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72 7. SpielRaum für Bewegung – Gruppe „In Ungarn wurde erzählt, dass man, wenn man in einen Park oder auf einen Spielplatz ging, die ‚Pikler-Babys’ von den an- deren Kindern unterscheiden konnte. Sie waren aktiv und be- wegten sich graziös, waren voller Vertrauen und besaßen ein starkes Selbstgefühl. Sie waren Kinder, die nach der Philoso- phie Emmi Piklers aufgewachsen waren“ (Gerber/Johnson 2006, S.30). Darum soll es im folgenden gehen: Die Theorien Emmi Piklers zur kindlichen Entwicklung und Pädagogik umgesetzt im „Pikler-SpielRaum für Bewegung und selbständiges Entdecken“ – kurz: Pikler-SpielRaum genannt - bzw. Spielraum nach Emmi Pikler 25 . Es gibt in Deutschland bisher fünf 26 Pikler-SpielRäume. Spielräume nach Pikler gibt es mehrere, in Berlin etwa 12. Die Unterscheidung zwischen Pikler- SpielRaum und Spielraum nach Pikler bringt die Qualifikation bzw. die Aner- kennung der SpielRaum-LeiterIn durch die Arbeitsgemeinschaft „Pikler- SpielRaum-Leiterinnen“ 27 zum Ausdruck. In der Arbeitsgemeinschaft wirken insgesamt 12 Personen neben Ute Strub und Piklers Tochter Anna Tardos zur Reflexion und Konzeptionalisierung der Tätigkeit als Pikler-SpielRaum-LeiterIn. Die Arbeitsgemeinschaft kommt seit mehreren Jahren etwa zweimal im Jahr zusammen. Sie besteht aus 13 Frauen und einem Mann (Ehemann einer Pikler-SpielRaum-Leiterin). Die Teilnehmer dieser Gruppe – je etwa zur Hälfte Österreicher und Deutsche - sind seit 2005 von Tardos autorisiert sich Pikler- SpielRaum-Leiterin zu nennen. Aufgrund des Namenshoheitsrechts ist sie der- zeit die einzige, die diesen Titel vergeben kann (vgl. Pichler-Bogner 2006, 2006a; Strub 2006, 2006a). 25 Zur Vereinfachung wird im folgenden Pikler-SpielRaum oder Spielraum nach Pikler geschrieben. 26 Zwei in Berlin, jeweils einen in Aachen, Frankfurt/M. und Oldenburg (vgl. Strub 2006). 27 Die Arbeitsgemeinschaft „Pikler-SpielRaum-Leiterinnen“ arbeitet seit etwa 1-1,5 Jahren an der Vorberei- tung einer Tagung, die vom 23.-25.11.2006 in Salzburg unter dem Titel: „Gebt mir Raum und lasst mir Zeit. Gemeinsam wachsen und entdecken im Pikler-SpielRaum.“ stattfinden wird. Dort soll in Vorträgen und Workshops ein Erfahrungsaustausch zum Pikler-SpielRaum sowie die Vorstellung eines Ausbildungs- konzepts u.a. zur Pikler-SpielRaum-LeiterIn erfolgen. Die Tagung wird inhaltlich geleitet von der Arbeits- gemeinschaft „Pikler-SpielRaum-Leiterinnen“ in Zusammenarbeit mit der Pikler-Hengstenberg- Gesellschaft Österreich, Pro Juventute und dem Bildungshaus St. Virgil (vgl. Pichler-Bogner 2006).

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7. SpielRaum für Bewegung – Grupp e

„In Ungarn wurde erzählt, dass man, wenn man in einen Park oder auf einen Spielplatz ging, die ‚Pikler-Babys’ von den an-deren Kindern unterscheiden konnte. Sie waren aktiv und be-wegten sich graziös, waren voller Vertrauen und besaßen ein starkes Selbstgefühl. Sie waren Kinder, die nach der Philoso-phie Emmi Piklers aufgewachsen waren“ (Gerber/Johnson 2006, S.30).

Darum soll es im folgenden gehen: Die Theorien Emmi Piklers zur kindlichen

Entwicklung und Pädagogik umgesetzt im „Pikler-SpielRaum für Bewegung und

selbständiges Entdecken“ – kurz: Pikler-SpielRaum genannt - bzw. Spielraum

nach Emmi Pikler25.

Es gibt in Deutschland bisher fünf26 Pikler-SpielRäume. Spielräume nach Pikler

gibt es mehrere, in Berlin etwa 12. Die Unterscheidung zwischen Pikler-

SpielRaum und Spielraum nach Pikler bringt die Qualifikation bzw. die Aner-

kennung der SpielRaum-LeiterIn durch die Arbeitsgemeinschaft „Pikler-

SpielRaum-Leiterinnen“27 zum Ausdruck. In der Arbeitsgemeinschaft wirken

insgesamt 12 Personen neben Ute Strub und Piklers Tochter Anna Tardos zur

Reflexion und Konzeptionalisierung der Tätigkeit als Pikler-SpielRaum-LeiterIn.

Die Arbeitsgemeinschaft kommt seit mehreren Jahren etwa zweimal im Jahr

zusammen. Sie besteht aus 13 Frauen und einem Mann (Ehemann einer

Pikler-SpielRaum-Leiterin). Die Teilnehmer dieser Gruppe – je etwa zur Hälfte

Österreicher und Deutsche - sind seit 2005 von Tardos autorisiert sich Pikler-

SpielRaum-Leiterin zu nennen. Aufgrund des Namenshoheitsrechts ist sie der-

zeit die einzige, die diesen Titel vergeben kann (vgl. Pichler-Bogner 2006,

2006a; Strub 2006, 2006a).

25 Zur Vereinfachung wird im folgenden Pikler-SpielRaum oder Spielraum nach Pikler geschrieben. 26 Zwei in Berlin, jeweils einen in Aachen, Frankfurt/M. und Oldenburg (vgl. Strub 2006). 27 Die Arbeitsgemeinschaft „Pikler-SpielRaum-Leiterinnen“ arbeitet seit etwa 1-1,5 Jahren an der Vorberei-tung einer Tagung, die vom 23.-25.11.2006 in Salzburg unter dem Titel: „Gebt mir Raum und lasst mir Zeit. Gemeinsam wachsen und entdecken im Pikler-SpielRaum.“ stattfinden wird. Dort soll in Vorträgen und Workshops ein Erfahrungsaustausch zum Pikler-SpielRaum sowie die Vorstellung eines Ausbildungs-konzepts u.a. zur Pikler-SpielRaum-LeiterIn erfolgen. Die Tagung wird inhaltlich geleitet von der Arbeits-gemeinschaft „Pikler-SpielRaum-Leiterinnen“ in Zusammenarbeit mit der Pikler-Hengstenberg-Gesellschaft Österreich, Pro Juventute und dem Bildungshaus St. Virgil (vgl. Pichler-Bogner 2006).

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7.1 Die theoretischen Grund lagen von Emmi Pikler, ihre Geräte so-

wie die Geräte Elfriede Hengstenbergs im SpielRaum

Die Kinderärztin Emmi Pikler (1902-1984) verwirklicht 1946 mit dem „Lóczy“28

bzw. Pikler-Institut den Auftrag der Stadt Budapest, ein Säuglingsheim zu grün-

den. Sie stellte sich mit der Gründung die Umsetzung von drei Zielen vor (vgl.

Falk in Pikler u.a. 2005, S.22):

1. Die Prinzipien, die sich für sie in ihrer bisherigen Arbeit mit Familien heraus-kristallisiert hatten, wollte sie im Säuglingsheim anwenden. Sie wollte bewei-sen, dass diese Prinzipien geeignet sind, um die gesunde Entwicklung von Säuglingen und kleinen Kindern - auch in einer institutionellen Einrichtung wie dem Heim – zu ermöglichen.

2. Mit dem Heim bot sich die Möglichkeit die Prinzipien unter kontrollierten Be-dingungen umzusetzen, so dass der Skepsis von Kritikern mit konsequenter Beobachtung und Datenerhebung begegnet werden konnte.

3. Die wissenschaftliche Forschung und Durchführung von Langzeitstudien un-ter beeinflussbaren und beschreibbaren Bedingungen, ohne das Leben der Kinder zu tangieren29.

Ein großes Interesse hat Pikler an der Bewegungsentwicklung von Kindern: Sie

ist der Überzeugung, dass die Entwicklung der Bewegung – vom Liegen zum

Klettern – keinerlei Förderung und Übung durch den Erwachsenen bedarf.

