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POINTIERT Die Leiden der neuen Kremler P utins Russland – diese Wortverbindung wurde gebräuchlich in den letz- ten vier Monaten vor der Präsidentschaftswahl. Die Pro- teste in ihrem Vorfeld haben ge- zeigt, dass in Russland ein Mi- lieu politisch aktiver Menschen entstanden ist, die man wohl erstmals auch „Bürger“ nennen kann – oder „Kremler“, weil die Burg, von dem Bürger ableitet, im altrussischen Kreml heißt und weil sie in Moskau protes- tierten, wo der Kreml steht. Auf dem Land gibt es hingegen wenige Kremler. Und es steht ihnen einiges bevor. Die Ent- wicklung einer Streitkultur bei- spielsweise: Noch beschuldigen sich Opposition wie Staatsmacht gegenseitig, anstatt scharf zu diskutieren. Nicht die Zukunft dominiert ihre Agenda, sondern die Vergangenheit: Zu stark sind die Erinnerungen der älteren Generation, gemeint sind alle über 35, an die Misere der 1990er- Jahre. Es überrascht nicht, dass sie Wladimir Putin an die Füh- rungsspitze wählten. „Es soll nur nicht schlimmer werden“, war bei den Wahlen das Leitmotiv vieler Russen. Die Wortverbin- dung Putins Russland ist daher unstimmig: Vielmehr ist es Russ- lands Putin, der das Land die kommenden sechs Jahre regie- ren will – eine lange Zeit für eine Gesellschaft, die erwacht ist. Alexej Knelz CHEFREDAKTEUR Auch zwanzig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion haben nur wenige Russen Geschmack an Börsengeschäften gefunden: We- niger als ein Prozent der Bevöl- kerung investiert in Aktien oder Aktienfonds. Schuld daran hatte auch die Wirtschaftskrise 2008. Nichtsdestoweniger gelang es über kurzfristige Spekulationen vielen aufsteigenden Jungbörsianern, ihr Startkapital um ein Vielfaches zu vermehren. „Wir Männer haben Ehre und Ge- wissen versoffen / das russische Weib Natalja Wassiljewna hat alles erzählt, sie lässt uns hoffen.“ Mit Versen wie diesem sind die Ma- cher des Fernsehformats „Bürger Poet“ Kult geworden: Provokativ und witzig verreimen sie das aktuelle Geschehen von Putins Rückkehr bis zum Untergang der Costa Concordia. Inzwischen tou- ren sie von Stadt zu Stadt – aber nach nur einem Jahr hat die Ge- schichte sie eingeholt. SEITEN 2, 3 UND 10 SEITE 4 SEITE 11 Es ist zwei Uhr Nachts, als der Fernsehjournalist Tichon Dsjad- ko auf Facebook ein Bild des Blog- gers Alexej Nawalny veröffent- licht und dazu schreibt: „Das ist mein Kandidat.“ Es waren diese drei Elemente, die den Wahlkampf in den letzten Mo- naten angeheizt haben: Journa- listen wie Dsjadko – er arbeitet beim unabhängigen Fernsehsen- der Doschd – organisierten Demos, wurden auf ihnen festgenommen und berichteten darüber. Soziale Netzwerke wie Facebook waren die Plattformen der Protestler. Und Nawalny, der 35 Jahre junge Anwalt, Blogger und Antikorrup- tionskämpfer, hat mit seinen Ini- tiativen viele Russen inspiriert, für die „Politik“ zuvor als Unwort des Jahrzehnts galt. Doch „Facebook/kritische Jour- nalisten/Nawalny“, das war auch eine Parallelwelt: Dies ist in der Nacht von Sonntag auf Montag vielen auf schmerzhafte Weise klar geworden. Mit fast 64 Pro- zent hat Wladimir Putin die Prä- sidentschaftswahlen gewonnen. Putin hat den Fehdehandschuh aufgenommen, den ihm die erwa- chende Mittelschicht im Dezem- ber hinwarf. Er hat jene großen Schichten der Gesellschaft mobi- lisiert, die politisch wenig inter- essiert sind, aber die ohne zu zögern für „Stabilität“ stimmen. Diesen Menschen haben Kandi- daten wie der Oligarch Michail Prochorow Angst gemacht. Ob es Wladimir Putin in seiner dritten Amtszeit schwerer haben wird, hängt auch davon ab, ob die vielen politisch erwachten Men- schen ihren Enthusiasmus der letzten Monate in demokratische Bahnen lenken können: ob in Par- teien, Bezirksräten, gesellschaft- lichen Initiativen oder als Wahl- beobachter. Max Katz (S. 2) hat es am Sonntag vorgemacht. Aufsteigende Börsianer Mutbürgerliche Poeten Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond The Headlines, Moskau, verantwortlich. www.russland-heute.de Ein Projekt von RUSSIA BEYOND THE HEADLINES Wie Goethe Russen die Deutschen näherbringt. SEITE 3 Vernetzt Ob Russland wirklich ein IT-Genie nach dem anderen gebiert – und warum der Intelligenz-Fluss bald versiegen dürfte. SEITE 10 Aufgeklärt Jurij Kosyrjew zeigt Krieg wie kaum ein anderer. SEITE 12 Prämiert Mittwoch, 7. März 2012 Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: Texterkennungssoftware Abbyy Finereader oder das populäre iPhone-Spiel „Cut the Rope“ – made in Russia? Das steht nicht drauf, ist aber so. Zwar gibt es zuhauf talentierte Programmierer, aber kaum Vermarktungsstrategen. Ab- hilfe schaffen soll das Innovationsstädtchen Skolkowo. SEITEN 6 UND 7 WIRTSCHAFT SEITE 5 REISEN SEITE 9 GESELLSCHAFT SEITE 8 Innovation E-Reader statt Schulbücher Kinder Heißbegehrte Plätze im Hort Pjatigorsk Heiße Quellen im Kaukasus INHALT ITAR-TASS KIRILL LAGUTKO IT-BRANCHE SILICON VALLEY STEHT DRAUF, SKOLKOWO IST DRIN An der Machtvertikalen DAS THEMA Putin (hier im Sommer 2011) steht in den Augen vieler Russen für Stabilität. Damit hat er die Wahlen gewonnen. LORI/LEGION MEDIA ITAR-TASS ILIA WARLAMOW

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POINTIERT

Die Leiden der neuen Kremler

Putins Russland – diese Wortverbindung wurde gebräuchlich in den letz-ten vier Monaten vor der

Präsidentschaftswahl. Die Pro-teste in ihrem Vorfeld haben ge-zeigt, dass in Russland ein Mi-lieu politisch aktiver Menschen entstanden ist, die man wohl erstmals auch „Bürger“ nennen kann – oder „Kremler“, weil die Burg, von dem Bürger ableitet, im altrussischen Kreml heißt und weil sie in Moskau protes-tierten, wo der Kreml steht.Auf dem Land gibt es hingegen wenige Kremler. Und es steht ihnen einiges bevor. Die Ent-wicklung einer Streitkultur bei-spielsweise: Noch beschuldigen sich Opposition wie Staatsmacht gegenseitig, anstatt scharf zu diskutieren. Nicht die Zukunft dominiert ihre Agenda, sondern die Vergangenheit: Zu stark sind die Erinnerungen der älteren Generation, gemeint sind alle über 35, an die Misere der 1990er-Jahre. Es überrascht nicht, dass sie Wladimir Putin an die Füh-rungsspitze wählten. „Es soll nur nicht schlimmer werden“, war bei den Wahlen das Leitmotiv vieler Russen. Die Wortverbin-dung Putins Russland ist daher unstimmig: Vielmehr ist es Russ-lands Putin, der das Land die kommenden sechs Jahre regie-ren will – eine lange Zeit für eine Gesellschaft, die erwacht ist.

Alexej Knelz

CHEFREDAKTEUR

Auch zwanzig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion haben nur wenige Russen Geschmack an Börsengeschäften gefunden: We-niger als ein Prozent der Bevöl-kerung investiert in Aktien oder Aktienfonds. Schuld daran hatte auch die Wirtschaftskrise 2008. Nichtsdestoweniger gelang es über kurzfristige Spekulationen vielen aufsteigenden Jungbörsianern, ihr Startkapital um ein Vielfaches zu vermehren.

„Wir Männer haben Ehre und Ge-wissen versoffen / das russische Weib Natalja Wassiljewna hat alles erzählt, sie lässt uns hoffen.“ Mit Versen wie diesem sind die Ma-cher des Fernsehformats „Bürger Poet“ Kult geworden: Provokativ und witzig verreimen sie das aktuelle Geschehen von Putins Rückkehr bis zum Untergang der Costa Concordia. Inzwischen tou-ren sie von Stadt zu Stadt – aber nach nur einem Jahr hat die Ge-schichte sie eingeholt.

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SEITE 4 SEITE 11

Es ist zwei Uhr Nachts, als der Fernsehjournalist Tichon Dsjad-ko auf Facebook ein Bild des Blog-gers Alexej Nawalny veröffent-licht und dazu schreibt: „Das ist mein Kandidat.“Es waren diese drei Elemente, die den Wahlkampf in den letzten Mo-naten angeheizt haben: Journa-listen wie Dsjadko – er arbeitet beim unabhängigen Fernsehsen-der Doschd – organisierten Demos, wurden auf ihnen festgenommen und berichteten darüber. Soziale Netzwerke wie Facebook waren die Plattformen der Protestler. Und Nawalny, der 35 Jahre junge Anwalt, Blogger und Antikorrup-tionskämpfer, hat mit seinen Ini-tiativen viele Russen inspiriert, für die „Politik“ zuvor als Unwort des Jahrzehnts galt.Doch „Facebook/kritische Jour-nalisten/Nawalny“, das war auch eine Parallelwelt: Dies ist in der Nacht von Sonntag auf Montag vielen auf schmerzhafte Weise klar geworden. Mit fast 64 Pro-zent hat Wladimir Putin die Prä-sidentschaftswahlen gewonnen.Putin hat den Fehdehandschuh aufgenommen, den ihm die erwa-chende Mittelschicht im Dezem-ber hinwarf. Er hat jene großen Schichten der Gesellschaft mobi-lisiert, die politisch wenig inter-essiert sind, aber die ohne zu zögern für „Stabilität“ stimmen. Diesen Menschen haben Kandi-daten wie der Oligarch Michail Prochorow Angst gemacht. Ob es Wladimir Putin in seiner dritten Amtszeit schwerer haben wird, hängt auch davon ab, ob die vielen politisch erwachten Men-schen ihren Enthusiasmus der letzten Monate in demokratische Bahnen lenken können: ob in Par-teien, Bezirksräten, gesellschaft-lichen Initiativen oder als Wahl-beobachter. Max Katz (S. 2) hat es am Sonntag vorgemacht.

Aufsteigende Börsianer

MutbürgerlichePoeten

Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond The Headlines, Moskau, verantwortlich.

www.russland-heute.deEin Projekt vonRUSSIA BEYONDTHE HEADLINES

Wie Goethe Russen die Deutschen näherbringt.

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VernetztOb Russland wirklich ein IT-Genie nach dem anderen gebiert – und warum der Intelligenz-Fluss bald versiegen dürfte.

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AufgeklärtJurij Kosyrjew zeigt Krieg wie kaum ein anderer.

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Prämiert

Mittwoch, 7. März 2012 Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in:

Texterkennungssoftware Abbyy Finereader oder das populäre iPhone-Spiel „Cut the Rope“ – made in Russia? Das steht nicht drauf, ist aber so. Zwar gibt es zuhauf talentierte Programmierer, aber kaum Vermarktungsstrategen. Ab-hilfe schaffen soll das Innovationsstädtchen Skolkowo. SEITEN 6 UND 7

WIRTSCHAFT SEITE 5

REISEN SEITE 9

GESELLSCHAFT SEITE 8

Innovation E-Reader statt Schulbücher

Kinder Heißbegehrte Plätze im Hort

Pjatigorsk Heiße Quellen im Kaukasus

INHALT

ITAR

-TASS K

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IT-BRANCHESILICON VALLEY STEHT DRAUF,SKOLKOWO IST DRIN

An der Machtvertikalen

DAS THEMA

Putin (hier im Sommer 2011) steht in den Augen vieler Russen für Stabilität. Damit hat er die Wahlen gewonnen.

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eine Beilage des rossijskaja gaseta Verlags, MoskauPolitik

wahlen Statt gegen Putin zu kämpfen, versucht ein 27-Jähriger, in den Bezirksrat seines Stadtteils zu gelangen

Moritz gathMannruSSland heute

am Montag nach den wahlen herrscht bei vielen russen, die auf wandel gehofft hatten, katerstimmung. nicht bei Max katz: der 27-jährige feiert seinen sieg.

