68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu...

44
MATERIALDIENST Zeitschrift für Religions- und Weltanschauungsfragen 68. Jahrgang 2 / 05 ISSN 0721-2402 H 54226 Das Spezifische der „Buchreligionen“ Warum nicht Feng Shui? „Was gut und böse ist“ Über Religion im Kriminalroman Die Ära der Quantencomputer und ihre Folgen für das Naturverständnis Demeter-Produkte weniger gefragt Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen

Transcript of 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu...

Page 1: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

MAT

ERIA

LDIEN

ST Zeitschrift fürReligions- undWeltanschauungsfragen

68. Jahrgang 2/05IS

SN 0

721-

2402

H 5

4226

Das Spezifische der „Buchreligionen“

Warum nicht Feng Shui?

„Was gut und böse ist“Über Religion im Kriminalroman

Die Ära der Quantencomputer und ihre Folgen für das Naturverständnis

Demeter-Produkte weniger gefragt

Evangelische Zentralstellefür Weltanschauungsfragen

EZW, Auguststraße 80, 10117 BerlinPVSt, DP AG, Entgelt bezahlt, H 54226

umschlag02.qxd 17.01.05 07:09 Seite 1

Page 2: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen
Page 3: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

Ulrich DehnDas Spezifische der „Buchreligionen“ 43

Gerd AldingerWarum nicht Feng Shui? 52

Lutz Lemhöfer„Was gut und böse ist“Über Religion im Kriminalroman 57

Günter EwaldNeues Computer-Zeitalter und seine Folgen für ein neues Naturverständnis 65

Interreligiöser DialogSind monotheistische Religionen besonders anfällig für Gewalt? 71

EsoterikAuftrag ausgeführt... 74

NeohinduismusAuch die „Zukunftsstadt“ Auroville von Flutkatastrophe betroffen 74

AnthroposophieDemeter-Produkte weniger gefragt 75

IslamLebenslagen von Migrantinnen 76

Mark JuergensmeyerTerror im Namen GottesEin Blick hinter die Kulissen des gewalttätigen Fundamentalismus 76

INHALT MATERIALDIENST 2/2005

BERICHTE

IM BLICKPUNKT

INFORMATIONENINFORMATION

INFORMATIONENBÜCHER

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 41

Page 4: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 42

Page 5: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

43

Schriftreligionen – Buchreligionen

Das Wort „Buchreligion(en)“ ist kein reli-gionswissenschaftlicher Terminus. In derReligionswissenschaft ist von HeiligenSchriften und von der Unterscheidungvon Schriftreligionen und vorschriftlichenReligionen die Rede, aber auch die letz-tere Unterscheidung hat nur geringenheuristischen Wert, weil viele vorschrift-liche Religionen irgendwann schriftlichgeworden sind oder von der Gattung hereher als regionale Kulttraditionen zu be-trachten wären.Wenn wir „Buchreligionen“ als allge-meine Kategorie betrachten wollten, müss-ten wir neben denen, die terminologischgemeint sind (Judentum, Christentum, Is-lam), u.a. noch den Sikhismus mit seinemGuru Granth Sahib oder die Baha’i mitdem Kitab i’Aqdas und drei weiterenwichtigen Schriften Baha’u’llahs berück-sichtigen und kommen dann bereits in ei-nen Bereich von Grauzonen. Auch wennetwa die Bhagavadgita als heiliges Buchgilt, wäre genauer zu benennen, von wel-chen Segmenten der hinduistischen Fröm-migkeit sie als solches anerkannt wird. Fürmanche staatsshintoistisch orientierte Ja-paner haben auch die mythischen EpenNihonshoki und Kojiki aus dem Anfang des8. Jahrhunderts heiligen Rang, trotzdemwird der staatsnahe Teil des Shinto deshalbnicht als Buchreligion bezeichnet. Der Terminus Buchreligion ist im Unter-schied zur Schriftreligion ein theologi-scher Begriff der islamischen Theologie. Erist eine aus dem Koran herleitbare Kon-

vention aus der Wendung „Leute desBuchs/der Schrift“ (ahl al’kitab), ähnlichwie dies der Fall ist mit dem sich darananschließenden Konstrukt der drei mono-theistischen oder abrahamitischen Reli-gionen, die an vielen Orten zum „Trialog“zusammenkommen. Manchmal weisendie Baha’i darauf hin, dass sie gerne indieses monotheistische trilaterale Ge-spräch aufgenommen würden, was schondarauf hinweist, dass jede Konventiondieser Art aufweichbar und dispositions-fähig ist. Das Kriterium des Monotheismuswird auch von vielen süd- und ostasiati-schen Frömmigkeitstypen und Kulten er-füllt, die unter den Begriffen „Hinduis-mus“ und „Buddhismus“ zusammenge-fasst werden.

„Leute des Buchs“

Es soll ein kurzer Blick auf die „Leute desBuchs“ im Koran geworfen werden, bevorwir uns dann mit dem Spezifischen der„Buchreligionen“ beschäftigen. Die „Leutedes Buchs“ oder auch „Schriftbesitzer“,womit zumeist die Juden und Christen gemeint sind, stellen eine vieladressierteGröße im Koran dar, gelegentlich differen-ziert in Juden oder Christen. In Sure 2,62werden auch die Sabier1 in diese mono-theistische Wertschätzung einbezogen, jedoch nicht mit dem Ausdruck ahl al’kitab belegt. Ähnlich ergeht es inPersien den Zoroastriern sowie später inIndien nach dem Mongolensturm unterder Herrschaft der Sultane seit dem 13.Jahrhundert den nicht-muslimischen In-

MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

Ulrich Dehn

Das Spezifische der „Buchreligionen“

IM BLICKPUNKT

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 43

Page 6: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

dern, da die herrschende muslimischeMinderheit pragmatisch mit der Tatsacheeiner nicht-muslimischen Mehrheit umge-hen musste. Ob Muhammad sich mit der Hervorhe-bung der Juden und Christen aus anderenReligionsgemeinschaften, die sich ja bis in heutige Gesetzgebung hinein niederge-schlagen hat, den beiden Gruppen anbie-dern wollte, ist sehr umstritten. Dagegenspricht, dass sie im alten Arabien und inMekka ohnehin so klein an Zahl waren,dass eine opportunistische Annäherung,sei es politischer, sei es theologischer Art,pragmatisch gar nicht geboten war.2 Mu-hammads Verhältnis zu den „Leuten desBuchs“ war immer in erster Linie sachbe-zogen, in zweiter Linie geprägt durch his-torische Erfahrungen. Abraham, Moses,Jesus, Torah, Evangelium und die alttesta-mentlichen Propheten gelten im Koran alsVerkünder der gleichen göttlichen Offen-barung, obwohl der Koran zwischen Christen, Juden und der eigenen Akzent-setzung auch deutlich unterscheidet. DenJuden gegenüber verteidigt der Koran dieReinheit Marias und das ProphetentumJesu, den Christen gegenüber werden Mo-ses und die (anderen) israelitischen Pro-pheten gewürdigt, v.a. aber Abraham alsZeuge des tiefen Eingottglaubens. DieSelbstverständlichkeit, mit der im Korandiese Gestalten aus der jüdisch-christli-chen Tradition vorkommen, zeigt, dass siein der Umgebung von Muhammad be-kannt gewesen sein müssen. Wohl hatteer keinen Kontakt zu ganzen Gemeindenund auch nicht zum Hauptstrom altkirch-licher Christlichkeit und ihrer herrschen-den Trinitätstheologie und Christologie,sondern kannte das Christentum in ersterLinie von einzelnen Eremiten und Mön-chen, die eher ein melkitisches, jakobiti-sches und nestorianisch geprägtes Chris-tentum vertraten, und er kannte offenbareinige Lehrinhalte der Monophysiten.

Wahrscheinlich hatte Muhammad keinenZugang zum Alten und Neuen Testament,die auch zu dem Zeitpunkt noch nicht invollständiger arabischer Übersetzung vor-lagen3 – ohnehin ist wahrscheinlich, dasser Analphabet war. Nach wie vor umstritten ist in der For-schung der Einfluss, den evtl. das ebioniti-sche Judenchristentum auf Muhammadhatte, ein Einfluss, der seit alters vonchristlichen Apologeten behauptet undvon muslimischen Apologeten bestrittenwurde.4 Das Thema des christlichen Ein-flusses auf Muhammad soll hier nicht wei-terverfolgt werden, da es höchstens zuMuhammads Motivationsklärung zur Be-nutzung des Begriffs „Buchreligionen“beitragen kann.Im Koran gibt es ein Einigungsangebot andie Leute der Schrift, das wohl so eine Art Friedensvertrag darstellen sollte: „Sag,ihr Leute der Schrift! Kommt her zu einemWort, das zwischen uns und euch gleichist. Dass wir Gott allein dienen und ihmniemanden beigesellen und dass wir Men-schen uns nicht untereinander an GottesStatt zu Herren nehmen“ (Sure 3,64). Die Juden und Christen gehen nicht aufMuhammads Angebot ein, ein gemeinsa-mes monotheistisches Dach für die Tradi-tionen und die eigentliche Identität ihrerBotschaft zu akzeptieren. Daraufhin wirfter den Juden und Christen vor, dass sie dieOffenbarung Gottes von Propheten undGesandten in gleicher Weise empfangen,sie aber verfälscht und sich vom mono-theistischen Glauben entfernt haben. DieLehren von der Gottessohnschaft Jesu undvon der Trinität seien dafür ein Beleg. Da-bei ist es nach Auskunft einiger Stellen imKoran nicht die Trinität Gott Vater-Sohn-Geist, sondern die Dreiheit Gott-Maria-Je-sus (Sure 5,1165), die Muhammad vermut-lich aufgrund seines Kontaktes zu häreti-schen Gruppen vor Augen hat. Die Tatsa-che jedoch, dass es heftige, auch blutige

44 MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 44

Page 7: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

Auseinandersetzungen in und um Medinagab, liegt nicht in den theologischen Op-tionen Muhammads und in gezielten Ver-folgungsaktivitäten begründet oder in einerbesonderen Grausamkeit der Muslime,sondern in der komplizierten Beziehungs-geschichte auf der arabischen Halbinsel,im Machtkampf zwischen den Stämmen,im Verteilungskampf eines jeden gegen je-den. Karawanen zu überfallen (razzia)gehörte als tägliches Mittel zum Kampfum das Überleben. Dank dieser Wertschätzung der Buchreli-gionen erhalten Juden, Christen und Zoro-astrier in mehrheitlich islamischen Staatenden Sonderstatus des (kollektiv) ahl al-dhimma oder (individuell) dhimmi, des / der„Schutzbefohlenen“. Auch wenn dieserStatus einschließlich der zugestandenenfreien Religionsausübung nicht dem dereuropäischen Aufklärung verdankten Tole-ranzbegriff und voller Religionsfreiheitgenügt, erging es den dhimmi unter musli-mischer Herrschaft meist besser als umge-kehrt Muslimen unter christlicher Herr-schaft. Dhimmi zahlten keine normaleSteuer (zakat, sadaqa), sondern eine jähr-lich erhobene „Kopfsteuer“ (djizya), dievermutlich ca. 10 Prozent des Einkom-mens ausmachte. Sie war in der Regelhöher als die Steuer der muslimischen Be-völkerung und stellte somit einen finanzi-ellen Anreiz zur Konversion dar.6

Buchreligionen

Welchen Sinn könnte es haben, über den koranischen Gebrauch hinaus von„Buch/Schriftreligionen“ zu reden? DieReligionswissenschaft ist inzwischen zuder Einsicht gelangt, dass in der Vergan-genheit mit vielen Kategorisierungen die-ser Art zwar handliche Reduktionen derkomplexen religiösen Welt vorgenommenwurden, jedoch eine differenzierte Sichtauf die Welt der Religionen eher getrübt

wurde. Auch in südasiatischen religiösenTraditionen findet sich eine große Bereit-schaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen lebenmitunter sehr stark mit den legendari-schen Berichten über die frühe Biographiedes Buddha im Majjhima Nikaya, ostasia-tische Buddhisten hegen hohe Wertschät-zung für das Herz-Sutra oder das Lotus-Sutra, einige indische Strömungen beru-fen sich mit der gleichen Frömmigkeit aufdie Bhagavadgita oder das Bhagavata Pu-rana wie Christen auf das Neue Testa-ment, das Sri Guru Granth Sahib der Sikhshat einen Stellenwert, der über den eines„Buches“ weit hinausgeht. Mit dem glei-chen Recht könnten hier das Buch Mor-mon der „Heiligen der Letzten Tage“, die„Göttlichen Prinzipien“ der Vereinigungs-kirche oder das Buch „Dianetic“ der Scien-tology-Organisation genannt werden.7Auf der anderen Seite stammt die metakri-tische Hochschätzung der „Bücher“, derheiligen Schriften der Religionen in derReligionswissenschaft aus einer Zeit, inder diese sich überwiegend als Religions-philologie verstand und den Zugang zuReligionen fast ausschließlich von ihrenSchriften her gewann. Es ist auch heutenoch sinnvoll, dass Religionswissenschaft-ler Pali und Sanskrit, Arabisch, Chinesischoder Japanisch, Griechisch, Hebräisch beherrschen, aber die Ethnologie und kul-turwissenschaftliche Forschungszweigehaben der Religionswissenschaft beige-bracht, dass die gesamte Geschichte desreligiösen Verhaltens, alle ihre Kommuni-kationszusammenhänge und die Lebens-welt der Gläubigen zu berücksichtigensind, um eine „Religion“ zu verstehen.Dann wird sich herausstellen, welchenStellenwert die jeweilige heilige Schrift imÜberlieferungszusammenhang der Gläu-bigen hat. Die heiligen Schriften, diemeist das Endstadium einer jahrhunderte-langen mündlichen Tradition darstellen,

45MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 45

Page 8: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

behalten ihre Relevanz darin, dass sie My-then transportieren, die sich weiterent-wickeln und für den Weiterbestand der re-ligiösen Tradition sorgen. „Mythen“ heißthier: Geschichten vom Entstehen und Ver-gehen, von der Gemeinschaftsbildungund -erhaltung, Geschichten der Welter-klärung, nämlich vom Beginn und Endeder Welt, Geschichten, die die Wirklich-keit verstehen helfen. Mythen habenRückbezugsfunktion, sie geben dem „kul-turellen Gedächtnis“ der Religionsge-meinschaft das Rückgrat. Dies ist unbe-nommen der Hochschätzung der auf dieSchriften folgenden Tradition und der her-meneutischen Prozesse, in denen es dar-um geht, stets die Aktualität der Schriftenneu in jeweiligen Kontexten unter Beweiszu stellen. Schöpfungsmythen, Mythen der Migrationund Länder- und Städtegründungen (Ju-den, Mormonen), Mythen der Berufungenund Offenbarungsvisionen von Stifterge-stalten, Prüfungs- und Versuchungsgeschich-ten, Wundergeschichten und mythologi-sche und kosmogonische Endzeitszena-rien gehören zu dieser Gattung. Fast allesdavon finden wir auch in den HeiligenSchriften der „Buchreligionen“. Dies be-deutet zunächst, dass sowohl von der Gat-tung der heiligen Schriften her als auch inHinsicht des Stellenwerts der Schrifteneine Hervorhebung der Buchreligionenals spezifische Erscheinungen in der Weltder Religionen unsachgemäß ist. D.h. derislamisch-theologische Ausdruck „Leutedes Buchs“ oder „Leute der Schrift“ füreine bestimmte (kleine) Gruppe von Reli-gionsgemeinschaften ist für die allgemei-ne Religionswissenschaft nicht übernehm-bar. Die Gemeinsamkeit kann an anderenStellen identifiziert werden, auch wenndann immer noch überprüft werden muss,ob wirklich eine andere Religionen aus-schließende Gemeinsamkeit vorliegt. Ob

der in Gen 14,18-20 erwähnte König/Priester Melchisedek ein gutes Argumentfür eine Öffnung der „monotheistischenÖkumene“ ist, muss im Einzelnen exege-tisch überprüft werden.8 Vieles sprichtdafür, dass es sich um den typischen Ver-treter eines kanaanäischen Lokalkulteshandelte.9Die Art der in den heiligen Schriften tra-dierten Mythen zeugt von einem ge-schichtlichen Umgang mit der Wirklich-keit, von einem Blick auf die Welt vonihrem Anfang bis zu ihrem Ende, und voneinem theologischen Geschichtsverständ-nis, das in Beziehungsstrukturen denkt.Die Geschichte der Wirklichkeit spieltsich zwischen Gott, den Menschen undder allgemeinen Welt-Wirklichkeit ab, ineiner unterschiedlich weiten Perspektive.Diese umfasst je sowohl die Universalitätdes Anfangs und des Endes als auch diePartikularität der sich dazwischen ereig-nenden Geschichte. Eine Konzeptionali-sierung dieser Perspektivendynamik hatder Neutestamentler Oskar Cullmann un-ter dem Titel „Christus und die Zeit“ inden 1940er Jahren vorgenommen, HansConzelmann hat dies als Konzept des lu-kanischen Geschichtswerks nachzuwei-sen versucht.10 Auch ohne diese ge-schichtstheologischen Konstruktionen rei-chen für meine Argumentation die Stich-worte der Geschichtlichkeit und der Per-spektivenverschiebung. Im Islam ist diesePerspektivenverschiebung von der (uni-versalen) Schöpfung über die partikulareGeschichte der je regionalen Prophetenhin zur universalen Öffnung durch Mu-hammad nachzuzeichnen. Zugleich be-deutet „Geschichtlichkeit“ nicht, dasseine Relativierung / Historisierung der ei-genen Geschichte vorläge, sondern ge-rade die mythische Rekonstruktion verhilftdazu, die eigene Geschichte als bleibendund bedeutsam, die jetzige Existenz be-treffend zu begreifen.11

46 MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 46

Page 9: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

Was verbindet die Buchreligionen?