Pikler hat eine Theorie, die sich nach vielen Beobachtungen und Untersuchun-

gen bestätigt30. Sie geht davon aus, „dass ein Säugling, der zunächst auf dem

Rücken liegt, fähig ist, aus eigener Initiative ohne direkte Stimulierung, ohne

Hilfe, sich aufzusetzen und gehen zu lernen“ (Tardos 1998). 1939 formuliert sie

diese Erkenntnis (vgl. ebd.). Bezogen auf die Entwicklung zieht diese Erkennt-

nis ein großes Maß an Konsequenzen nach sich. Jedes Tun mit und am Kind

kann nicht in bisheriger Tradition vollzogen werden: das Kind wird nur wenig

getragen – wenn es getragen wird, dann mit Kopfunterstützung (bis es den Kopf

alleine halten kann) in waggerechter Haltung, so dass es das Gesicht des Er- 28 Benannt ist das Säuglings- und Kinderpflegeheim ursprünglich nach dem Straßennamen „Lóczy Stras-se“, in dem es sich befindet. Heute wird es Pikler-Institut genannt (vgl. Czimmek 1999, S.49). Gemäß der Aktualität wird hier „Pikler-Institut“ verwendet. Ausführlicher zum „Lóczy“ - Pikler-Institut s. 11.8. 29 Die Entwicklung der Kinder wird täglich genau dokumentiert und monatlich zusammengefasst, so dass seit Gründung des Pikler-Instituts eine große Datenmenge entstanden ist (vgl. David/Appell 1995, S.115f). Darüber hinaus wurden methodologisch ausgearbeitete Beobachtungen zu speziellen Fragestellungen durchgeführt. Drei Nachuntersuchungen – unter anderem eine mit Unterstützung der WHO - ergaben, dass keines der Kinder, die während ihrer Kindheit im Pikler-Institut untergebracht waren, irgendwelche Anzeichen von Hospitalismus oder für die Heimunterbringung typische Symptome, wie Persönlichkeitsstö-rungen oder delinquentes Verhalten aufweisen (vgl. Falk in Pikler 2005, S.28; David/Appell 1995, S.14f). 30 Sie war allerdings, gemeinsam mit ihrem Mann so sehr von der Theorie überzeugt, dass ihre Tochter gemäß dieser Theorie aufwuchs und erzogen wurde. Jene lieferte als erstes Kind die Bestätigung für die Richtigkeit dieser Theorie (vgl. Czimmek 1999, S.17f).

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wachsenen berühren und ansehen kann. Meistens liegt es anfangs nur auf ei-

ner Decke am Boden ohne Spielzeug, später – wenn erste Greifbewegungen

absehbar werden – bekommt es ein Tüchlein an seine Seite gelegt, welches

dann für einige Wochen sein einziges Spielzeug ist.

Dies sind nur einige Beispiele für den anderen Umgang mit der kindlichen Ent-

wicklung – der sich durch alle kindlichen Lebensbereich und –alter zieht (vgl.

Czimmek 1999, S.26ff; Strub/Tardos in Pikler u.a. 2005, S.107f). Auch bezogen

auf Kinder, deren Entwicklung langsamer verläuft als die der meisten - oder

nach heutigen Tabellen und Richtwerten -, wird zunächst und länger als üblich

auf eine Förderung oder Unterstützung zur Beschleunigung der Entwicklung

verzichtet, zugunsten des Vertrauens in die Entwicklungsfähigkeit des Kindes

(vgl. Strub/Tardos in Pikler u.a. 2005, S.108)31. Tardos und eine Kollegin haben

in Beobachtungen von zwei Kindern in drei verschiedenen Altersstufen (neun,

12 und 18 Monate) - unabhängig von der Anzahl der Positionen, die sie be-

herrschen und der individuellen Entwicklungsgeschwindigkeit – festgestellt,

dass sie im wachen Zustand innerhalb von 12 Stunden etwa 1000mal die Kör-

perlage verändern (vgl. Tardos 1998).

Zu damaliger, wie auch noch in heutiger Zeit, stößt diese andere Art auf das

Kind einzugehen, auf Skepsis und Kritik:

„Die Kritik an Emmi Pikler reichte soweit, dass es in Zeitungen Karikaturen gege-ben haben soll. (...) Bis heute fühlen sich Fachleute, die sich mit frühkindlicher Entwicklung beschäftigen, bei der Begegnung mit Inhalten von Emmi Piklers Ar-beit angegriffen und reagieren mit heftigem Widerstand und Anfechtungen“ (Czimmek1999, S.28).

Der Respekt gegenüber dem Kind bezieht sich für Pikler auf seine körperliche

Autonomie: es sollte niemals in eine körperliche Haltung gebracht werde, die es

selbst nicht einnehmen und die es nicht von alleine wieder verlassen kann (vgl.

Falk in Pikler u.a. 2005, S.17ff).

Das Vertrauen in die eigenen Kompetenzen des Säuglings und des kleinen

Kindes sowie der Respekt ihm gegenüber scheinen die Schlüssel für ein ent-

spanntes Zusammenkommen zu sein. Erwachsene müssen darauf vertrauen,

dass sich ein Kind entwickelt ohne, dass es eine direktive Förderung erhält. Das

Wort Respekt bezieht sich auf alle Seins-Ebenen des Kindes. Ein Säugling

31 Genauer ist hierzu nachzulesen bei Pikler, Emmi: Laßt mir Zeit. München, 1988.

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braucht eine sichere Bindung zu einer Bezugsperson, damit es eine innere e-

motionale Sicherheit verspürt auf deren Grundlage es sich der Welt zuwenden

kann. Diese Bindung entsteht im liebevollen Kontakt zwischen Erwachsenem

und Kind; und liebevoll sind die Bezugspersonen, wenn sie dem Kind die unge-

teilte Aufmerksamkeit schenken. Die ungeteilte Aufmerksamkeit erstreckt sich

auf die gesamte Interaktion: dem Tun des Kindes wird Zeit eingeräumt und der

Erwachsene handelt in Kooperation mit dem Kind (vgl. ebd., S.26; Tardos

1998). Hat das Kind eine innere emotionale Sicherheit, kann es selbst aktiv

werden und benötigt nicht ununterbrochen einen Erwachsenen an seiner Seite.

Pikler erkannte, dass intensive liebevolle Zuwendung in den Pflegesituationen

(wie wickeln, waschen, essen), das emotionale Bedürfnis des Kindes so weit

befriedigt, dass es sich in der verbleibenden Zeit seiner eigenen Aktivität eben-

falls mit ungeteilter Aufmerksamkeit widmen kann (vgl. Falk in Pikler u.a. 2005,

S.25f). Das ungestörte Beschäftigen mit etwas oder das Üben der eigenen Be-

wegungsfähigkeit ist - neben der Bedeutung für die kognitive und motorische

Entwicklung – auch für das psychische Wohlbefinden bedeutsam: „Wichtig ist

dieses Selbstbewusstsein, das Selbstvertrauen, das die selbständige Bewe-

gung dem Kind gibt“ (Tardos 1998).

Es entwickelten sich vier Prinzipien nach denen noch heute im Pikler-Institut

gearbeitet wird:

„Die Bedeutung der autonomen Aktivität des Kindes. Die Bedeutung der Beziehungen und insbesondere einer stabilen persönlichen Beziehung des Kindes zu einer bestimmten Bezugsperson und die Wichtigkeit der besonderen Form und ihres Inhalts, die ihr in einem institutionellen Rahmen gegeben werden müssen. Die Wichtigkeit, daß sich jedes Kind als Person akzeptiert und anerkannt fühlen kann, und es ihm – seinem Tempo gemäß – zu ermöglichen, ein Bewusstsein seiner selbst und seiner Umgebung zu entwickeln sowie der es betreffenden Er-eignisse in der Gegenwart und nahen oder ferneren Zukunft. Die Wichtigkeit eines guten körperlichen Gesundheitszustandes, der einerseits die Verwirklichung der genannten Prinzipien unterstützt, andererseits aber auch das Ergebnis der angemessenen Anwendung dieser Prinzipien ist“ (ebd., S.26).

Aber das Besondere lässt sich nicht auf die technische Umsetzung dieser Prin-

zipien reduzieren. Es ist vielmehr die Haltung, mit der der Erwachsene einem

Kind begegnet und in der er Zeit mit dem Kind verbringt:

„Sich nicht einzumischen in die selbständige Tätigkeit des Kindes bedeutet nicht, daß man es verläßt. Ein Blickaustausch, eine in Worten gegebene Erläuterung, die Anteilnahme, wenn ihm etwas missglückt, die Freude, die man mit ihm teilt, wenn etwas gelingt – all dies läßt das Kind empfinden, daß es eine wichtige, be-achtete und geachtete Person ist“ (ebd., S.25f).