Als alles klar ist gegen acht Uhr am Montagmorgen, torkelt ein todmüder und glücklicher Max Katz, Kandidat bei den Bezirks-wahlen im Moskauer Stadtteil Schukino, aus der Bezirkswahl-kommission, twittert „Ich bin zu 90 Prozent sicher, dass ich es ge-schafft hab“, fährt mit dem Lift in den zehnten Stock eines neuen Wohnhauses im Nordosten der Stadt und legt sich ins Bett. Die meisten seiner Freunde schla-fen schon längst und haben den Sonntagabend eher als Albtraum erlebt: Als ein Moderator im staat-lichen Fernsehen nach 18 Uhr die ersten Hochrechnungen vorträgt, wird zur Sicherheit, was viele ahn-ten, aber nicht wahrhaben woll-ten. 64 Prozent für Wladimir Putin. Bis 2018 wird er als Präsi-dent ihre Geschicke lenken.Mehr als 24 Stunden zuvor: Es ist noch dunkel, als Katz den ersten Schritt auf seinem Marsch durch die Institutionen tut. „Mein Name ist Max Katz, ich bin 27 Jahre alt. Am 4. März werden die Wahlen in den Bezirksrat von Schukino stattfinden. Das ist ein völlig sinn-loses Organ, es verfügt über kei-nerlei Vollmachten“, hatte er auf seinem Flugblatt geschrieben. „Alle rieten mir, dass ich so wie die Übrigen Versprechungen ma-chen soll: Dass ich korrupte Be-amte bestrafen, die Kosten für Gas und Wasser senken werde. Aber ich wollte ehrlich sein“, sagt Katz, während er seinen schwarzen Opel durch die vollgeparkten Hinter-höfe des Stadtteils Tuschino lenkt. Rund um die neuen Hochgeschos-

ser stehen sehr viele Autos: Der Stadtteil gilt als wohlhabend, Mit-telschicht, viele junge Leute. Das Auftreten des 27-Jährigen er-innert an Joschka Fischer in Turn-schuhen im deutschen Bundestag vor drei Jahrzehnten: Jeans, blau-er Pullover mit Norwegermuster, Kapuzenjacke. Katz hat sein Geld vor allem mit Pokern im Internet verdient, er ist russischer Poker-meister und auch international ein gefürchteter Spieler.

ein russischer joschkaDer Kontrast zu den üblichen Po-litikern, aber auch den Vorsitzen-den in den Wahllokalen, könnte größer nicht sein. Hier die Wahl-kommission, ältere Schuldirek-torinnen in Kostümen und mit Steckfrisuren, die Männer in grauen Anzügen und ernsten Mie-nen, die sich mit Vor- und Vater-name anreden: „Galina Wikto-rowna“ sagen sie und „Pawel Michajlowitsch“. Und dort die 25-Jährigen in Jeans und Turn-schuhen, die auf den Sofas vor Gummibäumen und staubigen

rosa Vorhängen sitzen und ihre Beobachtungen auf Twitter und Facebook posten. Die meisten von ihnen sind zum ersten Mal Wahlbeobachter.

der wandel von untenAllerdings glaubt schon am Nach-mittag kaum einer daran, dass Putin in die zweite Wahlrunde muss. Nicht nach einem Wahl-kampf, in dem er jeden Tag stun-denlang über den Bildschirm flim-merte und in dem mit Wladimir Jawlinskij der einzige wirkliche Oppositionskandidat aus dem Rennen geworfen wurde. Deshalb kandidiert Katz auch für den Be-zirksrat: Es ist der Anfang eines Wandels von ganz unten.Es war irgendwann nach den ers-ten Demonstrationen im Dezember, als Katz einen Aufruf der opposi-tionellen Jabloko-Partei zu den Bezirksratswahlen las. „Eigentlich wollte ich erst mit 35 in irgendei-ner kleineren russischen Stadt Bür-germeister werden und dann meine städtebaulichen Pläne ausprobie-ren“, erzählt Katz. Er gehöre ja gar

nicht zu den „frustrierten Städtern“, als welche die Protestler von den Medien gerne identifiziert werden. „Ich bin eigentlich ganz zufrieden“, sagt er. In ganz Russland registriert die Wahlbeobachterorganisation Golos am Sonntag Verletzungen des Wahlrechts: Über 2500 sind es am Ende, besonders oft soge-nannte „Karussells“: Wähler wer-den mit Bussen von Wahllokal zu Wahllokal gekarrt und stimmen gleich mehrfach ab, in einigen Fäl-len für Geld, wie ein Video im Internet beweist. Die russische Zentrale Wahlkommission, deren Leiter Wladimir Tschurow seit Jahren die Wahlsiege von Putin und Einiges Russland absegnet, beschwichtigt allerdings: Bisher seien gut 500 offizielle Beschwer-den bei ihnen eingegangen, die natürlich genau überprüft wür-den. Üblicherweise, so auch nach den Duma-Wahlen, wird der Groß-teil der Beschwerden am Ende zurückgewiesen.An den Metrostationen rund um den Roten Platz stehen am frü-

hen Abend Hunderte Menschen, in den Durchgängen, auf der Stra-ße. Etwa die Hälfte sind junge Stu-denten, der Rest ältere, ärmlich gekleidete Russen. „Wir spazie-ren hier nur“, antwortet eine Rus-sin und wendet sich ab, aber die meisten reden offen darüber, dass sie als bezahlte Statisten einge-laden sind: „Für irgendein Kon-zert zahlt man uns 400 Rubel“, sagt ein junger Student, der mit zwei Freundinnen da ist. Die einen bekommen 400, andere 300 Rubel, also sieben bis zehn Euro. Ange-meldet haben sie sich über die Seite stud.ru, auf der Studenten-jobs aller Art angeboten werden. „Alle, die sich bei Andrej ange-meldet haben, kommen mit mir mit“, ruft ein junger Mann mit kurz geschorenen Haaren. Dut-zende Menschen drängen sich hin-ter ihm die Treppe hinauf. Wer er ist? „Ein Brigadier“, bäfft er zu-rück. Mehr ist aus ihm nicht herauszubekommen. Inzwischen ist es dunkel gewor-den in Schukino, um sechs Uhr haben die Wahllokale geschlos-sen, die Wahl ist aus, und Max Katz ist ins Wahllokal 2997 zu-rückgekehrt. „Hier wollen die irgendein Ding drehen“, vermu-tet er, es gab schon am Morgen Probleme. Denn neben den sechs unabhängigen Wahlbeobachtern, allesamt ziemlich milchgesichti-ge junge Russen, stehen nun sechs bullige Typen in schwarzen Anzügen, die sich als Beobachter ausgeben aber eher an Türsteher erinnern. Irgendwann fangen sie an, Katz zu filmen, einer zeigt ihm den Stinkefinger. Katz bleibt ruhig. Es bleibt nicht die letzte Provokation: Der Wahlleiter und sein Stellvertreter schreien bei jeder Gelegenheit hysterisch, ir-gendwann gelingt es ihnen, das

einzige unabhängige Mitglied der Wahlkommission auszuschließen. Die Männer in den schwarzen An-zügen versuchen, Katz und seine Beobachter mit allen Mitteln zu provozieren. Die Wahlbeobachter reagieren damit, eine Beschwer-de nach der anderen zu schreiben. Am Ende verlassen die Männer in Schwarz das Wahllokal und fahren in einer Maybach-Limou-sine davon. „Es könnte sein, dass wir sie an Wahlfälschungen gehindert haben“, sagt Katz. Gegen zwei Uhr nachts sind die Stimmen zur Präsidentschafts-wahl gezählt: 52 Prozent für Putin in diesem Wahllokal. „Das kann ich nicht glauben“, flüstert eine junge Wahlbeobachterin, den Trä-nen nah. Den Tränen nah steht Wladimir Putin an diesem Abend auf dem Manegenplatz vor dem Kreml: „Wir haben gesiegt“, erklärt er von der Bühne herab und bedankt sich bei Zehntausenden, die vor ihm „Putin, Putin“ skandieren. Und es sind darunter Hunderte, die zehn Euro kosten. Und Max Katz? Hat’s geschafft: Von den insgesamt 16 Kandida-ten bekommt er am Ende die dritt-meisten Stimmen und zieht als eines von fünf Mitgliedern in den Bezirksrat ein. Der erste Schritt ist getan.

transparenz im internet: in 40 Prozent aller wahllokale wur-den webcams installiert.

im wahllokal 2997 in schukino herrscht in der nacht Belagerungszustand: am ende setzen sich Max katz (l.) und seine wahlbeobachter gegen die „Männer in schwarz“ (r.) durch. katz zieht in den Bezirksrat ein.

junge wahlbeobachter – Max katz geht in die Politik

das auftreten des 27-Jährigen erinnert an Joschka Fischer in turnschuhen im deutschen Bundestag.

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3Russland Heute www.russland-heute.de

eine Beilage des rossijskaja gaseta Verlags, Moskau Politik

heidi Behafür russland heute

Ähnlich wie in Moskau und sankt Petersburg fehlt es in der Provinz der opposition an Charisma. Markieren die Präsidentschaftswahlen ein ende ihrer Proteste?

„Psst! Ruhe! Seien Sie doch leise, ich verstehe ja gar nichts!“, raunt eine ältere Dame zwei Frauen zu, die sich hinter ihr lautstark un-terhalten. Auf der Bühne im Zen-trum Woroneschs, einer Fastmil-lionenstadt 500 Kilometer südlich von Moskau, wird gesprochen. „Wir wollen freie und faire Wah-len. Es muss endlich Schluss sein mit den Fälschungen“, fordert der junge Redner. Er ist so aufgeregt, wie es nur ein Schüler bei seinem ersten Referat sein kann. Das Stocken und Stottern verun-sichert den nicht sehr großen Zu-hörerkreis. Ermutigend rufen ihm einige zu: „Keine Angst, sprich weiter, du hast völlig recht.“ Das war am 10. Dezember, auf der ers-ten Demonstration nach den Du-ma-Wahlen, doch auch noch am 4. Februar stockt und stottert es. „Ich schäme mich ein wenig, wenn ich einige Redner auf der Bühne sehe und ihnen zuhöre“, sagt eine Demonstrantin.

das system verändern„Ich will die Protestbewegung un-terstützen, aber mir fällt es schwer, mich mit den Organisatoren zu identifizieren.“Die Organisatoren treffen sich wö-chentlich, um zu planen, wann und wo demonstriert wird, ob man

im juni beginnt in russland das deutschlandjahr und in deutsch-land das russlandjahr. was ist alles zu erwarten? Alle Teile der deutschen Gesell-schaft werden sich vorstellen: Kul-tur, Bildung, Wirtschaft, Politik. Eine Ausstellung zum Thema „1000 Jahre Deutsche und Rus-sen“ eröffnet das Jahr. Das Thema des Jahres lautet zwar „Deutsche und Russen – gemeinsam die Zu-kunft gestalten“, aber wir blicken erst einmal auf die Grundlage un-seres Zusammenlebens. Es wird viel im Bereich Musik geben, aber auch etliche Präsentationen der Wirtschaft. In der zweiten Hälfte 2012 stehen Moskau und Sankt Petersburg im Mittelpunkt des Geschehens, in der ersten Hälfte 2013 die

Tee ausschenkt, ob eine Band spielt und welche Größe die Info-Flyer haben sollen. Auch die Red-nerlisten werden abgesprochen. Die Ortsbeschreibungen für die Treffen klingen nach Versteck-spiel: „In der Kolzowskaja Stra-ße hinter dem Markt bei einer Ga-rage, vor der ein Schrank steht.“ Für ein Büro fehlt das Geld. Auch die Flyer und den Tee, den die Ver-antwortlichen bei den Demons-trationen ausschenken, bezahlen sie selbst. Manchmal bekommen sie ein paar Rubel von den Zuhö-

wollen das system verändern – wenigstens in woronesch: aleksander Boldyrjew, wjatscheslaw sawalin.

winterliche Protestszenen aus der ProvinzZivilgesellschaft seit dezember protestieren auch im südrussischen Woronesch Putin-Gegner für freie Wahlen

rern. „Hier ist niemand wegen Ei-genwerbung, sondern weil wir das System in unserem Land verän-dern wollen“, sagt Aleksander Bol-dyrjew über seine Motivation. Das System? „Die Wahlen, die Kor-ruption, die Parteienlandschaft und die politische Kultur.“Boldyrjew hätten viele Worone-scher gerne als Anführer der Pro-teste. Der 43-Jährige ist schon lange politisch aktiv – für die Op-positionsbewegung Solidarnost erledigt er die journalistische Auf-arbeitung. Manchmal leitet er die

Sitzungen, ein andermal setzt er sich auch ans Ende des Tisches. Wenn er spricht, steht er immer auf, das macht sonst keiner. Eine Hand stützt er auf den Tisch, die andere gestikuliert auf Brusthö-he. Bewegt spricht er über das Schicksal seines Landes. Bei der Planung und auch bei den De-monstrationen hält er sich jedoch im Hintergrund. Ganz anders Wjatscheslaw Sawa-lin. Einen Tag nach der Duma-Wahl hat er seinen 18. Geburts-tag gefeiert, er studiert PR und

Design. Der 180 Zentimeter große, hagere Aktivist sitzt, die Ellen-bogen aufgestützt, am Kopfende des Tisches. Die Rolle als Sit-zungsleiter gefällt ihm. Als ob er sein Leben lang nichts anderes getan hätte, ruft er mit einem Ni-cken die Sprecher auf, Unruhe schnürt er ab, indem er in die Hände klatscht. „Ruhe, Genos-sen!“, ermahnt er jene, die alle ein gutes Stück älter sind als er.

nach der PräsidentschaftswahlSawalin hofft, dass die Proteste erst der Anfang sind, dass die Menschen aufgerüttelt und poli-tisch und gesellschaftlich aktiver werden. Die Behörden von Woronesch sehen das anders. Bisher haben sie alle Demonstrationen der Op-position problemlos genehmigt. Weiteren Kundgebungen nach der Präsidentschaftswahl stehen sie jedoch mit Skepsis gegenüber. An die Adresse der Organisatoren hieß es, dann sei alles entschie-den, man brauche nicht mehr auf die Straße zu gehen.Noch haben es ohnehin nur we-nige Menschen in der Fastmilli-onenstadt zu den Kundgebungen geschafft. Am 4. Februar waren es ganze 200. Wie es nach dem 4. März sein wird, können wohl auch die Woronescher Behörden nicht voraussehen.

Heidi Beha ist Lektorin der Bosch Stiftung in Woronesch.

interView Johannes ebert

Thema des Jahres: Gemeinsam die Zukunft gestalten

Regionen mit Schwerpunkt No- wosibirsk, Jekaterinburg, Wolgo-grad, Nischnij Nowgorod und Kaliningrad.

warum der titel „gemeinsam die Zukunft gestalten“? Es gibt Themen, die beide Länder am besten gemeinsam bewältigen können. Etwa Energie, aber auch gesellschaftliche Themen. Wie geht es weiter mit den Finanzen, dem Bildungssystem, der Kultur-förderung? Viele Fragen diskutiert man in beiden Ländern.

haben deutsche und russen denn eine gemeinsame Zukunft?Russland und Deutschland wer- den auch in Zukunft vernetzt sein und aufeinander angewiesen. Die „Modernisierungspartnerschaft“ formuliert, dass wir ein enges, partnerschaftliches Verhältnis eingehen. Und nicht nur in wirt-schaftlicher Hinsicht. Da sind auch ganz viele persönliche Kon-takte: junge russische Künstler, die für einige Zeit nach Berlin kommen, und deutsche Künstler, die aus Russland neue Impulse

mitbringen. Viele Russen haben Verwandte in Deutschland. Es gibt natürlich Dinge in Russland, die in Deutschland kritisch gesehen werden, oft zurecht. Solche Dinge werden von den Medien aufgegrif-fen, sie werden entsprechend stark wahrgenommen. Das führt dazu, dass Russland ein schlechteres Image in Deutschland hat als umgekehrt.

welche rolle kann das russland-jahr in deutschland da spielen?Damit bringt die russische Seite ihr Image im Rahmen der Mög-lichkeiten voran. Die Kollegen haben ein sehr erfolgreiches Russ-landjahr in Frankreich gemacht, und ich bin mir sicher, dass sie ihre Erfahrungen auch in Deutsch-land einbringen können. Ich bin übrigens davon überzeugt, dass es für beide Länder nützlich ist, die Sprache des anderen zu sprechen. Ich fände es sehr sinnvoll, wenn mehr Deutsche Russisch lernen, und möchte auch, dass meine Kin-der weiterhin am Russischunter-richt teilnehmen.