Ein Ort, an dem viel über das Gemein-same der Buchreligionen und die Mög-lichkeit ihrer Begegnung nachgedachtwird, ist der „Trialog“.12 Ich greife hier ei-nige Impulse und Themen auf, die im Um-feld dieser Aktivitäten eine Rolle spielen.Wichtig erscheint mir die differenziertehermeneutische Bemühung darum, wiedie gleichen Erzählmotive variiert in dendrei Traditionen auftauchen. Diese Erzähl-motive als narrative Gotteserfahrungsbe-richte erlauben es, von der Gruppe derdrei semitischen monotheistischen Reli-gionen zu sprechen, und sie erlauben einenDiskurs über die Selbigkeit oder Nichtsel-bigkeit des angebeteten Gottes. Das 2. Va-tikanum hat sich 1964 in Lumen gentium16 positiv zur Selbigkeit des von den dreiTraditionen angebeteten Gottes geäußert:„Die Heilsabsicht (Gottes) umfasst aberauch die, welche den Schöpfer anerken-nen, unter ihnen besonders die Muslime,die sich zum Festhalten am Glauben Ab-rahams bekennen und mit uns den einzi-gen Gott anbeten, den barmherzigen, derdie Menschen am Jüngsten Tag richtenwird“. Das Communique eines Dialogtref-fens des Ökumenischen Rates der Kirchenin Cartigny 1969 sagt: „Judentum, Chris-tentum und Islam gehören nicht nur histo-risch zusammen; sie sprechen von dem-selben Gott, Schöpfer, Offenbarer undRichter“.13 Es gibt viele gute Argumentedafür, die unterschiedlichen Aussagen überGott in der hebräischen und griechischenBibel und im Koran als Aussagen über einund denselben Gott auf der Basis unter-schiedlicher Gotteserfahrungen zu be-trachten, zumal sie auch innerhalb der je-weiligen heiligen Schriften sehr divergentsind. Aber ich denke, dass wir an dieserStelle an eine Grenze der theologischzulässigen Spekulation stoßen, die auchnicht mit der von John Hick entfalteten

Unterscheidung von Gott „an sich“ undden unterschiedlichen Gotteserfahrungenzu durchstoßen ist. Gleichwohl ist daranzu erinnern, dass Christen und Juden vorder Wahl stehen, gegen das 1. Gebot zuverstoßen, wenn gesagt wird, Muslime be-teten einen „anderen Gott“ an, oder Mus-lime als „Götzenanbeter“ denunzieren zumüssen (und damit das Anliegen auf denKopf zu stellen, das nach muslimischemSelbstverständnis Muhammad gegenüberseiner polytheistischen Umwelt vertretenhat) und sie damit aus dem Dialog aufgleicher Augenhöhe zu entlassen.

Abraham

Abraham ist der wichtigste Bestandteil dergemeinsamen Motivgeschichte, aber seineInterpretation auch nicht unumstritten,wie schon die Buch- oder Kapitelüber-schriften „Streit um Abraham“ zeigen.Karl-Josef Kuschel hat seinem Abraham-Buch folgende Zitate vorausgestellt: Fürdie jüdische Tradition: „Abrahams Hausstand allen Menschenkindern offen, denVorbeiziehenden und Heimkehrenden,und Tag für Tag kamen welche, um beiAbraham zu essen und zu trinken. Werhungrig war, dem gab er Brot, und derGast aß und trank und ward gesättigt. Wernackend in sein Haus kam, den hüllte erin Kleider und ließ ihn von Gott erfahren,dem Schöpfer aller Dinge“.14 Aus demNeuen Testament: „Nach dem Schriftwort:‚Ich habe dich zum Vater vieler Völker be-stimmt’ ist Abraham unser aller Vater vorGott, dem er geglaubt hat, dem Gott, derdie Toten lebendig macht und das, wasnicht ist, ins Dasein ruft“ (Röm 4,17). Undaus dem Koran: „Ihr Leute der Schrift!Warum streitet ihr über Abraham, wodoch die Tora und das Evangelium erstnach ihm herabgesandt worden sind?Habt ihr denn keinen Verstand? … Abra-ham war weder Jude noch Christ, er war

47MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 47

Page 10: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

vielmehr ein (Gott) ergebener Hanif, undkein Heide“ (Sure 3,65-67). So unum-streitbar Abraham wichtiges Element derdrei Traditionen ist, so unterschiedlichsind die Wirkungsgeschichten, die Ku-schel als „Halachisierung“ durch das Ju-dentum, „Verkirchlichung“ durch dasChristentum und „Islamisierung“ durchden Islam kennzeichnet (ohne damit son-derlich viel zu sagen). Ferner geben diekoranische Sondertradition über Abrahamwie etwa seine Rolle (gemeinsam mit Is-mael) als Gründer der zentralen Gebets-stätte (Ka’aba) (insbesondere Sure 2,124-141) wie auch die exklusivistischen Abra-hamansprüche jüdischer wie auch christ-licher Theologie Anlass zu der Vermutung,dass eine „abrahamische Ökumene“ keinProjekt ist, das sich bald flächendeckendverwirklichen ließe. Martin Bauschke dif-ferenziert zwischen 1. abrahamitisch alsdem Projekt einer monotheistischen Ur-religion oder synkretistischen Metareligion,in der Judentum, Christentum und Islamaufgehen (oder untergehen), 2. abrahamis-tisch als dem Versuch, die drei monotheis-tischen Religionen zu einer exklusivisti-schen Festung gegen alle anderen Religio-nen und Weltanschauungen zusammen-zuschließen, und 3. abrahamisch als demProjekt eines ökumenischen Trialogs, dervon einer „globalen, offenen, akzeptati-ven und integrativen Religionstheologie“inspiriert ist. Er beruft sich auf das kom-plementäre Modell des katholischen Theo-logen und Islamwissenschaftlers LouisMassignon und den Gedanken einer ge-meinsamen Erlösungsgeschichte von Ju-den, Christen und Muslimen des Theolo-gen Georg Baudler.15 Kuschel definiert ab-rahamisch etwas schlichter als „abraham-entsprechend“, „abraham-verpflichtet“. Dassei „sachlich präzise“ gegenüber dem„sprachlich unnötig komplizierten“ und„sachlich missverständlichen“ Wort „abra-hamitisch“.16 Ich möchte ungeachtet die-

ser Hinweise und Konnotierungsversucheweiter von den Buchreligionen als abraha-mitischen Religionen sprechen und damitlediglich deskriptiv das Gemeinsame desVorkommens des Abraham-Motivs meinen.

Noah und das Thema Opfer

Zwei Motive seien kurz trilateral skizziert: Die Noah-Tradition (Gen 6-8) lebt imchristlichen Kontext von der Anschaulich-keit der Arche und des anschließenden se-gensreichen Regenbogens als Zeichen desBundes. In der christlichen Verwendungübermalt der Regenbogen im buchstäbli-chen und übertragenen Sinne die Gerichts-aspekte. Die Arche und ihr Strafcharaktersind Vorspiel zum glücklichen Ende derReue Gottes und der Verheißung einer le-benswerten Welt für Mensch und Tier. Diejüdische Tradition gibt der Halacha ihrenStellenwert zurück und lehrt auch dasStrafgericht ernstzunehmen, ohne den Re-genbogen klein zu reden. Im Koran (Sure23,23-30) kommt der Regenbogen garnicht vor. Hinzu kommt, dass Noah (Nuh)als nicht universaler, sondern regionalerProphet betrachtet und mithin auch dieFlut als ein regionales Phänomen angese-hen wird. Noah (Nuh) ist selbst Verkündi-ger, dessen Botschaft abgelehnt wird: dieHandlung wird sehr stark als ein begrenz-tes Drama inszeniert. Alle, die die Bot-schaft nicht annehmen, gehen unter in derFlut.17 Die Noah-Geschichte ist somit eineGeschichte von der Botschaft über dieRechtleitung Gottes und ihre Annahmeoder Nichtannahme und die damit ver-bundenen Konsequenzen, während sie inder christlich-jüdischen Tradition eineÄtiologie für die Beständigkeit der Weltund ein Lehrstück über die reuige Barm-herzigkeit Gottes ist, also eher vom gutenEnde her interpretiert wird.Die Opferthematik am Beispiel der Ge-schichte Abrahams und Isaaks in Gen 22

48 MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 48

Page 11: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

erhält ebenfalls unterschiedliche Facettenin den drei Traditionen.18 Die rabbinischeTradition unterscheidet nach Gottesbe-zeichnungen in der Geschichte: Es ist elo-him, der Abraham prüft und um ein Opferbittet, und es ist YHWH, der den Vorgangstoppt und das Leben Isaaks rettet. Die Be-nutzung zweier Gottesnamen reflektiertden inneren und äußeren Konflikt in Abra-ham, ein sprachlicher Vorgang, der auch inder Geschichte von Bileam zu beobachtenist. Isaak ist kein kleines Kind, das als passi-ves Opfer durch die Geschichte hindurch-geht, sondern er wird von den rabbinischenAuslegern als Erwachsener betrachtet, derbewusster Mitspieler und zum freiwilligenOpfer bereit ist. Isaak geht, so folgern dieRabbiner, aus dieser Episode geschwächthervor, so ist es auch möglich, dass er auf-grund seiner schwachen Vision von seinemSohn Jakob betrogen wird.19

Die christliche Deutung legt wenig Ge-wicht auf die Rolle Isaaks, sondern liestGen 22 als Abrahamsgeschichte. Abra-ham ist Vorbild eines unerschütterlichenGlaubens, der über den grausamen BefehlGottes hinweg zuversichtlich auf die un-verbrüchliche Verheißung Gottes schaut.Im Wesentlichen wird die Geschichte vonchristlichen Auslegern als religionsge-schichtliche Ätiologie über die Ablösungdes Menschenopfers durch das Tieropferbetrachtet, in der jüdischen Rezeptionsge-schichte spielt dieser Aspekt eine unterge-ordnete Rolle, vielmehr steht die PrüfungAbrahams im Vordergrund. Auch imNeuen Testament gibt es beim Thema Op-fer keinen Bezug auf Gen 22.20

Der Islam kennt das Opfer nicht, auchwenn der Name seines höchsten Festes et-was anderes suggeriert. Die rituelleSchächtung von Tieren, in der Regel Läm-mern, zum gemeinschaftlichen Verzehr imOpferfest im Monat Hajj ist keine Opfe-rung, zu der die rituelle Hingabe und voll-ständige Verbrennung gehören würde.

Das blutige Opfer zur BeschwichtigungGottes oder der Götter wird im Islam alsüberwindungsbedürftiger heidnischer Ri-tus betrachtet. Gestattet ist die Schlach-tung von Tieren zum lebensnotwendigenVerzehr des Fleisches, nicht aus Grausam-keit, und zumal zum Zweck des Teilensmit anderen. Die Opferkritik erinnert anHoseas Wort „Denn ich habe Lust an derLiebe, und nicht am Opfer, und an der Er-kenntnis Gottes, und nicht am Brandop-fer“ (Hosea 6,6). Die Episode Sure 37,99-113 gibt den Vorgang in Gestalt von Dia-logen wieder, der „Sohn“, in der islami-schen Theologie meist als Ismael gedeutet,gelegentlich aber auch als Isaak21, ergibtsich in den Befehl Gottes, der ihm von Ab-raham erheblich unverblümter als in Gen22 mitgeteilt wird. Die große Hingabe derbeiden an Gottes Wille wird unverzüglichbelohnt, das ganze ausdrücklich als „of-fenkundige Prüfung“ bezeichnet. Von derSubjekthaftigkeit des Sohnes und dem Prü-fungscharakter der Geschichte her ist diekoranische Version nicht weit von der jüdi-schen Schriftauslegung entfernt. Diese motivtheologischen Vergleiche zei-gen, dass es ein spezifisches gemeinsamestheologisches Gedächtnis der drei Tradi-tionen gibt, das zugleich auch signifikanteUnterschiede aushält. Das schließt nichtaus, dass es auch Motivaneignungen querdurch die Religionsgeschichte hindurchgibt, so die Aneignung Jesu als 13. AvatarVishnus im vaishnavitischen Hinduismusoder die Legendenbildung über Indien-und Japan-Reisen Jesu bei den Ahmadiy-ya, bei der japanischen Bewegung Mahi-kari und in anderen Zusammenhängen.22

„Buchreligiöse“ Schöpfungstheologie

Judentum, Christentum und Islam ist ge-meinsam, dass sie im Unterschied zu denkosmistischen Religionen Ostasiens dieWelt als von Gott geschaffen betrachten.

49MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 49

Page 12: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

Selbst wenn es schöpfungstheologischekosmogonische Mythologien in anderenKulturkreisen gibt, werden diese konterka-riert von der deutlich antikosmogonischenTheologie der Schöpfungsberichte in Ge-nesis 1-3 und im Koran: Es gibt keine kon-kurrierenden Gottheiten, im Zusammen-spiel mit denen das Welterschaffungsge-schehen sich ereignet. Schöpfung ist einWerk des einen Gottes gegenüber dernicht-göttlichen natürlichen Welt. Selbstwenn Relikte aus der polytheistischenUmwelt wie die Übernahme des Begriffsfür Sonne (schemesch von der mesopota-mischen Sonnengöttin Schamasch etc.) zufinden sind, ist die monotheistische Trans-formation deutlich. In der hebräischen Bi-bel ist sie mit deistischen Akzenten alsSchöpfung mit schneller Verantwortungs-übergabe an den Menschen konzipiert, inder koranischen Theologie ist Gott stetspräsent als Regisseur des weltlichen Ge-schehens.23 So ist auch den „Buchreligio-nen“ ein Typ von Eschatologie gemein-sam, der Gerichtsaspekte, die Wiederkehreines Erlösers und die Erfüllung des Le-bens der Schöpfung umfasst.

Fazit

Es hat sich gezeigt, dass die Buchreligio-nen sich begrifflich zusammenfassen las-sen als Träger einer gemeinsamen Motiv-geschichte, eines gemeinsamen religiös-kulturellen Gedächtnisses, das in ihrenSchriften gepflegt und rezipiert wird. Ausdiesem Grund sind eine Reihe von theolo-

gischen Gemeinsamkeiten diskutierbar,gleichzeitig dokumentieren die Unter-schiede die Kontextverschiebung der Tra-ditionslinien. Der Begriff Buchreligionenjedoch eignet sich nur als (innerislami-sche) Konvention, nicht aber in seiner in-haltlichen Bestimmtheit, da die Bezug-nahme auf eine oder mehrere HeiligeSchriften ein Merkmal auch vieler andererreligiöser Traditionen ist. Er ist als aus demKoran abgeleiteter Begriff Stichwort einerislamischen inklusivistischen „Theologieder Religionen“, die von dem einen undselbigen Gott der semitischen monotheis-tischen Glaubensformen ausgeht und ih-nen das Angebot einer gemeinsamen Got-tesverehrungstradition macht. Der Ausdruck „abrahamitische Religio-nen“ ist aus christlich-theologischer undaus religionswissenschaftlicher Sicht ge-eigneter, da er in genuiner Weise ein in-haltliches Moment der drei Traditionenanspricht, er soll aber nur als deskriptiverAusdruck mit Bezug auf Motivgemein-samkeiten verstanden werden. Der Ausdruck „Trialog“ ist sinnvoll undbenutzbar, sofern er genau darauf Bezugnimmt, und nicht etwa suggeriert, dassder Dialog zwischen den abrahamitischenReligionen naheliegend, leicht zu führenund schwellenarm sei. Gemeint ist danndie Eingrenzung auf den Dialog zwischenden religiösen Traditionen mit den besag-ten Gemeinsamkeiten unter Bezugnahmeauf kulturelle Gedächtnisse, die ein her-meneutisches Netz unter den Gesprächs-partnern ausbreiten.

50 MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

Anmerkungen

1 Nach Khoury „entweder eine Täufergemeinde wiedie Mandäer oder eine syrische Gemeinde von Stern-anbetern mit hellenistischen Tendenzen“ (Der Ko-ran. Arabisch-Deutsch, übersetzt und kommentiertvon Adel Theodor Khoury, Gütersloh 2004, 67).

2 Vgl. Monika & Udo Tworuschka, Der Koran undseine umstrittenen Aussagen, Düsseldorf 2002,114ff; Rüdiger Braun, Mohammed und die Christen

im Islambild zeitgenössischer christlicher und mus-limischer Apologeten, Neuendettelsau 2004.

3 Vgl. Christine Schirrmacher, Christen im Urteil vonMuslimen – Kritische Positionen aus der Frühzeitdes Islam und aus der Sicht heutiger Theologen, in:Ursula Spuler-Stegemann (Hg.), Feindbild Christen-tum im Islam, Freiburg i. Br. 2004, 12-34, 15; auchGünter Riße, „Gott ist Christus, der Sohn der Ma-

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 50

Page 13: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

51MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

ria“. Eine Studie zum Christusbild im Koran, Bonn1989.

4 Vgl. hierzu das klassische Werk Hans-JoachimSchoeps, Theologie und Geschichte des Judenchris-tentums, Tübingen 1949; zuletzt zu diesem Thema:Braun, Mohammed und die Christen, bes. 97-127,der sich allerdings eines neuen Beitrags zur Kontro-verse enthalten will.

5 „Und als Gott sprach: ‚O Jesus, Sohn Marias, warstdu es, der zu den Menschen sagte: Nehmt euch ne-ben Gott mich und meine Mutter zu Göttern?’“

6 Vgl. u.a. Peter Heine, Abgabe (gesetzliche), in: AdelTh. Khoury / Ludwig Hagemann / Peter Heine, Is-lam-Lexikon, Freiburg i. Br. 1991, 25-32, 27f.

7 Vgl. Renate Pitzer-Reyl, Heilige Schriften in NeuenReligionen, in: Udo Tworuschka (Hg.), HeiligeSchriften. Eine Einführung, Darmstadt 2000, 271-287.

8 Vgl. hierzu den rabbinischen Theologen Jakob J. Pe-tuchowski, Melchisedech. Urgestalt der Ökumene,Freiburg/Basel/Wien 1979.

9 Vgl. Claus Westermann, Genesis Kapitel 12-36 (=Biblischer Kommentar Altes Testament Bd. I,2),Neukirchen-Vluyn 21989, 240-244.

10 Oskar Cullmann, Christus und die Zeit, Zollikon-Zürich 1946; Hans Conzelmann, Die Mitte der Zeit,Tübingen 1954.

11 Vgl. Carl-Friedrich Geyer, Mythos, München 1996,90. „Der Mythos ist der historisch-kontingente Aus-druck einer allgemeinen, die einzelnen geschicht-lich bedingten Aussageweisen übersteigendenmenschlichen Situation“ (68); vgl. auch U. Dehn,Religion und Mythos, Materialdienst der EZW3/2004, 83ff.

12 Vgl. hierzu den Überblicksartikel „Der jüdisch-christlich-islamische Trialog“ von Martin Bauschkeim Handbuch der Religionen, hg. von MichaelKlöcker / Udo Tworuschka, München 1997ff, II-4.2.17, 1-26.

13 Ökumenischer Rat der Kirchen (Hg.), Meeting inFaith. Twenty Years of Christian-Muslim Conversa-tions, Genf 1989, 4.