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Elfriede Hengstenberg (1892-1992) war von 1915 bis 1979 in Berlin eine Gym-

nastiklehrerin, die in ihrer Arbeitsweise den traditionellen Weg verließ und für

ihre Arbeit mit Kindern und Erwachsenen u.a. eigene Geräte zur Bewegung

anfertigen ließ (vgl. Hengstenberg 1991).

Pikler und Hengstenberg hatten einen gemeinsamen Ausgangspunkt, der in

ihrer Grundüberzeugung lag: „Sie gehen alle [Pikler, Hengstenberg, Gindler,

Jacoby] von inneren Gesetzmäßigkeiten aus, die bestrebt sind, sich zu entfal-

ten, wenn man ihnen die Möglichkeit dazu gibt“ (Czimmek 1999, S.34).

Pikler und Hengstenberg beeinflussen sich gegenseitig in ihrer Arbeit:

Hengstenberg bringt die Erkenntnisse Piklers zur frühkindlichen Bewegungs-

entwicklung in ihre Elternarbeit ein; Pikler beobachtet nun auch die Qualität der

Bewegung in Harmonie und Stimmigkeit. Der Zusammenhang von äußerer Hal-

tung und innerer Verfassung wird thematisiert und Hengstenberg geht davon

aus, dass das Kleinkind „bei der selbständigen Suche nach dem Gleichgewicht,

in der Auseinandersetzung mit der Anziehungskraft der Erde [...] auch sein in-

neres Gleichgewicht [...] finden“ (ebd., S.35) kann. Sie geht davon aus, dass

Haltungsschäden nicht ohne die Einbeziehung der gesamten Persönlichkeit und

der Lebensumstände korrigiert werden können.

In dieser Auseinandersetzung wird sie stark geprägt von Elsa Gindler und Hein-

rich Jacoby32 (vgl. Kopelsky 1995).

Es geht beiden – Hengstenberg und Pikler - nicht um das Erlernen oder Erwer-

ben motorischer Fähigkeiten, sondern um die Entfaltung der gesamten – sich

wohlfühlenden – Persönlichkeit, denn die selbständige Bewegungsentwicklung 32 „Elsa Gindler [1885-1961] entstammte einer Berliner Handwerkerfamilie. Nach dem Besuch der Volks-schule trat sie ins Berufsleben ein und verdiente sich ihren Unterhalt durch Büro- und Schreibarbeit. Aus-gelöst durch eigene Krankheit (Tuberkulose), mit der sie von ihrem Arzt schon als abgeschrieben galt, da sie sich den teuren Sanatoriumsaufenthalt nicht leisten konnte, begann sie sich selber zu beobachten und nach und nach wahrzunehmen wie ihr Organismus nach Selbstregulierung strebte und wie sie dem Raum geben konnte. Durch Selbststudium und eigenes Versuchen erwarb sie sich ihre neue, einzigartige Kom-petenz. Nach ihrer Selbstheilung begann sie, mit anderen Menschen am Kontakt zum inneren Funktionie-ren zu arbeiten. Mit ihren Schülern experimentierte sie an einer unmittelbaren Beziehung zu den regene-rierenden Vorgängen des Organismus in allen Lebensbereichen. (...) Heinrich Jacoby [1889-1964], Musiker, Begabungsforscher und Reformpädagoge (...) war ursprünglich deutscher Staatsbürger. Ab 1933 lebte und wirkte er in der Schweiz. Als Musiker gelangte er zu der An-sicht, Leistungsschwierigkeiten von Musikern dürften nicht voreilig als Begabungsmangel verstanden wer-den. Entsprechende Leistungsdefizite interpretierte er als Folgen eines auf irgendeine Art gestörten Ge-samtverhaltens. Durch die Begegnung mit Elsa Gindler und ihrer Arbeit konnte er an seiner eigenen, durch starke Rachitis in seiner Kindheit beeinträchtigten Beweglichkeit die erstaunliche Erfahrung der Entfaltung durch die Auseinandersetzung mit der Schwerkraft machen. In den nächsten Jahren gaben Gindler und Jacoby zahlreiche gemeinsame Kurse, in denen sie zusammenarbeiteten und ihre Ansätze ergänzten“ (Czimmek 1999, S.34).

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stellt die Grundlage der Persönlichkeitsentfaltung dar (vgl. Strub in Hengsten-

berg 1991, S.8).

Die Unterstützung der kindlichen Entwicklung durch den Erwachsenen vollzieht

sich in der positiven Beziehung zwischen Bezugsperson und Kind, und in dem

vorbereiten einer – für das Kind – interessanten und dabei sicheren Umgebung.

Das Interesse des Kindes wahrzunehmen und als entwicklungsförderndes Ele-

ment aufzugreifen, ist wesentlicher Bestandteil der pädagogischen Arbeit im

Pikler-Institut (vgl. Strub/Tardos in Pikler u.a. 2005, S.108). Auch Hengstenberg

geht davon aus, dass nicht das Wecken von Interesse für etwas, sondern das

Befriedigen vorhandener Interessen von wesentlicher Bedeutung ist. Strub da-

zu: „Menschen nicht für etwas interessieren zu wollen, sondern zu spüren, für

was sie sich interessieren, charakterisiert, was Elfriede Hengstenberg in ihrer

jahrzehntelangen Arbeit gelungen ist“ (Strub zitiert nach Hengstenberg 1991,

S.7).

Sowohl Hengstenberg als auch Pikler entwickelten Geräte zur Bewegung33

bzw. als Hilfsmittel, um dem kindlichen Bedürfnis nach Bewegung gerecht wer-

den zu können. Die Geräte sollen das Kind zum Experimentieren und zu eige-

nen Versuchen anregen; das Kind soll zum phantasievollen Gebrauch ermutigt

werden und sich selbst ausprobieren können. In der Benutzung der Geräte sol-

len die körperlichen Interessen des Kindes Befriedigung finden und neue per-

sönliche Herausforderungen sollen selbst entdeckt werden können.

Die Bildung von „Selbstbewusstsein und Standhaftigkeit“ (Kopelsky 1995) in der

Auseinandersetzung mit dem eigenen Können und den eigenen Schwächen in

der körperlichen Auseinandersetzung mit der Umwelt, war beiden Frauen ein

Anliegen (vgl. Kopelsky 1995; v. Allwörden/Wiese 2002, S.9ff). Entsprechend

ihrer Arbeitsschwerpunkte entwickelte Pikler vor allem für Säuglinge und Klein-

kinder, Hengstenberg für ältere Kinder die Geräte zur Bewegung. Die

Hengstenberg-Geräte sind in größerer Anfertigung auch für Erwachsene zu

nutzen.

Im Pikler-Institut wurden darüber hinaus Hilfsmittel entwickelt, wie das Ess-

bänkchen oder der Wickelaufsatz, die zum einen den Bewegungsdrang des

Kindes berücksichtigen. Zum anderen entsprechen die Hilfsmittel der kooperati-

33 Abbildungen der Geräte s. Kap. 11.1 und 11.2.

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ven Situation – zwischen Betreuerin und Kind - in der sie zur Anwendung kom-

men. So hat das Kind z.B. auf dem Wickelaufsatz ausreichend Platz für Bewe-

gung und die dadurch entspannte Situation unterstützt den positiven Kontakt

zwischen Beiden in der Pflegesituation (vgl. Vincze 2005, S.60).

Etwa Anfang der 1940er Jahre müssen sich Pikler und Magda Gerber kennen

gelernt haben. Gerber berichtet von einem großen Einfluss, den Pikler auf sie

und ihr weiteres Leben genommen hatte.

Die Art und Weise Kinder wahrzunehmen und sich zu ihnen zu verhalten, setzte

Gerber in den USA in Resources for Infant Educarers34(RIE)-Seminaren um.

Das sind Eltern-Kind-Gruppen, die den Pikler-SpielRäumen zumindest in der

Haltung zum Kind sehr ähnlich sind (vgl. Gerber/Johnson 2006, S.9ff).

Die Idee der Eltern-Kind-Gruppenarbeit nach den Grundprinzipien von Pikler

brachte Strub - von Gerber in den USA - nach Europa und wurde durch sie um

den Einsatz der Hengstenberg-Geräte ergänzt. Die Bewegungspädagogin

Strub, ehemalige Schülerin Hengstenbergs und Piklers, wirkte maßgeblich an

der Entstehung von Pikler-SpielRäumen mit (vgl. v. Gosen 2006). Es ist ihr ein

großes Anliegen, Eltern mit der Pädagogik und den Erkenntnissen Piklers ver-

traut zu machen und sie dazu zu befähigen im Alltag entsprechend Handeln zu

können (vgl. Strub o.J.a).

