboten.

Ein genauerer Blick auf die Geschichte des Freigeldsist jedoch nicht nur euphorisch. Kurz nach dem Be-kanntwerden des Wörgler Wunders gab es Versuchein Amerika, diese Ansätze in eine Art „Perpetuum mo-bile für Geld“ umzusetzen. Das konnte nur misslingen,da den Menschen keine entsprechende Informationgegeben, sondern vielmehr vorgegaukelt wurde, dassGeld sich (für alle) vermehren könnte, wenn man eseinfach nur anders benennt.

Auch ein bis zum Sommer 2002 staatlich geförderterGroßversuch in Argentinien zeigt, dass die wiederer-wachte Euphorie um Gesells Theorie mit Skepsis zubetrachten ist. An der dortigen Tauschringbewegungbeteiligten sich etwa zehn von 36 Millionen Einwoh-nern. Es entstand ein Netz von Tauschringmärkten,für die zunächst eine Tauschringwährung, der Cre-dito, kreiert wurde, bevor man später das Schwund-prinzip ergänzte. Aufgrund der Tatsache, dass eineverarmte Bevölkerung, wenn sie nicht über genügendRessourcen/Produktionsmittel verfügt, um eine Wirt-schaft aufzubauen, auch über ein Tauschsystem wie-derum nur ein Flohmarktsortiment (Restpostenabver-kauf, Haareschneiden etc.) anbieten kann, gelangtendringend gebrauchte Nahrungsmittel nicht zumTauschring. Das System brach bereits im Herbst 2002wieder zusammen.

Gaby Weber, eine Journalistin, die im Sommer 2002,also auf dem Höhepunkt der Entwicklung, mit Sym-pathie aus Argentinien berichtete, zitierte einen an-sässigen Geschäftsmann: „Wenn sich die Menschennicht mehr über die Tauschklubs ernähren könnten,würden sie alle auf die Barrikaden steigen (...) Deshalbsehen es die argentinische Regierung und die inter-nationalen Finanzorganisationen mit Wohlwollen,dass sich die Armen selbst über die Runden bringenund nicht länger dem Staatshaushalt zur Last fallen.“

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So sei eine informelle Wirtschaft entstanden, „mitprivaten Tauschtickets, wo keine Steuern erhobenwerden und wo vom Staat nichts erwartet wird, keineKrankenkassen, Renten und die Förderung von sozialBenachteiligten. So kann sich der Staat aus der Sozi-alarbeit herausziehen, können Finanzmittel und Be-amte eingespart werden.“ (Peter Bierl in konkret6/2005)

BeurteilungRegionale Geldsysteme und Tauschkreise heute wollenund können nicht das herkömmliche System ersetzen,sondern dieses allenfalls ergänzen. Als Versuch, in Ei-geninitiative regional zusätzliche Möglichkeiten zuschaffen, sind solche Initiativen zu begrüßen. So wiedas Experiment von Wörgl als Nothilfeprogramm be-zeichnet wurde (was es de facto auch war), sollten re-gionale Selbsthilfeprogramme nicht den Anschein er-wecken wollen, die Weltwirtschaft verändern zu kön-nen, wie sie es auf ihren Webseiten tun.

Auch bei den privaten Tauschbörsen ist bei genauererBetrachtung eine gewisse Skepsis angebracht. In dengroßteils sehr euphorisch formulierten Selbstbe-schreibungen im Internet wird als größter Vorteil desTauschhandels ohne Zinsverlust vor allem eines be-tont: die positiv gesellschaftsverändernde Kompo-nente, denn durch organisierte Nachbarschaftshilfekommt es zu verstärkter Kommunikation unterschied-lichster Gesellschaftsschichten. Tauschkreise ermögli-chen in Zeiten steigender Arbeitslosigkeit zusätzlicheLeistungen, die im herkömmlichen Geldsystem nichtmehr leistbar wären. Durch das Gleichsetzen jeglicherArbeit, weil diese in Zeit oder in Talenten bewertetwird, kommt es auch zu einer Neubewertung der Ar-beit an sich. Demokratie und BürgerInnenbeteiligungwird gefördert, denn einbringen kann sich jede/r mitseinen/ihren Fähigkeiten (Talenten) jenseits der An-forderungen des Arbeitsmarktes. Was positiv gemeint,aber manchmal etwas naiv formuliert ist, wird vonanderen, die noch einen Schritt weiter gehen, negativübertroffen: Auf www.tauschkreis-muehlviertel.atetwa wird proklamiert: „Einer der grundlegendenFehler unseres Geldsystems scheint der Zins- u. Zin-seszins zu sein.“ In einem der wenigen erklärenden(anonymen) Artikel wird dann behauptet, durch Frei-wirtschaft Probleme wie Arbeitslosigkeit, Umweltzer-störung, Staatsverschuldung, ja sogar die Entstehungvon Kriegen lösen zu können. Und: „Verantwortlichdafür sind wir, es ist Zeit, die Sache in die Hand zunehmen.“

Wer will nicht Frieden auf der Welt, genügend Ar-beitsplätze und eine sichere Zukunft für alle? Ob dies

durch bessere Rahmenbedingungen für den Verkaufvon Bioprodukten, Esoterikseminaren, gegenseitigemBabysitting, organisierter Nachbarschaftshilfe undzweifelsohne begrüßenswerten Initiativen zur Bele-bung der lokalen Wirtschaft innerhalb eines ge-schützten Rahmens möglich sein wird, sei dahinge-stellt.