14 M. J. Bin-Gorion, Die Sagen der Juden. Mythen, Le-genden, Auslegungen, Berlin 1935, 268, zitiert beiKuschel, Streit um Abraham, München 1994, 10.

15 Vgl. Georg Baudler, Die Befreiung vom Gott derGewalt. Erlösung in der Religionsgeschichte von Ju-dentum, Christentum und Islam, Düsseldorf 1999.

16 Kuschel, Streit um Abraham, 309, Anm. 4.17 Vgl. U. Dehn (Hg.), Noah – Allianz unter dem Re-

genbogen? Juden, Christen und Muslime im Ge-spräch, EZW-Text Nr. 163, Berlin 2002.

18 Vgl. U. Dehn (Hg.), Wo aber ist das Opferlamm?Opfer und Opferkritik in den drei abrahamitischenReligionen, EZW-Text Nr. 168, Berlin 2003.

19 Vgl. Jonathan Magonet, Die Fesselung Isaaks, in:Dehn (Hg.), Opferlamm, 19-27, bes. 21-23.

20 Vgl. Christian Eberhart, Die Prüfung Abrahams –oder: Wo aber ist das Opfer im Neuen Testament?Exegese von 1. Mose 22 aus christlicher Sicht, in:Dehn (Hg.), Opferlamm, 28-49.

21 Hamideh Mohagheghi (Opfer im Islam? Abrahamund sein Sohn, in: Dehn[Hg], Opferlamm, 50-55,55) weist darauf hin, dass der Korantext ausdrück-lich offen lässt, um welchen Sohn es sich handelt,damit dieses Ereignis nicht für eine einzelne Abstam-mungslinie Abrahams reklamiert werden könne.

22 Vgl. U. Dehn, Spiegelung oder Enteignung desChristentums? Rezeptionen der Jesus-Tradition inder Ahmadiyya-Bewegung und bei Mahikari, in: U.Dehn / K. Hock (Hg.), Jenseits der Festungsmauern– Verstehen und Begegnen, FS Olaf Schumann zum65. Geburtstag, Erlangen 2003, 371-384.

23 Vgl. U. Dehn, Schöpfung und Flut, in: RalfGeisler / Holger Nollmann (Hg.), Muslime und ihreGlaube in kirchlicher Perspektive, Freundesgabe fürHeinz Klautke zum 65. Geburtstag, Schenefeld2003, 211-224.

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 51

Page 14: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

Der Verfasser dieses Artikels hat die un-dankbare Aufgabe übernommen, etwasWasser in den Wein zu schütten:– Ist Feng Shui nicht eine neue, positiveErfahrung von der alle, die es ausprobierthaben, schwärmen?– Warum soll man nicht nach den altenRegeln dieser chinesischen Kunst bauenund einrichten?– Wird nicht unsere heutige architekto-nisch geplante Umwelt oft als reizlos, mo-noton, unangenehm, ja sogar als gesund-heitlich belastend empfunden? – Und kann vielleicht mit Hilfe von FengShui eine freundliche, emotional befriedi-gende und gesunde Architektur zum Nut-zen der Bewohner entstehen?

Dazu einige kritische Überlegungen zumGebrauch beziehungsweise Missbrauchdes Feng Shui in Deutschland.

Feng Shui in China

Der erste Europäer, der sich mit Feng Shuibeschäftigte, war ein britischer Missionarnamens Ernest J. Eitel, der im 19. Jahrhun-dert in Hongkong diese asiatische Lehrezu ihrer Blütezeit studierte. Denn häufigstießen europäische Siedler auf Schwie-rigkeiten, die von den Einheimischen übli-cherweise mit „Feng Shui“ begründetwurden. Wenn zum Beispiel Telegraphen-masten errichtet oder Eisenbahnbrückengebaut werden sollten, verbeugten sichdie chinesischen Beamten höflich underklärten, das Vorhaben sei leider nichtdurchführbar – wegen „Feng Shui“.

Doch auf die Frage, was Feng Shui denngenau sei, bekam Eitel stets die unbe-friedigende Antwort: „Wind und Wasser“.Was das zu bedeuten habe, wollte Eitelweiter wissen. Antwort: „Weil es wie derWind ist, den du nicht fassen kannst, undweil es wie das Wasser ist, das du nichtgreifen kannst.“ Schließlich kam Eitel zu der Überzeu-gung, dass „Feng Shui“ eigentlich ein an-derer Name für Naturwissenschaft war –jedenfalls so, wie dieser Begriff in Chinaverstanden wurde. Eitel schrieb dazu:„Naturwissenschaft wurde in China nie indieser technischen, auf Fakten bezogenenWeise kultiviert, die für uns untrennbarvon einer echten Wissenschaft erscheint.(…) Chinesische Naturalisten erfandenkeine Instrumente, die ihnen bei der Be-trachtung der Himmelskörper helfen, siebefassten sich nie mit der Jagd nachKäfern und dem Präparieren von Vögeln,sie schreckten davor zurück, Tierkadaverzu sezieren und führten auch keinechemischen Analysen anorganischer Sub-stanzen durch. (…) Aber mit sehr wenigtatsächlichem Wissen entwickelten sie einganzes System der Naturwissenschaft ausihrem eigenen inneren Bewusstsein her-aus und erläuterten es nach den dogmati-schen Formeln uralter Traditionen. So be-dauerlich dieses Fehlen von praktischersowie experimenteller Forschung auch ist,was das Tor für alle möglichen Vermu-tungstheorien öffnete, so bewahrte es inChinas Naturwissenschaft einen Geistsakraler Ehrfurcht gegenüber den himm-lischen Kräften der Natur.“

52 MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

BERICHTEGerd Aldinger, Darmstadt

Warum nicht Feng Shui?

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 52

Page 15: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

Das Grundprinzip des Feng Shui: „Chi“

Das bedeutet: Feng Shui ist kein kohä-rentes System, sondern weist nur folgendeGrundüberzeugung auf: Zusätzlich zuden sichtbaren und/oder körperlich spür-baren Elementen der Materie und den unsbekannten Energieformen existiert ein un-sichtbarer Einfluss auf unser Leben, ge-nannt „Chi („kosmischer Atem des Dra-chens“). Der Einfluss des „Chi“ ist durchpraktische Anwendung der Regeln desFeng Shui steuerbar und nutzbar. FengShui bedeutet also, das Wirken des „Chi“an einem konkreten Ort zu analysierenund positiv zu beeinflussen. Leicht zu verstehen, dass viele Feng Shui-Regeln sich widersprechen; welche kon-kreten Ratschläge ein Feng Shui-Meister zueiner bestimmten räumlichen Situation gibt,hängt von seiner jeweiligen „Schule“ ab. Nach unseren europäischen Kriterien istes nicht ganz leicht zu beantworten, ob essich beim Feng Shui nun um eine religiöseAngelegenheit handelt oder um einenfrühen Versuch wissenschaftlicher Syste-matik. In China selbst ist diese Unter-scheidung ohne Bedeutung. Man könntedas Feng Shui-Gewerbe daher wohl amehesten als eine Art Religionshandwerkbezeichnen, vergleichbar mit Astrologie.So wie ein Stern-Deuter versucht, aus derKonstellation der Sterne Schlüsse auf dasSchicksal seiner Klienten zu ziehen, un-tersucht der Feng Shui-Meister die Situa-tion am Boden. Die Profession des FengShui-Meisters ist in China hoch angese-hen. In der Regel wird sie nur innerhalbder eigenen Familie weitergegeben. EineEinweisungszeit von zehn bis 20 Jahrengilt als angemessen.

Feng Shui und der Ahnenkult

Die Bedeutung von Feng Shui in Chinageht denn auch weit über das modisch

geprägte westliche Verständnis dieserasiatischen Lehre hinaus: Im Kern ist FengShui ein Ritual des chinesischen Ah-nenkultes. Konkret: Ein günstiger Einflussauf das häusliche Geschehen und auf daspersönliche Wohl entsteht hauptsächlichdadurch, dass man die Gräber seiner Vor-fahren in „günstiger“ Lage zur eigenenWohnung positioniert. Dabei kann es zuschweren Konflikten innerhalb der Familiekommen, da jeder Nachkomme das Grabdes Verstorbenen in einer optimal posi-tiven Lage zum eigenen Wohnsitz anlegenmöchte. Hintergrund: Die traditionellechinesische Gesellschaft ist gekennzeich-net durch die Großfamilie, deren Inter-essen über die Bedürfnisse des Einzelnengestellt werden. Individualismus ist weit-gehend verpönt. Feng Shui dient in die-sem Umfeld dem Einzelnen dazu, seineBedürfnisse gegenüber der Gemeinschaftdeutlicher herauszustellen. Mit Hilfe vonFeng Shui ist es möglich, Konkurrenz of-fen auszudrücken und den persönlichenStatus zu unterstreichen. Feng Shui istsomit auch eine Möglichkeit, soziale Un-terschiede zu rechtfertigen. Das mag einGrund sein, warum sich dieser alteBrauch heutzutage in China wieder wach-sender Beliebtheit erfreut.

Gesundheit und Wohlstand?

Mittlerweile ist Feng Shui auch inDeutschland sehr populär. Volkshoch-schulen bieten Feng Shui-Kurse an, undungezählte Berater und Beraterinnen derverschiedenen Schulen werben für ihreDienste. Eine aktuelle Suche beim Inter-net-Buchhändler Amazon ergibt 316 Hin-weise auf deutschsprachige Feng Shui-Bücher. Man kann auch Feng Shui-Kom-passe und ein „Feng Shui- Lineal“ kaufen,allerdings zum 20-fachen Preis einesgewöhnlichen Exemplars aus demSchreibwarenladen.

53MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 53

Page 16: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

Die oft behauptete Gesundheitsförderungdurch Feng Shui oder die Vermehrung vonGlück und Wohlstand beruht offen-sichtlich auf Spekulationen. Die Existenzdes „Chi“ oder generell die positiveWirkung eines unsichtbaren Etwas konntebislang nicht nachgewiesen worden. Esgibt keinerlei systematische Untersuchun-gen, welche den Schluss zulassen wür-den, dass durch Veränderungen desWohnumfeldes nach Feng Shui-Regelnspezifische und reproduzierbare positiveWirkungen auftreten. In der Literaturfinden sich lediglich anekdotische Be-richte über Heilungen von geplagten Kun-den, die dem Rat des Autors gefolgt waren– garniert mit Warnungen für den Fall,dass dessen Ratschläge missachtet wer-den. Solche Beschreibungen sind als Be-weis für eine abrufbare Wirkung von FengShui wertlos, da die vielen Fälle derjeni-gen, die keinen Erfolg damit erzielen odergar eine Entwicklung zum Nachteil er-fahren haben, nirgendwo erwähnt wer-den. Die Feng Shui-Berater berufen sichauf Jahrhunderte altes „Erfahrungswissen“aus China. Unerwähnt lassen sie, dass esnicht der chinesischen Tradition ent-spricht, Ursache und Wirkung zu ana-lysieren – und es somit auch keine ver-wertbaren Studien zum Erfolg von FengShui in dessen Ursprungsland gibt.

Wenn das Glück den Bach hinuntergeht

Trotzdem werden in Feng Shui-Büchernmit großer Überzeugung sehr konkreteBehauptungen aufgestellt, wie etwa:

„Bewohner eines Hauses, dessen Tür aufeine Lücke zwischen zwei gegenüber-liegenden Häusern schaut, sind unfallge-fährdet und ständig schwach und kränk-lich.“Oder: „Die Toilette sollte sich nicht direktgegenüber der Eingangstür befinden. Das

gesamte gute Chi des Hauses fließt in dieToilette und wird heruntergespült. Danachzirkuliert das verunreinigte Chi im ganzenHaus und verursacht Gesundheitsprob-leme.“ Da kaum jemand in der Lage seindürfte, diesen angeblichen baulichenMangel zu beheben, wird in der Regelempfohlen, die Situation ganz einfachdurch einen Spiegel an geeigneter Stellezu beheben. „Ungünstige Lage für ein Schlafzimmer:über einem Bestattungsinstitut. Dort gibtes immer viele Geister, die auch in andereStockwerke kommen und jemanden er-schrecken können.“ Solche Formulierun-gen sind bereits grenzwertig, da Grusel-Szenarien bei labilen Menschen durchausproblematische seelische Reaktionen aus-lösen können.„Eine Frau wünschte sich, nachdem siekurz zuvor geschieden worden war, eineAffäre. Eine Feng Shui-Beraterin riet ihr,ein Aquarium im Beziehungsbereich ihresHauses aufzustellen. (…) Kurz danach trafdiese Frau einen reizenden Mann, mitdem sie eine kurze, aber befriedigendeAffäre hatte. Wann immer diese Frau nuneine Beziehung beenden und eine neueanfangen will, reinigt sie ihr Aquariumund setzt neue Pflanzen ein.“ Solchegrotesken Aussagen wiederum bedürfenwohl keiner weiteren Kommentierung.

Feng Shui-Regeln: Binsenweisheiten?

Allerdings gibt es auch Thesen, denen einArchitekt durchaus zustimmen kann: Sosoll man einen Raum nicht mit Fensternan zwei gegenüberliegenden Wändenausstatten und im Büro nicht denSchreibtisch dergestalt ausrichten, dassman mit dem Rücken zur Tür sitzt. Auchsoll sich die Zimmertür grundsätzlichnicht zur Wand hin öffnen. Dieses sindallerdings Grundregeln der Architekturund sollten von jedem Gestalter beachtet

54 MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 54

Page 17: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

werden. Ein Raum sollte einen gewissenemotionalen Schutz, eine Form von Ge-borgenheit bieten. Wenn er eine geringeoptische Begrenzung aufweist, wird derAufenthalt als wenig angenehm empfun-den. Es ist auch meist nicht sehr er-freulich, an einem Arbeitsplatz zu sitzen,dem sich jeder unbemerkt von hintennähern kann. Auch ist es nicht nur für dasangeblich strömende „Chi“, sondern ge-nerell für den Bewegungsablauf einesMenschen ungünstig, sich um das Türblattherumzuschlängeln, wenn die Tür falschherum gesetzt ist. Für Architekten sinddiese Feng Shui-Regeln kaum mehr alsBinsenweisheiten. In den FachbereichenUmweltpsychologie und Architekturpsy-chologie werden diese Regeln schon seitlangem wissenschaftlich fundiert gelehrt –was Feng Shui-Anhänger und -vertreterwenig oder gar nicht bekannt zu seinscheint

Populismus mit Ying und Yang

Der zentrale Aspekt von Feng Shui, dieVerehrung der Grabstätten der Vorfahren,ist in Europa weithin unbekannt bezie-hungsweise wird von den hiesigen An-wendern kurzerhand aus dem Lehrge-bäude herausgestrichen. Kein Wunder,denn wer möchte sich hierzulande schonGedanken darüber machen, wo die Grab-stätte der Großmutter in Bezug zur eige-nen Wohnung liegen soll? Darüber hinausverkürzen hiesige Feng Shui-Berater diekomplizierte chinesische Kosmologie aufeinige wenige hierzulande bereits einge-führte und bekannte Schlagwörter wie„Chi“ (oder „Ki“ bzw. „Qi“), „Ying“ und„Yang“.

Die Gefahr aus dem Radiowecker

Umgekehrt integriert man bedenkenlosBestandteile europäischer Esoterik in das

chinesische System, als ob sie schon im-mer dazu gehört hätten. Maßgeblich fürdiese Entwicklung sind so genannte Bau-biologen – eine Bewegung, die in den1970ern entstanden ist, als die Ökolo-giebewegung auch Architektur und Bau-wirtschaft einer durchaus berechtigtenKritik unterzog.Während jedoch im Verlauf der weiterentechnischen Entwicklung und auch derGesetzgebung eine deutliche Verbesse-rung der ökologischen Verträglichkeit vonBauwerken festzustellen ist – und somitviele einst reformerische, ökologische Po-sitionen mittlerweile zum Standard ge-hören –, orientieren sich Baubiologen aneher weltanschaulichen Ideen: Sie pro-pagieren eine „harmonikal esoterische“oder „ganzheitliche“ Architektur undlehnen viele heute übliche technische Lö-sungen ab, wie etwa den verbessertenWärmeschutz durch hochdämmfähigeMaterialien, da dieser das Haus angeblichdaran hindere, zu „atmen“. Zwar bietensie auch ökologisch nützliche Lösungenan, versteifen sich jedoch in der Haupt-sache auf den Kampf gegen obskure, weilnicht nachweisbare „Erdstrahlen“, „Was-seradern“, „Störungslinien“ oder gegenschädliches „Elektroklima“, wie es z.B.von Radioweckern mit roter Digital-anzeige ausgehen soll. Von solchen Din-gen ist indes nichts aus der chinesischenFeng Shui-Tradition überliefert. Baubiologie und Feng Shui auf der einenSeite und ökologisches Bauen sind ganzverschiedene Gebiete, welche sich nurteilweise überschneiden. Ein Bauherr, derbemüht ist, im Rahmen seiner meistbeschränkten finanziellen Mittel ökologi-sche Kriterien zu erfüllen, wäre schlechtberaten, sein Geld für unsinnige Maßnah-men zu verschwenden.Freilich sollte man den meisten Baubiolo-gen wie auch Feng Shui-Beratern zugutehalten, dass sie ehrlich davon überzeugt

55MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 55

Page 18: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

sind, eine Tätigkeit zum Wohle und Nutzenihrer Mitmenschen auszuführen und somitsubjektiv in bester Absicht handeln.

Ist „schön“ gleich „Feng Shui“?

Wie wir alle wissen, sind Fragen derGestaltung nicht leicht zu diskutieren:Welche Farbe soll man den Wänden ge-ben? Oder den Polstermöbeln und denFensterrahmen? Viele Möglichkeiten bie-ten sich an. Aus diesem Grund orientiertsich der Kunde gerne an Einrichtungs-magazinen und Beispielen aus den Me-dien. Nur: Wem soll man vertrauen?Welche Einrichtung passt zu mir? EineWohnung oder eine Praxis ist sowohl Aus-druck der individuellen Persönlichkeit alsauch repräsentativ nach außen. In dieserschwierigen Situation wird nicht seltenein Feng Shui-Berater beauftragt. Dieserkann dann behaupten, eine von ihm ge-wählte Konfiguration entspreche demWirken einer höheren Kraft. Das Sofa seialso gemäß einer kosmischen Ordnung zuplatzieren. Wer möchte da schon gernewidersprechen? Dennoch sollte die Frageerlaubt sein: Entspringt diese Behauptungnicht vielleicht bloß dem persönlichenGeschmack des Beraters oder der Bera-terin, angereichert mit einigen Standard-vorstellungen aus der üppig bebildertenFeng Shui-Literatur? Das unendlich aus-deutbare Repertoire des Feng Shui erlaubtnahezu alles – und liefert zugleich jed-wede Begründung dafür. So erscheinen auch die meisten der inBüchern und Illustrierten abgebildetenBeispiele für gelungene Feng Shui-Einrich-tungen wie beliebige Kopien aus populä-ren Einrichtungsmagazinen wie etwa„Schöner Wohnen“. Oft sind die Gestal-tungselemente wunderbar farblich auf-einander abgestimmt – aber die Erklärung,was daran eigentlich das Feng Shui-Spezi-fische sein soll, fällt äußerst dürftig aus.