In Österreich wurde das Pikler-SpielRaum-Konzept vor allem von Daniela Pich-

ler-Bogner, in Berlin von Andrea von Gosen35 aufgegriffen und umgesetzt. Den

ersten Berliner Pikler-SpielRaum bietet v. Gosen seit 1996 an (vgl. v. Gosen

2006; Pichler-Bogner 2001, S.37-40).

34 „educarer (...) eine Verbindung der Wörter educator (Erzieher/-in) und carer (Pfeger/-in, der/die jeman-den pflegt, sich um jemanden kümmert). Mit educarer meine ich also jemanden, der Kinder auf eine pfle-gende Weise erzieht“ (Gerber/Johnson 2006, S.10). 35 Die Lebensdaten der, für die Entstehung des Pikler-SpielRaums im europäischen Raum sehr wichtigen, drei Frauen s. Kap. 11.8.

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7.2 Was pass iert im SpielRaum und mit welcher Intention

pass iert es?

Im SpielRaum36 geht es nun um die Umsetzung der vorgestellten Prinzipien.

Den Eltern werden diese Prinzipien nahegelegt. Die Vermittlung dieser Haltung

des Vertrauens, Abwartens, Beobachtens und Respektierens gegenüber dem

kindlichen Tun und Handeln und seiner Entwicklung ist Grundlage des Spiel-

Raums.

„Die Arbeit Emmi Piklers ist ein Angebot, das zu einer wirksamen Unterstützung werden kann, wenn es uns gelingt, im System Familie alle ihre Mitglieder im Au-ge zu behalten und ihnen aufmerksam und mit Empathie zu begegnen“ (Pichler-Bogner 2001, S.40).

7.2.1 Die Kinder, die Erwachsenen und die Leiterin tun...

Das Kind kann im SpielRaum das tun, wonach ihm gerade ist und was seinem

persönlichen Entwicklungsstand entspricht. Davon ausgehend, dass es sich

aus sich selbst heraus entwickelt, wenn es die Möglichkeit zur Eigenaktivität

erhält, wird das Kind grundsätzlich in seinem Tun nicht gestört (vgl. Pichler-

Bogner 2001, S.37; v. Gosen o.J.). Gerber (2001) stellt fest: „Je weniger wir

unterbrechen, um so leichter entwickeln Kinder eine lange Aufmerksamkeits-

spanne“ (ebd.).

Für die ganz jungen, vier Monate alten Säuglinge ist vor allem ihr eigener Kör-

per mit seinen Bewegungsmöglichkeiten von Interesse. Den jeweiligen Entwick-

lungsständen der teilnehmenden Kinder bieten entsprechende Pikler- und/oder

Hengstenberg-Geräte Bewegungsanreize. Dies sind z.B. Krabbelkisten, Podes-

te, Labyrinthe, Hühnerleitern, usw. Die Geräte ermöglichen einerseits eine Be-

friedigung des Bewegungsdrangs, andererseits kann sich das Kind körperlich

ausprobieren, seine Grenzen erfahren und sich an körperlich interessanten Be-

wegungen üben (vgl. Pichler-Bogner 2006a, 2001, S.37; v. Gosen o.J.). Dar-

über hinaus werden sogenannte „offene Materialien“ angeboten. Es handelt

sich dabei um Dinge, die in Abhängigkeit zum Ideenreichtum eingesetzt werden

können und die vielseitig benutzbar sind. Es sind Materialien „ohne versteckte

didaktische Absicht, um die Kreativität des Kindes nicht zu blockieren“ (Pichler-

36 In Österreich gibt es einen männlichen Anbieter eines SpielRaums nach Pikler. Aufgrund der gegenwär-tig weiblichen Domäne, wird hier zur Vereinfachung durchgehend die weibliche Schreibweise gewählt (vgl. Pichler-Bogner 2006; Strub 2006).

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Bogner 2001, S.37), wie z.B. Becher, Plastikeimer, Metallteller, Körbe, Tücher,

Dosen, Löffel, Bälle usw. Damit die Kinder nicht teilen oder warten müssen, bis

ein Kind mit einem Gegenstand fertig ist, sind alle Dinge mehrzahlig und ggf. in

unterschiedlichen Größen vorhanden (vgl. Pichler-Bogner 2001, S.37).

Dem Kind wird bewusst keine Aufgabe gestellt oder eine zu absolvierende Ü-

bung vorgegeben, denn man möchte vermeiden, dass es die Lust am Tun ver-

liert oder durch die angestrengte Verkrampfung in der Bemühung Misserfolge

erlebt. Stellt sich das Kind selbst ausgesuchten Aufgaben, so kann es diese

jederzeit und in freier Entscheidung ins schwierigere oder leichtere verändern

oder auch fallen lassen (vgl. Tardos 1998).

Die Atmosphäre im SpielRaum vermittelt dem Kind, dass es Zeit und Ruhe hat,

sich selbst zu entscheiden mit was es sich und wie lange es sich mit etwas be-

schäftigen möchte. Seine Bezugsperson vermittelt Gegenwärtigkeit und Auf-

merksamkeit, so dass sich das Kind sicher und geborgen fühlt und sich seinen

Interessen zuwenden kann (vgl. Pichler-Bogner 2001, S.37f).

Die Leiterin eines Pikler-SpielRaums begleitet das Tun des Kindes. Sie gibt Si-

cherheit, signalisiert Aufmerksamkeit und auf verbaler Ebene beschreibt und

bestätigt sie das kindliche Tun. Sie unterstützt das Kind in unsicheren Situatio-

nen. Gleichzeitig ermöglicht sie dem Kind eine Reflexion seiner Situation, so

dass persönliche Grenzen sichtbar werden können:

„‚Du probierst das Klettern auf dem Dreieckständer aus. Du bist schon die ersten beiden Sprossen hochgeklettert. Du kannst dich auch ausruhen. Wenn es dir zu hoch wird und nicht mehr gemütlich ist, kannst du wieder zurückklettern’’“ (Pich-ler-Bogner 2001, S.38).

Im Kontakt mit den anderen Kindern und durch die abwartende, aber aufmerk-

same Anwesenheit der Erwachsen wird dem Kind die Möglichkeit eines eigenen

Lösungsweges gegeben (vgl. ebd., S.39).

Auch in Konfliktsituationen zwischen den Kindern, hat die Leiterin eine Sicher-

heit spendende Position. Sie weiß um die altersentsprechende Unfähigkeit zu

teilen, abzugeben oder wieder herzugeben. So kann bei persönlichen Streitob-

jekten die Situation folgendermaßen gelöst werden:

„’Das ist dein Lastauto, Lukas. Du musst es nicht hergeben, wenn du nicht willst. – Thomas, du möchtest gerne mit diesem Lastauto spielen. Es gehört Lukas. So-

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lange er es nicht hergeben will, kannst du es nicht haben. Vielleicht finden wir für dich ein anderes’“ (Pichler-Bogner 2001, S.39).

Wenn es sich um allgemeines Spielmaterial handelt und sich die Kinder Hilfe

suchend an die Erwachsenen wenden, unterstützt die Leiterin durch beschrei-

bende Worte, die in der Regel zur Beilegung des Konfliktes genügen, wenn

beide Seiten in ihrem Bedürfnis respektiert werden:

„’Thomas hat sich den Ball zum Spielen geholt. Michael, ich sehe, du möchtest jetzt auch gerne damit spielen. Wenn Thomas den Ball nicht mehr braucht, kannst du ihn haben’“ (ebd.).

Der Erwachsene beobachtet das Tun seines Kindes bzw. der Kinder. Kein Kind

wird animiert oder motiviert etwas zu tun. Der Erwachsene lernt es auszuhalten,

dem Kind die Zeit zu geben, die es benötigt, um sich anzunähern, wiederholt

etwas zu untersuchen bzw. zu erkunden. Er kann sehen wie sich das Wohlbe-

finden und die Sicherheit des Kindes im Raum und mit der Zeit entwickelt. Das

Vertrauen in die Fähigkeiten des Kindes wächst mit der aufmerksamen Beo-

bachtung. Der Erwachsene hat keine intervenierende oder eingreifende Rolle.

Er merkt auf, wenn sich das Kind ihm nähert. Er bewertet nicht das Tun des

Kindes, sondern beschreibt und bestätigt es. Die Aufgabe des Erwachsenen

liegt im „Genießen“ des Kindes, wie Tardos es formuliert (vgl. Pichler-Bogner

2001, S.38).