Ländern, sondern zwischen den Individuen der Länder herzustel-len. Wir haben Projekte initiiert, bei denen Deutsche und Russen wirklich zusammenarbeiten, zum Beispiel das zweisprachige Portal für Austausch und jungen Jour-nalismus www.to4ka-treff.de. Eine gelungene Initiative war auch „Interdance“, ein zweijähriges Projekt für modernen Tanz mit Teilnehmern aus ganz Europa, die in Russland zusammengearbeitet und dann bei einem Festival ihre Choreographien vorgestellt haben. Das Goethe-Institut hat sich stär-ker als zuvor zeitgenössischen Fragen gewidmet. Es gab die Vor-lesungsreihe „Gegenwart der Zukunft“, bei der es um Zukunfts-fragen ging, die unsere Gesell-schaften betreffen, „Investigati-ver Journalismus“ etwa oder die „Stadt der Zukunft“. 2009 eröff-neten wir dann ein weiteres Ins-titut in Sibirien, in Nowosibirsk, das war ein ehrgeiziges Projekt. Zudem haben wir mit der Robert Bosch Stiftung ein neues Pro-gramm gestartet, in dessen Rah-men junge deutsche Kulturmana-ger an Orte geschickt werden, wo der kulturelle Austausch mit Deutschland bislang noch nicht sehr ausgeprägt war. 2010 haben wir die Sprachinitiative „Lern Deutsch“ geschaffen, ergänzt durch die Tour „Deutsch unter-wegs“: Drei junge deutsch-russi-sche Teams fuhren mit dem Zug durchs Land und warben im öf-fentlichen Raum und an Schulen für die deutsche Sprache.

anastassia gorokhoVarussland heute

Fünf jahre leitete johannes ebert das Moskauer goethe-institut. Mit russland heute sprach er über 1000 jahre ge-meinsamer geschichte und das beginnende deutschlandjahr.

Johannes Ebert, geboren 1963 in Ulm, studierte Politik und Islamwissen-schaft. Seit 1991 ist er für das Goethe- Institut tätig, er war Leiter in Riga, Kiew und Kairo, seit 2007 in Moskau. Am 1. März trat er seine Stelle als Ge-neralsekretär des Goethe-Instituts in der Münchener Zentrale an.

BiograFie

BeruF: generalsekretär des goethe-instituts

alter: 48

das spezial zum themarussland-heute.de/wahlen

Fünf jahre lang haben sie das goethe-institut in Moskau gelei-tet. welche Projekte haben sie auf den weg gebracht?Die Aufgabe des Instituts ist es, nicht nur Kontakte zwischen den

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eine Beilage des rossijskaja gaseta Verlags, Moskauwirtschaft

wladiMir ruwinskirussland heute

anfang der 1990er entdeckten die russen den aktienmarkt. Zwei jahrzehnte danach gibt es jedoch weniger als ein Prozent börsenaktiver kleinanleger – aus gutem grund.

Das Jahr 2011 war für den russi-schen Otto Normalaktionär kein gutes: Der Börsenindex fiel um 19 Prozent, unterm Strich bilanzier-te lediglich ein Fünftel der Invest-mentfonds einen Gewinn. Gleich-zeitig aber nahm die Zahl der Pri-vatanleger, die selbstständig auf dem Fondsmarkt handeln, zum Jahresende 2011 zu: nach Anga-ben der fusionierten MICEX-RTS-Börsen um 9,3 Prozent. In absoluten Zahlen gibt es aber nur 780 000 russische Anleger, we-niger als ein Prozent der Bevöl-kerung. Zum Vergleich: In der Bundesrepublik sind es laut dem Deutschen Aktieninstitut über acht Millionen, auf den Bevölke-rungsanteil hochgerechnet zehn-mal so viel wie in Russland. Ver-glichen mit anderen Ländern steht Russland noch schlechter da: So halten 25 Prozent der Amerika-ner und 27 Prozent aller Japaner Aktien, in Australien sind es 37 Prozent.

neues gelddenkenNur allmählich entwickeln Rus-sen den Geschmack am Börsen-roulette – obwohl bereits 1992 be-gründet, blieb der Börsenmarkt jahrzehntelang professionellen Brokern überlassen. Als einen der Hauptgründe nennt Denis Streb-kow, Dozent an der Staatlichen Hochschule für Ökonomie, das „Fehlen einer elementaren Fi-nanzkultur bei den Bürgern Russ-lands als einen der Bestandteile der marktwirtschaftlichen Kul-tur überhaupt“.

aktienmarkt seit 1998 wächst die Zahl der Minderheitsaktionäre, aber die Finanzkrise hat den Optimismus gedämpft

Börsianer, Bohrmeister, Babuschkas: Minderheitsaktionäre auf der jahresversammlung des russischen energieriesen gazprom

kursschwankungen statt dividenden russische aktienindizes nach PunktenZurzeit hat der russische Privatanleger zwei Möglichkeiten, am Aktienmarkt zu handeln: Entweder er vertraut sein Geld der Verwaltung eines kollektiven, offenen Investmentfonds an (wofür bereits ein paar tausend Rubel aus-reichen), oder er wird zum eigenen Schmied seines Glücks und eröffnet ein Konto bei einem Börsenhändler.Zusätzlich kann man sein Geld auch über eine Treuhand arbeiten lassen – diese ähneln einem offenen Invest-mentfonds, sind aber auf die individu-ellen Bedürfnisse des Anlegers zuge-schnitten. Man hat die Möglichkeit, Entscheidungen bezüglich der Anlage zu treffen, sowohl mithilfe eines per-sönlichen Managers als auch eines Analystenteams. Die „Eintrittskarte“ ist allerdings hoch: Sie beträgt einige Millionen Rubel.

Als die Fondsmanager und Broker- gesellschaften im letzten Jahrzehnt diese Goldader entdeckten, begann ein Kampf um Privatkunden. Die einen führten Lehrgänge für ihre Klienten durch, andere kreierten massenhaft Investmentprodukte, die für Menschen entwickelt wurden, die vom Fonds-markt keinerlei Ahnung hatten.Im Unterschied zu Aktienmärkten wie in Deutschland, auf denen Anle-ger ihre Wertpapiere in erster Linie wegen der Dividende kaufen, setzen die russischen Spekulanten mit ihren Investitionen im Wesentlichen darauf, Gewinne durch Kursschwankungen einzustreichen. Der größte Teil der russischen Aktiengesellschaften zahlt seine Dividenden nur in unregelmäßi-gen Abständen, ihre Höhe ist relativ unbedeutend.

galten in Branchen wie der Pet-rochemie, der Metallurgie und dem Bankenwesen als gering. Die-ser Trend wurde durch die Kri-senjahre 2008 und 2011, als die russischen Privatanleger bis zu 50 Prozent des Kapitals verloren, durchbrochen.Während der Krisen ließ der Run auf den Fondsmarkt nach. Die hohe Volatilität des russischen Marktes aufgrund seiner Abhän-gigkeit von den Rohstoffpreisen und europäischen und amerika-nischen Börsen machte die Pri-vatanleger vorsichtiger.Heute ist das Bild zwiespältig: Laut dem Börsenportal Invest-funds.ru überschritt im ersten Halbjahr 2011 das Nettovolumen der in offene Investmentfonds ak-quirierten Mittel 5,8 Milliarden Rubel – das Dreifache des Vor-jahreswerts. Doch im August lie-ßen die Fondsmärkte stark nach und entwerteten das über Jahre angehäufte Vermögen. MICEX-RTS gibt an, dass die Anzahl der Privatkunden zwar deutlich zu-genommen, deren Aktivität jedoch nachgelassen habe: 96 000 Russen führten 2011 mehr als einen ak-tiven Deal durch – gegenüber 104 000 im Vorjahr.

alternative zur Bank?Analysten sind sich einig, dass der russische Fondsmarkt für Privat-anleger die beste Alternative zum Sparkonto ist. Allerdings ist der Markt der offenen Investment-fonds in Russland noch recht klein. Der Leiter der Analyseabteilung der Bank Otkrytije, Wladimir Sawwow, gibt zu bedenken: „Der Gesamtwert der Nettoaktiva aller offenen Investmentfonds beträgt 0,5 Billionen Rubel (12,5 Milliar-den Euro), was im Vergleich zu den zehn Billionen auf den Bank-konten sehr wenig ist.“ Die Entwicklungsstrategie der Re-gierung für den Finanzmarkt Russlands bis 2020 sieht ein An-wachsen der Privatanleger auf 20 Millionen vor. Vor Kurzem hat je-doch der Rechnungshof dieses Vor-haben der Liste unrealisierbarer Projekte zugeordnet, weil die Ak-tivität der Anleger, einschließlich der Privatanleger, zu gering sei. „Wenn es zu keiner weiteren Wirt-schaftskrise kommt, werden wir, realistisch betrachtet, mit vier bis fünf Millionen rechnen können“, glaubt Wladislaw Kotschetkow, Präsident der Investmentgesell-schaft FINAM.

10,1 BillionenUS-Dollar betrug das Gesamthandels-volumen aller MICEX-RTS-Märkte 2011.

800 MilliardenUS-Dollar betrug 2011 die Gesamtkapi-talisierung aller gehandelten Aktien.

ZahlenIn den 90ern hätten die potenziel-len Anleger kein Vertrauen in die Finanzinstrumente gehabt und nicht verstanden, wie auf dem Ak-tienmarkt Gewinne generiert wer-den. Wertpapiere waren für sie ein Ersatz für Bankkonten.Das Bild änderte sich vor knapp zehn Jahren, als Privatanleger aktiv auf den russischen Fonds-markt drängten. Der Wohlstand nahm zu, die Bürger suchten neben Immobilien effizientere Wege zur Vermögensbildung. Zu diesem Zeitpunkt war die Kapi-talisierung der russischen Akti-enbörsen stabil gewachsen, Invest-ment- und Brokergesellschaften schossen plötzlich wie die Pilze aus dem Boden.Gleichzeitig änderte sich auch die mentale Einstellung der Gesell-schaft, für die zu Sowjetzeiten ein Hang zum Staatspaternalismus und die Unfähigkeit zur Selbst-

verwaltung typisch war. „Es bil-dete sich ein neuer bürgerlicher Persönlichkeitstypus heraus, für den Geld der Maßstab für Glück, Freiheit und Erfolg war“, erklärt Strebkow.

Mutige anleger nach der kriseEs entstand eine Bevölkerungs-schicht, die selbstständig an der Börse spekulierte – mit einem etwas ungewöhnlichen Ansatz. Während ein Deutscher über of-fene Investmentfonds Aktien zeichnet und erst mit der Erfah-rung mutiger wird, wagten die russischen Kleinanleger sich nach dem Finanzkollaps 1998 gleich an den selbstständigen Handel mit Wertpapieren. Es blieb ein über-schaubarer Kreis von Halbprofis, die dank Internetzugang ein gutes Taschengeld dazuverdienten. Ihr Ziel wurden die Futures auf die Aktienindizes der beiden Börsen

RTS und MICEX. Mithilfe kurz-fristiger Spekulationen über Bro-kersoftware vermehrten Privat-anleger ihr Startkapital um ein Vielfaches.Bis zur Krise im Jahr 2008 schüt-teten die Anteilfonds Gewinne aus, die Inflation und Sparzinsen um das bis zu Zehnfache über-trafen. Renditen von 30 Prozent

das auf und ab der russischen jungbörsianer

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5Russland Heute www.russland-heute.de

eine Beilage des rossijskaja gaseta Verlags, Moskau wirtschaftaktuell

Ende Februar hat MOJE Kera-mikimplantate in der sibirischen Stadt Tomsk eine Niederlassung eröffnet. Die mittelständische Firma aus dem thüringischen Pe-tersberg wird dort Implantate aus Zirkonkeramik für Zehen, Hand-, Fingergelenke und den Dentalbereich herstellen. Nur 20 Prozent der Produktion soll in Russland abgesetzt werden, der Rest geht vor allem nach China, Indien und in die USA. Die Investitionen betrugen zwei Millionen Euro, das Werk kann pro Jahr bis zu 8000 Implantate herstellen.

Oft ist man an Flughäfen müde – aber es fehlt ein passender Ort zum Schlafen. Das Moskauer Ar-chitekturbüro Arch Group hat deshalb die „Sleep Box“ entwi-ckelt und auf dem Scheremet-jewo-Flughafen aufgestellt. Das Modul bietet ein Bett, einen Fern-seher, Wi-Fi und Platz fürs Ge-päck. Im April soll nun im Zen-trum Moskaus ein Hotel eröff-nen, das ausschließlich mit Schlafboxen ausgestattet ist.

thüringische keramik in tomsk

ein nickerchenin der sleep Box

Deutsche Unternehmer, die in Russland tätig sind, glauben an eine positive Entwicklung der dortigen Wirtschaft. Nach einer Umfrage des Ostausschusses und der Deutsch-Russischen Aus-landshandelskammer gehen 71 Prozent der Befragten von einem Wirtschaftswachstum für das Jahr 2012 aus. 49 Prozent pla-nen 2012 Investitionen in Russ-land von über 880 Millionen Euro, 64 Prozent wollen ihr Per-sonal aufstocken. Unzufrieden sind die Unternehmen mit dem Verlauf der von Medwedjew an-gekündigten Modernisierung des Landes: Nur 41 Prozent haben hier im vergangenen Jahr Fort-schritte beobachtet. Die größten Herausforderungen sehen sie im Abbau der Bürokratie und im Kampf gegen Korruption, gefolgt von Zoll- und Visa-Fragen.

gute geschäfte in russland

wirtschafts- kalender

Messeinternationale tourisMusBörse Berlin7.-11. März, Berlin, Messe

Mehr als alle anderen zieht es seit Jahren die Deutschen nach Russland. Auf dem gesamtrussischen Stand von Rostourism können sich Interessierte darüber informieren, wie man auf Kamtschatka, im Altai oder in Burjati-en seinen Urlaub verbringen kann.

itb-berlin.de ›

gesprächskreisaktuelles zuM zoll in russland12. März, iHK Hannover

Die Zollabwicklung von Lieferungen nach Russland als auch in die weiteren Mitgliedsstaaten der Zollunion (Ka-sachstan, Belarus) bedarf einer sorg-fältigen Vorbereitung. Zudem trat Russland im Dezember in die WTO ein. Welche Auswirkungen hat dies?

hannover.ihk.de ›

konferenzeuropean inVestMent conference russia22.-23. März, Kaluga, MosKau

Die Region Kaluga, 200 Kilometer südlich von Moskau, ist besonders bei deutschen Investoren beliebt. So wer-den auf der Konferenz, die sich an ausländische Investoren richtet, auch vor allem deutsche Experten aus Wirt-schaft, Banken und Politik sprechen.

arrko.ru/en/events ›

BörsekarriereBörse russland17. april, MüncHen, agentur für arBeit

Hier erhalten junge russlandkompe-tente Nachwuchskräfte die Möglich-keit, mit Unternehmen, die in Russ-land und Deutschland aktiv sind, in di-rekten Kontakt zu treten. Die Börse richtet sich an Studenten, Absolven-ten und Arbeitnehmer mit ersten Berufserfahrungen.

deutsch-russisches-forum.de ›

lesen sie MeHr üBer die russiscHe WirtscHaft aufrussland-heute.de

alle Bücher in einem readerinnovation russische schüler steigen in den nächsten Jahren auf digitale schulbücher um

jelena schipilowafür russland Heute

auf dem freien Markt hinkte plastic logic lange firmen wie apple und amazon hinterher. jetzt soll der Que proreader seine Vorteile in russischen schulen unter Beweis stellen.