Raumgestaltung ist keine Schicksalsfrage

In der Begrifflichkeit des Feng Shui fehltdenn auch ein Element, welches seit derRenaissance für die europäische Baukul-tur von entscheidender Bedeutung ist: DasGebäude als individueller Ausdruck, alsResultat eines kreativen Prozesses, in demBauherr und Architekt eine besondere Lö-sung für eine bestimmte Bauaufgabe er-schaffen haben. Die Individualität diesesProzesses wird zum einen durch rationalerkennbare Bedingungen eingeschränkt:den Naturgesetzen der Statik und Bau-physik; zum anderen durch die Gesetzeund Normen, welche sich eine Gemein-schaft zur Regelung der Bautätigkeit aufer-legt hat. Formale ästhetische Regeln ha-ben prinzipiell keinen normativen Cha-rakter. Man kann sie einhalten oder dage-gen verstoßen. Vielleicht werden in letz-terem Fall neue Anregungen für die Ent-wicklung der Baukultur geschaffen, viel-leicht akzeptiert die Umwelt dieses abernicht. Entscheidend ist jedoch: Es ist keineFrage von Gesundheit oder Schicksal,wenn man gegen ästhetische Regeln ver-stößt.

Architekt – oder Arzt und Priester?

Für eine fruchtbare Zusammenarbeitzwischen Bauherren und Architekten istein partnerschaftliches Verhältnis not-wendig – und keine Bevormundung durcheinen Berater, der sich auf ominöse„höhere Mächte“ beruft und auf Traditio-nen, für die es in unserer Kultur gar keineEntsprechung gibt. Es mag in Zeitenschwacher Baukonjunktur auch für Ar-chitekten attraktiv sein, sich eine solchearchaische Rolle anzumaßen. Ob diesallerdings mit der humanistischen undwissenschaftlichen Tradition des Architek-tenberufs in einer demokratischen, aufge-klärten Gesellschaft vereinbar ist, er-

56 MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 56

Page 19: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

scheint zweifelhaft. Der Architekt wäreschlecht beraten, wenn er einen Bauauf-trag lediglich dazu nutzt, um seine eige-nen Vorstellungen zu verwirklichen. Um-gekehrt kann auch eine uninspirierteÜbernahme der Vorstellungen des Auf-raggebers kaum eine anspruchsvolle Ar-chitektur entstehen lassen. Beide Partnersind in einem konstruktiven Dialog gleich-rangig miteinander verbunden. Ein Ar-chitekt hat es sicher nicht nötig, zugleichauch noch Arzt und Priester sein zuwollen, sein Beruf ist vielseitig und an-spruchsvoll genug. Feng Shui bedeutet einen Rückschritt inder Entwicklung von Architektur als Aus-druck eines Individuums in der demokra-tischen Gesellschaft. Das oft gezeichneteBild von der modernen Architektur alsunter rein ökonomischen Machbarkeitser-wägungen produzierte Massenware hat

möglicherweise den Blick verstellt auf dievielen individuellen Möglichkeiten, diedie moderne Architektur anbietet. So sindzum Beispiel kräftige farbliche Komposi-tionen, weiche geschwungene Formenund eine Durchdringung von Natur undbaulicher Umwelt für Architekten nichtsFremdes oder Ungewöhnliches. Abschließend bleibt noch zu bemerken,dass eine wirkliche, der Gesundheit för-derliche Entwicklung der Architektur be-reits vor fast einhundert Jahren stattfand,als die Avantgarde der Architekten (LeCorbusier, Gropius u.a.) forderten, dassjedes Haus genug Luft, Licht und sanitäreEinrichtungen zum Wohle der Bewohnererhalten soll. Bezeichnend ist dagegen,dass im Feng Shui die Abwasserinstalla-tion als etwas Problematisches angesehenwird – es könnte ja durch die Toilette das„Chi“ entweichen.

57MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

Lutz Lemhöfer, Frankfurt a. M.

„Was gut und böse ist“Über Religion im Kriminalroman

Kaum ein literarisches Genre erfreut sichsolcher Beliebtheit wie das des Kriminal-romans. Ca. 60 Krimis erscheinen proMonat auf dem deutschsprachigen Bücher-markt, und den Ruf der trivialen Hin-tertreppen-Lektüre haben sie längst hintersich gelassen; Krimis sind ein Thema auchdes seriösen Feuilletons. Ähnliches gilt fürdie elektronischen Medien. Sowohl imVorabend- wie im Abendprogramm deröffentlich-rechtlichen wie des privatenFernsehens finden sich reichlich Kriminal-filme; einige Serien, wie die ZDF-Reiheum die Hamburger Kommissarin „BellaBlock“, mit spröder Faszination gespielt

von Hannelore Hoger, haben mittlerweileKult-Charakter. Zudem adaptieren sie miterstaunlicher Schnelligkeit die jeweils ak-tuellen Fragen von Politik und Gesell-schaft. Ob es der Streit um die Wehrmachts-ausstellung war, die Diskussion um denSex-Tourismus nach Fernost oder diemühsame deutsche Ost-West-Annäherungnach 1989 – alle diese Themen spiegeltensich rasch auf der Folie neuer TV-Krimi-nalfälle wider und wurden im Rahmeneiner spannenden Geschichte auf durch-aus hohem Niveau ins Bewusstsein ge-bracht. Da kann es nicht überraschen,dass auch religiöse Themen und Fragestel-

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 57

Page 20: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

lungen in der Kriminalliteratur auftau-chen. Immer geht es schließlich um gutund böse. Da mag die Zunft der Theolo-ginnen und Theologen aufhorchen: Ist dasnicht ihr Metier? Für die theologische Be-trachtung hat das Genre Kriminalromaneinen weiteren entscheidenden Vorzug: Esgeht nie um Banalitäten. Per definitionembeschäftigt er sich mit extremen Situatio-nen: Mord und Totschlag, Schuld undSühne, Leidenschaft und Verzweiflung.Situationen also, in denen es ums Ganzegeht; Situationen, die nicht selten morali-sche und philosophische Fragen aufwer-fen. Da findet das Geistliche und derGeistliche durchaus Raum.Dies kann auf dreierlei Art und Weise ge-schehen. Entweder durch einen geist-lichen Fahnder, der die Maßstäbe seinesBerufsstandes in die Suche nach dem Tätereinbringt und damit unerwartete Perspek-tiven eröffnen kann. Oder durch ein reli-giöses Milieu, in dem oder vor dessenHintergrund ein Verbrechen stattfindet;höchst spannend wird dann die Frage, obdieses Milieu (Kloster, Gemeinde, Kirchen-tag) lediglich die zufällige Kulisse einerkriminellen Tat darstellt oder ob diese ihreWurzeln in eben diesem religiös begrün-deten Beziehungsgeflecht findet. Und lastnot least gibt es Gewalttäter, die mit einergöttlichen oder religiösen Legitimationumgehen – da wird die dunkle Seite derReligion zum Thema.

Geistliche Detektive

Beginnen wir mit den geistlichen Detek-tiven, deren Zahl erstaunlich groß ist. DenAnfang machte 1911 der Brite Gilbert K.Chesterton mit dem ersten Geschichten-band um die Abenteuer des Father Brown;genau fünfzig sollten es schließlich wer-den. Der listige und weise kleine Priester(kein Pater!) hat mittlerweile Nachfolgerin mehreren Konfessionen und Kontinen-

ten gefunden. In Amerika spüren die nach-konziliaren katholischen GemeindepfarrerPater Koesler und Pater Kane den Übel-tätern nach, letzterer übrigens eine Schöp-fung des bekannten ReligionssoziologenAndrew Greeley. Auch protestantische Pas-toren von Chicago bis Klein-Hasenbergbei Lübeck bevölkern die Krimi-Land-schaft, und nicht zuletzt ein Rabbiner:David Small, der in Harry Kemelmansäußerst erfolgreicher Romanserie überfünfundzwanzig Jahren hinweg seinesAmtes als Schriftgelehrter und Detektivwider Willen waltet. Der Talmud, eher einGesetzbuch und eine Fallsammlung alseine religiöse Erbauungsschrift, hilft demRabbi nicht nur, Streitigkeiten in der Ge-meinde zu schlichten, sondern auch,knifflige kriminalistische Rätsel nach dertalmudischen Logik zu lösen. Diese Fähig-keit zu scharfer Beobachtung und ebensoscharfsinnigem Kombinieren verbindetden Rabbi mit den Fahndern auch entfern-ter Zeiten und Kontinente. Schon dreiJahre vor Umberto Ecos Welterfolg „DerName der Rose“ hatte die Britin Ellis Pe-ters 1977 mit ihrem BenediktinermönchBruder Cadfael eine Kultfigur des Histo-rienkrimis geschaffen. Persönlich noch reiz-voller, weil weniger milde und geschönt,finde ich seinen Ordensbruder Athelstan,erfunden von dem unter mehreren Pseu-donymen schreibenden Historiker PaulHarding: der asketische und gelehrteMönch erledigt seine Fälle sozusagen imDoppelpack mit dem vierschrötigen Coro-ner Cranston, der die weltliche Gerech-tigkeit repräsentiert. In eine völlig anders-artige Kultur, nämlich die der Navajo-In-dianer, führen die unter Ethnologenhochgeschätzten Krimis von Tony Hiller-mann. Der Held der Romane ist ein india-nischer Polizist, dessen Seele zwischenmoderner Zivilisation und traditionellerNavajo-Kultur hin- und hergerissen wird.Er lässt sich schließlich in die Künste der

58 MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 58

Page 21: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

Schamanen einweihen: eine bislang ein-zigartige Fassung der Doppelrolle vonGeistlichem und Detektiv. Ebenfalls neuist die Idee von Annette Döbrich, nichteinen aktiven Seelsorger, sondern einenRuhestandsgeistlichen zum Detektiv zumachen, der seinen ersten Fall sinniger-weise im Altersheim zu lösen hat.Was aber machen die geistlichen Fahnderanders als ihre weltlichen Kollegen? Daswird bereits deutlich in der ältesten Figurdes Priesters als Detektiv, dem klassischen„Father Brown“, dem Protagonisten desvom anglikanischen zum katholischenChristentum konvertierten Gilbert K. Ches-terton (1874-1936). Diese Geschichtenfolgen allesamt einem wenig variiertenSchema. Mit spöttischen Seitenhieben aufdie ungläubige Weltweisheit entsteht einSzenario, in dem Father Brown mit einemVerbrechen konfrontiert wird; ohne grö-ßere Begründung befindet er sich regel-mäßig am Schauplatz des Geschehens.Offensichtliche Spuren vernachlässigt er;er untersucht scheinbar unbedeutendeDetails, befragt Leute, die der Polizeinicht fragwürdig erscheinen: und immer,so scheint es, hat er von Anfang an denrichtigen Täter im Kopf, wenngleich nichtauf der Zunge. Auf die Dauer nervt seineoffenkundige Unfehlbarkeit, aber zugleichfasziniert sein Weg der Wahrheitsfindung.Der kleine Priester ist das Gegenteil einesschießenden und prügelnden Action-Helden. Sein Feld ist die Charakterkunde,die Analyse von psychischen Befind-lichkeiten und Motiven. Die äußerlichenTaten folgen innerlichen Zwängen, unddie ahnt niemand besser als der ver-schwiegene Beichtvater. Er weiß, dass desMenschen Herz zum Bösen geneigt istvon Jugend auf; aber zugleich ist er demSeelenheil der Täter mehr verpflichtet alsder irdischen Gerechtigkeit. Das gibt ihmeinen auch literarisch reizvollen Freiraumim Kontakt mit dem Bösen, das er – an-

ders als der platte Fortschrittsoptimismusseiner Zeit – als einen konstanten Be-standteil des Menschseins begreift unddeshalb ohne Panik anschauen kann. DerReiz einer solchen Figur besteht darin,dass Father Brown die scheußlichsten Ver-brechen sich nicht nur vorstellen kann,sondern sie immer noch als etwas Mensch-liches begreift, das in ihm und auch inallen anderen Menschen ist. Als ihn eineben überführter Mörder verzweifelt fragt„Woher wissen Sie das alles? Sind Sie einTeufel?“ antwortet Father Brown „sehrernst“, wie es wörtlich heißt: „Ich bin einMensch und habe daher alle Teufel imHerzen.“ Dieses Wissen verbindet denKatholiken Chesterton mit dem Judentum.Denn der jüdische Glaube sieht das Böseebenfalls entscheidend im Menschenselbst angelegt: als ‚bösen Trieb‘, nicht als Werk eines Teufels außerhalb desMenschen.Das betonen etwa die außerordentlich er-folgreichen Romane des amerikanischenSoziologen und Krimi-Autors Harry Ke-melman. Die Hauptfigur seiner ca. zehnBücher ist immer die gleiche: DavidSmall, Rabbiner in einer konservativenjüdischen Gemeinde am Rande Bostons,der auch immer im Titel auftaucht („AmFreitag schlief der Rabbi lang“, „Am Sams-tag aß der Rabbi nichts“ u.ä.).Als klassischer Rabbi ist er nicht Priester,sondern Schriftgelehrter und Richter; undwie weit talmudische Logik auch in derGegenwart trägt, beweist er gleich zu An-fang. Da löst er den Streit zweier Familienaus seiner Gemeinde um ein geliehenesAuto, das während der Leihfahrt zu Bruchgegangen ist. Zum Ärger der Beteiligten,der später in anerkennenden Respekt um-schlägt, schafft er dies durch überaus ge-schickte Analogieschlüsse zum talmudi-schen Schadenersatzrecht für Fälle, in de-nen ein wildgewordener Ochse beimNachbarn Schaden angerichtet hat. Diese

59MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 59

Page 22: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

Methode, mit der er später in mittlerweilezehn Bänden Verbrechen aufklärt, be-schreibt er schlicht so: „Im Grunde geht esdarum, jeden Aspekt eines Problems vonjedem möglichen Blickpunkt aus zu be-trachten“. Diese Methodik imponiert zu-sehends auch dem ermittelnden Polizei-Inspektor, einem irischstämmigen Katho-liken, der schon im ersten Band und dannimmer mehr den ursprünglich selbst Ver-dächtigen als klugen und uneigennützi-gen Helfer akzeptiert. Aus dem dienst-lichen Verhältnis wird allmählich eine be-lastungsfähige Freundschaft. Diese Kon-stellation führt nicht selten zu überauskenntnisreichen Dialogen über die Unter-schiede von Judentum und Christentum,die auf unterhaltsame Weise solide Kennt-nisse des jüdischen Glaubens und jüdi-scher Frömmigkeit vermitteln. Darüber hin-aus werfen aber die Romane immerwieder drängende theologische Fragennach Recht und Gerechtigkeit auf und tragen damit der besonderen Rolle desgeistlichen Fahnders Rechnung. Einer derletzten Krimis endet damit, dass der Täter,obwohl eigentlich überführt, davon-kommt. Man kann ihm die Tat nicht wirk-lich nachweisen, die Polizei hat bei denErmittlungen auch Fehler gemacht, Indi-zien sind nicht verwertbar. Rabbi Smallsagt dann: Der Täter trägt die Strafe insich. Also der, der in irgendeiner Weisegegen göttliche Verbote verstößt, verstößtim Grunde gegen sein eigenes Mensch-sein. Und in dem Moment ist er bestraft,wie auch immer das im Einzelnen ausse-hen mag und ob das von außen erkennbarsein mag oder nicht. Das ist zumindesteine sehr nachdenkenswerte Antwort, dieweit über die Lektüre eines Buches hinausden Leser beschäftigen kann, vielleichtauch trösten kann. Das ist freilich einspröder Trost. Er glättet nicht die Wider-sprüche des Lebens, sondern nimmt siehin in der Hoffnung, dass die Suche nach

Gerechtigkeit ihren Sinn in sich trägt,auch wenn sie vordergründig erfolgloswar.Solche Fragen nach Recht und Unrecht imfast metaphysischen Sinn konzentrierensich gerade in den Krimis, in denen ein imweitesten Sinne Geistlicher Protagonist imKriminalfall wird. Es wäre banal, wennder Pfarrer, Rabbi oder Pastor austausch-bar wäre mit irgendeinem Polizeikommis-sar oder einem Detektiv. Der Polizist hateinen gesellschaftlichen Auftrag, zu ermit-teln, während es dieser christliche oderjüdische Ermittler aus anderen Gründentut. Er muss dafür sorgen, dass seineGemeinde von einer Schuld wieder frei-gesprochen wird. Man muss wissen: Werwar‘s? Sonst kann die Gemeinde nichtzusammen leben. Außerdem hat er dieSchweigepflicht. Er bekommt viele Infor-mationen, aber er muss sie an keine of-fizielle Stelle weitergeben. Und er istnatürlich einer Ethik und Moral besondersverpflichtet.