Die Pikler-SpielRaum-Leiterin nimmt zu jedem Elternteil während des Spiel-

Raums Kontakt auf. Pichler-Bogner (2006a) möchte den Eltern die Möglichkeit

geben, ihr Kind und seine Fähigkeiten zu entdecken: „ihnen ein ‚neues’ Sehen,

z.B. von Spielinteressen des Kindes, die sie selber noch nicht entdeckt haben,

ermöglichen“ (ebd.). Gemeinsam mit dem jeweiligen Elternteil des entspre-

chenden Kindes beobachtet sie das Kind. Sie nimmt die Empfindungen und

Gefühle der Eltern wahr und formuliert sie beschreibend. In der „eher künstli-

chen Beobachtersituation“ (ebd.) wirkt dies vermutlich zum einen etwas ent-

spannend; zum anderen unterstützt es das gemeinsame Tun sowie die Freude

daran. Weiterhin steht die Pikler-SpielRaum-Leiterin in schwierigen Situationen

zwischen Eltern und Kind unterstützend zur Seite (vgl. ebd.).

In SpielRäumen, die auf Elternabende bzw. Gesprächsrunden verzichten (s.

Kap. 7.2.2) findet häufig während des SpielRaums ein Austausch - auch über

Fragen der Pflege, des Schlafens, etc. – statt.

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Exkurs: Zuschauen und Abwarten lernen - für die Eltern

„Vor vielen Jahren habe ich einmal ein Kind gesehen, das auf dem Boden lag und auf eine ganz traumhafte, schöne Weise versuchte, etwas zu fangen. Ich sah überhaupt nichts, aber ich wusste, dass das Kind etwas sah. Erst als ich umherging, merkte ich, dass der Staub in der Luft einen Regenbogen er-zeugte, und das war es, was das Kind sah. (...) Wenn jetzt jemand ein wenig vorschnell etwas tut, dann möchte ich sa-gen: ‚Das Kind sieht vielleicht gerade einen Regenbogen – unterbrechen Sie es nicht. Warten Sie ab.’“ (Gerber 2001).

Es klingt zunächst sehr einfach und man wird sich fragen, was man da eigent-

lich lernen soll. Magda Gerber hat sehr anschaulich beschrieben, was genau

damit gemeint ist und warum es überhaupt nicht leicht ist: das Zuschauen und

Abwarten.

Eine Ursache liegt ihrer Meinung nach darin, dass es in unserer Gesellschaft

wichtiger ist und als tugendhaft gilt, schnell und ständig in Bewegung als auf-

merksam und achtsam zu sein. Eine weitere Begründung findet sie darin, dass

die Menschen immer schon vorher wissen und glauben, was sie sehen (wer-

den).

Das Zuschauen meint nicht ausschließlich das zu sehen, was gerade passiert

oder sich vor den Augen abspielt. Bezogen auf die Eltern-Kind-Situation meint

es, durch Konzentration, Aufmerksamkeit und Achtsamkeit, zu entdecken und

zu erkennen „was es [das Kind] in diesem Prozess lernt und ob oder wie Er-

wachsene helfen sollten“ (Gerber 2001). Damit das gelingen kann, ist es not-

wendig sich zu befreien von dem, was einen bewegt. Es hilft die Konzentration

und Aufmerksamkeit zu erhöhen und bewahrt vor Projektionen, zu denen der

Erwachsene neigt. Den Standpunkt des Kindes einzunehmen und zu versu-

chen, die Welt mit seinen Augen zu sehen, hilft, das Kind kennen zu lernen. Zu

beobachten wie es mit Aufgaben, die sich ihm stellen, umgeht und was ihm

Freude bereitet, kann einem die Persönlichkeit des Kindes eröffnen. Das ge-

genseitige Wahrnehmen, Kennen und Verstehen kann zu einer Qualitätssteige-

rung der Interaktion führen. Zu warten und dem Kind die Möglichkeit für eigene

Lösungen und Herangehensweisen einzuräumen, vermittelt dem Kind Vertrau-

en in die eigenen Kompetenzen und ermöglicht ihm, sich über die selbständige

Bewältigung zu freuen. „Bewusst Intervenieren bedeutet zu wissen, wann man

nicht interveniert, und das ist viel schwieriger als wahllos einzugreifen“ (ebd.).

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7.2.2 Am Abend ohne Kinder...

Die Elternabende sind ein Merkmal, in dem sich die SpielRäume nach Pikler

und die Pikler-SpielRäume deutlich unterscheiden. In den Pikler-SpielRäumen

gelten sie als gleichwertiger Teil des Kurses und es wird ihnen eine große Be-

deutung beigemessen. Jedoch ist der Turnus, in dem die Elternabende oder

Gesprächsrunden stattfinden sehr unterschiedlich. So gibt es SpielRaum-

Leiterinnen, die sie wie den SpielRaum wöchentlich oder andere hingegen 14-

tägig oder auch alle sechs Wochen anbieten. Die Elternabende bzw. Ge-

sprächsrunden finden ohne Kinder statt (vgl. Pichler-Bogner 2006a). Die Spiel-

Räume nach Pikler verzichten häufig auf die Elternabende. Dies hängt u.a.

auch mit dem Können und Wollen der Institution zusammen, in der ein Spiel-

Raum nach Pikler durchgeführt wird (vgl. v. Gosen 2006). Pichler-Bogner

(2006a) merkt darüber hinaus an, dass die Eltern ein Zeitproblem für die Teil-

nahme an der Gesprächsrunde anführen. Im Hinblick darauf wird von den Leite-

rinnen auf das Angebot der Gesprächsrunde verzichtet. Pichler-Bogner (2006a)

hat die Erfahrung gemacht, dass die Eltern die Gesprächsrunde zu schätzen

wissen und sich auch Zeit dafür einräumen, wenn sie einen tatsächlichen Nut-

zen aus ihr ziehen (vgl. ebd.).

Für den Besuch eines Pikler-SpielRaums ist eine Einführungsveranstaltung

verpflichtend, damit Missverständnissen vorgebeugt wird und keine falschen

Erwartungen entstehen.

Zu jedem Pikler-SpielRaum-Termin gehört ein Elternabend dazu. Zum einen

möchte man vermeiden in Anwesenheit der Kinder über sie zu reden. Zum an-

deren benötigen auch die Eltern für sich einen ruhigen und ablenkungsfreien

Rahmen, in dem sie sich ungestört austauschen und miteinander besprechen

können. Die Themen werden durch die Interessen, Probleme und Bedürfnisse

der Eltern vorgegeben.

Aber auch die Haltung Piklers gegenüber Kindern wird thematisiert ebenso wie

die kindliche Bewegungsentwicklung. „Kinder zum Beispiel ‚allein’ lernen zu

lassen ist entscheidend für die Entwicklung ihrer Sicherheit und Selbständigkeit“

(Pichler-Bogner 2001, S.40).

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In der Gesprächsrunde kann darüber hinaus ein eingehender Austausch über

die gemeinsame Beobachtung aus dem SpielRaum stattfinden. Schwierige Si-

tuationen zwischen Eltern und Kind können ausführlicher in der Gesprächsrun-

de besprochen werden (vgl. Pichler-Bogner 2006a).

Besondere Aufmerksamkeit wird in der Gesprächsrunde auf das kindliche Be-

dürfnis, Selbständig werden zu wollen und die Entwicklung der Kompetenz ge-

legt. Die Pflege des Kindes sowie Durchschlafen, Sauberkeit, Füttern, usw. sind

weitere Themen der Elternabende. „Meist geht es um das Thema ‚Begleitet

werden auf dem Weg zur Selbständigkeit’ und die Frage ‚Wieviel Selbständig-

keit gestehe ich meinem Kind zu?’“ (Pichler-Bogner 2001, S.40).

Exkurs: Noch eine Schülerin Elsa Gindlers – für die

Pikler-SpielRaum-Leiterinnen

„Es kommt nicht darauf an was du tust, doch tu es ganz, mit ganzem Wesen – und sei dir bewusst was du dabei fühlst“ (Roche 2001). „Die Stille hat Reagierfähigkeit in sich, unmittelbare Bereit-schaft“ (Selver 2001).

Für die Beratung und Unterstützung der Eltern werden Kenntnisse über die

kindliche Wahrnehmung und Perspektive benötigt. Das wirkliche Verständnis

für das Kind, kann sich – laut Strub (2006a) – dann entwickeln, wenn der Er-

wachsene an seiner eigenen Nachentfaltung arbeitet, damit „das innere entmu-

tigte oder verschüttete Kind zum Vorschein kommen möchte“ (ebd.).

Ebenso bedarf es für die - den kindlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten ent-

sprechende – (atmosphärische) Gestaltung des Raumes einer intensiven und

professionellen Beobachtung des Kindes. Diese kann man sich u.a. durch die

körperliche Selbsterfahrung erarbeiten.