Mehr als zehn Jahre lang versuch-te die britische Firma Plastic Logic, ihre Technologien in bare Münze zu verwandeln, aber stets blieb sie einen Schritt hinter der Konkurrenz zurück: Zuletzt stell-te sie die Produktion ihres Que proReaders ein, weil das iBook von Apple und der Kindle von Amazon den Markt schon besetzt hatten. Es stand Ende 2010 nicht gut um Plastic Logic. Das Geld der In-vestoren (fast 350 Millionen Euro) war aufgebraucht, und der Que proReader mit seinem biegsamen Kunststoffdisplay war vorerst ge-scheitert. Als Retter trat im Ja-nuar 2011 die staatliche russische Innovationsagentur Rusnano auf, die fast die Hälfte der Aktien erwarb.

strapazierfähig für kinderDie Russen glaubten an den Er-folg der Kunststoffelektronik: Ihr wesentlicher Vorteil liegt darin, dass damit Reader mit stoßfesten Sensordisplays und einer Diago-nale von über zehn Zoll hergestellt werden können, während konven-tionelle Glasdisplays zerbrechlich und schwerer sind. Die Investitionen von Rusnano in das Stammkapital liegen bei 100 Millionen Euro, dazu kommen 35 Millionen in Form einer Kredit-garantie. Die Weiterentwicklung des Que Readers wurde vorläufig ausgesetzt. Ein Forscherteam soll-te bestimmen, wie und wo dessen Technologien angewandt werden konnten, damit die Wissenschaft-ler ihr Produkt erproben konnten und es sich wenigstens teilweise bezahlt machte.Eine abgewandelte Version des Que proReaders soll nun in rus-sischen Schulen beweisen, dass er mehr kann als ein iBook oder ein Kindle.Das Bildungsministerium mach-te allerdings technische Voraus-setzungen zur Bedingung, die weit unter den Anforderungen des Konsummarkts lagen. Der Schü-lerreader sollte vor allem strapa-zierfähig – und über einen ge-wöhnlichen Computer hinaus up-datefähig sein. Ferner durften keine eigenen Inhalte installier-bar sein.Kurzum: Der Plastic Logic 100 ist ein E-Bookreader mit Lesezei-chen- und Notizbuchfunktion. Das

Gerät ist etwa so groß wie ein DIN-A4-Blatt, nur vier Millime-ter dick und äußerst leicht. Be-dient wird es durch Berühren der Oberfläche mit dem Finger.

anwendung in der praxis„Die Kinder sind total begeistert! Sie mögen das Spielerische, die Möglichkeit, Bemerkungen direkt ins Buch hineinzuschreiben. Ich glaube, dass elektronische Lehr-bücher mit der Zeit die klassischen Papierschulbücher ablösen wer-den“, sagt Irina Rubzowa, Mathe-

matiklehrerin am Lyzeum Nr. 18 im Gebiet Kaliningrad. An ihrer Schule wird mit dem Plastic Logic 100 experimentiert, seit einem hal-ben Jahr sind ihre Sechstklässler auf Touchscreen umgestiegen.„Es kam schon vor, dass die Kin-der sich die Reader gegenseitig an den Kopf schlugen, sie fallen lie-ßen oder Wasser auf sie schütte-ten. Aber nur einmal stürzte ein Gerät ab und musste neu gestar-tet werden. Und es blieb kein De-fekt zurück“, sagt Rubzowa. Einen großen Vorteil des elektronischen

Buches sieht die Lehrerin auch darin, dass es mit seinen 475 Gramm das komplette Schul-buchsortiment von der ersten bis zur elften Klasse aufnehmen kann und sich die Schüler nicht mehr an ihren kiloschweren Schulran-zen abschleppen müssen. Nach den Plänen der Regierung sollen die russischen Schüler die E-Reader umsonst erhalten, finan-ziert wird das Programm vom Staat. Momentan befindet sich das Projekt in der Testphase. Sollte sich der E-Reader als tauglich er-weisen, wird der Großteil der rus-sischen Schulen innerhalb der

nächsten drei bis fünf Jahre damit ausgestattet.Momentan kostet der Reader rund 280 Euro, der Hersteller gewährt zwei Jahre Garantie, die Lebens-dauer sei theoretisch unbegrenzt. Dabei geht es mehr um die Mini-mierung gesundheitlicher Risiken bei Schülern als um die positiven Effekte für die Lernmittelfreiheit: In Russland kosten die Schulbü-cher erheblich weniger als in Eu-ropa. Für die europäischen Märk-te wäre das Gerät aber vor allem durch seinen relativ geringen Preis attraktiv. In Deutschland könnte es den Schulbuchmarkt wegen der hohen Druckkosten von Print- Medien aufrollen. Allerdings ist zu erwarten, dass die Verlage auch für die elektronische Ver- sion ihrer Bücher ihren Preis ver-langen werden.

hoffnung auf den durchbruchDurch die Teilnahme am Regie-rungsprogramm will Plastic Logic Mittel für die weitere Entwick-lung sammeln. Derzeit gibt es in Russland 13 Millionen Schüler. Würde jeder einzelne mit einem Reader ausgestattet werden, könn-te die Firma rund vier Milliarden Euro einnehmen – ein Siebenfa-ches dessen, was sie seit Unter-nehmensgründung verbuchen konnte. Ein leichtes Spiel wird es für die Briten dennoch nicht, denn par-allel zu ihnen erprobt die Kon-kurrenz ihre eigenen Reader in der Praxis: das PocketBook 902, Intel ClassMate und JetBook Color – das erste Tablet mit buntem E-Ink-Display.

Jelena Schipilowa schreibt für das Wirtschaftsmagazin RBC.

plastic logic im standort deutschland Die britische Firma Plastic Logic wur-de im Jahr 2000 an der Universität Cambridge gegründet. Heute verfügt sie auf dem Gebiet der Kunststoff-elektronik über viele einschlägige Technologien und Patente. OAK In-vestment Partners, Amadeus Capital Partners, BASF Venture Capital und andere investierten. 2008 errichtete die Plastic Logic ein Werk in Dresden, dessen Schicksal jedoch ungewiss ist:

In Deutschland werden nur die Bild-schirme für das elektronische Lese-gerät produziert, während sich die abschließende Montage in einem US-Labor vollzieht, was die Produkti-on verteuert. Zudem wurde nach dem Einstieg von Rusnano entschieden, ei-ne Fabrik im russischen Selenograd zu bauen. Da Plastic Logic Subventionen erhalten hat, sind die Arbeitsplätze in Dresden jedoch bis 2013 gesichert.

so groß wie ein din-a4-Blatt, vier Millimeter dick und 475 gramm leicht – die alternative zum schweren rucksack.

die nase im rechner: unterricht an der pilotschule in kaliningradpr

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6 www.russland-heute.de Russland Heute

eine Beilage des rossijskaja gaseta Verlags, Moskaudas thema

einen MoMent Bitte, ich yandex dir das Mal eBen

russische iT-innovaTionen machen unTer fremden

namen wie ParallelgraPhics oder qik karriere

it-Branche russlands

tino künzelfür russland heuTe

Fürs outsourcing taugen die russen nicht. im Vergleich zu indern sind sie teurer – und zu schöpferisch. deshalb brauchen ihre guten ideen meist jemanden, der sie umsetzt.

So manche technische Innovati-onen, die das Leben erleichtern, fangen damit an, dass sich ihre Erfinder selbst das Leben erleich-tern. Nikolai Abkairow ist da ein gutes Beispiel: Der Programmie-rer aus dem Moskauer Vorort Selenograd war irgendwann ge-nervt von den Staus auf seinem Arbeitsweg in die russische Haupt-stadt. Andere hätten daraufhin vielleicht den Zug genommen, Ab-kairow beschloss, von zu Hause aus zu arbeiten. Und tat sich zu-sammen mit Ramu Sunkara und Bhaskar Roy, zwei Amerikanern indischer Abstammung, die gera-de ihren Ausstieg beim US-Soft-waregiganten Oracle planten. Anfang 2007, nach neun Monaten Entwicklungsdauer, war der Pro-totyp von Qik fertig, einem Pro-gramm, das die Funktionalität von Mobiltelefonen erhöht. Es er-laubt Handybesitzern, selbst ge-machte Videos unkompliziert ins Internet hochzuladen und Freun-den zugänglich zu machen. Die Anwendung – inzwischen auch für Videotelefonie und -chats ge-eignet – nutzen heute mehr als zehn Millionen Menschen auf der ganzen Welt. Das gleichnamige Startup legte eine Blitzkarriere

hin: Im Januar 2011 wurde die Firma für 121 Millionen US-Dol-lar von Skype gekauft.Heute beschäftigt Qik in Seleno-grad 50 Programmierer. Die Absolventen der Nationalen For-schungsuniversität für Elektro-nische Technologie (MIET), die sich in dem Städtchen befindet und an der auch Nikolai Abkai-row einst studierte, haben einen attraktiven Arbeitgeber direkt vor der Nase.Die gute Nachricht an dieser Er-folgsgeschichte ist aus Sicht von Russlands IT-Branche, dass auf dem Weltmarkt auch mitmischen kann, wer nicht in den Westen geht. Das mag keine ganz neue Erkenntnis sein, doch es kann nichts schaden, wenn sie ab und an aufgefrischt wird, wo doch die

Zahl der russischen Hightech-Stars relativ überschaubar ist und deshalb auch andere Schlüsse zulässt. Was ebenso ins Bild passt, ist die Kehrseite: Bei Qik handelt es sich nicht um ein russisches, sondern um ein amerikanisches Unterneh-men. Es hat seinen Hauptsitz im Silicon Valley. Dort kümmern sich zwei Dutzend Mitarbeiter um Ver-marktung und Verkauf. Ohne den

Geschäftssinn seiner Partner in Übersee hätte das gesamte Pro-jekt von Anfang an keine Chance gehabt, räumte der pressescheue Abkairow auf Zelenograd.ru in seinem einzigen Interview ein: „Ich wäre nie allein ins kalte Was-ser gesprungen, so mutig bin ich nicht.“

russische software auf der ceBit in hannoverDas lässt sich durchaus verallge-meinern: Russland steht bisher eher für begnadete Programmie-rer als für betriebswirtschaftli-che Ausnahmetalente. Hin und wieder kommt allerdings beides zusammen. So landete die Mos-kauer Softwareschmiede Abbyy mit ihrem Texterkennungspro-gramm FineReader und dem elek-tronischen Wörterbuch Lingvo jeweils Volltreffer. Auf der dies-jährigen CeBIT legt Abbyy den Schwerpunkt auf Businesslösun-gen sowie die mobile Dokumen-ten- und Datenerfassung. Das international erfolgreichste russische IT-Unternehmen ist der Virenschutzhersteller Kaspersky Lab. Sein Umsatz betrug im ver-gangenen Jahr 612 Millionen US-Dollar – ein Plus von 14 Prozent gegenüber 2010 und 57 Prozent gegenüber 2009. Auf das Ausland entfielen davon rund 80 Prozent.Von den 20 ertragsstärksten Fir-men der Branche produziert ein Großteil allerdings nichts selbst, sondern betreibt Systemintegra-tion, passt also Produkte anderer Hersteller an die Bedürfnisse

seiner Kunden an. Drei weitere Schwergewichte sind in ihrer Brei-tenwirkung hauptsächlich auf den russischsprachigen Raum be-schränkt: Die Suchmaschine Yan-dex, inzwischen mit zahlreichen weiteren Features aufgepeppt und seit Mai 2011 an der New Yorker Technologiebörse NASDAQ no-tiert, behauptet sich in Russland mit 60 Prozent Marktanteil gegen Google. Unter den sozialen Netz-werken ist Weltmarktführer Face- book mit deutlichem Abstand wei-terhin nur die Nummer drei hinter den russischen Networks Vk.com und Odnoklassniki.Der russische IT-Markt wächst, jedoch einstweilen auf niedrigem Niveau. Microsoft erzielt lediglich 1,5 Prozent seines Umsatzes in Russland. Umgekehrt gibt es, wie Jewgenij Kaspersky einmal sagte,

unter den sozialen netz-werken liegt facebook deutlich hinter den russischen Pendants vk.ru und odnoklassniki.

zahlen

it-Vordenker aus russland

14,6 Prozent Wachstum mit 15,2 Milliarden Euro erzielte der russische IT-Markt 2011. Haupttreiber sind die Software- entwicklung und Internetservices.

15,8 Prozent Wachstum werden für das Jahr 2012 prognostiziert. Für 2013 gibt das Minis-terium für Kommunikation 18,1 Prozent Wachstum an.