Religiöse Gewalttäter

Die Verpflichtung auf eine Moral oderEthik kann aber auch umkippen in einedestruktive Energie, und dann haben wirdie religiösen Protagonisten nicht als Er-mittler, sondern als Täter. So geschieht dasetwa in Jürgen Kehrers Münster-Krimi„Wilsberg und die Wiedertäufer“. Da wirddie katholische Kirche, im westfälischenMünster natürlich eine veritable Macht,erpresst von einer Art „Schwarze-Armee-Fraktion“, die mit Bombenanschlägen aufhistorische Gebäude droht. Und sichdabei listig auf die Tradition der Wieder-täufer bezieht, die als Apokalyptiker dasReich Gottes mit Gewalt herbeizwingenwollten. Selbstverständlich haben ihremodernen Nachfahren in Jürgen KehrersRoman eine superkatholische Vergangen-heit und arbeiten ihre Radikalität an einer

60 MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 60

Page 23: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

als feist und zynisch erlebten Kirchen-bürokratie ab. Im Grunde sind hier dieTäter gläubiger als die kirchlichen Opfer –aber in einem Glauben, der über Leichengeht. Solche gläubigen Protagonisten aufder Täterseite bestimmen fast alle Krimisaus dem Sektenmilieu.Viele davon sind schwach und nutzen dievermeintliche Horror-Folie „Sekte“ zurVernachlässigung logischer und psycholo-gischer Stringenz. Ein positives Gegen-beispiel ist der furiose Roman „Vor demFrost“ des bekannten schwedischen Au-tors Henning Mankell. Auf subtile Weiseverknüpft er eine Romanhandlung inSchweden mit dem real-historischen Mas-saker von Jonestown 1978, bei dem ca.900 Mitgliedern der „Volkstempel“-Sektevon Jim Jones den Tod fanden. Ein (fik-tiver) Überlebender, ein Opfer also, trittzunächst ungewollt und unbewusst, dannplanmäßig in die Fußstapfen des Täters,des verehrten wie verachteten Jim Jones.Ein neues Drama bahnt sich an, diesmalin Europa kurz nach der Jahrtausend-wende. Nicht die Suche nach dem Tätermacht die Spannung dieses Romans aus,sondern die Frage, ob es der Polizei umden Protagonisten Kommissar Wallandergelingt, ihm rechtzeitig in den Arm zufallen. Hintergründig stellt sich die Fragenach der religiösen Legitimierung vonGewalt – ein Thema aller Apokalyptikervon den Wiedertäufern bis zu „People‘sTemple“ oder der japanischen AUM-Sekte. Unnachahmlich bringt der (ungläu-bige) Kommissar dies im Gespräch mitseiner Tochter auf den Punkt: „Warum haben sie das getan“? fragteLinda. Er dachte lange nach, bevor er ant-wortete: „Weil sie an Gott glaubten undihn liebten“, antwortete er. „Aber ich kannmir nicht denken, dass diese Liebe gegen-seitig war.“Gewalt im religiösen Milieu kann freilichauch sehr viel subtiler daherkommen und

gerade dort, wo man sie am wenigsten er-wartet. Das ist das Thema eines sehr or-dentlich recherchierten Romans aus demMilieu der „Amish People“ von Jodie Pi-coult: „Die einzige Wahrheit“. Die zufinden ist schwierig, denn das Szenario er-scheint zunächst nur bizarr: Auf dem Hofeiner angesehenen amischen Familie wirdein totes neugeborenes Kind gefunden.Unfall? Panikreaktion? Gewaltverbrechen?Das bleibt lange Zeit unklar. Völlig klarscheint hingegen, dass die 18-jährige un-verheiratete Tochter das Kind geboren hat;die medizinischen Beweise für eine Ent-bindung vor kurzer Zeit sind erdrückend.Aber das Mädchen leugnet nicht nur dieGeburt, sondern auch jeglichen sexuellenKontakt. Verdrängung? Verleugnung? Wasverleugnet das Mädchen, was verleugnendie frommen Eltern, die fromme Gemein-de? Der sanfte Fundamentalismus derAmischen enthält die vielleicht geheim-nisvollste Versuchung der Gläubigen: dieSünde und das Böse, mindestens inschwerer Form, prinzipiell nur in derAußenwelt zu suchen und keinesfalls beisich selbst. Dies zeigt der Roman trotzaller kolportagehaften Züge mit großerEinfühlsamkeit.

Kirchliches Milieu

Große Kenntnis und Einfühlsamkeit zeigtauch ein Roman, der nicht das Milieueiner Sondergemeinschaft, sondern einesvolkskirchlichen Christentums als Folienimmt: „Tod an heiliger Stätte“ von P. D.James. Ein Todesfall in dem konservativenanglikanischen Priesterseminar St. Anselmoffenbart nicht nur ein kompliziertes Be-ziehungsgeflecht innerhalb des geist-lichen Hauses, sondern einen nachgerademörderischen Kampf zwischen Konserva-tiven und Reformern innerhalb der Kirche.Auch hier wird die potentiell gewalttätigeSeite von Religion angedeutet. Es sackt

61MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 61

Page 24: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

aber nicht ab in platten Antiklerikalismus.Denn ebenso schonungslos, ja sarkastischwird das gezeichnet, was die moderne Al-ternative der auf liebenswerte Weise ver-staubten Religiosität von St. Anselm seinkönnte. Ausgerechnet der ungläubigeGriechisch-Dozent betont: „In der Kirchefanden die Menschen früherer Jahrhun-derte Trost und Helligkeit und Bilder undGeschichten und die Hoffnung auf dasewige Leben. Das einundzwanzigste Jahr-hundert sucht sich seine Kompensationenwoanders. Etwa im Fußball. Da finden SieRituale, Farbe, Drama, Gemeinschaftsge-fühl; der Fußball hat seine Hohen Priesterund sogar Märtyrer. Natürlich gibt es auchandere Ersatzreligionen wie Shopping,Kunst und Musik, Reisen, Alkohol, Dro-gen. Wir alle haben unsere Abwehrme-chanismen gegen die beiden größtenSchrecknisse des Lebens: Langeweile unddas Wissen um unsere Sterblichkeit.“Die Autorin P. D. James, die große alteDame des englischen Gegenwarts-Krimis,ist keine aufklärerische Bilderstürmerin.Sie feiert keine vermeintliche Befreiungvon den einschnürenden Ketten religiöserTradition. Eher trauert sie dieser Traditionnach, der sie durchaus ihre Würde zu-spricht, deren Tauglichkeit für die Gegen-wart sie aber bezweifelt. Jedenfalls indiesem Roman. Es fällt auf, dass es keinenstarken positiven Protagonisten des Glau-bens in diesem Buch gibt. Die Weisheitvon Chestertons Father Brown kommt hierebenso wenig vor wie der am Talmudgeschärfte Realitätssinn des Rabbi Smallin den Krimis von Harry Kemelman. DerGlaube auch der sympathischsten Figur indiesem Krimi, des greisen Father Martin,erscheint merkwürdig kraftlos – sogar ihmselbst: „Ihm war, als sei er sein Leben langan seinen seelsorgerischen Pflichten ge-scheitert. Was hatte er seinen Pfarrkindernschon gegeben, oder den Studenten vonSt. Anselm? Freundlichkeit, Zuneigung,

Toleranz und Verständnis, gewiss, aberüber diese wohlfeile Währung gebotenschließlich alle wohlmeinenden Zeitge-nossen. Hatte er während seiner Amtszeitals Geistlicher auch nur ein einzigesLeben verändert? Als er aus seiner letztenPfarrstelle verabschiedet wurde, hatte erzufällig mit angehört, wie eine Frau be-merkte: ‚Pater Martin ist ein Priester, demman nie etwas Schlechtes nachsagenwird.‘ Jetzt empfand er diesen Satz alseine Anklage, wie sie vernichtender nichtsein könnte.“Die Frage nach der Tragfähigkeit religiöserTradition läuft im Hintergrund dieses Ro-mans ständig mit. Für die Aufklärung derTodesfälle spielt sie zuletzt zwar nichtmehr die entscheidende Rolle. Aber Le-serinnen und Leser kann sie vielleichtnoch weiter beschäftigen, wenn die klas-sische Krimi-Frage nach dem Täter – Whodone it? – längst beantwortet ist.

Zwischen gut und böse

Ob die religiösen Protagonisten nun Täteroder Retter sind: Fast scheint es so, als seider Kriminalroman in einer säkularisiertenGesellschaft das, was dem Mittelalter dasMysterienspiel bedeutete: das große Welt-theater zur Belehrung und Bekehrung desPublikums. So abseitig ist der Gedankenicht; schon früh hatten Praktiker undTheoretiker den Kriminalroman und ins-besondere die Figur des Detektivs – auchdes ganz weltlichen – theologisch inter-pretiert. So stilisiert etwa Chesterton dieordnungsschaffende Macht der Polizeizum Rittertum der Neuzeit gegen Chaosund Anarchie und macht daraus in einemEssay eine glühende Verteidigung desKriminalromans: „Diese Literatur erinnertuns daran, dass wir in einem bewaffnetenLager leben und gegen eine chaotischeWelt Krieg führen müssen; dass die Ver-brecher, die Kinder des Chaos, Verräter in

62 MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 62

Page 25: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

unseren eigenen Reihen sind. (...) Dahin-ter steht die Tatsache, dass Moral diedunkelste, verwegenste Verschwörung ist.Wir werden daran erinnert, dass dieganze lautlose und unbemerkte Polizeior-ganisation, die uns regiert und schützt,nur in erfolgreicher Form die romantischeExistenz des fahrenden Ritters wiederholt,der die Bösen straft und die Schwachenbehütet.“1 Andere Theoretiker setzen nocheinen drauf. Helmut Heißenbüttel, Dich-ter und Krimifan, hat einmal den Detektivals theologische Figur, als „bürgerlichgetarnten Erzengel“2 interpretiert. Und derscharfsinnige Kultursoziologe SiegfriedKracauer notierte: „Der Detektiv-Gott istGott in einer Welt, die Gott verlassen hat.(...) Das Immanente, das die Transzendenzverleugnet, setzt sich an ihre Stelle, und esist nur der ästhetische Ausdruck solcherVerzerrung, wenn dem Detektiv der Scheinder Allwissenheit und Allgegenwärtigkeitverliehen wird, wenn er als VorsehungBegebenheiten zum löblichen Ende ver-hindern oder herbeiführen darf.“3

Es mag freilich eine heillose Überfor-derung bedeuten, Gott zu spielen in einergottlosen Welt. Oder ist es pure Hinterlisteiner frommen Autorin, wenn sie die Ge-stalt des Detektivs durch tiefe Selbst-zweifel wieder vom göttlichen Podest her-unterholt? So ergeht es jedenfalls einem,der sonst dem Klischee des allwissendenÜbermenschen recht nahe kommt, demexzentrischen Detektiv aus Langeweile,Lord Peter Wimsey. Seine Schöpferin, dieanglikanische Pfarrerstochter DorothySayers, lässt ihn nicht nur unter derDusche Arien aus Bachs H-Moll-Messesingen; sie verwickelt ihn darüber hinausimmer wieder in moraltheologischeGrundsatzfragen, die aus dem bloßenStandesethos des Detektivs heraus kaumlösbar erscheinen. Schon in ihrem ersten,1923 erschienenen Roman „Ein Toterzuwenig“ reflektiert Lord Peter, was ihn

eigentlich berechtigt, nicht nur kniffligeErmittlungen anzustellen, sondern dabeiMenschen vielleicht an den Galgen zubringen. Noch massiver stellt Sayers dieseFrage in dem vier Jahre später erschiene-nen Roman „Keines natürlichen Todes“.Lord Peter ist dort einem mutmaßlichenMord auf der Spur; der noch unbekannteTäter begeht anscheinend weitere, um dieerste Tat zu verdecken: Verbrechen, dievermutlich nicht begangen worden wären,hätte nicht Lord Peter die Diskussion umden längst vergessenen ersten Mord neuaufgewühlt. Da reicht als Gesprächspart-ner nicht der zuverlässige Inspektor Parkervon Scotland Yard, obwohl der in seinerFreizeit die neuesten Bibelkommentarestudiert; Lord Peter fragt einen Geistlichenum Rat. Der beruhigt ihn, ohne das Prob-lem zu leugnen: „Sie sollten sich nicht zusehr quälen. Wahrscheinlich wäre derMörder durch seine eigenen Schuldge-fühle und Ängste zu neuen Verbrechengetrieben worden, auch ohne Ihr Ein-greifen. Ich rate Ihnen: Tun Sie, was Sie fürdas Richtige halten, und zwar in Überein-stimmung mit den Gesetzen, die zu re-spektieren wir erzogen wurden. Allesweitere überlassen Sie Gott. ÜbergebenSie den Missetäter der Gerechtigkeit, abervergessen Sie dabei nie, dass auch Sie undich nicht davonkommen würden, wennuns allen Recht geschähe.“ Ich kennekeine kürzere Fassung lutherischer Recht-fertigungslehre als diese „Geschichte inder Geschichte“ bei Dorothy Sayers.4Hier schließt sich der Kreis. Die entschei-dende Frage ist nicht nur, „Was gut undböse ist“ (so der Titel eines weiteren Ro-mans von P. D. James),5 sondern wie demBösen zu begegnen sei. Gerade diebesseren Kriminalromane lehren, dasBöse nicht zu verleugnen und zu externa-lisieren, sondern als Teil der conditio hu-mana anzuerkennen: nicht hoffnungslos,aber illusionslos. Ungezwungen greifen

63MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 63

Page 26: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

sie damit, explizit oder implizit, Elementereligiöser Tradition auf. So sieht es jeden-falls die bayrische Regionalbischöfin Su-sanne Breit-Kessler: „Die oft vorgebrachteBehauptung, Kultur könne sich nur ohneBezug auf christlich-jüdische Tradition au-tonom entfalten, wird wieder einmal adabsurdum geführt. Offensichtlich wollen

sich viele Künstler gar nicht von dieserTradition verabschieden oder entdeckensie neu. Zum anderen ist es für die Kircheneine echte Herausforderung, den eigenenInhalten extra muros in vertrauter oderfremder Gestalt zu begegnen und denen,die sie transportieren, sich im geistvollenDialog zu stellen.“6

64 MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

Zitierte Kriminalromane

G. K. Chesterton, Der Hammer Gottes, in: Detektivgeschichten, München 1975

P. D. James, Tod an heiliger Stätte, München 2002J. Kehrer, Wilsberg und die Wiedertäufer, Dortmund

1994

H. Kemelman, Am Montag flog der Rabbi ab, Reinbek1998

H. Mankell, Vor dem Frost, München 2003J. Picoult, Die einzige Wahrheit, München 2002D. Sayers, Keines natürlichen Todes, Reinbek 1981

Anmerkungen

1 G. K. Chesterton, Verteidigung der Detektivge-schichte, in: ders., Das Gold in der Gosse. Plädo-yers, Stuttgart 1986, 103.

2 Zit. nach J. Schmidt, Gangster, Opfer, Detektive.Eine Typengeschichte des Kriminalromans, Frank-furt a. M. / Berlin 1989, 44.

3 Ebd., 42f.4 Den christlichen Hintergrund dieser Autorin beleuchtet

M. Siebald, Dorothy L. Sayers, Wuppertal 1989.

5 Eine literarisch-theologische Analyse dieses Ro-mans findet sich bei K. Fechtner, Spuren lesen: Reli-gion im Kriminalroman, in: Theologia Practica 36,2001, 216-226.

6 S. Breit-Kessler, Eine feste Burg und Tefillin. Über-raschende Tendenzen im neuen Kriminalroman, in:L. Lemhöfer / K. H. Eimuth, Pfarrer, Rabbis, Detek-tive. Über Religion im Kriminalroman, Frankfurta. M. 2001, 35.

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 64

Page 27: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

Günter Ewald, Bochum

Neues Computer-Zeitalter und seine Folgen für ein neues Naturverständnis

65MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

Die heutige Technik ist längst vonHochleistungscomputern geprägt, sei es inGestalt von Robotern, die mehr und mehran Fließbändern erscheinen, sei es in derSteuerung von Weltraumraketen oder inallen Bereichen der täglichen Informa-tionsverarbeitung und Verwaltung, ange-fangen bei den PCs auf unseren Schreib-tischen. 1965 sagte der Computerspezia-list Moore voraus, dass sich die Leistungs-fähigkeit der Rechner etwa alle eineinhalbJahre verdoppeln wird. Man kann das mitder Rechengeschwindigkeit messen odermit der Anzahl der benutzten Transistoren.Diese Regel – man spricht auch vom„Mooreschen Gesetz“ – hat sich tatsäch-lich über vier Jahrzehnte hinweg ziemlichgenau bestätigt. Es war natürlich klar, dassdiese Entwicklung schon aus physikali-schen Gründen irgendwann aufhörenmuss, da man die Computerchips nicht be-liebig verkleinern kann. In der Tat scheint nun die Zeit des Moore-schen Gesetzes zu Ende zu gehen, aller-dings aus genau dem gegenteiligen Grundals dem erwarteten: Eine neue Generationvon Computern, „Quantencomputer“ ge-nannt, wächst heran, die in ungeahnterWeise alle bisherigen Großrechner in denSchatten stellen. Es geht nicht um Verdop-pelung oder Verzehnfachung der Rechen-geschwindigkeit, sondern um einen quali-tativen Sprung. Man kann sich das an Spe-zialcomputern verdeutlichen, die für dieVerschlüsselung und Entschlüsselung vonNachrichten gebraucht werden (in der so-genannten Kryptografie). Diese beruhengewöhnlich auf einer Zerlegung großerZahlen in ihre Primfaktoren. Der

Rechenaufwand für derartige Zerlegungensteigt enorm mit der Größe der Zahlen.Will man etwa eine Zahl, die im binärenSystem, also mit Zweierpotenzen stattZehnerpotenzen ausgedrückt, 1024 Zif-fern hat, in Primfaktoren zerlegen, dannbrauchte ein Supercomputer, den mandurch Vernetzung von 1000 Großcompu-tern heutiger Bauart zusammensetzt, etwa100000 Jahre, um die Rechnung auszu-führen. Ein Computer der neuen Genera-tion, also ein Quantencomputer, löstdieses Problem in 4,5 Minuten. Alle bis-herigen Codes können daher mit Quan-tencomputern geknackt werden; keineBankcard ist mehr sicher. Dehnt man dieseÜberlegung auf Zahlen mit 4096 Binärzif-fern aus, dann brauchten sämtliche heuteverfügbaren Computer zusammengeschal-tet einen Zeitraum, der das Weltalter vonetwa 15 Milliarden Jahren weit übersteigt.Ein Quantencomputer löst das Problem in4,8 Stunden.Die technologischen Folgen dieser Ent-wicklung sind einstweilen unabsehbar.Unsere Phantasie hält kaum Schritt, umvorstellungsmäßig das unterzubringen,was auf uns zukommt, insbesondere uner-wartet wie schon bei den jetzigen Com-putern die Phänomene Internet und E-Mailin wenigen Jahren unser Kommunikations-system umgeprägt haben. Zu befürchtenist natürlich, dass zuerst die Waffentechnikzuschlägt, wobei es offen ist, ob Angriffs-oder Verteidigungswaffen die Oberhandgewinnen. Im zivilen Bereich ergeben sichfür die Robotik und automatische Fabrikenneue Perspektiven. Die Weltraumfahrtgewinnt neue Möglichkeiten. Vor allem