Einen wesentlichen Beitrag zur Körpererfahrung und -wahrnehmung hat Char-

lotte Selver (1901-2003)37 mit der Entwicklung von Sensory Awareness geleis-

tet. Da sie großen Wert darauf legt, dass es sich dabei nicht um eine Methode

handelt, meint der Begriff Entwicklung den andauernden Prozess der immer

fortführenden Arbeit. Den Begriff Methode vermeidet sie bewusst, im Bestreben

eine Dogmatisierung und Einengung ihrer Arbeit zu verhindern (vgl. Hoe-

37 Lebensdaten s. Kap. 11.7.

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nen/Wiltschek o.J.). Selver geht es um das Entdecken des Selbst. „Non-verbale

Erfahrung und individuelle Entdeckungen“ (Laeng-Gilliatt 2003) stehen im Mit-

telpunkt und dienen der Selbsterfahrung – die eigenen natürlichen Bewegungen

sowie den ungestörten Fluss des Atems - im Verhalten zu Menschen und Din-

gen. Das Tempo des Tuns ist dabei häufig Thema: Qualitative Bewegung und

entsprechende Geschwindigkeit stellen sich selbst ein, wenn „man völlig in ei-

ner Aufgabe aufgeht“ (Roche 2001). Vom Zen angeregt sind die Auseinander-

setzungen mit den Themen des „Stillwerden[s]“, „Nach-Innen-Horchen[s]“ und

„Reagierfähig-Werden[s]“ (Selver 2001).

Die veränderte Wahrnehmung des Selbst führt zur veränderten Wahrnehmung

der Mitmenschen und der Umwelt. Selver geht davon aus, dass das Maß des

„Vertrauen[s] in organische Prozesse“ (Laeng-Gilliatt 2003) sowohl das Wohlbe-

finden des Individuums als auch das der Gesellschaft bestimmt. Die menschli-

chen organischen Prozesse sieht sie als eine Einheit – „ein sensitives Netzwerk

(...) unsere Totalität“ (Selver 2001) -, die sich jedoch aus Teilen zusammensetzt

(vgl. Roche 2001).

Vermutlich lässt sich die Absicht folgendermaßen zusammenfassen: Das wahr-

haftige Bewusstsein über die Teile, das Ganze und den Moment verhelfen zur

Wahrnehmung des Selbst und Eröffnen die Möglichkeit den Anderen zu erken-

nen.

7.3 Grupp enkonstellationen

Zu den Räumlichkeiten und Materialien gibt es derzeit keinen festgelegten

Standard, allerdings weist Pichler-Bogner (2006a) daraufhin, dass sowohl zuviel

als auch zuwenig Material die kindliche Aktivität hemmen kann. Ebenso können

sowohl zu kleine als auch zu große Räume Aktivität verhindern bzw. eröffnen.

Es sollten grundsätzlich genügend Bewegungsanreize für die Kinder vorhanden

sein, die durch Pikler- bzw. Hengstenberg-Geräte gegeben werden. In der Ar-

beitsgemeinschaft „Pikler-SpielRaum-Leiterinnen“ wurde festgehalten, dass ein

Gerät, insofern es - für nur ein Kind - eine Gefährdung darstellt, solange aus

dem Raum entfernt wird, bis für kein einziges Kind mehr eine Gefahr von ihm

ausgeht (vgl. ebd.).

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Die Anzahl der Kinder in einer Gruppe sollte – laut Pichler-Bogner (2006a) –

nicht sieben übersteigen, da auch die Eltern begleitet sein wollen und insge-

samt 14 Personen zu beobachten sind bzw. ein beziehungsvoller Kontakt zwi-

schen Eltern und Pikler-SpielRaum-Leiterin möglich sein sollte.

Die Treffen finden in der Regel im wöchentlichen Rhythmus für eine Dauer von

90 Minuten statt. Meistens dauert ein SpielRaum-Kurs sechs Wochen. Andere

Kurslängen sind denkbar und möglich; entscheidender ist die Kontinuität als

Eltern- und Kind unterstützendes Angebot während der ersten drei Lebensjahre

des Kindes.

Die Kinder sind im SpielRaum barfuss, damit sie beim Klettern ein zuverlässi-

ges und sicheres Gefühl in den Füssen entwickeln können (vgl. Pichler-Bogner

2006a).

Die Qualifizierung zur Leiterin bezieht sich nur auf diejenigen, die einen Pikler-

SpielRaum anbieten oder anbieten möchten. Die SpielRäume nach Pikler wer-

den von Leiterinnen angeboten, die sich in dieser Qualifizierung befinden oder

sich autodidaktisch mit Pikler auseinandersetzen. Zu erfüllende Voraussetzun-

gen für das Anbieten eines SpielRaums nach Pikler können nicht festgelegt

werden, da es zur Kontrolle oder Unterbindung – etwa per Gesetz – keine

Möglichkeiten gibt. Mit der ausschließlich autodidaktischen Auseinandersetzung

mit Pikler wird man – so vermutet Pichler-Bogner (2006) – nicht das erfüllen

können, was Eltern an Erwartungen und Wünschen in einen SpielRaum nach

Pikler mitbringen (vgl. Pichler-Bogner 2006).

Seit etwa 1,5 Jahren arbeitet die Arbeitsgemeinschaft „Pikler-SpielRaum-

Leiterinnen“ an der Entwicklung eines Ausbildungskonzepts für Pikler-

SpielRaum-LeiterInnen38. Da das Konzept im November 2006 auf einer Tagung

(s. Fußnote 3) vorgestellt wird, ist es inzwischen weitegehend fertig gestellt.

Das unter Kapitel 7.3.1 dargestellte Konzept für die Ausbildung zur Pikler-

SpielRaum-LeiterIn ist derzeit definitiv, insofern Unklarheiten bestehen, sind

diese benannt. Dennoch soll betont werden, dass eine absolut verbindliche

38 Bezogen auf die Form des Wortes (Gruppen-)Leiter wird darauf hingewiesen, dass es gegenwärtig zumindest in Deutschland (derzeit bietet ein Mann in Österreich einen SpielRaum nach Pikler an) keine männlichen Anbieter von SpielRäumen gibt, daher wird die weibliche Form Leiterin verwendet. Bezogen auf die zukunftsweisende Ausbildung, die derzeit konzeptionalisiert wird, wird die Schreibweise LeiterIn verwendet, die sowohl Männer als auch Frauen einschließt. Ebenso wird in bezug auf die Ausbildung die Unterscheidung getroffen zwischen gegenwärtiger (Weiter-)Qualifizierung und zukünftiger Ausbildung.

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Auskunft über das Konzept erst im November 2006 zur Präsentation erfolgen

kann.

7.3.1 Qualifizierung/Ausbildung der LeiterInnen

„Die Pädagogik kennzeichnet eine besondere Sorgfalt in allen Bereichen und eine nicht endende Bereitschaft, die kindlichen Lebensbedingungen zu verstehen und zu verbessern. Klarheit, Wahrung der persönlichen Verantwortung, das Wissen um die Kompetenz des Kindes und die Weise, wie eine sichere, vertrau-te Beziehung zum Erwachsenen entstehen kann, sind wesentli-che Charakteristika dieser Arbeit“ (Rainer 2006, S.28).

Da es beim Pikler-SpielRaum nicht um die formale und technische Umsetzung

der Pikler-Prinzipien geht, ist eine längere und intensivere Auseinandersetzung

erforderlich als das ausschließliche Absolvieren von Kursen und Terminen.

Die Grundlage für die Umsetzung der Pikler-Prinzipien ist die innere Haltung

und Überzeugung der SpielRaum-Leiterin. Um eine Vorstellung davon zu be-

kommen, was Pikler mit „z.B. Respekt im Umgang mit Kindern meint“ (v. Gosen

2006) ist es erforderlich, sich im Pikler-Institut in Budapest aufzuhalten und dort,

vor Ort, zu erleben und zu erfahren, was die Verwirklichung der Prinzipien auf

der Basis dieser inneren Haltung und Überzeugung meint und bedeutet (vgl.

ebd.).

Die Voraussetzung für die Teilnahme an Kursen und Seminaren im Pikler-

Institut in Budapest ist eine Fachausbildung, das vertraut sein mit den Pikler-

Prinzipien sowie das ernst gemeinte Interesse an der Arbeitsweise im Pikler-

Institut (vgl. Pikler-Institut 2006; Strub 2006a).

Die Fortbildungsseminare, die jeweils fünf Tage beanspruchen behandeln un-

terschiedliche Themen. Den TeilnehmerInnen werden die Vorstellungen und

Kenntnisse Piklers und die Erfahrungen des Pikler-Instituts erläutert und erfahr-

bar gemacht. Die Fortbildungen werden von Tardos und ihren Mitarbeitern, u.a.

auch Strub, durchgeführt.