1 Milliarde Euro erzielte der russische IT-Export 2011 – gemessen am Weltmarkt eine niedrige Zahl. Rund 300 000 Russen sind in der IT-Branche beschäftigt.

alexander galizki

Max levchin

david yang

grigorischenkman alec Miloslavsky

andrey andreev

1993 verkaufte Galizki zehn Prozent seines IT-Unternehmens Elvis+ an den amerikanischen Computergiganten Sun Microsystems. Seitdem beschäf-tigt er sich mit Venture-Investments und legte mit Almaz Capital einen Fonds auf, der in Softwarestartups in-vestiert. Letzten Winter verkaufte Al-maz Capital 20 Prozent von Qik, einer Software für mobiles Video, an den VoIP-Anbieter Skype. Im Almaz-Portfolio sind ferner Minderheitsantei-le an Yandex und dem Softwareent-wickler Parallels gelistet.

almazcapital.com ›

1991 wanderte Levchins Familie von Kiew nach Chicago aus. Sieben Jahre später gründete er zusammen mit mehreren Geschäftspartnern Fieldlink, einen Online-Bezahldienst, der später in PayPal umbenannt und von eBay 2002 übernommen wurde. Daraufhin gründete Levchin Slide.com, ein On- line-Foto-Sharing, und die Social-Net-working-Plattform Yelp. 2005 produ-zierte er die Politsatire „Thank you for smoking“. 2010 verkaufte er Slide.com an Google, das den Dienst 2011 einstellte.

paypal.com; slide.com ›

David Yang wurde im armenischen Jerewan geboren, studierte aber am Moskauer Institut für Physik und Tech-nologie, das bisher sieben Nobelpreis-träger für Physik hervorbrachte. 1989 gründete Yang BitSoftware, die heute ABBYY heißt und mit dem FineReader (Texterkennung) und Lingvo (multilin-guale Wörterbücher) weltberühmt wurde. Kürzlich eröffnete er mehrere Restaurants in Moskau, in denen er seinen neuesten Streich in der Praxis testet – iiko, eine Software für intelli-gentes Gastronomiemanagement.

abbyy.de; en.iiko.ru ›

Die Geschäftspartner lernten sich in den USA kennen: Miloslavsky arbeite-te bei Pixar, Schenkman verkaufte Te-lefone. Mit Genesys spezialisierten sie sich auf Telekom-Software. 2000 wur-de die Company für 1,5 Milliarden US-Dollar von Alcatel aufgekauft. Ihre neue Firma Exigen Capital entwickelte EquaTrax, ein Programm zur Abrech-nung von Künstlertantiemen.

equatrax.com ›

Seit sechs Jahren wohnt der Gründer der größten Online-Partnerbörse Ba-doo in London. Der Startup-Spezialist stand hinter diversen Internetprojek-ten wie dem Webanalysedienst Spy-Log, der Online-Partnervermittlung Mamba oder auch BegUN – der Soft-ware für Kontextwerbung im Internet. Auf Badoo sind derzeit rund 130 Milli-onen Nutzer registriert. Der Wert des „Sex-Facebooks“, an dem Andreev rund 80 Prozent der Anteile hält, wird auf gegenwärtig eine Milliarde US-Dollar geschätzt.

badoo.com ›

alter: 37

wohnsitz: MoSKau

VerMögen: 74 MIo. EuRo

alter: 36

wohnsitz: San FRancISco

VerMögen: 75 MIo. EuRo

alter: 43

wohnsitz: MoSKau

VerMögen: 150 MIo. EuRo

alter: 49, 48

wohnsitz: San FRancISco

VerMögen: JE 260 MIo. EuRo

alter: 37

wohnsitz: london

VerMögen: 600 MIo. EuRo

reuTers/vosTock-PhoTo

quelle: forbes

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7RUSSLAND HEUTE WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE

EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU Das Thema

Eine Suchmaschine geht an die BörseArkadi Wolosch (2. v. r.), Gründer, Chef und Anteilhaber der größten russischen Suchmaschine Yandex, feiert den Börsengang in New York. Seit dem 24. Mai letzten Jahres ist der Google-Konkurrent aus Russland an der Technologiebörse Nasdaq ge-

Virenscanner made in Russia

Wird in Russland außer Beluga-Kaviar noch was anderes produziert? Ja, Software: So gibt es beispielsweise die IBS Group und Armada, zwei Marktführer im Bereich integrierte Systemlösungen und Business Solu-tions. Der Konsument dürfte auch zwei weitere Namen kennen: Einer der

Es rappelt im Karton: Dort hockt ein kleiner grüner Nimmersatt und lechzt nach Bonbons, die maßgerecht abgeseilt werden müssen, um in seinem Rachen zu verschwinden. Das ist das Spielprinzip von „Cut The Rope“, einem höchst unterhaltsamen Zeitvertreib, der auf den Spuren von „Angry Birds“ wandelt und mit mehr als 60 Millionen Downloads zu den derzeit meistver-kauften Apps für Smartphones gehört. Neuerdings läuft das Spiel in einer abgespeckten Gratisversion auch im Internetbrowser (www.cuttherope.ie). Entwickelt wurde es von ZeptoLab, einem in Moskau ansässigen Software-hersteller mit knapp 20 Beschäftigten.

SPIELICH MAG BONBONS – EINE APP GEHT UM DIE WELT

RUSSISCHE APPS

bekanntesten Virenscanner stammt aus den in Russland gegründeten Kaspersky Labs. Die Produkte von ABBYY, dem Moskauer Entwickler für Texterkennungs- und Sprachsoftware, nutzen über 30 Millionen Menschen und Branchengrößen wie Epson, HP, Lexmark und Siemens Nixdorf.

ruhe und Softwareentwickler befähige, mit komplexen Prob-lemstellungen fertig zu werden: „Schwierige Aufgaben, Analytik, große Datenmengen und Algo-rithmen – da sind wir absolut konkurrenzfähig. Darauf kann sich verlassen, wer mit Russen arbeitet.“

Apps aus RusslandGalizkij � ndet, dass sogar die Ge-genüberstellung von zwei Kult-spielen für Smartphones in die-sem Sinne ausfällt. Im Vergleich zum Bestseller „Angry Birds“ vom � nnischen Entwicklungsstu-dio Rovio Entertainment sei das ebenfalls äußerst populäre „Cut The Rope“ des Moskauer Zepto-Lab deutlich anspruchsvoller: „Das ist ein anderes intellektu-elles Niveau.“ Dieser intellektu-

elle Ehrgeiz steht den russischen Programmierern aber manchmal buchstäblich im Wege. Vor zehn Jahren hätten viele ge-glaubt, Russland könne beim Out-sourcing für westliche IT-Firmen das neue Indien werden, sagt Ge-orgij Patschikow, Chef von Par-allelGraphics, einem Moskauer Anbieter von 3D-Bedienungsan-leitungen. Aber dann stellte sich heraus, dass die Inder besser Eng-lisch sprechen und billiger sind. Das war jedoch noch nicht alles. „Unsere Programmierer schauen sich eine Software an und sagen: ‚Das kann ich besser.‘ Beim Out-sourcing muss man sich aber an die Vorgaben halten, da gehört auch die nötige Disziplin dazu.“Am fruchtbarsten sei die Zusam-menarbeit mit ausländischen Auf-traggebern, wenn es noch Raum für schöpferische Diskussion gebe, meint Alexander Wowkula, tech-nischer Direktor bei ParallelGra-phics: „Wenn der Kunde noch nicht weiß, was er genau will, dann wel-come to Russia!“ParallelGraphics macht seine Ge-schäfte vor allem mit dem Aus-land, etwa mit Boeing und Air-

bus. Im Inland sei das Interesse gering, so Patschikow. „Den gro-ßen Staatsbetrieben sind mögli-che Einsparpotenziale mit unse-rer Software die Mühe nicht wert. Das ist eben der Unterschied zwi-schen einer extensiven und einer intensiven Wirtschaft.“

300 IT-Firmen im ClusterViel verspricht sich das Unterneh-men von Skolkowo, dem Innova-tionsstädtchen vor den Toren Mos-kaus, das ab 2014 seinen Betrieb aufnehmen soll. Schon 300 Fir-men haben dafür den Zuschlag bekommen. Ende Februar nahm auch ParallelGraphics sein Teil-nehmerzerti� kat in Empfang. Ge-orgij Patschikow kann nur Posi-tives berichten: „Das Antragsver-fahren war komplett online. Korruption gibt es keine. Bisher ist alles so, wie man es sich nur wünschen kann.“Sollte Skolkowo die beabsichtig-te Wirkung erzielen und Kataly-sator für die Modernisierung von Russlands Wirtschaft werden, könnte davon langfristig auch das Image von russischer Soft- und Hardware pro� tieren. Bisher ist „Made in Russia“ noch kein Gütesiegel. Amerikanische IT-Firmen mit russischen Wurzeln wie Everno-te, ein Spezialist für Datenspei-cherung und -sortierung, meiden eine explizite Erwähnung ihrer Vorgeschichte, wo immer es geht. Ventureexperte Galizkij hält es für eine Frage der Zeit, dass sich die Einstellung ändert: „Heute tut man sich keinen Gefallen, wenn man Russland ins Spiel bringt. Aber auch Waren aus China gal-ten einst als minderwertig. Lang-sam ist das Vertrauen gewachsen. Dasselbe wird mit russischen Pro-dukten passieren.“

Tino Künzel ist Redakteur der Moskauer Deutschen Zeitung.

Am fruchtbarsten ist die Zusammenarbeit mit ausländischen Auftraggebern, wenn es noch Raum für Schöpferisches gibt: „Wenn der Kunde nicht weiß, was er will, dann welcome to Russia!“

im Lande „eine Menge quali� zier-ter Spezialisten, aber nur wenige erfolgreiche Unternehmen“. Immerhin richten mehr und mehr Unternehmensgründer ihre Start- ups gleich von vorneherein global aus. Alexander Galizkij, Mitbe-gründer und Geschäftsführer des russischen Venturefonds Almaz Capital, spricht von „Belebung“ auf diesem Gebiet. Der Fonds hat in den vergangenen drei Jahren jeweils zwischen fünf und sieben Millionen Dollar in insgesamt zehn Firmen investiert, unter an-derem mit Geldern der Europäi-schen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung sowie von Cisco Systems. Ventureveteran Galizkij sieht den Standortvorteil Russlands in der „starken Programmierschule“, die auf einer Topausbildung be-

Zu faul zum Abtippen? Dann einfach fotogra� eren. Die App erkennt Schriftstücke auf Fotos, speichert sie im Text-format und übersetzt in neun Sprachen. (iOS, Android)

Der Astronomie-Leitfaden ent-hält einen Sternenatlas und sagt in Echtzeit, welche Sterne gerade über dem Kopf des Users sind – und ob vielleicht die ISS vorbei� iegt. (iOS)

Der Sprachassistent und virtuelle Smartphone-Genosse führt die Sprachbefehle seines Besitzers aus oder speichert belanglose Kommentare. (iOS, Android, Windows Phone, Blackberry)

Russia Beyond The Headlines, das Mutterprojekt von Russland HEUTE, bietet eine App für das iPad, garniert mit Multimedia rund um Land und Leute. Ab Sommer auch auf Deutsch.

TextGrabber

Star Walk

Speaktoit Assistant

RBTH for iPad

listet (YNDX) – mit einem Börsen-wert von anfangs acht Milliarden US-Dollar. Derzeit liegt der Aktien-kurs bei 21,60 (Kaufempfehlung). Heute ist Yandex 500-mal so viel wert wie im Jahr 2000, als die ers-ten Privatinvestoren einstiegen.

ALAMY/LEGION MEDIA

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eine Beilage des rossijskaja gaseta Verlags, Moskaugesellschaft

sozialpolitik Wie es im heutigen Russland um die einst viel gelobte Kinderbetreuung steht

jelena nowikowaRussland heute

„wenn sie am tag der geburt ihres kindes einen Platz im kindergarten beantragen, sind sie viel zu spät dran“, lautet ein russischer witz, der die traurige realität widerspiegelt.

Der Mangel an Kindergärten ver-ursacht vielen russischen Fami-lien Kopfzerbrechen. Das geht so weit, dass manche junge Paare, die nicht auf die Hilfe ihrer El-tern und Familie rechnen können, ihrem Kinderwunsch nicht nach-kommen und ganz auf Kinder verzichten.„Meine erste Tochter ist vier Jahre alt, meine zweite zweieinhalb – und wir bekommen nicht einmal für die Große einen Kindergar-tenplatz“, erzählt die 29-jährige Moskauerin Jelena Ryschowa. „Ich kann nicht wieder arbeiten gehen, da wir niemanden haben, der sie betreuen könnte.“ In der Zwi-schenzeit habe ihr Arbeitgeber an-gedeutet, dass sie entlassen werde, wenn sie nicht in drei Monaten zurück sei. Unlängst hat sich Ministerpräsi-dent Wladimir Putin in einer Rede erneut mit dem Thema der Kin-dertagesbetreuung befasst. Er be-tonte, dass derzeit rund 1,9 Mil-lionen russische Kinder keinen Platz bekommen und deshalb auf Wartelisten stehen – ein trauri-ger Rekord, denn vor einigen Jah-ren lag diese Zahl noch bei 1,7 Millionen. In den letzten Jah-ren war eine leichte Steigerung der Geburtenrate zu verzeichnen, die auf finanzielle Anreize der Regierung, einschließlich des so-genannten Baby-Schecks (einem Zuschuss von 8000 Euro, den Müt-ter nach der Geburt des zweiten Kindes erhalten) zurückzuführen ist. Das russische Gesetz sieht einen Mutterschutz von drei Jahren vor. Allerdings bekommt die Frau nur

in den ersten anderthalb Jahren Elterngeld, und zwar, abhängig vom Gehalt, maximal 300 Euro monatlich. Viele Familien sind auf eine Arbeit beider Partner ange-wiesen. Das geringe Elterngeld kann da kaum einen Ausgleich schaffen. In Russland haben die öffentli-chen Kindertagesstätten große Kapazitäten. Den einzelnen Grup-pen stehen jeweils zwei Räume zur Verfügung: einen zum Spie-len, Lernen und Essen sowie einen Ruheraum, in dem jedes Kind sein eigenes Bettchen hat. In der Vor-halle gibt es Kleiderschränke und eine Bank, auf der sich die Kin-der umziehen können. Vorrang haben Sauberkeit und das Wohl-ergehen der Kinder. Wenn sie sich im Gebäude aufhalten, wechseln sie Schuhe und Kleider, um kei-nen Dreck hereinzutragen. In der

doch noch einen Platz zu ergat-tern: Bargeldspenden, Möbel oder Spielsachen kaufen, Fenster put-zen, Schaukeln streichen oder an-dere Renovierungsarbeiten bis hin zu einem persönlichen Geschenk für die Leiter der Einrichtung, die eine solche „Großzügigkeit“ nicht selten missbrauchen.Das Problem der fehlenden Kindergärten entstand in den 90er-Jahren, als fast ein Drittel der öffentlichen Kindertagesstät-ten geschlossen oder an Privat-unternehmen verkauft wurden,

die sie in Banken und Büros um-wandelten. Beschwerde einzule-gen ist aufgrund von Gesetzeslü-cken nahezu unmöglich. Noch schwieriger stellt sich die Unter-bringung der unter Zweijährigen dar. Zu sowjetischen Zeiten gab es überall im Land Krippen, die Kinder schon im Alter von unter einem Jahr annahmen.

geld statt kindergartenDie Krippen waren die Rettung für Eltern, die keinen großen Fa-milienverbund zur Seite hatten, der ihnen bei der Betreuung ihrer Kinder hätte helfen können.Durch die prekäre Situation alar-miert, haben die Behörden eini-ger Regionen wie Nowosibirsk, Perm oder Krasnojarsk nun be-schlossen, Eltern, die gezwungen sind, ihre Kinder zu Hause zu be-halten, finanziell zu unterstützen. Die Duma debattierte bereits über ein föderales Gesetz für diese Art finanzieller Hilfen. Allerdings wäre auch diese Neuregelung nichts als ein Tropfen auf den hei-ßen Stein, denn die vorgesehenen 100 bis 150 Euro monatlich reich-ten hinten und vorne nicht aus. Das Problem wäre also nicht ein-mal im Ansatz gelöst. Währenddessen träumen weiter-hin tausende Eltern von einem Kindergartenplatz und würden ihrem Kind durchaus zumuten, auch auf einer einfachen Matrat-ze statt im eigenen Bettchen zu schlafen – wenn es denn angenom-men würde.

wenn ich groß bin, darf ich in den kindergarten

natalja radulowaogonjoK magazin

neben den überfüllten staat-lichen einrichtungen entstehen private krippen mit Ökoerzie-hung und vegetarischen Menüs.