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 65

Page 28: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

aber ist eine erneute Umprägung unseresInformations- und Kommunikationswesenszu erwarten. Gibt es heute schon Bild-schirmkonferenzen, so wird man wahr-scheinlich aufgrund der Holografie-Tech-nik Sitzungen mit virtuell anwesenden Per-sonen abhalten können. Die Gesprächs-partner sitzen am Tisch. Man kann sich mitihnen unterhalten, als ob sie real wären.Will man jedoch einem die Hand geben,fährt man durch ihn hindurch. In den Armnehmen kann man ihn auch nicht. Aufeinen Knopfdruck hin ist er ganz ver-schwunden. Statt ein Fernsehgerät aufzu-stellen wird man vermutlich eine Zimmer-ecke einrichten, in der sich wie auf einerBühne die Bildszenen scheinbar life ab-spielen.So kann man fortfahren und die Einbil-dungskraft spielen lassen. Was die Sicher-heit von Bankcards angeht, so bieten dieQuantencomputer vollen Ersatz: Sie lie-fern ein neues Verfahren der Verschlüs-selung, das prinzipiell nicht zu knackenist.Fragt man, wann diese utopisch er-scheinende Zukunft zur Gegenwart wird,so sind die Einschätzungen unterschied-lich. Liest man Stellungnahmen dazu, dievor drei oder vier Jahren herausgekommensind, so findet man Schätzungen von 20bis 30 Jahren. In Berichten aus neuesterZeit sieht das schon anders aus. Im April2004 ging eine Meldung durch die Wis-senschaftspresse unter dem Titel „ErsteBanküberweisung mit Quantenverschlüs-selung“, in der es heißt: „Die Bank AustriaCreditanstalt hat im Auftrag der Stadt Wiendie weltweit erste quantenkryptografischverschlüsselte Überweisung durchge-führt“. Die Zukunft hat also schon begonnen.Hinter dem Wiener Experiment steht derPhysiker Anton Zeilinger, dessen Namenkürzlich auch im Zusammenhang mit dersogenannten „Teleportation“, dem „Bea-

men“ nach dem Vorbild des „RaumschiffesEnterprise“ durch die Presse gegangen ist.Ein „Beamen“ einzelner Photonen undElektronen ist gelungen und steht in en-gem Zusammenhang mit der Entwicklungvon Quantencomputern. Inzwischen sindinternational fieberhafte Bemühungen imGang, die neuen Rechner zu realisieren.Die bedeutendste amerikanische For-schungsförderung, die „National ScienceFoundation“, hat ein großes Programmaufgelegt. In Australien sind acht For-schungsschwerpunkte für Quantencom-puter eingerichtet worden. In Europa fin-den sich Zentren in Wien, Innsbruck,München, Oxford und an anderen Stellen.Meiner Einschätzung nach ist bereits invier bis sechs Jahren mit der ersten serien-mäßigen Produktion von spezialisiertenQuantencomputern zu rechnen, gefolgtvon einer schrittweisen Verwirklichung all-gemeiner Quantenrechner.

Wirkprinzip und Probleme von Quantencomputern

Fragen wir aber nun: Was sind Quanten-computer? Wie sind sie gebaut? Wie funk-tionieren sie? Darauf aufbauend wollenwir dann zu der außerordentlichen Bedeu-tung vordringen, die Quantencomputer fürein neues naturwissenschaftliches Welt-verständnis besitzen.Beginnen wir mit der Frage, nach welchemPrinzip die klassischen Computer, wie siein Form von PCs zu unseren Haushaltengehören, konstruiert sind. Die Antwort isteinfacher als es erscheinen mag und kannohne Mathematik (außer dem Addierenper Hand) vermittelt werden. Man be-nötigt die logischen Regeln, die bei derZusammenfügung und Negierung vonSätzen hinsichtlich „richtig“ oder „falsch“gelten. Verknüpft man einen richtigen undeinen falschen Satz durch „und“, so ist derzusammengesetzte Satz falsch, im Falle

66 MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 66

Page 29: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

von „oder“ (nichtausschließend, lateinischvel) ist er richtig. Symbolisiert man„richtig“ durch „Strom fließt“ und „falsch“durch „kein Strom fließt“, so kann mansich kleine Schalter bauen, „Gatter“genannt, in die zwei Stromleitungen hin-einführen und eine herausführt und zwarso, dass – im Falle der „oder“-Darstellung– genau dann Strom herauskommt, wenneiner der Eingänge oder beide Stromhaben („Wechselschalter“). Im Falle der„und“-Darstellung wird nur dann Stromweitergegeben, wenn beide Eingängeunter Strom sind. Bei der Negationschließlich fließt hinten Strom, wenn dasvorn nicht der Fall ist und umgekehrt. Jetztersetzt man noch „richtig“ durch 1 und„falsch“ durch 0 und schaltet mehrere Gat-ter so zusammen, dass sie insgesamt dieAddition der Ziffern 1 und 0 im Zweiersys-tem (statt Zehnersystem) mit Berücksichti-gung von Überträgen leisten (es bedarfeiniger Überlegungen, wie das möglichist). Derartige Vorrichtungen geeignet zu-sammengesetzt ergibt die Addition vonZahlen im Binärsystem, auf die wiederumandere Rechenoperationen aufbauen.Auch sonstige Informationsverarbeitungenbasieren auf der Verschaltung von Gattern.Moderne Miniaturtechnik erlaubt, die Gat-ter-Chips so klein zu halten, dass Millio-nen von ihnen in einem PC unterzubrin-gen sind.Was unterscheidet nun Quantencomputervon herkömmlichen Rechnern? AuchQuantencomputer verwenden kleine Gat-ter zwecks Verknüpfung von Einsen undNullen. Diese Gatter aber sind nicht tech-nisch konstruiert, sondern werden derNatur entnommen, und zwar im Bereichatomphysikalischer Vorgänge. Max Planckentdeckte 1900, dass Energie nicht in be-liebig kleine Portionen unterteilt werdenkann, sondern dass es „Quanten“ als kleinst mögliche Energieeinheiten gibt.Auf diese Erkenntnis baut seither die

Atomphysik auf. „Quantensysteme“ sinddabei fundamental, die Vorgänge in ihnenmathematisch gut beschrieben – und um-gekehrt für Quantengatter nutzbar. Es kannsich dabei um Drehmomente in einemMolekül rotierender Atome handeln, umPaare „verschränkter“ Lichtpartikel, in „Io-nenfallen eingefangene“ elektrisch gela-dene Teilchen oder tief gekühlte Atome,die man als „Materiewellen“ zu manipu-lieren vermag. Man kann in solchenQuantensystemen mit Hilfe von Laser-strahlen, Magnetfeldern oder Radioim-pulsen Information speichern und durchAuslösen kleiner physikalischer Vorgängeverarbeiten lassen.Im Unterschied zu den klassischen Com-putern hat man es dabei als Informations-einheiten nicht nur mit den Alternativen 1– 0, also mit Bits (von binary digits) zu tun.Vielmehr kann man in den Quantensyste-men „Überlagerungen“ der Grundzu-stände erzeugen und erhält sogenannte„Quantenbits“, kurz Qubits, in denen je-weils eine Vielfalt von Informationen un-terzubringen ist. Darin steckt die unge-heure Steigerung der Rechengeschwindig-keit. Ein einziges Molekül kann die Funk-tion eines kleinen Computers über-nehmen.Das hört sich im Prinzip einfach an, istaber in der Durchführung voller Problemeund Besonderheiten. Wir heben dreidavon heraus:

(1) Das erste Problem betrifft das Ablesenvon Ergebnissen. Wenn zwei Personengleichzeitig dasselbe Buch oder dieselbeZeitung in die Hand nehmen wollen, sagtmanchmal der eine zum andern: „Ich lesedir nichts weg“. Man verzehrt den Text janicht wie eine Speise, sondern er bleibtnach dem Lesen unversehrt zur Verfügung.In Quantencomputern ist das anders. Liestman ein Resultat durch Messung ab, dannzerstört man den Zustand des Quantensys-

67MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 67

Page 30: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

tems, der die Information getragen hat.Man „liest die Ergebnisse weg“. Das hatbeispielsweise zur Folge, dass in Quanten-computern keine Zwischenablagen vonTeilresultaten möglich sind. Deshalbmusste man völlig neue Rechenverfahren,„Algorithmen“ finden, was auch gelungenist.Ein positiver Effekt dieses Phänomensbesteht in der Sicherheit von Verschlüsse-lungen. Wird eine Nachricht Buchstabe fürBuchstabe übermittelt, dann merkt derEmpfänger schon, wenn ein einzelnerBuchstaben abgefangen wird; denn erkommt bei ihm nicht an. So kann er dieÜbertragung stoppen und man beginnt miteinem neuen Code. Das mag Verzögerun-gen bedeuten; aber die Verschlüsselung istabsolut sicher.

(2) Ein zweites Problem hängt ebenfallsmit dem Auslöschen von Ergebnissen beiMessungen zusammen. Es besteht darin,dass die Messungen nur wahrscheinlicheResultate liefern. Allerdings hat man – dasmag paradox klingen – so gute Theorienfür die Wahrscheinlichkeitsvorgänge, dassman mit Hilfe der Wiederholung von Mes-sungen und Fehlerkorrekturen faktischsichere Ergebnisse erhält. Immerhin spie-gelt sich hierin etwas von der Andersartig-keit quantenphysikalischer Prozesse ge-genüber streng kausalen Vorgängen derMechanik oder Elektronik. Man hatbrauchbare mathematische Theorien, ver-steht aber nur sehr begrenzt, was sich imMiteinander von Zufall und Notwendig-keit abspielt.

(3) Ein drittes Problem bei der Entwicklungvon Quantencomputern ist technisch dasbisher schwierigste. Es besteht darin, dassdie manipulierten Quantenzustände sehrempfindlich sind. Man kann sie mit extremleise gespielter Musik vergleichen, die nurin absolut schalldichten Räumen hörbar

ist. Für die im Augenblick aussichtsreichs-ten Bauprinzipien für Quantencomputer,die Ionenfallen und die Atomfallen,besteht der „schalldichte“ Raum in einerNähe zum absoluten Nullpunkt. Manmuss das technische System auf nur einigeMilliardstel Grad über dem absolutenNullpunkt kühlen. Die Umgebung desQuantensystems muss sozusagen in eisi-ger Ruhe erstarren, damit man die Musikdes Quantenorchesters verstehen kann.Das bedeutet einen außerordentlichentechnischen Aufwand, bisher das größteHindernis für die Produktion derartigerQuantencomputer.Die beiden anderen Bauprinzipien sindzwar bei Zimmertemperatur zu realisie-ren, gestatten aber nur wenige Qubits zuverarbeiten. Hier hofft man mit einer Ver-netzung weiterzukommen oder auch miteiner Kombination von klassischen undQuantencomputern.

Zum allgemeinen Verständnis der Quantentheorie

Bemerkenswert ist, dass diejenigen Quan-tengesetze, die den neuen Computern zu-grunde liegen, in der Hauptsache exoti-sche Phänomene sind, über die man langetheoretisch gerätselt hat. Sie gehen teil-weise auf Albert Einstein zurück, der damitversuchte, die Quantentheorie ad absur-dum zu führen. Einstein mochte diese Artvon Physik nicht. Sie passte nicht in seinWeltbild, weil in ihr Wahrscheinlichkeits-gesetze eine maßgebliche Rolle spielten.Die Quantentheorie „ist noch nicht derwahre Jakob“ meinte er. Das ist umso er-staunlicher, als Einstein für seinen Beitragzur Quantentheorie den Nobelpreis erhielt(nicht für seine Relativitätstheorie). Er hatteeine quantenphysikalische Erklärung fürden sogenannten lichtelektrischen Effektgeliefert, der dem Bau von Sonnenkollek-toren zugrunde liegt. Einstein behauptete,

68 MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 68

Page 31: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

dass die Quantentheorie Naturereignissevorhersage, die absurd seien und die es inder Natur gar nicht geben könne. AberBohr, Heisenberg und andere Physikerkonnten die Kritik Einsteins immer wiedertheoretisch einigermaßen ausgleichen.Erst in den achtziger Jahren des vorigenJahrhunderts war man durch die Entwick-lung der Nanotechnik, die bis in die Bear-beitung einzelner Atome vordringen kann,so weit, die Frage zu stellen und nachzu-prüfen: Gibt es die von Einstein vorherge-sagten „absurden“ Phänomene vielleichtwirklich? Es gab sie – und sie sind dieGrundlage für Quantencomputer gewor-den.Ich möchte ein Beispiel kurz erläutern,und zwar die Frage: Ist Licht ein Wellen-vorgang oder besteht Licht aus Millionenoder Milliarden kleiner Lichtteilchen, diesich wie kleine Geschosse ausbreiten? Umzu zeigen, dass Licht Wellencharakter hat,nutzt man – in einem schon älteren Ver-such – die Interferenz von Wellen. Manschickt Licht von einer sehr schmalenLichtquelle durch schmale paralleleSpalte. Die Spalte wirken wie getrennteLichtquellen, deren kreisförmige Wellensich teilweise verstärken und teilweiseauslöschen, also Interferenzmuster bilden.Man kann sie etwa als Streifen auf einerFotoplatte sichtbar machen. Nun aber schwächt man die Lichtquelle sostark ab, dass nur noch einzelne Photonendie Lichtquelle verlassen. Dann stellt sichheraus, dass diese Photonen, wenn sieüberhaupt einen Spalt treffen, dann nureinen von beiden. Um das festzustellen,bringt man Photoplatten dicht hinter deneinzelnen Spalten an. Nur eine wird je-weils belichtet. Das Licht hat demnachTeilchencharakter, Wellen gehen jeweilsdurch beide Spalte.Was ist nun richtig? Besteht das Licht ausWellen oder aus Teilchen? Jemand kam aufeine schlaue Idee und meinte: Beides ist

gut miteinander vereinbar. Das Lichtkommt nicht in breiten Wellenfronten anwie das Wasser im Meer, sondern ingroßen Mengen von kleinen Wellenpa-keten, eng begrenzten Stoßwellen. Dieseüberlagern sich genau so wie die Wellen-fronten und bilden Interferenzmuster.Einzelne Wellenpakete aber verhalten sichwie Teilchen. Auf diese Weise kann manalso Teilchen- und Wellencharakter desLichtes miteinander verbinden.Nun hatte man jedoch die zusätzlicheIdee, das noch einmal wie folgt nach-zuprüfen: Lässt man die schwache Licht-quelle, die nur einzelne Photonen aus-sendet, zwei oder drei Wochen langstrahlen, dann schickt sie so viel Lichtdurch die beiden Spalte wie bei einerkurzen Belichtung mit einer starken Glüh-birne. Da aber jedes Photon allein seineBahn zieht, kommt es zu keinen Über-lagerungen, also ergibt sich auf der Photo-platte ein verwaschenes Bild, kein Mustervon Interferenzstreifen. Man führte denVersuch durch und stellte zur Über-raschung fest, dass die Photoplatte sehrwohl schöne Interferenzmuster zeigt. DieErklärung mit den Wellenpaketen warsomit Makulatur. Jedes Lichtteilchen ver-hält sich wie ein Balletttänzer, der voneiner Ballettgruppe neu eingestellt werdensoll und dem Regisseur ohne Kenntnisdessen, was die Gruppe tanzt und ohneAnwesenheit anderer Tänzer die Pirouet-ten und Sprünge genau so vorführt, als obdie anderen Mitglieder der Gruppe mit-tanzten. – Dieses bizarre Verhalten desLichts ist bis heute nicht wirklich ver-standen. Es ist so, als ob das einzelne Pho-ton, wenn es durch einen Spalt fliegt, eine„Geisterwelle“ durch den anderen Spaltschickt, mit der es sich hinterher über-lagert. Eine solche Vorstellung wider-spricht aber der mathematischen Theorie,die die Vorgänge zwar abstrakt, aber sehrpräzise – und technisch anwendbar –

69MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 69

Page 32: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

beschreibt. Das Debakel liegt nur in un-serer Vorstellung, in unserem Weltverständ-nis. Indem Quantencomputer derartigescheinbar absurde Phänomene realisieren,sind sie sichtbarer Beleg dafür dass dasneue Naturverständnis der Quantenphysiknicht ein Hirngespinst von Theoretikerndarstellt, sondern reale Ereignisse betrifft.

Konsequenzen für die Neurobiologie

Noch bedeutsamer als diese Feststellungsind die Konsequenzen für die Neuro-biologie. Mit den Quantencomputern ge-winnt die Frage neue Aktualität, inwiefernQuantenphysik für das Verhältnis vonGehirn und Bewusstsein oder Gehirn undGeist relevant ist. Man kann die Fragezunächst in ein einfaches, allerdings ge-fährliches Schema pressen: Die bisherigeHirnforschung orientiert sich stark aneinem Vergleich zwischen klassischenComputern und Gehirn. Müsste sie sichnicht jetzt um die Analogie von Quanten-computern und Neurophysiologie be-mühen? In dieser Form ist die Frage inso-fern irreführend, als generell der Vergleichvon Computer und Gehirn sehr problema-tisch ist und allenfalls in einzelnen Aspek-ten, Bausteinen der Nachrichtenverarbei-tung, seinen Sinn hat. Die vielfach vonWissenschaftlern vertretene Ansicht, Geistund Bewusstsein seien weiter nichts alsProdukte der neuronalen Netze des Ge-hirns ist zirkelhaft, weil sie auf einem Be-griff von Geist und Bewusstsein basiert,der in Analogie zur Informationsverarbei-tung im Computer gebildet ist. Neurobio-logie ist nicht legitimiert, mit ihrem Denk-schema geistesgeschichtlich gewachseneBegriffe wie „Geist“ oder „Bewusstsein“ zubesetzen. Das gilt auch dann, wenn manvon klassischen zu Quantencomputernübergeht.Indessen zeigen sich bereits auf der Ebeneder Bausteine von Nachrichtenverar-

beitung erhebliche Unterschiede zwi-schen beiden Computertypen. Währenddie 1,0-Gatter für „und“, „oder“, „nicht“voll durchschaubar sind und ihre Zusam-mensetzung eine rein technische Kons-truktion darstellt, stehen wir staunend vorden Quantensystemen und rätseln, wiesosie in natürlicher Weise zu gigantischenRechenoperationen fähig sind. Wir nutzensie geschickt aus, haben sie aber nichtgeschaffen. Die Natur arbeitet für unsereTechnik. Und so stellt sich die natürlicheFrage: Ist die Informationsverarbeitung inQuantencomputern, die wir der Natur ab-gelauscht und benutzt haben, nicht einHinweis darauf, dass sie tief im Natur-geschehen selbst verankert ist? Machenwir uns vielleicht nur kleine Häppchenzunutze, die aus einer Vielfalt von Gestal-tungsvorrichtungen in der Natur heraus-geschnitten sind? Leihen wir sozusageneinzelne Musikinstrumente aus, ohne dieSymphonie zu kennen, die ansonsten mitdiesen Instrumenten in der Natur gespieltwird? – Bisher wehren die meisten Neuro-biologen derartige Fragen ab, da sie nochkeine experimentellen Ansatzpunkte ge-funden haben. Im Gefolge der Entwick-lung von Quantencomputern kann sichdas bald ändern. Der amerikanische Neu-roforscher Stuart Hameroff vermutet seitlängerer Zeit – und wird dabei von demenglischen Physiker Roger Penrose unter-stützt –, dass die sogenannten Mikrotubuli,kleine Röhrchen in den Nervenzellen(Durchmesser etwa 5 Millionstel Millime-ter), eine ähnlich gute „schalldichte“ Ab-schirmung für sogenannte Quantenko-härenzen – die leise „Orchestermusik“ derQuantensysteme – bieten wie die Nähezum absoluten Nullpunkt. Hameroff ver-mutet, dass in den Mikrotubuli ebenso wiein den DNS-Molekülen des Erbgutes so et-was wie Quantencomputer am Werk sind.Dabei sind wahrscheinlich unsere Vorstel-lungen über die atomaren Mini-Rechner

70 MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 70

Page 33: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

viel zu grob, um auch nur annähernd dasNaturgeschehen auf der Quantenebene zubeschreiben. Man wird sehen müssen,wie weit sich Hameroffs Hoffnung erfüllt,dass wir auf der Quantenebene zu einemneuen Verständnis dessen kommen, waswir Bewusstsein nennen. Hameroff geht soweit, dass man aufgrund der sogenanntenNichtlokalität und anderer Eigenschaftender Quantenkohärenzen ein Denkmodellfür die Trennung des Bewusstseins vomKörper entwickeln kann. Das würde zueinem neuen Verständnis für die alte An-nahme führen, dass die Seele den Körperverlassen kann und möglicherweisedessen Tod überdauert.