Die Fortbildungsveranstaltungen im Pikler-Institut in Budapest, die Teilnahme

an einem Basiskurs, einem Aufbaukurs sowie ergänzende Unterrichtstage zu

bestimmten Themen, die wahlweise in Budapest, Deutschland oder Österreich

besucht werden können, bilden die theoretischen Grundlagen der Ausbildung

zur Pikler-SpielRaum-LeiterIn. Gewünscht ist das Kennenlernen verschiedener

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Dozenten, was durch die ergänzenden Unterrichtstage ermöglicht wird. Praxis-

nah ergänzen sechs Hospitationen im Pikler-SpielRaum mit anschließender

Reflexion das Grundlagenwissen. Ein regelmäßiger professioneller Austausch

„im Sinne von Supervision“ (Pichler-Bogner 2006) soll ebenfalls Bestandteil der

Ausbildung sein; eine genauere Festlegung durch die Arbeitsgemeinschaft

„Pikler-SpielRaum-Leiterinnen“ steht hierzu noch aus.

Eine zusätzliche Erwartung liegt im regelmäßigen Besuch – etwa ein- bis zwei-

mal jährlich - einer Arbeitsgruppe, in der es um einen persönlichen Austausch

und um die Reflexion der eigenen Arbeit gehen soll. Darüber hinaus „erwarten

wir die Teilnahme an Selbsterfahrungsseminaren nach Elfriede Hengstenberg

und Sensory Awareness“39 (Pichler-Bogner 2006). Während dieser Ausbil-

dungs-Zeit kann ein SpielRaum nach Pikler angeboten werden (vgl. ebd.).

Die Zugangsvoraussetzungen für die Ausbildung zur Pikler-SpielRaum-LeiterIn

liegen in einer Grundausbildung40. Da die in der Entwicklung der Ausbildung

miteinander kooperierenden Länder – Österreich, Deutschland, Ungarn - ver-

schiedene Ausbildungsverläufe und Abschlüsse (unabhängig von medizini-

schen, pädagogischen oder therapeutischen Ausbildungen) anbieten, gibt es

hierzu derzeit noch keine konkretere Festlegung41 (vgl. Pichler-Bogner 2006).

Der Basiskurs wird seit Herbst 2004 von Strub und v. Gosen in Berlin angebo-

ten. Er ist inhaltlich und strukturell angelehnt an den Österreichischen Basis-

kurs, der schon seit 2000 von u.a. Pichler-Bogner angeboten wird. Er beinhaltet

fünf Wochenenden à 16 Stunden verteilt über ein Jahr. Die Teilnehmerinnen

bekommen zum Abschluss des Wochenendes Fragestellungen oder Hausauf-

gaben, die sie zum nächsten Termin bearbeiten sollen (vgl. v. Gosen 2006;

Pichler-Bogner 2006).

Der Aufbaukurs42 beinhaltet drei Wochenenden, an denen Vertiefungen zu be-

reits bekannten Themen erfolgen.

39 s. Exkurs in Kap. 7.2.2 40 Für den Besuch des Basiskurses ist grundsätzlich keine Grundausbildung, sondern Interesse erforder-lich. Die Grundausbildung ist dann verpflichtend, wenn die Befähigung zur Pikler-SpielRaum-LeiterIn an-gestrebt wird (vgl. Pichler-Bogner 2006). 41 Die Arbeitsgemeinschaft „Pikler-SpielRaum-Leiterinnen“ strebt die Schaffung eines Studiengangs mit Abschluss zur Pikler-Pädagogin sowie eines erweiterten Studiengangs mit Abschluss zur Pikler-Dozentin mit Befähigung zur Lehrtätigkeit an (vgl. Pichler-Bogner 2006). 42 In Berlin wird der Aufbaukurs derzeit noch nicht angeboten; ist er unbedingt gewollt, dann kann dieser bei der Pikler-Hengstenberg-Gesellschaft Österreich belegt werden (vgl. v. Gosen 2006a; Pichler-Bogner 2006a).

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Wesentliche Bestandteile der methodisch-didaktischen Vorgehensweise in allen

Seminaren sind: das Auswerten von Videomaterial über kindliches Verhalten

bzw. die kindliche Bewegung, die gemeinsame Lektüre von Schriften als auch

das Vorstellen von Beobachtungen/Protokollen sowie dazu das gemeinsame

Reflektieren und Auswerten (vgl. Pikler-Hengstenberg-Gesellschaft Österreich

o.J.c).

Die Arbeitgemeinschaft „Pikler-SpielRaum-Leiterinnen“ ist bemüht eine län-

derübergreifende einheitliche Strukturierung der Kurse umzusetzen. Auf die

zeitliche Struktur der Kurse bezieht sich dies jedoch nicht, da diese von den

jeweiligen Möglichkeiten des Anbieters gestaltet wird (vgl. Pichler-Bogner 2006,

2006a).

Zusammengefasst stellen sich die zu erfüllenden Kriterien zum Anbieten eines

Pikler-SpielRaums wie folgt dar:

�� „Basiskurs �� Aufbaukurs �� + ergänzende Unterrichtstage zu bestimmten Themen wahlweise in Budapest, Öster-

reich, Deutschland �� Fortbildungen im ‚Pikler-Institut in Budapest’ �� 6 Hospitationen im Pikler-SpielRaum mit Reflexion �� zweimal im Jahr Besuch und Austausch/Reflexion in einer Regionalgruppe neben

dem Anbieten eines SpielRaums nach Pikler �� Selbsterfahrungsseminare nach Hengstenberg und Sensory Awareness �� Einzelgespräche/Supervision

(...) Seit etwa 1,5 Jahren ist transparent, dass es dieses Curriculum braucht, um

sich für die Leitung eines Pikler-SpielRaums zu qualifizieren“ (Pichler-Bogner

2006).

Die Kurse beinhalten als Themen im Einzelnen:

„Pikler - Basiskurs 1. autonome Bewegungsentwicklung 2. freies Spiel 3. Pflege und Beziehung 4. Soziales Lernen 5. Kinder untereinander“ Pikler - Aufbaukurs 6. Beobachten und Begleiten 7. Sprache und Kommunikation“ (Pikler-Hengstenberg-Gesellschaft Österreich o.J.c). „Weiterbildungen im Pikler-Institut in Budapest 1. Die Bedeutung der selbständigen Aktivität für die Entwicklung der Persönlichkeit 2. Selbständige Aktivität – beobachten, verstehen 3. Mütterliche und berufliche Beziehungen (Bedeutung der Pflege) 4. Sprache und Sozialisation 5. Aggressivität im Kleinkindalter“ (ebd.).

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Derzeit ist Tardos diejenige, welche letztlich darüber entscheiden kann, ob die

persönlichen Fähigkeiten sowie die besuchten Seminare, Kurse, etc. dazu be-

rechtigen einen Pikler-SpielRaum anzubieten (s.o.)43. Da die aktuelle Qualifizie-

rung in Form der Kurse und Seminare sowie dem persönlichen Engagement zur

Fort- und Weiterbildung noch sehr jung ist, gibt es zum jetzigen Zeitpunkt keine

Anwärter als Pikler-SpielRaum-Leiterin. Die Verinnerlichung einer Haltung und

die persönliche Überzeugung ihrer Richtigkeit ist auch abhängig von der Per-

sönlichkeit und dem Engagement des jeweiligen Menschen. Die Ausbildungs-

dauer ist noch nicht festgelegt bzw. erprobt; derzeit wünscht man sich einen

Zeitraum von etwa fünf Jahren für diesen Prozess (vgl. Pichler-Bogner 2006).

Die Kosten44 für den Basiskurs betragen in Österreich bei Pichler-Bogner 1056

Euro (11 Tage à 80 Euro + 20%USt). Die Kosten für den Aufbaukurs betragen

dort 672 Euro (7 Tage à 80 Euro + 20%USt). Eine Woche Fortbildung im Buda-

pester Pikler-Institut (ohne Verpflegung und Unterkunft) kostet 500 Euro (Tag à

100 Euro)45. Darüber hinaus entstehen Kosten für die Selbsterfahrungssemina-

re nach Hengstenberg und Sensory Awareness (vgl. Pichler-Bogner 2006a; v.

Gosen 2006).

7.3.2 Eltern. Und Kinder erst ab viertem Lebensmonat.

Die SpielRäume können von Kindern ab dem vierten Lebensmonat besucht

werden. Es gibt keine Altersbegrenzung nach oben, so dass sie teilweise bis

zur Vollendung des dritten Lebensjahres oder aber auch für noch ältere Kinder

angeboten werden (vgl. Pichler-Bogner 2006a; Eick o.J.; v. Gosen o.J.).