Fleischlos glücklich im Kinderhortquentiert, die ihren Kindern zu Mittag lieber keine Fleischklöße zumuten wollen. „Ein vegetarischer Kindergarten ist nicht gerade ein Profitunter-nehmen“, sagt Tina Trussowa, Lei-terin einer solchen Einrichtung in Moskau. „Es wäre einfacher, wenn ich mir um den Speiseplan kei-nen Kopf machen müsste. Aber ich spüre, dass es ein gutes Projekt ist. Von klein auf erfah-ren die Kinder, wie man sich ge-sund ernährt.“Noch vor einigen Jahren hat Tina in einem Moskauer Verlag gear-beitet, drei Kinder großgezogen und für ihre Familie Borschtsch und Schweinebraten gekocht. Heute ist sie strenge Vegetarierin. „Seit sechs Jahren esse ich weder Fleisch noch Fisch. Und seit die-

Kleine private Kindergärten sind im heutigen Russland eine nor-male Erscheinung. Meistens mie-tet eine Frau eine Dreizimmer-wohnung und stellt eine Gruppe von fünf bis zehn Kindern zusam-men. Die Eltern bringen ihre Kin-der dorthin, weil sie in der Nähe wohnen und es in der staatlichen Vorschuleinrichtung keinen Platz gibt oder aber, weil die Erzie-hungsmethoden nicht ihren Über-zeugungen entsprechen. Vegeta-rische Kindergärten werden in der Regel von Gleichgesinnten fre-

sem Sommer kommt immer mehr Rohkost dazu.“Das Bekochen ihrer Anvertrau-ten, Kinder zwischen zwei und vier Jahren, erfordert viel Ge-schick und Fantasie. Frühstück: grüner Buchweizen, mit kochen-dem Wasser überbrüht, Kräuter-tee. Mittagessen: Blumenkohlsup-pe, brauner Reis. Zwischenmahl-zeit: Dörrobst. So etwa sieht die Speisekarte aus, die täglich in der Kinderkrippe „Tinas Garten“ aus-gehängt ist. Dabei ist es gar nicht so leicht, einen ausgewogenen Speiseplan zu erstellen. Tierisches Eiweiß ersetzt Tina durch Man-delmilch. Grüne Cocktails mixt sie aus frischem Koriander, Pe-tersilie, Salat und Bananen. Es ist schwer zu sagen, ob die Kin-der solche Kost wirklich toll fin-

den oder nicht. „Sie essen alles, was ich ihnen gebe“, beruhigt die Köchin. „Bisher hat noch keiner nach Fleisch verlangt. Außerdem weiß ich, wer was mag, meine Gruppe ist überschaubar, und ich kann mich jedem ganz persönlich zuwenden.“

1 900 000Kinder warten in Russland derzeit auf einen Kindergartenplatz.

100 000Rubel Schmiergeld oder 2500 Euro zahlten gut betuchte Moskauer Eltern im Schnitt an den Leiter eines Kinder-gartens für einen Platz.

5000Rubel monatlich, umgerechnet 125 Eu-ro, stehen in manchen Regionen Eltern zu, deren Kind keinen Platz in einem staatlichen Kindergarten bekommt.

zahlenRegel werden sie in Gruppen zu 20 bis 25 von zwei Erzieherinnen betreut. Eine zusätzliche Ange-stellte hält die Räume sauber, kümmert sich um das leibliche Wohl und hilft den Kindern beim Anziehen. Maximal 30 bis 40 Euro im Monat müssen die Eltern für einen solchen Platz in einer öf-fentlichen Kindertagesstätte bezahlen.Trotz ihrer guten Führung haben die russischen Kindertagesstät-ten ein wesentliches Handicap: Für viele Familien bleiben sie un-erreichbar, und der Zugang ist hart umkämpft. Eltern lassen sich schon bei der Geburt ihres Kin-des auf Wartelisten setzen, und auch so dauert es mindestens zwei Jahre, bis sie an der Reihe sind – falls überhaupt. Die verzweifel-ten Eltern und Großeltern sind zu allem bereit, um auf andere Art

„essen alles, was ich ihnen gebe“ – ein glücklicher jungvegetarier

was von der sowjetischen kinderbetreuung blieb: zu wenige kindergartenplätze, überaltertes Personal, niedrige gehälter.

eltern beantragen schon bei geburt ihres Kindes einen Kindergartenplatz und müssen dennoch zwei jahre warten.

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HEIDI BEHAFÜR RUSSLAND HEUTE

Die Luft ist hier so rein wie der „Kuss eines Kindes“, das wussten schon Tolstoi und Puschkin. Heute schwebt Pjatigorsk zwischen Sowjeterbe und einer ungewissen Zukunft.

An den steilen Hängen von Pjati-gorsk stehen herrschaftliche Sanatorien und aristokratische Vil-len. Große Vorgärten, säulenver-zierte Eingänge und hohe Fenster bezeugen, dass die Architektur Russlands nicht nur Plattenbau kann. Doch der Putz bröckelt, und die Fenster aus dünnem Glas las-sen jeden Windhauch durch. Die Bettenburgen für Familien der Ei-senbahnarbeiter, der Post und der Kriegsversehrten stehen leer.

Legendenumwobene BergeEinst erholten sich in Pjatigorsk („Stadt der fünf Berge“) berühm-te Gäste wie Lew Tolstoi und Alexander Puschkin. Zu Sowjet-zeiten überschwemmten dann jährlich Hunderttausende die Mi-neralquellen und Sanatorien. Heute sind es bedeutend weniger. Die Konkurrenz ist groß und der Ruf des Nordkaukasus nicht eben gut. Trotzdem wirbt Stadtführerin Tat-jana Omeltschenko – vor allem mit der guten Luft, „wie der Kuss eines Kindes“.

Und Omeltschenko erzählt Legen-den, die sich um die Berge des Kau-kasus ranken. Einst soll ein Volk von Riesen in diesem Erdteil ge-lebt haben, dessen König Elbrus hieß. Er hatte einen mutigen, star-ken Sohn namens Beschtau, der das schöne Mädchen Maschtuka liebte. Auf einmal erinnerte sich der alte Vater seiner Jugend und stellte selbst der hübschen Masch-tuka nach. Er schickte seinen Sohn in den Krieg – in der Hoffnung, dass er die Schlachten nicht über-lebe – und heiratete das Mädchen. Der Sohn aber kam siegreich zu-rück und spaltete den Kopf des Va-ters in zwei Hälften. Darum habe der Berg Elbrus zwei Gipfel, schließt Tatjana Omeltschenko.Die Götter waren so erzürnt über den Streit, dass sie das gesamte Riesen-Volk versteinerten. Es ent-standen die mächtigen, über 5000 Meter hohen Kaukasusgipfel. Nur 20 Kilometer von Pjatigorsk entfernt sieht man zwei wetterge-gerbte Reiter inmitten einer Kuh-herde, die sie über das Hochpla-teau führen, ein paar Hunde helfen ihnen bei der Arbeit. Eini-ge Kilometer weiter überqueren Pferde die Landstraße und brin-gen die Autos zum Stehen. Immer wieder grasen Tiere am Wegesrand, oft unangebunden. Winters wie sommers erheben sich die schneeweißen Gipfel des Kau-

Pjatigorsk Die Region um die nordkaukasische Stadt bietet Legenden, Bergquellen und Gastfreundschaft

kasusgebirges wie die versteiner-ten Riesen, die sie der Legende nach sind. In Pjatigorsk selbst fällt wenig Schnee, die Skigebiete liegen tie-fer im Gebirge. Pjatigorsk dage-gen gilt als das Tor zum Kauka-sus. Bekannt ist das ganze Gebiet für seine heißen Quellen und das Mineralwasser, das aus den Ber-gen sprudelt. Eine der größten Städte im Nordkaukasus heißt sogar Mineralnyje Wody, was über-setzt Mineralwasser bedeutet.

Hurghada statt PjatigorskIn den Hinterhöfen von Pjatigorsk sitzen viele Leute an Tischen mit Wachstischtüchern beisammen. Marina ist eine von ihnen, gebür-tige Pjatigorskerin, und liebt ihre Stadt, weil die Menschen offener seien als in Moskau. In den Urlaub fährt sie aber lieber nach Ägypten oder Spanien. „In Russland weiß man nicht, was Service bedeutet“, sagt die 28-Jährige. „In anderen

Ländern lesen die Angestellten ihren Gästen die Wünsche von den Lippen ab.“Tatsächlich reißen in den Pjati-gorsker Restaurants die Kellner ihren erstaunten Gästen die Tel-ler unter dem letzten Bissen kau-kasischer Spezialitäten weg. Wer über solche Sitten lieber schmun-zelt als sich ärgert, der kann es in Pjatigorsk aushalten. Denn wenn die bezahlte Hö� ichkeit auch nicht die gleiche ist wie anderswo, so sind die Menschen, die man auf der Straße nach dem Weg fragt, oder diejenigen, die einen bei Spazier-gängen durch die Nebenstraßen aus Neugierde ansprechen, umso herzlicher. Das Auswärtige Amt warnt vor Reisen in den Nordkaukasus. Doch in Pjatigorsk und Umgebung sei es friedlich, versichern Kenner der Region. Iwan Suchow schreibt seit zehn Jahren für die Zeitung Mos-kowskije Nowosti über den Nord-

kaukasus und fährt alle zwei Mo-nate für Recherchen in die Kri-senregion. Pjatigorsk klammert er meist aus. „In Pjatigorsk war ich nur ein einziges Mal, und das für eine Konferenz. Es gibt nicht viel zu berichten, weil nichts Spekta-kuläres passiert“, sagt er. Solche Aussagen sind wie Balsam für die offiziellen Vertreter der struktur-schwachen Region Stawropol, zu der Pjatigorsk zählt. Der Touris-mus war schon immer ein wichti-ger Wirtschaftszweig, der unter schlechten Nachrichten aus der Kaukasusregion leidet.

Ein Sack voller SprachenBei Tagesaus� ügen in die Umge-bung fährt man an orthodoxen Kirchen und Moscheen vorbei. Von Ortsschild zu Ortsschild wechseln oft Sprache und Kultur. In man-chen kaukasischen Schulen wer-den fünf Sprachen unterrichtet – und zwar nicht Englisch, Spanisch, Französisch, Italienisch und Deutsch, sondern Russisch, Osse-tisch, Tscherkessisch, Tschetsche-nisch und Awarisch. Warum man im Kaukasus so viele verschiede-ne Sprachen spricht, auch dafür hat Tatjana Omeltschenko eine Le-gende parat: Als Gott mit einem Sack über die Welt flog und die Sprachen auf die Regionen verteil-te, so erzählt sie schmunzelnd, da sei sein Sack an den Bergzipfeln des Kaukasus hängen geblieben und aufgerissen.

Heidi Beha ist Lektorin der Robert Bosch Stiftung in Woronesch.

Mit der Seilbahn geht es auf den Pjatigorsker Hausberg Maschuk.

Anreise Von Moskau fliegt man zwei Stunden bis Mineral-nyje Wody (MRV), von

dort sind es mit dem Taxi 20 Mi-nuten bis Pjatigorsk (Fahrtkosten: 500 Rubel oder 12 Euro). Die Flü-ge gehen mehrmals täglich. Mit dem Zug ab Moskau muss man 26 Stunden einrechnen.

UnterkunftDas Hotel Beshtau liegt zentral und bietet gewohn-ten europäischen Standard

(www.hotel-beshtau.ru, DZ ca. 100 Euro). Günstiger und etwas rusti-kaler kommt man im Gästehaus Orlinyje Skaly unter (www.skaly-kmv.ru, DZ ca. 40 Euro).

Essen & Trinken Gute armenische Küche gibt es im Restaurant Kili-kija im Stadtzentrum (Pro-

spekt Kirowa 43a), wo in den Abendstunden auch getanzt wird. Ebenfalls empfehlenswert ist das Restaurant Restorannyj Dworik (Ul. Panagjurischtje 2).