Fazit

Diese Überlegungen sind gewiss nochhypothetischer Art und man sollte behut-sam sein, eine Weltsicht darauf zu grün-den. Eines scheint aber klar: Die Lösungdes Bewusstseins oder der „Seele“ vomKörper ist naturwissenschaftlich in denBereich des Denkmöglichen gerückt.Allein das kann gegenüber dem naturalis-tischen oder materialistischen Weltbild alsein tiefer Umbruch angesehen werden.Für eine religiöse Schau von „Seele“ be-deutet es, dass der Glaube an eine un-sterbliche Seele keineswegs einem natur-wissenschaftlichen Weltbild widerspricht,sich aber auch nicht darin auflöst.So tragen Quantencomputer voraussicht-lich in doppelter Weise zu einem neuenZeitalter bei, als technologische Revolu-tion und als Unterstützung eines Naturver-ständnisses, das die Endlichkeit des Mensch-seins transzendiert und – auch im weitenSinn physikalisch – in eine umfassendereWirklichkeit einbettet.

INTERRELIGIÖSER DIALOG

Sind monotheistische Religionen beson-ders anfällig für Gewalt? Diese ebensoaktuelle wie provokative Fragestellunglockte am 7. Dezember 2004 über 200Fachleute und Verantwortliche aus Politik,Wirtschaft und Verwaltung ins BerlinerHaus der Friedrich-Ebert-Stiftung. DieTagung „Religionen und Gewalt“ wurdehier das dritte Jahr in Folge zusammen mitder Evangelischen Zentralstelle für Welt-anschauungsfragen veranstaltet, welcheihre besonderen Kompetenzen in derAnalyse religiöser Gegenwartskultur ein-brachte. Hochkarätige Referenten aus Is-lam, Buddhismus und Christentum er-lebten kontroverse Dialoge, indem sichjeder Religionsvertreter einer kritischenAußenperspektive stellen musste. Durchdie kontrastreiche Veranstaltung führtenJohannes Kandel von der Friedrich-Ebert-Stiftung und Reinhard Hempelmann,Leiter der Evangelischen Zentralstelle fürWeltanschauungsfragen.Einen ersten Zugang zur Gewaltproble-matik in monotheistischen Religionen botWolf Krötke. Der evangelische Theologeplädierte in seinem Eingangsreferat füreine differenzierte Betrachtungsweise,denn der eine Gott gewinne in den dreiabrahamitischen Religionen Judentum,Christentum und Islam ein je spezifischesProfil. Mit einer explizit theologischen Ar-gumentation arbeitete Krötke heraus, war-um besonders monotheistische Religio-nen zur Selbstkritik fähig seien: Der trans-zendente Gott übersteige die Welt und seiihr gegenüber als frei gedacht. Ebenso seider Gläubige frei, welcher vor Gott in Ver-nunft und Selbstverantwortung lebe undim Licht von dessen Geboten die eigeneLebenspraxis kritisch reflektiere. Auf diese

71MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

INFORMATIONEN

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 71

Page 34: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

Weise könne ein gläubiger Mensch sichauch von struktureller Gewaltverflechtunginnerhalb seiner Gesellschaft freimachen.In der anschließenden Plenumsdiskussionwurde dieser Ansatz nicht weitergeführt.Vielmehr hob das Publikum die gemein-samen Traditionen der monotheistischenReligionen hervor: Hier sei ein Gesprächmöglich, das auch Differenzen nicht aus-sparen dürfe. Nach dem ebenso fachkun-digen wie engagierten Eingangsreferat er-härtete sich der Eindruck, dass dezidierttheologische Zugänge von einem breite-ren Publikum nur bedingt wahrgenom-men und kaum diskutiert werden. Die erste Dialogrunde widmete sich demIslam, wobei die Stimmung im vollen Saalso konzentriert wie angespannt war. BekirAlboga von der Türkischen Union derAnstalt für Religion übersetzte Islam mitFrieden und warb sehr leidenschaftlich fürdie entsprechenden Aspekte seines Glau-bens. Er präsentierte ein modernes Islam-verständnis aus dem türkischen Kontext,das sich einer historisch-kritischen Ausle-gung des Koran annähert. Mohammed seiin seinen mekkanischen Anfängen selberverfolgt worden, worauf er in Medina alsVermittler unter verfeindeten arabischenGruppen gewirkt habe. Gegenüber jüdi-schen Gemeinschaften der Stadt sei Mo-hammed als Machthaber tolerant gewe-sen. Alboga betonte die universellen ethi-schen Werte seiner Religion und verwahr-te sich dagegen, die im Koran dokumen-tierte Frühzeit des Islam politisch zu ide-alisieren. Kritisiert wurde seine Darstel-lung nicht nur von einem arabischenGlaubensbruder aus dem Plenum, son-dern auch von Christine Schirrmacher,Leiterin des von der Evangelischen Allianzgetragenen Instituts für Islamfragen inBonn. In der islamischen Frühzeit sei dasVerhältnis zwischen der mekkanischenethischen Phase und der medinischen po-litischen Phase durchaus ambivalent. In

Medina sei Mohammed zum Kriegsherrngeworden und habe auch die drei ansässi-gen jüdischen Stämme bekämpft. Darüberhinaus sprach Schirrmacher grundlegendeKommunikationsprobleme mit islamischgeprägten Kulturen des nahen und mitt-leren Ostens an. Deren Vertreter würdenhäufig innerhalb ihrer Gemeinschaftenandere Ansichten vertreten als gegenüberwestlichen Gesprächspartnern. Dieser Be-obachtung stimmte das Tagungspublikumzu und hob ebenso hervor, dass man denIslam beim Debattieren nicht beständigzur Verteidigung drängen dürfe. Insgesamtgelang es Alboga nicht, das Plenum fürsich einzunehmen. Hier wirkte die politi-sche Großwetterlage mit der fachkundi-gen Argumentation Schirrmachers zusam-men, welche Albogas Darstellung tenden-ziös erscheinen ließ. Aufschlussreich wardas Publikumsgespräch besonders hin-sichtlich der innerislamischen Pluralität,welche offenbar aus den kulturellen Hin-tergründen der Beteiligten erwächst.Wesentlich entspannter gestaltete sich diezweite Dialogrunde mit dem Buddhismus.Jürgen Manshard vom Tibetisch-Buddhis-tischen Zentrum in Berlin stellte Gier,Hass und Unwissenheit als geistige Ur-sachen allen Leidens heraus. Wer nachder Lehre des Buddha seinen Geist imZaum hält, vermag auch Körper und Redezu zügeln, um die ganze Person zu trans-formieren. So sei Gewaltlosigkeit im bud-dhistischen Sinne ein zu erstrebender As-pekt des Geistes, der Erleuchtung und Be-freiung aus dem Kreislauf der Wiederge-burten mit befördert. Die Ursachen derGewalt lägen aus buddhistischer Perspek-tive in der Person selbst, womit zugleichdas Leiden anderer Wesen nicht einfachhingenommen werde. Im Kontrast zudiesen streng philosophischen Überlegun-gen berichtete der Züricher Theologe undReligionswissenschaftler Georg Schmidsehr anschaulich von seinem Besuch im

72 MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 72

Page 35: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

neuen Berliner „Shaolin-Tempel“. Die dorti-gen Mönche stünden mit ihren Kampf-künsten in einer langen Tradition, die bud-dhistische Lehre und Konzentrationspraxismit der Ausbildung von Kriegern verbindet.Ein historisches Beispiel sei die Verstrickungdes Zen mit dem japanischen Militarismusund Kolonialismus, namentlich dieAusbreitung von Klöstern der Soto-Schuleim besetzten Korea. Trotz meditativerTransformation sind Menschen nachSchmid fehlbar und bleiben in christlicherWahrnehmung Sünder, die auf GottesGnade angewiesen sind. Der Buddhismusmüsse sich in unserer Kultur davon frei-machen, zu einem Traumbild der Westlerzu werden, das aller menschlichen Schat-tenseiten entbehrt. Da Manshard diesemAnliegen nicht grundsätzlich widersprach,könnte man den Dialog als gelungene An-näherung betrachten. Freilich wurden auchhier philosophische und theologische Dif-ferenzen nicht eingehender diskutiert.Die Gewaltgeschichte des Christentumsgriff in der letzten Dialogrunde der evan-gelische Theologe Richard Schröder auf.Er warnte vor simplifizierenden Sicht-weisen und forderte das Publikum mitneuen historischen Aspekten heraus. DieKreuzzüge wurden von ihm als Kriegeeinzelner Päpste analysiert, die ihre poli-tischen Machtansprüche auch theologischzu rechtfertigen suchten. Mit diesen Ten-denzen habe die Reformation gebrochen,indem Luther die Türkenkriege als ein„weltlich Ding“ der Fürsten qualifizierte.Ein zweites Themenfeld erschlossSchröder anhand von Hexenverfolgungenim entkolonisierten Afrika unserer Tage,bei denen außerchristliche magische Vor-stellungen eine Rolle spielten. Hier hättenkirchliche Einflüsse bisher hemmend ge-wirkt, indem auch Hexen als GeschöpfeGottes wahrgenommen wurden. Der Hu-manist Peter Schulz-Hageleit zeigte sichkritisch gegenüber friedensstiftenden An-

sprüchen des Christentums. Er wies indiesem Zusammenhang auf strukturelleGewalt hin, die in Deutschland von der fi-nanziellen Privilegierung der Kirchen aus-gehe. Ebenso sei jede christlich-funda-mentalistische Begründung für kreuz-zugsähnliche Kriegshandlungen abzuleh-nen. Hier zeige sich, dass der Missions-und Hegemonieanspruch des Christen-tums grundsätzlich fortbestehe. Die an-schließende Diskussion gestaltete sich un-einheitlich und fand keinen Fokus. Es gingstellenweise um christlich-fundamentalis-tische Einflüsse auf die US-amerikanischeRegierung. Für deren politische Praxiswurde darauf hingewiesen, dass global-strategische Überlegungen eine Rolle spiel-ten, die älter seien als Bushs Präsident-schaft und persönliche Religiosität. ZurGewaltgeschichte des Christentums kamein tiefer gehender Dialog auch deshalbnicht zustande, weil der humanistischeGesprächspartner sein Profil nur erahnenließ. Schulz-Hageleit verstand es viel-mehr, mit diversen Einzelaspekten seinesVortrags den Widerspruch des Publikumshervorzurufen.Monotheistische Religionen sind anfälligfür Gewalt, weil sie von fehlbaren Men-schen gelebt werden. Jede einzelne be-sitzt ein spezifisches Gewaltpotential, dasmit ihrer besonderen Geschichte zusam-menhängt. Es geht also vornehmlich dar-um, die eigene Gewaltgeschichte zu er-kennen und aufzuarbeiten. Diese Aufgabeist allen Religionen unabhängig von ihrerinhaltlichen Orientierung gestellt. Einigesind hierbei fortgeschritten, andere stehennoch am Anfang. Die selbstkritische Aus-einandersetzung schafft eine Basis, um in-tegrierend zu wirken und zukünftige Ge-sellschaften mitzugestalten. Jede Religionsteht somit vor Herausforderungen, die ihrGründer nicht kannte und muss sich imLicht ihrer Tradition beständig erneuern.

Martin Eichhorn

73MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 73

Page 36: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

ESOTERIK

Auftrag ausgeführt... Die Ereignisse vom11. September 2001 riefen nicht nurweltweite Bestürzung hervor, sie inspirier-ten manche auch zu bizarren Deutungen(vgl. MD 11/2001, 373ff). Auch das uner-wartete Seebeben in Südostasien vomDezember 2004 mit seinen verheerendenFolgen wurde bereits religiös interpretiert.Nahe liegend war die Deutung der Flut-welle als ein apokalyptisches Zeichenoder als Warnung an die Menschheit. Auf der Homepage einer „Bewusstseins-schule der Neuen Zeit“ (www.kryon-schule.com) konnte man auf solch christ-lich tradierte Bilder verzichten und kamzu ganz anderen Schlüssen: Das See-beben sei kein geophysikalisches Phäno-men gewesen, sondern der Beginn einer„Reinigung“. Diese Gewissheit zieht manaus einer Channeling-Botschaft eines„Melek Metatron“, der zu einer ganzenReihe von Wesenheiten gehört, die aufdem Wege des Channeling Botschaftenvon „Kryon“ übermitteln (vgl. auch MD12/2002, 361ff). In einer Botschaft vom29. Dezember 2004 gibt diese Wesenheitder Menschheit also zu wissen, „MutterErde“ habe sich in dem als Seebebenwahrgenommenen Ereignis „von altenund negativen Gedankenmustern, die dieMenschen in tausenden von Inkarnatio-nen auf Lady Gaia abgeladen haben, be-freien“ müssen. Mehr noch: Die Seelender Opfer seien in diese Vorgänge einge-weiht gewesen und hätten die Flutwellebejaht. „Stelle dir vor, wenn du die Bilderdes Schreckens siehst, dass diese Seelenzugestimmt haben, zu gehen (...).“Manche Seelen hätten sich überhaupt nurzu diesem Zweck inkarniert und hättensomit „einen großen Auftrag“ erfüllt. Diese Naturkatastrophe war aber nur derAnfang. Mindestens zwei weitere, gewal-tige Ereignisse sind noch zu erwarten.

Genauere Angaben dazu werden aller-dings nicht gemacht. Es wird nur gewarnt:„Versucht auf keinen Fall, das Kommendeabzuhalten. Lasst zu, dass der planetareAufstieg vorangeht.“ Vorerst jedoch wer-den alle „Lichtarbeiter“ aufgerufen: „Stellteuch zur Verfügung (...). Schickt MutterErde Erdung und sendet liebevolle Ge-danken zu ihr“. Liebevolle Gedanken täten auch den Be-troffenen gut. Die dahingerafften Opfer zu„Eingeweihten“ zu stilisieren, die ihremTod zustimmten, ist eine höchst frag-würdige Ehre und kann als solche wohlnur denen erscheinen, die derart krudeTheorien brauchen, um sich aus der allzubitteren Realität in einen „planetaren Auf-stieg“ hinweg zu phantasieren.

Andreas Fincke

NEOHINDUISMUS

Auch die „Zukunftsstadt“ Auroville vonFlutkatastrophe betroffen. Auch dasStadtprojekt Auroville ist von der ver-heerenden Flutkatastrophe betroffen, dieam 26. Dezember neben anderen süd-asiatischen Regionen die ostindische Küsteheimgesucht hat.Auroville wurde 1968 als eine Art„Zukunftsstadt“ von Mira Alfassa, der„Mutter“ genannten spirituellen Gefährtindes Philosophen, Politikers und Gurus SriAurobindo (1872-1950), gegründet. „Zieldes Projektes ist es, durch das gleich-berechtigte Zusammenleben von Men-schen aller Nationen ein urbanes Modellmenschlicher Einheit und gelebter Völker-verständigung zu schaffen. (…) Diese in-nere Haltung der Aurovillianer führtebisher – in verschiedenen Entwicklungs-graden – zur Verwirklichung interkultu-reller, architektonischer, ökologischer,technologischer und sozialer Alternativen.Ihre Ausstrahlung geht über das unmittel-

74 MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 74

Page 37: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

bare Projektgebiet und die nähere Regionweit hinaus und reicht heute auch in an-dere Teile Indiens und der Welt“, so der1982 gegründete Förderverein AUROVILLEINTERNATIONAL (AVI) DEUTSCHLANDe.V.Von den Bewohnern und Besuchern Au-rovilles wurde zwar anscheinend nie-mand verletzt oder getötet, doch wurdendie strandnahen Siedlungsteile der Stadtweitgehend zerstört. Zudem sahen sichdie Bewohner Aurovilles mit zahlreichenFlüchtlingen aus benachbarten Dörfernkonfrontiert, für die ein Auffanglager er-richtet werden musste. Es wird geschätzt,dass in der näheren Umgebung rund 7000Menschen obdachlos wurden. Die Freunde und Gönner Aurovilles wurdenzu großzügigen Spenden aufgerufen.Keine Schäden entstanden dagegen an-scheinend am Ashram Sri Aurobindos imZentrum der benachbarten Stadt Pon-dicherry.