Die Kindergruppen der Pikler-SpielRäume sind altershomogen, so dass weder

die Aktivität der Kinder durch Bedürfnisse oder Ansprüche größerer gestört

wird, noch die Notwendigkeit des Schutzes voreinander entsteht. Das Alter be-

zieht sich hier weniger auf die Lebensmonate, sondern vielmehr auf einen al-

tershomogenen Entwicklungsstand (vgl. Pichler-Bogner 2001, S.37; Pichler-

Bogner 2006a).

43 Die Schaffung einer Ausbildung wird vermutlich zu einer Aufweichung dieser Position führen. 44 Da die Durchführung der Kurse in Österreich wesentlich etablierter und erprobter ist, scheint es sinnvoll deren Kosten heranzuziehen. 45 Für die Fortbildungen im Pikler-Institut besteht die Möglichkeit einer Ermäßigung. Sie beträgt in Form eines Stipendiums bisher 50% über die Beantragung bei der Pikler-Stiftung (vgl. Pikler-Institut 2006).

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Bezogen auf die Eltern kann – wie in Kapitel 4 und 6 dargestellt – auch hier nur

von den allgemeinen Daten von Eltern/Mutter-Kind-Gruppen ausgegangen wer-

den. V. Gosen (2006a) bestätigt die Tatsache, dass vor allem Mütter und nur

sehr wenige Väter die Gruppe besuchen. Auch hier verfügt der überwiegende

Teil der Mütter über eine mittlere oder hohe Bildung.

Gelegentlich wird von vereinzelten Kinderärzten die Empfehlung an die Eltern

ausgesprochen, einen SpielRaum aufzusuchen; bei den Kindern handelt es

sich häufig um „Frühchen“ oder Kinder mit einem schlaffen Tonus. Die Teil-

nahme von Eltern aufgrund dieser Empfehlung „führt gelegentlich zu einem

sehr gemischten Publikum“ (ebd.).

Exkurs: Warum nicht vorher? –

Pikler zu den ersten drei Lebensmonaten

Pikler (2004) beschreibt in ihrem Buch „Friedliche Babys – zufriedene Mütter“

sehr einleuchtend, wie sich die ersten Lebenswochen eines Neugeborenen

bzw. Säuglings gestalten. Die ungewohnte, helle und laute Umgebung sowie

körperliche Empfindungen, die ihm bisher unbekannt waren, führen häufig da-

zu, dass sich das Unbehagen in Schreien äußert. Pikler vertritt die Auffassung,

dass man nicht speziell etwas gegen das Schreien tun, sondern vielmehr dafür

Sorge tragen sollte, dass sich das Kind langsam an all die neuen und unbe-

kannten Faktoren im Leben gewöhnen kann. Es sollte ruhig und nicht allzu hell

sein, Störungen und Temperaturschwankungen sollten vermieden werden. Die

Kleidung sollte Bewegungsfreiheit ermöglichen und es sollten wenig Ortswech-

sel stattfinden, damit sich das Kind nicht häufig an neue Umgebungen gewöh-

nen muss. Schreit das Kind möchte es beruhigt und mögliche Ursachen erwo-

gen werden. Diese werden dann behoben, das Kind wird verbal beruhigt und

wieder hingelegt. Singen, schaukeln, wiegen, wippen, usw. würden – laut Pikler

(2004) – dazu führen, dass das Kind „ein wenig betäubt“ (ebd., S.15) würde.

Langfristig gewöhnt es sich an diese ablenkenden Störungen und wird dieses

Verhalten der Eltern einfordern. Die eigentlichen Ursachen für das Schreien

bleiben bestehen. Pikler (2004) spricht hier davon, dass „man auf diese Weise

das Neugeborene sozusagen dazu erzieht, es an das Weinen gewöhnt“ (ebd.,

S.16). Sie kennt all die Argumente der Eltern, die das vermutlich traditionelle

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Beruhigungsprozedere begründen: Windel voll; hat Angst im Dunkeln; benötigt

Gesellschaft, weil ihm langweilig ist; fühlt sich nur sicher und aufgehoben im

Arm der Mutter; muss sich gewöhnen, weil es sonst später nichts aushält. Es

klingt fast schon wie eine Warnung, wenn sie darauf hinweist: „hat der Säugling

sich schon daran gewöhnt, daß er um alles weint und daß die Mutter, sobald er

weint, ihn immer wiegt usw., so kann dem schwer abgeholfen werden“ (ebd.,

S.18). Sie wägt sehr logisch ab und kommt zu dem Schluss: „unmittelbar nach

der Geburt und schonungslos, oder erst später und allmählich das Kind den

beunruhigenden Einflüssen auszusetzen, vor denen wir es keinesfalls vollkom-

men behüten können“ (ebd., S.17). Da sie davon ausgeht, dass in den ersten

Lebensjahren der Grundstein für eine innere Ruhe und das seelische Gleich-

gewicht gelegt werden - von denen man sein Leben lang zehrt und auf die man

sich beziehen kann -, plädiert sie dafür „später und allmählich das Kind den be-

unruhigenden Einflüssen auszusetzen“ (ebd.). Erfährt das Kind während seiner

ersten Lebensjahre eine Störung, ist diese nie wieder gut zu machen oder aus-

zugleichen (vgl. ebd.).

Aus dieser Darstellung lässt sich schließen, dass Pikler den Besuch einer Spiel-

oder sonstigen Gruppe vermutlich nicht vor Erreichen des vierten Lebensmo-

nats befürwortet hätte.

7.4 Kritik an Pikler

Dass Pikler mit ihrer, von der Tradition abweichenden Betrachtung der kindli-

chen Entwicklung auf Kritik und Skepsis gestoßen ist, wurde bereits angedeutet

(s. Kap. 7.1). Zum einen liegt dies an der Aufmerksamkeit, die sie Umständen

schenkt, denen andere eher gleichgültig begegnen oder die üblicherweise nur

wenig Beachtung finden, wie z.B. die Wahl des Zeitpunktes, zu dem das Kind

das erste Spielzeug an die Seite gelegt bekommt. Ein weiterer Aspekt ist der

hohe Anspruch, den sie sich selbst auferlegt, und den sie somit auch von ande-

ren einfordert und erwartet. Dies gestaltet die Auseinandersetzung mit ihr für

einige Menschen u.U. etwas anstrengend und mühevoll (vgl. Czimmek 1999,

S.26ff).

Auf der fachlichen Ebene gibt es ganz klare Befürchtungen sowohl von Eltern-

seite als auch von Fachleuten. Tardos (in Pikler u.a. 2005) benennt einige, im-

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mer wieder formulierte Zweifel und Bemerkungen. Die Vorstellung, dass sich

ein Kind selbständig und aus seinem eigenen Interesse heraus mit einem Ge-

genstand beschäftigt, ist für einige Menschen befremdlich. Sie gehen davon

aus, dass das Kind dafür die Unterstützung und Hilfe des Erwachsenen benö-

tigt. Eine weit verbreitete Befürchtung drückt sich darin aus, dass man meint,

das Kind bedarf der Förderung und ist auf die gemeinsame Übung mit dem Er-

wachsenen angewiesen, um z.B. Laufen zu lernen.

Ist diese Befürchtung ausgeräumt, so sind manche Menschen der Ansicht, dass

wenigstens zum Spaß und zur Freude des Kindes, das Aufstellen, Hinsetzen

und gemeinsame Laufen praktiziert werden könnte.

Auf einer anderen Ebene befinden sich die Befürchtungen, die sich auf die ent-

stehende und wachsende Persönlichkeit des Kindes beziehen, wenn man ihm

mit Respekt vor seiner Autonomie begegnet. Es wird in Zweifel gezogen, dass

diese Säuglinge als größere Kinder sowie als Erwachsene anpassungsfähig,

folgsam und führbar sind (ebd., S.140ff). Tardos (in Pikler u.a. 2005) äußert

sich hierzu: „Hinter diesen Widerständen spüre ich die Besorgnis, daß der Re-

spekt der Autonomie des Säuglings die gewohnte und übliche Art der Bezie-

hung in Frage stellen könnte“ (ebd., S.140ff).

Die zahlreichen Untersuchungen, Beobachtungen, Datensammlungen und die

Nachuntersuchungen, der ehemals im Pikler-Institut versorgten Kinder, bele-

gen, dass keine der hier genannten Zweifel oder Befürchtungen begründet sind.

Das Pikler-Institut kann sich einer revolutionären und erfolgreichen Arbeitsweise

rühmen.