Fünf Berge,frische Luft und kaltes, klares Wasser

LORI/LEGION MEDIA (2)

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eine Beilage des rossijskaja gaseta Verlags, MoskauMeinung

Russland Heute: Die deutsche Ausgabe von Russland Heute erscheint als Beilage in der Süddeutschen Zeitung. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Russia Beyond the Headlines, Moskau, verantwortlich. Rossijskaja Gaseta Verlag, ul. Prawdy 24 Str. 4, 125993 Moskau, Russische Föderation tel. +7 495 775-3114 Fax +7 495 988-9213 e-mail [email protected]

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Produktion: Milla Domogatskaja, Produktionsleitung; Layout: Ilja Owtscharenko; Bildbearbeitung: Andrej Sajzew; Proofreading: Dr. Barbara Münch-Kienast Druck: Süddeutscher Verlag Zeitungsdruck GmbH, Zamdorferstraße 40, 81677 München; Verantwortlich für den Inhalt: Alexej Knelz, Schützenweg 9, 88045 FriedrichshafenCopyright © FGu Rossijskaja Gaseta, 2012. Alle Rechte vorbehaltenAufsichtsratsvorsitzender: Alexander Gorbenko; Geschäftsführer: Pawel Negojza; Chefredakteur: Wladislaw Fronin Alle in Russland Heute veröffentlichten Inhalte sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion

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die Meinung der Redaktion dar.

alles nur gekauft

Ist Russland die Heimat der Ta-lente? Diese Frage stellen mir häufig ausländische Kollegen in

den USA, die über die vielen be-gabten russischen Entwickler und Ingenieure im Westen staunen. Einige von ihnen wurden weltbe-rühmt – wie der Google-Mitgrün-der Sergey Brin oder der PayPal-Erfinder Max Levchin. Allerdings sind Brin wie Levchin keine be-wussten Emigranten: Wie viele andere russischstämmige IT-Ko-ryphäen wanderten sie in jungen Jahren aus, auf die Entscheidung ihrer Eltern hin.Aber es zogen auch Hunderttau-sende russische Softwareentwick-ler im Erwachsenenalter in die USA, unter ihnen zum Beispiel die beiden legendären Program-mierer Arkady Borkovsky, der das Yandex R&D Center in Kalifor-nien leitet, und Yevgeny Veselov, Chief Scientist bei Microsoft. Die Firma Parascript, auf Softwareer-kennung handschriftl icher Schecks und Postsendungen sowie auf Programme zur Früherken-nung von Krebs spezialisiert, be-steht bis heute weitgehend aus rus-sischen Ingenieuren, obwohl der Firmensitz in Boulder, Colorado, liegt. Ich kenne keine Statistik, die ta-lentierte Migranten nach Her-kunftsländern sortieren würde. Auch glaube ich nicht, dass Russ-land in puncto ingenieurstechni-sche Begabungen andere Staaten übertrifft. Allerdings habe ich eine Erklärung parat, wie es zu dieser Talentekonzentration in der IT-Branche kommen könnte.

in der gewalt der ideologieFast über das gesamte 20. Jahr-hundert hinweg stand Russland unter dem Regiment einer ideo-logisierten Diktatur. Jeder, der klug genug war, begriff: Wenn er den Einfluss der Ideologie auf sein Leben minimieren wollte, sollte er seine Laufbahn nicht mit Ge-schichte, Philosophie, Jura, Lite-raturwissenschaft oder Politik verbinden, sondern lieber mit einer Naturwissenschaft – Mathematik, Astronomie, Physik oder Chemie,

wo der ideologische Druck gerin-ger war. Die Intellektuellen kon-zentrierten sich daher überwie-gend auf dem vergleichsweise kleinen Feld der exakten Wissen-schaften, was bis heute die Illu-sion erzeugt, russische Wissen-schaftler und Ingenieure seien außergewöhnlich begabt. Als der wissenschaftliche Kom-munismus 1990 endgültig von der Bildfläche verschwand und die Ideologisierung der Wissenschaft endete, stürzte sich die talentier-te Jugend ins Geschäftsleben – in

Gerichte, Banken und Börsen. Die Wissenschaft blutete aus. Dazu trug auch eine für die Forschung tödliche Politik bei, die Bildung und Wissenschaft im Hinblick auf ihre Finanzierung und – noch wichtiger – ihre Wahrnehmung durch die Gesellschaft in eine Grauzone abschob. Heute ist es in Russland angesagt, Banker, Bör-senmakler, Staatsanwalt, Gastro-nom, Fernsehmoderator, Steuer-polizist oder Zollbeamter zu wer-den – alles, nur kein Forscher oder Wissenschaftler.

stepan Patschikow

IT-BranchenexperTe

heute ist es angesagt, Banker, Börsenmakler oder Staatsanwalt zu sein – alles, nur kein Wissenschaftler.

Tschulpan chamatowa hat es auf den punkt gebracht: „So, wie man leben sollte, kann man in russland nicht leben.“

Und es fehlen alle Anzeichen dafür, dass die wissenschaftliche Forschung in nächster Zeit gesun-det. Und falls doch, wird sie dann noch international gefragt sein? Diese Frage stellen sich heute rus-sische Forscher, wenn sie ihrer Heimat den Rücken kehren. Ihnen ist klar, dass ihre Möglichkeiten in Russland beschränkt sind. Die rohstofforientierte Wirtschaft macht der Bildung und Wissen-schaft den Garaus, genauer ge-sagt diejenigen, die die gesamte Wirtschaft Russlands auf Öl- und Gasexporte ausgerichtet haben.Um es in Russland zu etwas zu bringen, müssten die Talentierten auf Schritt und Tritt ihr Gewis-sen verleugnen und moralische Zugeständnisse machen. Auch die politische Fragwürdigkeit des Landes im Allgemeinen und seine Führungselite im Besonderen macht ihnen zu schaffen, ist die Vertikale des politischen Systems doch dem Wesen nach feudal: Je mehr im Dunstkreis der Macht einer steht, desto größer sind seine Chancen, sein Einfluss und die Wahrscheinlichkeit, daraus Ka-pital zu schlagen.Russlands legale Forbes-Milliar-däre wie fragliche Superreiche sind allesamt mit der politischen Vertikale verbandelt. Tschulpan Chamatowa, großartige Schau-spielerin und Mitinitiatorin der Kinderkrebshilfe Podari Schisn (Schenke Leben) brachte es ein-mal auf den Punkt: „So, wie man leben sollte, kann man in Russ-land nicht leben.“Die Zukunft der russischen IT-Branche steht deswegen auf der Kippe, brauchen die gegenwärti-gen Machthaber doch vor allem Spezialisten, die Erdöl pumpen oder Dienste an jenen leisten sol-len, die Erdöl pumpen. Alles an-dere glaubt man kaufen zu kön-nen – auch Nachwuchstalente.

Der Autor, Mathematiker und ehemals leitender wissenschaft-licher Mitarbeiter an der Sow-jetischen Akademie der Wissen-schaften, gründete einst mit sei-nem Bruder Georgi Patschikow den ersten Computerclub Russ-lands, die Firmen ParaGraph (1989) und Evernote (2005). Heute lebt er in New York.

der ulenspiegel

ZeITZeuge

Wer mit BILD im Aufzug nach oben fährt, der fährt auch mit ihr im

Aufzug nach unten, sagt Axel-Springer-Vorstandschef Mathi-as Döpfner über das umstritte-ne Boulevard-Blatt aus seinem Hause. Nun zeichnen sich die BILD-Ma-cher bisweilen durch eine Ehr-lichkeit aus, die anderen Medi-en abgeht. Denn es ist nicht nur die Bildzeitung, die Realitäten konstruiert und dann wieder einreißt. Das Auf und Ab des Lifts ist Bestandteil der moder-nen Mediengesellschaft und kann Popstars genauso treffen wie Politiker. Aufgabe der Me-dien ist es, uns Dinge zu zeigen und zu deuten, zu denen wir kei-nen Zugang haben. Wir können nicht anders, als uns darauf ver-lassen, dass diese Bilder nicht allzu verzerrt sind. Am größten ist die Abhängig-keit, wenn es um das Ausland geht. Wir kennen häufig weder die Mentalität des Volkes, noch die Sprache. Wir müssen also den Vermittlern glauben, uns da- rauf verlassen, dass sie nicht ma-nipulieren wollen und sich auch nicht manipulieren lassen. Doch zahlreich sind die Versuchungen bei der Auslandsberichterstat-tung. Wer alte Klischees bedient, erntet beifälliges Nicken: „Hab ich schon immer gewusst!“ Wer überzeichnet, erzeugt Spannung. Wer differenziert, verwirrt und langweilt nur. Wladimir Putin als Dämon der Macht, ein Ivan der Schreckli-che. Moskau, Kreml, KGB – läuft dem deutschen Leser nicht schon beim Klang dieser Worte ein Schauder über den Rücken? Ist dieser Popanz aber erst einmal aufgeblasen, kann man die Luft nach Belieben auch wieder herauslassen. Der allmächtige Putin schwä-chelt. Wie immer zeigt die eng-lischsprachige Presse uns den Weg und macht Putin ganz klein: „Russlands unglaublicher Schrumpfpremier“ titelte die Europa-Ausgabe des Time Ma-gazins vom 5. März. Im Jahr 2007 wählte Time ihn noch zum Mann des Jahres. Schwächer denn je sei er nun, und das sei gefähr-lich für alle. Es ist kleinlich, dass Putins Pressesprecher Dmitri Peskow diesen Titel als „russo-phob“ kritisiert. Positiv denken! Soll er sich doch freuen, dass sich Time einen starken Putin wünscht. Und als Medienprofi sollte er wissen, dass die Lift-Regel auch russische Politiker betreffen kann.

Der Autor ist Experte für rus-sisch-deutsche Spiegelungen.

reflektiert

Scheinriesen in der presse

leserBriefenachtrag zum freien russisch-deutschen institut für PublizistikDer Beitrag „Gegen die Schere im Kopf“, S. 12 der letzten Ausgabe, schließt mit den Zeilen: „Das In-stitut (gemeint das Freie Russisch-Deutsche Institut für Publizistik – Anmerkung der Redaktion) ver-fügt über kein eigenes Budget, nutzt aber Räumlichkeiten und Infrastruktur der Journalismus-Fakultät.“

Diese Informationen sind falsch, denn das FRDIP wird durch den eigens für das Institut gegrün-deten deutschen Förderverein un-terstützt, der durch seine Bei-stellungen in Deutschland die Arbeit des Instituts ermöglicht. Dazu gehören die regelmäßige Entsendung deutscher Dozenten, die Veranstaltungen wissen-

schaftlicher Konferenzen, die He-rausgabe wissenschaftlicher Pu-blikationen, Praktika und Stu-dienreisen. Das FRDIP wird paritätisch geleitet von einer rus-sischen Direktorin und einem ebenfalls von der journalisti-schen Fakultät eingesetzten, eh-renamtlich tätigen Direktor von deutscher Seite.

Die Integration des FRDIP in die journalistische Fakultät findet ihren Ausdruck in der Qualifizie-rung des Instituts als Internatio-nalem Zentrum.

Prof. Dr. Jens Wendland, Direktor des Freien Russisch-Deutschen Instituts für Publizistik von deutscher Seite

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EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAU Feuilleton

KULTUR-KALENDER

FOTOGRAFIE„GENERATION PUTIN“ VON ANNA SKLADMANNAB 4. MÄRZ, BERLIN, GALERIE GANG OF BERLIN, TORSTRASSE 119

Skladmann porträtiert in ihrem Projekt Russen, die 1991, im Jahr des Zerfalls der Sowjetunion, geboren wurden. In den dazugehörigen Interviews erzäh-len die 20-Jährigen ohne Umschweife, was sie von ihrem Land halten.

gangofberlin.com ›

THEATERDER MEISTER UND MARGARITA9. UND 16. MÄRZ, LANDESTHEATER TÜBINGEN

Glauben und Wissenschaft, Gott und Teufel, Gut und Böse, Liebe und Tod sind die großen Themen dieses satiri-schen, witzigen, politisch subversiven Bilderbogens. Der Roman von Michail Bulgakow (1891-1940) besitzt in Russ-land Kultstatus.

landestheater-tuebingen.de ›

FILMGLÜCKSRITTERINNEN14. MÄRZ, MÜNCHEN, KINO NEUES MONOPOL, IN ANWESENHEIT DER REGISSEURIN

Katja Fedulova porträtiert in ihrem Dokumentarfilm fünf Russinnen, die in den 90ern nach Deutschland kamen. Sehr unterschiedliche Lebensläufe und ein tiefer Einblick in die russische Seele.

gluecksritterinnen.de ›

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empfiehlt

Theater Das Projekt „Bürger Poet“ hat das Genre der Satire über die Mächtigen wiederbelebt

Die heilige Kuh geschlachtet – Poet Bykow, Produzent Wassiljew, Schauspieler Jefremow

MORITZ GATHMANNFÜR RUSSLAND HEUTE

Das Fernsehformat „Bürger Poet“ hat Hunderttausende Anhänger – weil es das Regime desakralisiert. Doch nach der Präsidentschaftswahl ist erst einmal Schluss.

Russland war ein anderes Land, als vor einem Jahr die erste Folge von „Bürger Poet“ auf dem un-abhängigen, vor allem im Inter-net zu empfangenden Fernsehka-nal Doschd (Regen) ausgestrahlt wurde. Da stand der Schauspie-ler Michail Jefremow: mit ver-schränkten Armen, gekleidet im Stil des 19. Jahrhunderts, auf der Nase einen Zwicker, im Hinter-grund ein zerknittertes Plakat des Dichters Nikolaj Nekrassow, den er dieses Mal imitierte. In witzigen Reimen stimmt er ein Loblied auf Natalja Wassiljewa an, Pressesprecherin jenes Mos-kauer Gerichts, das Michail Cho-dorkowskij gerade zum zweiten Mal verurteilt hatte. Die Frau hatte in einem Interview erklärt, dass auf den Richter Druck aus-geübt worden war: „Wir Männer haben Ehre und Gewissen ver-soffen / das russische Weib Na-tascha Wassiljewa hat alles er-zählt, sie lässt uns hoffen.“Es war die Geburtsstunde von „Graschdanin Poet“ (Bürger Poet), das Video wurde innerhalb weniger Stunden zum begehrtes-ten Link des russischen Internets. Was wohl auch an seinen drei Ma-chern liegt: Der 44-jährige Dmit-rij Bykow, Schriftsteller und bis-sig-humorvollster Kolumnist der Moskauer Publizistik, schreibt die Verse. Vorgetragen werden sie von Schauspieler Michail Jefre-mow, 48, in Moskauer Kreisen als einge� eischter Oppositioneller be-kannt – und als einer, der sich für

keinen Skandal zu schade ist. Pro-duzent ist der 54-jährige Andrej Wassiljew, langjähriger Chefre-dakteur der unabhängigen Ta-geszeitung Kommersant.