Christian Ruch, Zürich

ANTHROPOSOPHIE

Demeter-Produkte weniger gefragt. (Letz-ter Bericht: 10/2004, 393f; 1/2005, 33ff,36f) Nach einem Bericht der Zeitschriftinfo3 (12/2004, 42-44) befindet sich derbiologisch-dynamische Landbau in derKrise. Bei Demeter-Produkten seien „Stag-nation und Rückgang zu beobachten“.2002 konnte nur ein einziger Betrieb hin-zugewonnen werden. Im darauffolgendenJahr (2003) verlor der Demeter-Bund so-gar neun Betriebe und hat innerhalb derökologisch wirtschaftenden Betriebe nurnoch einen Marktanteil von 8,1 Prozentinne und musste damit im Vergleich zumVorjahr eine Einbuße von 0,4 Prozent hin-nehmen. Ingo Hagel vom Institut für Bio-logisch-Dynamische Forschung (Darm-stadt) bezeichnet diese Entwicklung als

alarmierend und führt den Negativtrendauf die Konkurrenzsituation am Ökomarktzurück, wo der biologisch-dynamischeLandbau seine noch bis in die 1970erJahre andauernde marktbeherrschendeStellung verloren hat. Die entscheidendeUrsache für die rückläufige Nachfragenach Demeter-Produkten sieht der Autor –ganz in anthroposophischen Kategoriendenkend – in der vorherrschenden „mate-rialistischen Weltauffassung“, wogegendie „biologisch-dynamische Wirtschafts-weise (...) sich aber nicht auf materialis-tisch-naturwissenschaftlichem Weg ver-stehen oder beweisen“ lasse. So fordertHagel denn auch: „Statt auf den verständ-nislosen Verbraucher zu sehen, der einemdie Produkte nicht mehr abnimmt, sollteman sich im Demeter-Verband fragen, in-wiefern man es versäumt hat, nach innenund in der Vermittlung nach außen eintragfähiges Fundament für das Ideelledieser spirituellen Landwirtschaftsme-thode zu schaffen, und man sich so selbstden Boden für die eigene Existenz entzo-gen hat.“ (43) Der biologisch-dynamische Landbau gehtauf die Impulse Rudolf Steiners (1861-1925) zurück, der 1924 in acht Vorträgen„Geisteswissenschaftliche Grundlagen zumGedeihen der Landwirtschaft“ auf demGut Koberwitz bei Breslau entwickelthatte. Er ist damit ganz eng auf dieweltanschaulichen Grundlagen der An-throposophie bezogen, die Steiner auchals „Geisteswissenschaft“ bezeichnethatte. Demeter-Bauern betrachten ihrenHof als „lebendigen, einzigartigen Organis-mus“ (www.demeter.de). „Sie haben nichtallein die konkreten materiellen Sub-stanzen, die physischen Kräfte der Natur,im Blick, sondern auch die gestaltendenKräfte des Kosmos. Sensible Natur-beobachtungen schulen und beeinflussendie tägliche Arbeit.“

Matthias Pöhlmann

75MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 75

Page 38: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

ISLAM

Lebenslagen von Migrantinnen. ImDezember wurde im Bundesfamilien-ministerium die Studie „Viele Weltenleben“ vorgestellt (http://www.bmfsfj.de/Kategorien/Forschungsnetz/ forschungsbe-richte,did=22566.html). Zweieinhalb Jahrewurden die Lebensbedingungen von 955jungen Migrantinnen zwischen 15 und 21Jahren untersucht, die aus der Türkei,Griechenland und Italien stammen. AuchAussiedlerkinder wurden in die Unter-suchung mit einbezogen. Die erste Studiedieser Art stellte die Bedeutung der Fami-lie und Freundschaften, Bildung und Ge-schlechtsrollenverständnis sowie die Reli-giosität in den Mittelpunkt. Ein wichtigesErgebnis ist die hohe Zufriedenheit, dievon den Befragten hinsichtlich ihrer Le-benssituation ausgedrückt wurde. Die Religion ist für alle Befragten bedeut-sam, vor allem aber für die Musliminnen.Über die Hälfte bezeichnet sich als starkoder sehr stark religiös. Vor allem dasSelbstvertrauen sei wichtig, das ihnen derGlaube gebe. Allerdings betont die Studiedie Notwendigkeit, Musliminnen differen-ziert zu betrachten: Demnach unterschei-den sie sich im Hinblick auf die Stärkeihrer religiösen Orientierung sowohl nachnationalem Hintergrund (bosnisch odertürkisch) als auch – innerhalb der Mäd-chen mit türkischem Hintergrund –danach, ob sie Alevitinnen oder Sunnitin-nen sind und bei Letzteren, ob sie einKopftuch tragen oder nicht. Nur zwölfProzent der Musliminnen türkischer Her-kunft tragen ein Kopftuch. Sie sind über-wiegend stark religiös und fühlen sichdurch den Islam – anders als viele Frauenohne Kopftuch – nicht diskriminiert. Die Migrationsforscherin Boos-Nünning,die vom Ministerium mit dieser Studiebeauftragt worden war, beklagte, dass diefalschen Frauen derzeit im Mittelpunkt

der Medien stünden. Zwar gebe es auchMigrantinnen, die sich unterdrückt fühl-ten. Sie seien jedoch nicht in der Mehr-heit. Die Befragten legten Wert auf ihreTradition und Sprache, die sie auch anihre Kinder weitergeben wollen, haltenaber auch gutes Deutsch für zwingendgeboten. Nach der Studie wachsen Migrantinnenweniger in ihren ethnischen Milieus heranals vielmehr in Zuwanderermilieus, dievon unterschiedlichen Ethnien geprägtsind. Diese Vielfalt kann auch als einLernfeld für interkulturelles Verstehenangesehen werden.

Michael Utsch

Mark Juergensmeyer, Terror im NamenGottes. Ein Blick hinter die Kulissen desgewalttätigen Fundamentalismus, aus demAmerikanischen von Franziska Mosthaf,Herder Verlag, Freiburg i. Br. 2004, 384Seiten, 26,90 €.

Mark Juergensmeyer bemüht sich in seinemBuch um Verständnis für Terroristen undderen Aktionen. Dieses Verstehen bedeutetnicht, Untaten zu entschuldigen oder zurechtfertigen, sondern zeigt, warum mancheKonflikte sich hartnäckig allen Lösungsver-suchen widersetzen. Ohne Kenntnis der re-ligiösen Hintergründe ist es oft nicht mög-lich, angemessen zu reagieren.Durch Interviews und mit persönlicherKenntnis von Tätern beschreibt der Autordas Szenario des Terrors und den Hinter-grund, vor dem er geschieht. Dabeibeschränkt er sich nicht auf eine Religion,sondern beschreibt christliche, jüdische,sikhistische, islamistische Terroristen, dievon Shoko Asahara initiierten Anschlägeebenso wie die Ermordung von „Abtrei-

76 MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

BÜCHER

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 76

Page 39: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

bungsärzten“. Juergensmeyer möchte diereligiösen Beweggründe der Taten dar-stellen. Er koppelt die Taten nicht von derReligion der Täter ab, als seien der „wahreIslam“ oder das „wahre Christentum“ freivon Gewalt und terroristische Aktionenausschließlich deren Missbrauch. Er ver-sucht vielmehr zu begreifen, welche ag-gressiven Faktoren die Religionen enthal-ten, aus denen terroristische Täter undGruppen kommen. Gemeinsam ist sol-chen Gruppierungen, dass ihre Mitgliederals Hüter der Tradition auftreten und sichauf die Wurzeln ihres jeweiligen Glaubensberufen. Religion, von den säkularenStaaten in die Privatsphäre gedrängt, wirdhier wieder „entprivatisiert“ und ins Zen-trum gerückt. Deutlich wird die Ambi-valenz von Religion: sie vermag höchsteBlüten der Menschlichkeit hervorzubrin-gen, ebenso aber auch Taten sinnloser Bar-barei und Blutvergießen. Gewalt wird inder Regel zwar nur von Randgruppen be-fürwortet, die in ihrer Glaubensgemein-schaft Einfluss gewinnen wollen, aber mitihren terroristischen Aktionen katapultie-ren sich diese Randgruppen ins Zentrum.Und auch indem sie sich die sozialen An-liegen ihrer Umgebung zu eigen machenund z.B. soziale Einrichtungen schaffen,entkommen sie der Marginalisierung. DieReligion wird in jedem Fall zur Rechtferti-gung eigenen Handelns benutzt.Es zeigt sich, dass die Struktur eines Terror-anschlags und seine Triebfedern Parallelenhaben, gleichgültig, aus welcher religiö-sen Tradition der Täterkreis stammt. Juer-gensmeyer erinnert daran, dass Terror „Zit-tern“ heißt, man soll vor den Tätern zittern.Zittern sollen nicht nur die unmittelbar be-troffenen Menschen, sondern auch dieZeugen – die vor Ort ebenso wie die anden Bildschirmen. Das Fernsehen ist eineideale Bühne, denn es erweitert das Publi-kum ins Unermessliche. Terrorismus ohne„schockierte Zeugen“ wäre wie ein „Thea-

ter ohne Zuschauer“. Der Schockeffekt istkalkuliert. Den eigenen Anhängern wirdmit einem Anschlag gezeigt, dass man inder Lage ist, weltweite Wirkungen zu insze-nieren. Gewaltakte dienen also auch derStärkung der eigenen Bewegung und ver-hindern ihr Auseinanderbrechen. Um eine Inszenierung geht es nach Juer-gensmeyer allemal. Er sieht im Ablaufeines Anschlags geradezu den Vollzug einesRituals, dessen einzelne Schritte nachvoll-ziehbar sind. Sowohl das Ziel des Anschlagshat symbolische Bedeutung als auch derZeitpunkt, an dem er geschieht, selbst wenndie Bedeutung des Zeitpunkts nur den An-hängern bekannt ist. Die Ziele sollen denLebensnerv der modernen Gesellschafttreffen, z.B. Flughäfen oder Bahnhöfe, tou-ristische Zentren als „Orte der Sünde“,Symbole einer „tyrannischen Regierung“wie das World Trade Center, also Ziele, diesich als satanisch ausmachen lassen. Dasskein Staat in der Lage ist, seine Bürger anöffentlichen Orten vollständig zu schützen,wird als Erfolg der Religion gewertet. Viele Terroristen betrachten sich als Men-schen, die friedliebend sind und Gewaltablehnen. Ihre Gewalttaten verstehen sieals Antwort auf einen bereits vorhandenenKriegszustand, sie sehen sich nicht als An-greifer, sondern als Opfer feindlicher Re-gierungen (gleich, ob der eigenen oderfremder) und sündiger Zustände, als edleVerteidiger des Glaubens und der Moral.Diese „edlen Krieger“ kämpfen gegen„Unmoral“, d.h. gegen Frauenemanzipa-tion, Zölibat und Homosexualität, denndieses sind für sie Zeichen einer aus denFugen geratenen Welt. Die Krieger wollendie gerechte Ordnung wiederherstellen.Frauen kommt dabei die Rolle zu, z.B.„gute Muslime zu gebären“, d.h. Gottes-krieger, oder Hilfsdienste zu erledigen wieden Transport von Munition, oder dieMänner mit eigenen Taten anzustacheln.Frauen in nicht-religiös definierten Orga-

77MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 77

Page 40: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

nisationen haben eine andere Rolle.Dieses wird unter dem Gesichtspunkt Reli-gion und Sexualität dargestellt. Der Kampf, der auf der Welt tobt, ist derKampf von Licht und Finsternis, von Gottund Teufel, er hat kosmische Dimensionenund wird endzeitlich verstanden. Dies istein Grund, weshalb sich bisher kaum poli-tische Lösungen haben erreichen lassen.Die Regierungen gelten als fest in derHand Satans. Einerseits wird immerwieder die „Verschwörung von Juden undFreimaurern“ als „Drahtzieher“ hinter denRegierungen und in der Wirtschaft ausge-macht, andererseits gilt die Rache Gottesden „Nicht-Juden“, die immer wieder imLaufe der Geschichte das Volk der Judenerniedrigt haben. Ziel ist eine Nation, diedem religiösen Gesetz folgt. Religionsfrei-heit wird hier als die Freiheit verstanden,nach einem religiösen Recht zu leben. Um das Ziel der Gruppe erreichen zu kön-nen, werden die Gegner dämonisiert. Siewerden als Untermenschen bezeichnet,Unschuldige auf der „andern Seite“ gibt esnicht. Das wird deutlich am Palästina-Kon-flikt. Die Gegner sind das Werkzeug desSatans. Ihre Entmenschlichung machtGräueltaten erst möglich. Juergensmeyer sagt nicht immer Neues,einiges ist längst dargestellt. Sein Verdienstbesteht in der Zusammenschau dessen,was sonst als getrennt und zusammen-hanglos erscheint. Verdienstvoll ist auch,die religiösen Hintergründe und Kompo-nenten zu betonen. So wirft dieses Buchauch noch einmal ein Licht auf die jeweilseigene Religion, und man macht es sichsicherlich zu einfach, wenn man sich vondieser Art ihres „Gebrauchs“ vorschnelldistanziert statt darüber nachzudenken,wohin eine bestimmte Richtung der Ausle-gung und eine übermäßige Identifizierungmit dem, was man als Willen Gottes odersein Gebot betrachtet, führen kann, näm-lich zu „mörderischen Identitäten“ (Maa-

louf). Dennoch kommt Juergensmeyer zudem Ergebnis: „Seltsamerweise scheintdas Mittel gegen religiöse Gewalt letztlichnur eine neuerliche Wertschätzung der Re-ligion selbst zu sein.“

Gabriele Lademann-Priemer, Hamburg

Dipl.-Ing. Gerd Aldinger, Architekt, Arbeits-schwerpunkt magisch-religiöse Vorstellungenim Kontext Architektur, Darmstadt.

Prof. Dr. theol. Ulrich Dehn, geb. 1954, Pfarrer,Religionswissenschaftler, EZW-Referent fürnichtchristliche Religionen.

Martin Eichhorn, geb. 1974, Dipl.-Theologe,z.Zt. in Vertretung im Referat „AußerchristlicheReligionen“ der EZW tätig, promoviert im FachReligions- und Missionswissenschaft an derHumboldt-Universität zu Berlin.

Prof. Dr. rer. nat. Günter Ewald, geb. 1929, Ma-thematiker, em. Professor für Mathematik an derRuhr-Universität Bochum.

Dr. theol. Andreas Fincke, geb. 1959, Pfarrer,EZW-Referent für christliche Sondergemein-schaften.

Dr. theol. Gabriele Lademann-Priemer, geb.1945, Pastorin, Beauftragte für Weltanschau-ungsfragen der Nordelbischen Ev.-Luth. Kirche,Hamburg.

Lutz Lemhöfer, geb. 1948, kath. Theologe undPolitologe, Referent für Weltanschauungsfragenim Bistum Limburg.

Dr. theol. Matthias Pöhlmann, geb. 1963, Pfar-rer, EZW-Referent für Esoterik, Okkultismus,Spiritismus.

Dr. phil. Christian Ruch, geb. 1968, Historiker,Mitglied der Ökumenischen Arbeitsgruppe„Neue religiöse Bewegungen“, Zürich.

Dr. phil. Michael Utsch, geb. 1960, Psychologeund Psychotherapeut, EZW-Referent für religiöseAspekte der Psychoszene, weltanschaulicheStrömungen in Naturwissenschaft und Technik.

78 MATERIALDIENST DER EZW 2/2005

AUTOREN

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 78

Page 41: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

Konzentrierte Informationen

www.gtvh.de

m 14,95 [D] / m 15,40 [A] / SFr 27,30[3-579-06409-6]

Aktuell und praxisnah präsentiertdieses Lexikon die gesamte Band-breite der Sekten, neureligiösenBewegungen und Weltanschauun-gen. Es hilft Klarheit zu gewinnen:mit konzentrierten Informationenin ca. 300 Stichwörtern zur jewei-ligen Geschichte, wichtigen Per-sönlichkeiten, Glaubenslehre undPraxis. Für Schule, Studium, Erwachse-nenbildung und für alle, die beruf-lich mit dem Thema konfrontiertwerden.

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 79

Page 42: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

Herausgegeben von der Evangelischen Zentralstellefür Weltanschauungsfragen (EZW), einer Einrichtungder Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD),im EKD Verlag Hannover.

Anschrift: Auguststraße 80, 10117 Berlin Telefon (0 30) 2 83 95-2 11, Fax (0 30) 2 83 95-2 12Internet: www.ezw-berlin.deE-Mail: [email protected]

Redaktion: Andreas Fincke, Carmen Schäfer. E-Mail: [email protected]

Für den Inhalt der abgedruckten Artikel tragen die jeweiligen Autoren die Verantwortung. Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Herausge-ber wieder.

Verlag: EKD Verlag, Herrenhäuser Straße 12,30419 Hannover, Telefon (0511) 2796-0,EKK, Konto 660000, BLZ 25060701.

Anzeigen und Werbebeilagen: AnzeigengemeinschaftSüd, Augustenstraße 124, 70197 Stuttgart,Postfach 100253, 70002 Stuttgart, Telefon (0711) 60100-66, Telefax (07 11) 60100-76. Verantwortl. für den Anzeigenteil: Wolfgang Schmoll. Es gilt die Preisliste Nr.19 vom 1.1.2005.

Bezugspreis: jährlich € 30,– einschl. Zustellgebühr.Erscheint monatlich. Einzelnummer € 2,50 zuzügl.Bearbeitungsgebühr für Einzelversand. Abbestellungensind nur mit einer Frist von 6 Wochen zum Jahresendemöglich. – Alle Rechte vorbehalten.

Bei Abonnementwunsch, Adressenänderungen, Abbe-stellungen wenden Sie sich bitte an die EZW.

Druck: Maisch & Queck, Gerlingen/Stuttgart.

IMPRESSUM

inhalt02.qxd 17.01.05 07:13 Seite 80

Page 43: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen
Page 44: 68. Jahrgang ISSN 0721-2402 H 54226 05 2 Die Ära … this pageschaft, Bezug auf das Schriftgut zu neh-men. Buddhisten aller Variationen leben mitunter sehr stark mit den legendari-schen

MAT

ERIA

LDIEN

ST Zeitschrift fürReligions- undWeltanschauungsfragen

68. Jahrgang 2/05

ISSN

072

1-24

02 H

542

26

Das Spezifische der „Buchreligionen“

Warum nicht Feng Shui?

„Was gut und böse ist“Über Religion im Kriminalroman

Die Ära der Quantencomputer und ihre Folgen für das Naturverständnis

Demeter-Produkte weniger gefragt

Evangelische Zentralstellefür Weltanschauungsfragen

EZW, Auguststraße 80, 10117 BerlinPVSt, DP AG, Entgelt bezahlt, H 54226

umschlag02.qxd 17.01.05 07:09 Seite 1