Manuela Mittermayer

QuellenGerhard Senft: Auf der Suche nach dem „Dritten Weg“, in:

kurswechsel 4/1992konkret 6/2005, Peter BierlInterview mit Andreas Höritzauer, Wegwartehof, Merken-

brechts, Waldviertelwww.tauschkreis-muehlviertel.atwww.waldviertel-regional.atwww.vsg.or.atwww.tauschkreis-tirol.atwww.chiemgau-regional.dewww.tauschkreis.net

Erstabdruck dieses Artikels in der Zeitung “heller - beiträgegegen monokulturelle alltagserscheinungen”, Linz, Septem-ber 2005

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V E R A N S TA L T U N G E N

„Made in China“ - was steckt dahinter?China geht uns alle an: In China werden zum Beispiel unsere T-Shirts genäht, das Spielzeug unserer Kinder her-gestellt und die in unserer Gastronomie verwendeten Eier gelegt. Mögliche Auswirkungen für Oberösterreichdurch „Made in China“ werden beim Chinasymposiums im AK-Jägermayrhof veranschaulicht.

Termin: 30. November 2005 von 10.00 bis 18.00 Uhr und 1. Dezember 2005 von 9.00 bis 16.00 UhrOrt: AK-Bildungshaus Jägermayrhof, 4020 LinzVeranstalter: Landesorganisation des ÖGB, Bereich Bildung und Zukunftsfragen, weltumspannend arbeiten,

in Kooperation mit der AK OÖ FunktionärebildungAnmeldung: Weltumspannend arbeiten, 4020 Linz, Wienerstraße 2, Tel. 0732 / 654784 – 6054

Mail: [email protected], www.weltumspannend-arbeiten.at

Graz – die Stadt der Menschenrechte auch für behinderte Frauen und Männer?Im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft „Behindertenpolitische Abende“ berichtet Bürgermeister Siegfried Nagl überAktivitäten der Stadt Graz für Frauen und Männer mit Behinderungen.

Ort: Die Brücke, Grabenstraße 39a, 8010 GrazTermin: 7.12.2005, 19.00 UhrInformation: Tel. 0316/872-6477, Mail: [email protected]

Workshop „Regionale Arbeitsmarktprognosen“Der Workshop „Regionale Arbeitsmarktprognosen“ zielt in zwei Richtungen. Auf der einen Seite werden metho-dische Entwicklungen diskutiert. Das Spektrum reicht von kleinräumigen standardisierten Zeitreihenverfahrenüber Simulationsmodelle bis zur Anwendung von „Künstlichen Neuronalen Netzwerken“. Andererseits wird hoherWert auf die Umsetzung in der Praxis gelegt: Unter welchen Voraussetzungen sind die Verfahren anwendbar, wieeinfach können sie umgesetzt werden und wie zuverlässig sind die Prognosen?

Die Veranstaltung ist zum einen für Wissenschaftler von Interesse, die sich auf dem angesprochenen Feld überden Stand der Forschung informieren wollen. Zum anderen wendet sie sich an Praktiker, die sich für die Reich-weite moderner wissenschaftlicher Methoden für Prognosezwecke interessieren, um Steuerung, Budgetierungund Benchmarking optimieren zu können.

Ort: Kongresscentrum der Bundesagentur für Arbeit, Nürnberg, Regensburger Str. 104Termin: 9. Dezember 2005Anmeldung: http://iab.de/iab/veranstaltungen/regpro2005d.htm

Was tun gegen Armut und soziale Ausgrenzung?Lehren aus den Strategien europäischer Großstädte

Grundlage der Veranstaltung bildet die im Auftrag der AK erstellte Studie „Städtestrategien gegen Armut undsoziale Ausgrenzung“, welche die Städtestrategien aus fünf europäischen Ländern vergleicht. Bei der Tagungwerden Projekte aus London, Amsterdam, Wolfsburg und Wien - eingebettet in die jeweilige nationale, regio-nale und kommunale Politik - präsentiert und deren Erfolge, aber auch Misserfolge diskutiert und verglichen.Ziel ist ein intensiver Erfahrungsaustausch: Was können die Städte von einander lernen und in die jeweiligePraxis umsetzen?

Veranstalter: Kammer für Arbeiter und Angestellte Wien in Kooperation mit dem Wissenschaftszentrum Wien, der TU Wien, Fachbereich Soziologie (ISRA) und Plansinn

Ort: Adolf Czettel Bildungszentrum, Großer Sitzungssaal, Theresianumgasse 16-18, 1040 WienTermin: 15.12.05, 9.00 Uhr bis 16.12.05, 16.00 Uhr

KONTRASTE Presse- und Informationsdienst für Sozialpolitik

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Herausgeber, Medieninhaber, Verleger: Sozialwissenschaftliche Vereinigung, mit Unterstützung der UniversitätLinz, Institut für Gesellschafts- und Sozialpolitik

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Redaktionsadresse:KONTRASTE: Johannes Kepler Universität Linz, Institut für Gesellschafts-und Sozialpolitik, Altenbergerstr. 69, 4040 Linz Tel.: 0732/2468-7168Mail: [email protected] Web: http://www.gespol.jku.at/ Menüpunkt KontrasteAboservice, Sekretariat: Irene Auinger, Tel.: 0732/2468-7161 Fax DW 7172 Mail: [email protected]

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Wissenschaftliche Beratung:Univ. Prof. Dr. Josef Weidenholzer Univ. Prof. Dr. Irene Dyk a.Univ. Prof. Dr. Evelyn Schuster

Lektorat; Satz:Mag. Hansjörg Seckauer

Layout:Mag. Gerti Plöchl

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