Was darf Satire?Die drei ernteten fast ausschließ-lich Beifall: Bissige Satire über das Putin-Regime hatten die Rus-sen schmerzlich vermisst. Für den bekannten Journalisten Jurij Sa-prykin war „Bürger Poet“ der letzte Zu� uchtsort der Oppositi-on: Entmachtet von den herr-schenden Eliten konnte sie nun immerhin über sie lachen. Ande-re sahen in der Sendung eine Fort-setzung der Serie „Puppen“. Im Stil von „Hurra Deutschland“ hatte diese seit 1994 Politiker und Oligarchen verlacht. 2002, unter Präsident Putin, wurde sie abgesetzt. Dem bewährten Konzept bleiben Bykow, Jefremow und Wassiljew nun seit 48 Folgen treu: Jefremow imitiert einen Dichter – von

Tschukowskij bis Edgar Allan Poe und Bykow verarbeitet in über-sprudelnder Wortakrobatik aktuelle Ereignisse, ob das Gur-kenimportverbot aus der EU oder die Weigerung Putins, an Fern-sehdebatten mit Präsidentschafts-kandidaten teilzunehmen.Nicht treu blieb dem Format al-lerdings der Sender Doschd. Schon nach der sechsten Folge – einer Polemik Putins gegen Med-wedjew – gingen die Ansichten von Künstlern und Sendeverant-

wortlichen darüber auseinander, was Satire darf. Der Streit mach-te die Sendung nur noch populä-rer: Der Radiosender Echo Mosk-wy und das Onlineportal F5 über-nahmen das Projekt, und jede neue Folge wurde wöchentlich von Hunderttausenden gesehen.Nach einigen Auftritten in Mos-kau ging das Gespann letzten Herbst auf Tournee durch die Pro-vinz und musste herbe Kritik ein-stecken, als bekannt wurde, dass es von Oligarch und Präsidenten-herausforderer Michail Procho-row gesponsert wird. Bykow reagierte offensiv in einem Zeitungsbeitrag: „Wer hat das in Auftrag gegeben? Wer bezahlt euch? Handelt ihr vielleicht im Auftrag des Kreml?“, bekomme er überall zu hören. Für ihn seien das Symptome einer kranken Ge-sellschaft, die Putins Regime her-vorgebracht habe. „‚Wer hat euch das erlaubt?‘, fragt man uns. Wir antworten: ‚Niemand, wir haben nicht gefragt!‘“ Und genau, um

diesen von Passivität und Zynis-mus geprägten Geisteszustand zu brechen, zögen sie durchs Land.Erfahren die Menschen von Je-fremow und Bykow aber wirklich etwas Neues? Natürlich nicht: Die Autoren umspielen nur Fakten, die jenen, die es wissen wollen, hinlänglich bekannt sind, ob die unrechtmäßige Verurteilung von Michail Chodorkowskij, die Mei-nungsverschiedenheiten zwischen Putin und Medwedjew oder die mögliche Ausweitung des arabi-schen Frühlings auf Russland.

Das Ende der Ikone PutinVielmehr spricht „Bürger Poet“ jenen Menschen aus der Seele, die derzeit auf die Straße gehen. Zwölf lange Jahre haben die Staatsmedi-en ihnen Wladimir Putin geradezu als Ikone vorgeführt. Bykows Ge-dichte wirken da wie Gegengift. Folge für Folge arbeiten sie von Neuem an einer Desakralisierung des Regimes – holen Putin vom Thron, aber auch Medwedjew, Ge-heimdienstler, Staatsanwälte und Richter. Ja, man dürfe, man müsse über die beiden höchsten Amtsträ-ger des Landes lachen, spricht der Bürger-Poet. In diesem Sinne haben Bykow, Jefremow und Wassiljew den Weg bereitet für die Proteste der letzten Monate. Aus dem Inter-net, dem Radio, aus den Theatern des Landes tragen die Menschen nun in Form von Plakaten jene Bot-schaft hinaus auf die Straße: Nie-mand ist unantastbar, auch nicht Wladimir Putin. Und es ist nur fol-gerichtig, dass Bykow zu den De-monstrationen kommt und der Poet mit dem Bürger am 5. März, einen Tag nach den Präsident-schaftswahlen, zum letzten Mal in Moskau auftritt. „Danach wird es eine andere Realität geben, und dafür brauchen wir ein neues Pro-jekt“, hat Bykow gesagt.

LESENSWERT

Das weite Land hinter Putin

Da konnte es einer nicht mehr hören: „Was die Zeitungen schrie-ben, auch was ich selbst schrieb, ähnelte zu oft meinen Deklina-tionstabellen: Putin, Putina, Pu-tinu, Putina, Putinym, Putine.“ Jens Mühling, Journalist beim Berliner Tagesspiegel, erbat sich ein Jahr Urlaub und machte sich auf den Weg nach Russland. Na-türlich war es nicht sein erster Aus� ug nach Osten: Mühling hat nach der Jahrtausendwende zwei Jahre bei der Moskauer Deut-schen Zeitung gearbeitet.Das Ergebnis seiner langen Rei-sen ist keine der typischen Ab-rechnungen, die Journalisten am Ende ihrer Korrespondentenzeit in Russland verfassen (zuletzt besonders radikal Luke Harding „Ma� a State“), sondern eine bril-lante Beschreibung des Gemüts-zustandes eines Landes. Nicht nur stilistisch wandelt hier einer in den Fußstapfen von Patrick Leigh Fermor: Mühling fährt scheinbar planlos von Ort zu Ort, mit Bussen, Elektritschkas und billigen Zugfahrkarten. Den Menschen auf seinem Weg be-gegnet er mit Respekt, egal wie verrückt sie auf den ersten Blick erscheinen mögen.Mühling hat Altgläubige in Si-birien getroffen, überzeugte Kommunisten in Kiew, einen Pe-tersburger, der glaubt, der letzte Nachfahre der Romanows zu sein, und einen Wissenschaftler, der Rasputins Penis in Formalin aufbewahrt. All diese Menschen verbindet ein fester, manchmal tragischer Glaube, und jeder glaubt an etwas anderes. Das Ende der Sowjetunion hat diese Orientierungslosigkeit hinterlas-sen. An Putin glaubt in Mühlings Buch übrigens keiner.

Moritz Gathmann

Jens Mühling: Mein russisches Abenteuer Verlag Dumont, 300 Seiten, Hardcover Erscheinungsdatum: 14. März

Sein oder ScheinDurch ihre satirischen Eskapaden wit-zelten sich die Bürgerpoeten in den YouTube-Klickparaden nach oben. Später tourten sie durchs Land – auch wenn ihre Gagen mit bis zu 35�000 Euro pro Auftritt nicht gerade be-scheiden kalkuliert waren. Groß war die Entrüstung, als die drei Kreativ-köpfe auf der Firmenfeier des Oligar-

chen Wiktor Wech-selberg auftra-ten – eines Mannes, der wie kein ande-

rer dem von ih-nen verspotteten

Regime nahesteht.

Mutbürgerliche Poeten

Die Menschen tragen nun in Form von Plakaten jene Botschaft hinaus auf die Straße: Niemand ist unantastbar.

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Page 12: 7 2 An der Machtvertikalen - Russia Beyondchende Mittelschicht im Dezem-ber hinwarf. Er hat jene großen Schichten der Gesellschaft mobi-lisiert, die politisch wenig inter-essiert

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EINE BEILAGE DES ROSSIJSKAJA GASETA VERLAGS, MOSKAUPorträt

Thema des Monats – Frauen in Russland 4. April 2012Ihre gesellschaftliche Stellung nach der Sowjetemanzipation

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Die Menschen hinter den NewsFotografie Jurij Kosyrjew ist mit Reportagen aus Kriegsgebieten zu einem der renommiertesten Fotografen geworden

Rebellen in Libyen: 1. Preis beim World Press Photo 2011 für Kosyrjew

ANNA NEMZOWA, MORITZ GATHMANNFÜR RUSSLAND HEUTE

Jurij Kosyrjew hat einen gefährlichen Job. Er zieht mit libyschen Rebellen durch die Wüste, fotografiert Taliban und Dissidenten. Und bleibt dabei fast unsichtbar.

Wer verstehen will, wie Jurij Kosyrjews Bilder entstehen, muss mit ihm gearbeitet haben. Der schmale, kleine Kosyrjew ist ein Schattenmann. Mit seiner Kame-ra schließt er sich unbemerkt den Menschen an, die er fotogra� ert, huscht ihnen hinterher, bis sie vergessen, dass da überhaupt einer mit Kamera ist. Und dann entstehen Bilder, die ganz nah am Geschehen dran sind.Vielleicht ist sein Schattendasein die Erklärung dafür, dass der 1963 in Moskau geborene Foto-graf noch am Leben ist, hat er doch die letzten 20 Jahre fast aus-schließlich in Krisen- und Kriegs-gebieten verbracht: In Tschetsche-nien, Südossetien, Afghanistan, im Irak, zuletzt im Jemen und in Libyen war er dabei, um mit sei-ner Kamera die Schicksale hin-ter den News zu erzählen.Kosyrjew ist mit seinen Fotogra-fien zu einem der weltweit re-nommiertesten Kriegsreporter geworden. Dabei machte er nach einem Journalistikstudium seine ersten fotogra� schen Gehversu-che unter Walerij Arutjunow, Mitglied eines sowjetischen Dissidentenzirkels.Bald begann Kosyrjew, das Leben der Dissidenten in ihren kleinen Wohnungen oder besetzten Häu-sern zu dokumentieren. Doch mit dem Zusammenbruch der Sow-jetunion zerbrachen auch diese Kreise, und der junge Fotograf reiste nach Armenien, Moldawi-en, Tadschikistan und Georgien, um die Kriege zu dokumentie-ren, die der Zerfall des Staats-gebildes nach sich zog.

Die KriegsfotografieIn den 90er-Jahren traf Kosyr-jew jenen Fotografen, der seinem Schaffen die maßgebliche Rich-tung geben sollte: Jewgenij Chal-dej, berühmt geworden für sein Bild eines russischen Soldaten, der am 2. Mai 1945 auf dem Ber-liner Reichstag die sowjetische Flagge hisst. Fünf Jahre lang as-sistierte ihm Kosyrjew, half beim Entwickeln seiner Filme, trug seine Taschen. „Chaldej vermit-telte mir das meiste Wissen über unseren Beruf“, sagt er, „keine Universität kann einem beibrin-gen, wie wichtig es ist, immer wieder an dieselben Orte zurück-zukehren, um den Gang der Ge-schichte zu dokumentieren.“ Chaldej schenkte ihm auch seine erste Kamera: eine Leica, mit der er noch im Zweiten Weltkrieg fo-togra� ert hatte.2001 dokumentierte Kosyrjew den Fall der Taliban in Afghanistan,

Frauen beim Schwimmen oder ein trauriger Mann mit einem rie-sigen Fisch über der Schulter.Im letzten Frühjahr zog Kosyr-jew zwei Monate lang mit den Aufständischen durch Libyen, bis sie schließlich Muammar Gadda-� stürzten. Für eines seiner Bil-der aus Libyen hat er gerade sei-nen siebten World Press Photo Award erhalten. Kosyrjew gehört der Bildagentur NOOR an, die elf Fotografen aus acht Ländern vereint und sich der Menschenrechte und der sozia-len Gerechtigkeit verschrieben hat. Deswegen ist es ihm auch wichtig, von den Kindern zu erzählen, die es dank seiner Bil-der zu retten gelang. Stanley Greene, einer der Gründer von NOOR, sagte einmal: „Jurij hat bei der Bildberichterstattung aus Konfliktzonen die Messlatte immer höher gelegt. Er hat uns immer wieder dazu gebracht, noch einmal zu überdenken, wie wir unsere Geschichten machen. Er ist zwar politischer Kriegsfo-tograf, aber zugleich stecken seine Bilder wie bei keinem anderen voller Poesie … Er hat das Zeug, einer der größten Kriegsbericht-erstatter der Welt zu werden.“„Auszeichnungen und Galerien bedeuten mir nichts“, sagt Jurij Kosyrjew von sich selbst. „Es geht darum: Als Fotograf hast du die Gelegenheit, den Menschen eine Stimme zu verleihen. Du nimmst ein Foto auf, du nennst die Per-son, du dokumentierst die ge-schichtlichen Ereignisse deiner Zeit.“

Jurij Kosyrjew studierte Journalismus an der Moskauer Universität und be-gann 1990 seine Arbeit als Fotorepor-ter, zunächst in den Krisengebieten der ehemaligen Sowjetunion, dann in Afghanistan und im Irak. 2011 wurde er für seine Fotoreportagen über den arabischen Frühling mit dem World Press Photo Award ausgezeichnet, im Februar wählte ihn „Pictures of the Year International“ zum Fotografen des Jahres 2011. Der Bürgerkrieg in Li-byen und im Jemen und die Revoluti-on in Ägypten sind an ihm nicht spur-los vorbeigegangen. „Es gab wenig glückliche Minuten. Ich bin erwachse-ner geworden“, sagt Kosyrjew.

BIOGRAFIE

GEBURTSORT: MOSKAU

ALTER: 48

BERUF: KRIEGSFOTOGRAF

Er blickt mit großen, wachen Augen in die Welt, und es entstehen taktvolle, einfühlsame Geschichten.

lebte dann fast acht Jahre als Fo-tograf der Zeitschrift TIME in Bagdad. Dann kehrte er nach Moskau zurück, es war aber nur ein erzwungener Wartezustand. Reportagen aus Friedensgebie-ten sind seine Sache nicht – der Krieg ist eine Droge, von der er bis heute nicht loskommt. „Ich muss mich im Zentrum der Ge-schehnisse be� nden – und mit der Zeit verstehe ich, was vor sich geht“, sagt er.Kosyrjew hat einige Kollegen ver-loren − wie seine Freunde Chris Hondros und Tim Hetherington, die im April 2011 getötet wur-den, als sie im libyschen Misrata fotogra� erten. Man könnte sich fragen, warum der 48-Jährige weiterhin sein Leben aufs Spiel setzt. Aber wer sieht, wie erstaun-

lich komponiert seine Bilder wir-ken trotz der Extrembedingun-gen, unter denen sie aufgenom-men wurden, versteht auch, dass Kosyrjew dort hingehört. Er blickt mit großen, wachen Augen in die Welt, und es ent-stehen taktvolle, einfühlsame Geschichten.Im Dezember 2010 spülte es ihn in den vor dem Kollaps stehen-den Jemen. Arabisch versteht er nicht, den Jemen versteht er nicht, und man merkt den Fotos an, dass da einer ohne Orientierung durch die Straßen zieht, mit dem Ge-fühl, dass er jederzeit scheitern und sterben könnte. Aus seinen Bildern spricht der nahende Bür-gerkrieg: Gruppen düsterer Män-ner, die in der Abenddämmerung Khatblätter kauen, verschleierte

Wenn Bilder um die Welt gehen

Pakistan, Februar 2006: Die sie-benjährige Insha Afsar in einem Lager für Opfer des Erdbebens vom 8. Oktober 2005 in Muzaffa-rabad, Kashmir. Das Mädchen hatte beim Zusammensturz ihres Familienhauses ein Bein verloren. Dieses Foto von Jurij Kosyrjew ging 2006 um die Welt. Darauf-hin luden wohlhabende Amerika-ner Insha zur Behandlung in die USA ein. In Kürze bekommt sie eine neue Prothese.

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